MZ-84-13 – Juni/Juli - Mänziger Zytig
MZ-84-13 – Juni/Juli - Mänziger Zytig
MZ-84-13 – Juni/Juli - Mänziger Zytig
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
THEMA<br />
… dass ich die Älteste der Anwesenden war ...<br />
<strong>Juni</strong> / <strong>Juli</strong> 20<strong>13</strong> mänziger zytig Nr. <strong>84</strong><br />
Wer gesund alt werden kann, darf dankbar sein, und wer in guter Gemeinschaft<br />
Lebenslust und Lebensfreude geniessen kann, führt ein befriedigendes Leben.<br />
Foto: Tony Mehr<br />
— Myra Tönz —<br />
Das Alter kam auch bei mir schleichend daher, selbst<br />
wenn ich im Spiegel schon früh gesehen habe, dass<br />
die Haare grau wurden. Heute aber sass ich da in<br />
diesem Saal, in dieser Sitzung, und niemand war älter<br />
als ich! Auf dem Nachhauseweg Richtung Stalden<br />
dann der Gedanke, dass ein gutes Alter eine<br />
Gnade ist. Nicht umsonst sagen ältere Menschen,<br />
Gesundheit sei das Wichtigste <strong>–</strong> aber eben nicht nur.<br />
Die Zeit hat mich überraschend zur Ältesten gemacht.<br />
Ich bin nun in einem Alter, wo ich etwas tue, was ich<br />
früher nicht tat: Ich lese regelmässig die Todesanzeigen.<br />
Mein erster Blick geht auf den Namen und der<br />
zweite auf den Geburtsjahrgang. Wie erschrecke ich<br />
manchmal, dass Menschen im besten Alter vom Tod<br />
hinweggerafft werden. Wenn ein Jahrgänger, eine<br />
Gleichaltrige zu Grabe getragen wird, weckt das Erinnerungen.<br />
Diese führen mich zu ihnen zurück, aber auch in<br />
meine Vergangenheit, in meine Kinderzeit, die anders<br />
war als sie heute ist, in die Jugendjahre, in denen<br />
es galt, einen guten Beruf zu lernen, in die Lehr-<br />
und Wanderjahre der ersten Berufstätigkeit. Plötzlich<br />
stehe ich in meinen Erinnerungen vor meinen<br />
Myra Tönz, 75: «Was früher war, ist der Stoff,<br />
aus dem der Mensch geworden ist. Deshalb sind<br />
Erinnerungen so wichtig.»<br />
27<br />
Familienjahren. Erlebe noch einmal, wie es war als<br />
werdende Mutter, und wie plötzlich ein Bruch meinen<br />
Lebensgang veränderte, als mein Mann an einem<br />
Sekundentod starb.<br />
Diese Zeit ist vorbei. Je älter ich aber werde, desto<br />
plastischer steht sie wieder da. Das Kurzzeitgedächtnis<br />
ist schlecht geworden, dafür ist präsent,<br />
was ich als junge Frau und Mutter erlebt habe. Ich<br />
glaube, dass die Natur dies gut eingerichtet hat,<br />
denn was früher war, ist der Stoff, aus dem der<br />
Mensch geworden ist, das, was er im Alter ist. Erinnerungen<br />
sind mir wichtiger als all die täglichen<br />
Sensationen, Events und der Trommelwirbel der<br />
Medien.<br />
Vieles davon klingt rasch ab, hat keine Beständigkeit.<br />
Gerne denke ich an einen Satz des serbischen<br />
Schriftstellers Aleksandar Tisma, den ich vor einiger<br />
Zeit gelesen habe: «Das Elternhaus ist der Keim des<br />
Lebens.» Ein gewisser Stolz erfüllt mich dann, dass<br />
auch ich berufen war, einen solchen Keim für weiteres<br />
Leben zu legen.<br />
Wer Glück im Leben hat ist aufgerufen, auch an unglückliche<br />
Menschen zu denken. An Menschen, die<br />
früh erkrankten, denen das Schicksal nicht eine Kugel<br />
zuspielte, die auf dem Rad des Lebens wie auf<br />
dem Roulette ins richtige Loch fällt, an Menschen,<br />
die Pech hatten. Und dennoch wird wohl keiner alt,<br />
der nicht an eigenes Unglück denken muss. Es ist,<br />
wie jemand einmal sagte: «Unter jedem Dach ein<br />
Ach!» Wie wir aber mit diesem Ach umgehen, ist<br />
entscheidend. Wir können auch als alte Menschen<br />
jung bleiben, wenn wir mit diesem «Ach» fertig<br />
werden.<br />
Mich ergreift der Text einer Todesanzeige immer<br />
dann besonders, wenn ich lesen darf: «Nach einem<br />
erfüllten Leben ist mein Mann / meine Frau friedlich<br />
eingeschlafen.» Gelingen kann dies wahrscheinlich<br />
nur, wenn man das Leben geliebt und wenn es auf<br />
seine Weise fruchtbar geworden ist, so oder so.