MZ-84-13 – Juni/Juli - Mänziger Zytig
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Foto: zVg Gabriela Hofmann<br />
KULTUR<br />
von ihr forderte, Energie, die sie dringend benötigte, um den<br />
Gipfel zu erreichen. Ihr Rucksack drückte schwer und sie<br />
spürte, wie ihr der Schweiss den Rücken hinunterperlte und<br />
unter dem Gepäck im Hemd verschwand. Es war typisch, dass<br />
sie den Sack trug. Sie wollte gewappnet sein für die kleineren<br />
Notfälle, die bei solchen Ausflügen ab und zu auftreten konnten.<br />
Pflaster und Mullbinden für die Wehwehchen, die drückende<br />
Schuhe verursachen können, oder Stützbinden für<br />
Fehltritte. Ein paar Kraftriegel für plötzlich auftretende Hungerattacken<br />
und trockene Kleidung für den Tausch mit den<br />
verschwitzten nach geglücktem Aufstieg, sodass man nicht zu<br />
frieren begann. Ihr Mann hatte ausser seiner Wasserflasche im<br />
Gürtel natürlich nichts dabei. Leichten Fusses eilte er ihr jedes<br />
Mal davon, dem Ziel entgegen, und liess sie mit einem verwunderten<br />
Blick auf sich alleine gestellt zurück. Sie hatte schon<br />
lange den Verdacht, dass er nicht einmal einen Tropfen<br />
Schweiss vergoss, so mühelos brachte er die anspruchsvollen<br />
Wanderungen hinter sich, gerade so, als wäre es nur ein kleiner<br />
Spaziergang. Aber jetzt hatte sie endgültig genug! Sie<br />
schwor sich, dass das der letzte Aufstieg dieses Jahres mit ihr<br />
im Schlepptau sein würde. Schöne Weitblicke hin oder her, es<br />
war vorbei. Sie nahm sich fest vor, während des Winters ein<br />
Trainingsprogramm zu absolvieren, um in der nächsten Saison<br />
körperlich diesen Strapazen gewachsen zu sein. Ha, sie würde<br />
es ihm zeigen, zu was sie fähig war, und stellte sich schaden-<br />
ZUR AUTORIN UND ZU IHREN KURZGESCHICHTEN<br />
Gabriela Hofmann ist Kommunikationsspezialistin<br />
und Autorin, verheiratet und<br />
lebt seit 1999 in Edlibach.<br />
«Wunderbare Aussichten» ist eine der vielen<br />
Kurzgeschichten aus dem Buch «Wenn<br />
Schnecken schrecken und andere kurzweilige<br />
Geschichten», das 2011 beim Verlag<br />
Books On Demand GmbH, DE-Norderstedt<br />
erschienen ist (ISBN 9783<strong>84</strong>2346604).<br />
<strong>Juni</strong> / <strong>Juli</strong> 20<strong>13</strong> mänziger zytig Nr. <strong>84</strong><br />
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freudig vor, dass ihre verbesserte Kondition sein mitleidiges<br />
Grinsen wegwischen würde. Kampfeslustig stieg sie weiter<br />
empor, beflügelt und mit neuer Entschlossenheit spürte sie die<br />
Krämpfe in ihren Beinen und den stechenden Schmerz in den<br />
Lungen kaum mehr.<br />
Als sie ihr Ziel endlich erreichte, war er schon wie erwartet<br />
da und lehnte lässig die Schultern an eine alte, knorrige Föhre,<br />
die, wen erstaunte es, gefährlich nahe am Abgrund stand. Die<br />
Fernsicht hinter ihm war atemberaubend. Die Anstrengung<br />
hatte sich wieder einmal gelohnt. Aber zuerst wollte sie sich<br />
etwas erholen, sie keuchte noch immer wie eine alte Dampfwalze.<br />
Sie blickte ihren Mann an, der ihr zulächelte und ihr die<br />
Hand entgegenstreckte, damit sie näher zu ihm und der Aussicht<br />
kommen konnte. Als sie einen Schritt auf ihn zu machte,<br />
bemerkte sie, dass sich ihr Schnürsenkel am linken Wanderschuh<br />
gelöst hatte. Schnell ging sie in die Hocke, um ihn zu<br />
binden. Als sie sich wieder aufrichtete und nach der Hand ihres<br />
Ehegatten greifen wollte, war dieser mit dem alten Baum verschwunden.<br />
Dort, wo die beiden noch vor wenigen Sekunden<br />
waren, klaffte ein riesiges Loch, und sie befand sich nun selbst<br />
nur wenige Zentimeter vom Abgrund entfernt und schaute<br />
verständnislos in die Tiefe. Was sie dort sah, trieb ihr die Angst<br />
prickelnd über den ganzen Körper und sie erfasste im Schock<br />
nicht, wie Wanderer, die wie sie den einzigartigen Ausblick<br />
geniessen wollten und Zeugen des Vorfalls wurden, sie von der<br />
Gefahren eines ebensolchen Absturzes bewahrten und zurückrissen.<br />
Man versorgte sie in der nahen Berghütte mit dem<br />
Nötigsten und alarmierte die Polizei und die Bergwacht.<br />
Erst einige Tage später stellte die Unfallversicherung fest,<br />
dass ihr verstorbener Mann eine hohe Lebensversicherung auf<br />
ihren Namen abgeschlossen hatte für den Fall, dass sie vor ihm<br />
ableben sollte. Das Datum auf der Police war exakt der Tag, an<br />
dem sie beide ihre Bergwanderungen begonnen hatten. Für<br />
seinen Unfalltod bekam sie kein Geld, da es keine Police gab,<br />
die auf seinen Namen ausgestellt worden war.<br />
Gabriela Hofmann<br />
Zu den Kurzgeschichten:<br />
Warum graut es einige Menschen vor Kriechtieren? Was träumen wir,<br />
wenn wir schlafen? Was kommt nach dem Tod? Mit diesen und vielen<br />
anderen Themen befassen sich die Erzählungen, die oft banal<br />
beginnen, aber mit einem nicht erwarteten Finale überraschen.<br />
Es sind Geschichten, die sich so <strong>–</strong> aber auch ganz anders zugetragen<br />
haben könnten.<br />
Mehr Informationen unter: www.centaurcom.ch.