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MZ-84-13 – Juni/Juli - Mänziger Zytig

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KULTUR<br />

Kurzgeschichte<br />

Wunderbare Aussichten<br />

Sie rang nach Luft, als sie ihrem Mann hinterherkeuchte.<br />

Er hatte sich wieder einmal selbst übertroffen in der Wahl der<br />

Wanderroute oder sollte sie besser sagen <strong>–</strong> Kletterpartie? Sie<br />

hatte die Idee zu Anfang anregend gefunden. Jedes Wochenende<br />

wollten sie zusammen etwas Sportliches unternehmen,<br />

mehr Zeit miteinander verbringen. Sie hatte es im Gegensatz<br />

zu ihm auch bitternötig, etwas gegen ihre überflüssigen Kilos<br />

zu tun, die es sich in den letzten Jahren an ihren Hüften und<br />

Oberschenkeln gemütlich gemacht hatten. So wurde beschlossen,<br />

dass er die Wanderrouten bestimmte, mit Vorteil<br />

solche, die mit einem lohnenswerten Ausblick die Strapazen<br />

des Aufstieges wieder wett machten. Die ersten Wanderungen,<br />

die sie schon im Frühling in Angriff genommen hatten,<br />

waren genau nach ihrem Geschmack. Die Wanderwege waren<br />

bequem zu begehen, die Steigungen auf dem Weg zum Gipfel<br />

mässig. Sie genoss diese Zeit in der Natur, und am Zielort hoch<br />

oben angekommen, konnte sie die schöne Aussicht geniessen.<br />

Zur Belohnung kehrten sie jeweils in ein nahes Bergrestaurant<br />

ein und gönnten sich ein schmackhaftes Essen und ein Glas<br />

Rotwein.<br />

Doch vor ein paar Wochen änderten sich die Wanderrouten<br />

drastisch. Die Aufstiege wurden immer anspruchsvoller,<br />

der Gipfel musste regelrecht erklommen werden. Spass konnte<br />

sie bei den Anstrengungen beim besten Willen nicht mehr<br />

empfinden. Die Ausflüge wurden ihr zu schwer. Ihr Mann hat<br />

ein Gespür entwickelt, die schroffsten und steilsten Gipfel für<br />

die Touren auszuwählen. Und dann war da noch ihre Angst.<br />

Obwohl sie die Rundblicke jeweils genoss, wenn sie endlich<br />

oben anlangte, quälte sie die Höhenangst. Um dem Ganzen<br />

noch einen draufzusetzen, machte er sich regelmässig über die<br />

Panikattacken seiner Frau lustig und begab sich absichtlich<br />

nahe an den Abgrund heran. Er bevorzugte jene ohne Befesti-<br />

<strong>Juni</strong> / <strong>Juli</strong> 20<strong>13</strong> mänziger zytig Nr. <strong>84</strong><br />

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gungen. War ein Zaun oder Netz da, lehnte er sich theatralisch<br />

weit mit dem Oberkörper vornüber und ruderte mit den Armen,<br />

als suchte er Halt, nur damit er über sie lachen konnte,<br />

wenn sie ihn angsterfüllt anstarrte. Seine waghalsigen Einlagen<br />

in luftiger Höhe erfüllten sie mit Beklemmung und sie<br />

hatte das Gefühl, die hunderte von Metern tiefen Abgründe<br />

würden an ihrem Herzen und an den Eingeweiden zerren und<br />

sie in die Tiefe saugen. Sie war jedes Mal froh, wenn sie sich<br />

wieder auf den Heimweg begaben und sie die Schluchten und<br />

Steilhänge hinter sich lassen konnte.<br />

Wieder waren sie auf Wanderschaft. Mit einem Taschentuch<br />

wischte sie sich die Schweisstropfen von der Stirn und<br />

Oberlippe weg und schaute missmutig zum steilen Anstieg. Ihr<br />

Gemahl war nirgends zu sehen. Na toll! Er wird sich bestimmt<br />

an einem Brunnen mit kaltem, klaren Wasser erfrischen oder<br />

auf einer Bank ausruhen und auf sie warten. Sie gönnte es ihm<br />

ja von Herzen. Der Haken an der Sache war nur, dass, kaum<br />

tauchte sie bei ihm auf, er geschäftig auf die Beine sprang und<br />

weiterwanderte, ohne ihr die Gelegenheit zu geben, sich etwas<br />

auszuruhen oder zu erfrischen. Bei all dem Gehetze fing<br />

sie an den Tag zu verfluchen, an dem sie die Zustimmung für<br />

diese Ausflüge gegeben hatte. So hatte sie sich die gemeinsamen<br />

Wanderungen nicht vorgestellt. Zu allem Überdruss wurden<br />

die Beine immer schwerer und sie hatte Mühe, diese hoch<br />

zu heben und auf dem unebenen Gelände sicher wieder abzusetzen.<br />

Immer mehr fing sie zu stolpern an,<br />

was noch mehr Kraft<br />

Illustrationen: Théo Müller

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