Geschichte der Notation - Moodle BRG-Reutte
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Die Entwicklung <strong>der</strong> Notenschrift ist zugleich eine <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> abendländi-<br />
schen Musik<br />
Tipp zum Lesen des Textes:<br />
Die unterstrichenen Wörter sind Hyperlinks. Wenn du diese anklickst, hörst du zum<br />
Text passende Musikbeispiele.<br />
as Vieles deutet darauf hin, dass die Ägypter bereits seit dem 3. Jahrtausend v. Chr.<br />
eine Notenschrift kannten. Auch in China, Japan und Indien entwickelten sich Nota-<br />
tionssysteme. Die Melodie wurde häufig neben o<strong>der</strong> über dem gesungenen Text in<br />
kleineren Schriftzeichen notiert. Rhythmische Freiheiten blieben offen.<br />
Muse mit Kithara<br />
Diese Schrift diente vorwiegend als Erinnerungsstütze.<br />
Die älteste und heute vollständig entzifferte Notenschrift<br />
ist die griechische <strong>Notation</strong>.<br />
Diese Notenschrift verwendete für die Tonhöhe Buchsta-<br />
ben, meist nach den Saiten <strong>der</strong> Kithara benannt, und mar-<br />
kierte mit darüber geschriebenen Symbolen die Tondauer.<br />
Das älteste, vollständig erhaltene Zeugnis dieser Noten-<br />
schrift ist das Seikilos-Epitaph. Dieses wurde im 2. Jahr-<br />
hun<strong>der</strong>t vor Chr. in <strong>der</strong> Nähe von Ephesus in einen Grab-<br />
stein gemeisselt.<br />
Übersetzt könnte das heissen:<br />
Ich bin ein Bild in Stein;<br />
Seikilos stellte mich hier auf,<br />
wo ich auf ewig bleibe,<br />
als Symbol zeitloser Erinnerung.<br />
Solange du lebst, tritt auch in Erscheinung.<br />
Traure über nichts zu viel.<br />
Eine kurze Frist bleibt zum Leben.<br />
Das Ende bringt die Zeit von selbst.<br />
Hörbeispiel<br />
1
In Europa gingen die Kenntnisse <strong>der</strong> griechischen <strong>Notation</strong> mit dem Zerfall des Rö-<br />
mischen Reiches verloren. Die spätere Entzifferung wurde erst mit Hilfe römischer<br />
musiktheoretischer Schriften aus dem 1. Jahrhun<strong>der</strong>t n. Chr. möglich. Wie schnell die<br />
Notenschrift in Vergessenheit geraten kann, zeigt die Äusserung eines Kirchenvaters<br />
um 625. Dieser behauptete, es sei unmöglich Musik zu notieren.<br />
Während vielen Jahrhun<strong>der</strong>ten wurde Musik in unserem Kulturkreis nicht aufgeschrieben.<br />
Mönche und Minnesänger sangen ihre Gesänge auswendig, auch Spielleute musi-<br />
zierten ohne Noten. Melodien und Liedtexte wurden von Generation zu Generation<br />
mündlich überliefert. Dabei verän<strong>der</strong>te sich <strong>der</strong> Inhalt über die Zeit hinweg. Für den<br />
freien und improvisierten Umgang bestand wenig Bedarf, Musik exakt zu notieren.<br />
Politische Verän<strong>der</strong>ungen haben die die Entwicklung <strong>der</strong> Notenschrift angekurbelt.<br />
Nachdem Karl <strong>der</strong> Grosse von Papst Leo in Rom um 800 zum Kaiser gekrönt wurde,<br />
wollte er die Musik in allen Kirchen seines weitreichenden Reiches in West- Süd-<br />
und Mitteleuropa vereinheitlichen. Ihm war bewusst, dass er Macht und Einfluss nur<br />
sichern konnte, wenn er auch bestimmte, was in den Kirchen verkündet würde. Tex-<br />
te und Gesang mussten deshalb verbindlich aufgeschrieben werden. Der Gottes-<br />
dienst, die sogenannte Liturgie, folgte einer bestimmten Abfolge von Gebeten, Le-<br />
sungen und Gesängen.<br />
In europäischen Klöstern entwickelten sich im 9. Jahrhun<strong>der</strong>t symbolhafte Zeichen.<br />
Diese standen über dem zu singenden Text und dienten den Sängern als Gedächtnis-<br />
stütze. Die sogenannten Neumen (griechisch neuma = Wink) bildeten die melodi-<br />
schen Figuren <strong>der</strong> Gregorianischen Choräle mit kleinen Häkchen, Punkten, Bogen<br />
und Strichen ab. Damit die Sänger gemeinsam singen konnten, zeigte eine Person<br />
mit <strong>der</strong> Hand (Wink) den Weg <strong>der</strong> Melodie. Eine einzelne Neume stand für eine be-<br />
stimmte melodische Floskel. Die Melodien <strong>der</strong> Gregorianischen Gesänge wurden <strong>der</strong><br />
Sprache nachempfunden. Bekam jede Silbe eine eigene Note, nannte man den Ge-<br />
sang syllabisch. Es gab aber auch Wörter, die über viele Noten gestreckt wurden. Wir<br />
kennen das heute aus dem Fussballstadion, „Heeeeoeheoheee!“ Wird eine Silbe mit<br />
verschiedenen Tönen gesungen, heisst das melismatisch. Die Texte <strong>der</strong> Gesänge<br />
wurden auf den Gottesdienst abgestimmt. Neben Lobpreisungen wurden auch Jah-<br />
reszeiten, einzelne Wochentage, o<strong>der</strong> die Feiertage <strong>der</strong> Kirche besungen. Der ein-<br />
stimmige liturgische Gesang wurde ohne Begleitung und in lateinischer Sprache ge-<br />
sungen.<br />
2
Später wurden auch Melodien ausserhalb <strong>der</strong> Liturgie, sogenannte weltliche Melo-<br />
dien, mit Neumen aufgezeichnet. Zu dieser Zeit bestand ein grosser Bruch zwischen<br />
liturgischer und weltlicher Musik.<br />
Übrigens: Neumen sind noch heute im Gebrauch. Aus Neumen haben sich z.B. in <strong>der</strong><br />
französischen Sprache die Akzente (´ ` ^) entwickelt.<br />
Im 9. Jahrhun<strong>der</strong>t entstanden die Neumen zur Aufzeichnung einstimmiger Gesänge<br />
Die Neumen bildeten die Musik sehr ungenau ab, sie stellten keine genauen Tonhö-<br />
hen dar, zudem wurden in verschiedenen Regionen und Klöstern unterschiedliche<br />
Zeichen verwendet. Die Sänger mussten deshalb die Melodien genau im Kopf behal-<br />
ten. Das Repertoire <strong>der</strong> Gesänge wurde über Jahre hinweg in zahlreichen Chorpro-<br />
ben eingeübt.<br />
3
Bereits im 9. Jahrhun<strong>der</strong>t gab es Versuche mehrstimmig zu singen. Ein Teil des Cho-<br />
res sang die Melodie, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Teil <strong>der</strong> Sänger markierte dazu einen langen Halte-<br />
ton, entwe<strong>der</strong> mit dem Grundton <strong>der</strong> jeweiligen Tonart o<strong>der</strong> <strong>der</strong> reinen Quinte. Der<br />
Begleitton begrenzte den grossen Hall in den höher werdenden Kirchen, somit konn-<br />
ten Text und Gesang deutlicher vernommen werden.<br />
Später übernahm ein Teil des Chores die führende Stimme (vox principalis), <strong>der</strong> an-<br />
<strong>der</strong>e Teil sang die gleiche Melodie vier Töne höher (vox organalis) o<strong>der</strong> setzte, ähn-<br />
lich wie wir es alle vom Kanon kennen, etwas später ein. Diese Mehrstimmigkeit<br />
nannte man Organum (=Werkzeug).<br />
Die Neumen genügten den neuen Anfor<strong>der</strong>ungen für das gewünschte Zusammen-<br />
spiel nicht mehr. Es war nicht einfach, für das Problem <strong>der</strong> verbindlichen Notenhöhe<br />
und Notenlänge eine Lösung zu finden. Bis ins 11. Jahrhun<strong>der</strong>t tüftelten die Mönche<br />
nach einer Notenschrift.<br />
Die Lösung: Der linienlosen Neumennotation wurden allmählich Linien zugefügt,<br />
zunächst zwei farbige Notenlinien für die Töne f und c, um die Halbtonschritte e-f<br />
und h-c zu markieren. Um auch die Tonschritte zwischen den Linien genauer zu er-<br />
fassen, fügte <strong>der</strong> Benediktinermönch Guido von Arezzo zwischen die F- und C-Linie<br />
eine dritte Linie ein. Er empfahl auch, je nach Gebrauch über o<strong>der</strong> unter die drei Li-<br />
nien eine vierte Linie zu setzen. Somit benutzte Guido von Arezzo als erster vier Li-<br />
nien im Terzabstand.<br />
Guido von Arezzo lebte von ca. 992 bis 1050 in Italien in einem Benediktinerkloster<br />
Damit die Gesänge wirklich in allen Kirchen gleich klangen, wie dies Karl <strong>der</strong> Grosse<br />
gefor<strong>der</strong>t hatte, legte Arezzo Tonhöhen für jede Linie fest. Anstelle <strong>der</strong> farbigen Linie<br />
setzte er am Anfang des Systems die Buchstaben C o<strong>der</strong> F um die Halbtonpositionen<br />
zu markieren und so die absolute Tonhöhe zu bestimmen. Damit war auch <strong>der</strong><br />
4
Notenschlüssel erfunden. Der Rest ergab sich wie von selbst, die Neumen wurden<br />
auf die Linien gesetzt. Später ersetzte man die Zeichen mit kleinen Vierecken.<br />
C-Bezeichnung / C-Schlüssel F-Bezeichnung / F-Schlüssel<br />
Obschon die F-Bezeichnung zur damaligen Zeit eher selten verwendet wurde, ist <strong>der</strong><br />
F- o<strong>der</strong> Bassschlüssel bis heute im Gebrauch (v.a. Klavier und tiefe Instrumente).<br />
Vier Notenlinien reichten vollkommen aus. Dies lag nicht allein am geringen Tonum-<br />
fang <strong>der</strong> Melodien, son<strong>der</strong>n vor allem an den verschiedenen, flexibel eingesetzten<br />
Notenschlüsseln. Damit können unterschiedliche Stimmlagen ins Liniensystem ein-<br />
gepasst werden, ohne dass unübersichtliche Hilfslinien gesetzt werden müssen.<br />
Das fixierte F wurde zum heutigen F- o<strong>der</strong> Bassschlüssel<br />
Alt- und Tenorschlüssel fixieren das C<br />
Der Altschlüssel, bekannt als Bratschenschlüssel, wird heute vorwiegend für die Vio-<br />
la (=Bratsche) eingesetzt. Er legt das c‘ auf <strong>der</strong> dritten Notenlinie fest. Daraus können<br />
alle an<strong>der</strong>n Töne abgeleitet werden.<br />
Achtung: Notenlinien immer von unten zählen!<br />
Der Altschlüssel ist aber auch für Blechbläser nützlich. Werden<br />
Stimmen in einem Ensemble mit an<strong>der</strong>n Instrumenten gespielt als<br />
ursprünglich geplant, kann das Übertragen <strong>der</strong> Noten auf ein<br />
an<strong>der</strong>es Instrument einfach und schnell erfolgen. So könnte eine Stimme für hohe<br />
Posaune von einem Horn o<strong>der</strong> einer Trompete übernommen werden.<br />
und hat je nach Grösse und Ausführung 5 - 7 Saiten.<br />
Auch <strong>der</strong> Tenorschlüssel ist bis heute aktuell, z.B.<br />
für Posaunen o<strong>der</strong> tiefere Streichinstrumente wie<br />
Cello o<strong>der</strong> Gambe. Die Gambe ist älter als das Cello<br />
5
Guido von Arezzo machte eine weitere bedeutende Erfindung. Als Gesangslehrer<br />
wollte er die lange Lehrzeit zum Aufbau des Repertoires <strong>der</strong> Gregorianischen Chorä-<br />
le verkürzen. Ein Mönch benötigte über zehn Jahre, ehe er alle Choräle singen konn-<br />
te, die Melodien mussten mehr o<strong>der</strong> weniger auswendig gelernt werden. Guido von<br />
Arezzo bezeichnete deshalb die Quadrate auf den Notenlinien mit Namen. Dabei<br />
war es ihm wichtig, dass sich diese Namen auch gut singen liessen. Er nannte sie Ut,<br />
Re, Mi, Fa o<strong>der</strong> Sol. Der Abstand zwischen mi und fa blieb immer ein Halbton, <strong>der</strong><br />
Abstand zwischen den übrigen Tonstufen jeweils ein ganzer Ton. Die gleich bleiben-<br />
den Tonabstände konnten leichter eingeprägt werden. Einer von Arezzos Schülern<br />
machte sogar den Vorschlag, sich die Silben auf die Hand zu malen. So konnte <strong>der</strong><br />
Dirigent dem Chor allein mit seinen Fingern den richtigen Verlauf <strong>der</strong> Melodie zei-<br />
gen. Mit diesem System (Solmisation) verkürzte sich die Lehrzeit <strong>der</strong> Choralschule<br />
angeblich auf ein Jahr.<br />
Die Solmisation wird bis heute angewendet, damit lässt sich jede Melodie im tonalen<br />
Raum singen.<br />
Fast 600 Jahre lang bezeichneten die Silben keine festen Tonhöhen, son<strong>der</strong>n bestimm-<br />
te Orte und Funktionen im Tonsystem. Nach heutigem Sprachgebrauch sind das die<br />
„relativen“ Tonhöhen.<br />
Um 1600 allerdings begannen französische Musiker, die Silben auf feste Tonhöhen<br />
anzuwenden – ut entsprach dem c, re dem d, usw. Ab Mitte des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
wurde die Silbe ut allmählich durch do ersetzt. Gegen Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
zeichnete sich in <strong>der</strong> Musikpädagogik eine Renaissance <strong>der</strong> relativen Solmisation ab.<br />
Blattlesen und Gehörbildung (Solfège) werden vielerorts nach diesem Prinzip gelehrt<br />
6
und gelernt. Die absolute Bezeichnung <strong>der</strong> Notensilben (Do statt C, Mi statt D, usw.)<br />
wird in Frankreich und <strong>der</strong> Französischen Schweiz noch heute benutzt.<br />
Handzeichen zur Solmisation nach John Curwen (1816-1880)<br />
Die Bezeichnung Quadratnotation kommt von <strong>der</strong> vorwiegend quadratischen Form<br />
<strong>der</strong> Notenzeichen. Durch die Benutzung von Fe<strong>der</strong>kielen erhielten die Noten ihre<br />
charakteristische Form. Quadrate waren damit einfacher zu schreiben als Kreise o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>e Formen.<br />
.<br />
Quadratnotation aus dem 12. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
Mit <strong>der</strong> Quadratnotation hatte man jetzt erstmals die Möglichkeit, durch genaues<br />
Untereinan<strong>der</strong>stellen <strong>der</strong> Zeichen zumindest den gleichzeitigen Eintritt von Tönen in<br />
verschiedenen Stimmen anzugeben. Das neue Organum konnte jetzt aufgezeichnet,<br />
komponiert und gesungen werden.<br />
In mo<strong>der</strong>nen römisch-liturgischen Chorbüchern wird bis heute bewusst die Quadrat-<br />
notation mit vier Notenlinien verwendet.<br />
7
Die Notenschriften aus dem Mittelalter wurden zum Teil auf Pergament (ungegerbte<br />
Tierhäute neugeborener Ziegen und Lämmer) geschrieben und reich verziert. Viele<br />
<strong>der</strong> kostbaren Dokumente sind in Bibliotheken ausgestellt und öffentlich zugänglich,<br />
u.a. in <strong>der</strong> Stiftsbibliothek St. Gallen. Notker Balbulos (ca. 840-912) war einer <strong>der</strong> be-<br />
deutendsten Schreiber und Dichter des Klosters St. Gallen.<br />
8
Die Notre-Dame-Epoche bildete einen ersten Höhepunkt in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong><br />
Mehrstimmigkeit. Die berühmte Sängerschule in Paris fällt zeitlich zusammen mit<br />
dem Bau <strong>der</strong> Kathedrale Notre Dame (1163) und dauert bis Mitte 13. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Pérotin (*zwischen 1150 und 1165 – ca. 1225) war <strong>der</strong> bekannteste Komponist <strong>der</strong><br />
Notre-Dame-Schule. Er entwickelte das Organum zu drei- und vierstimmigen Orga-<br />
na (Quadruplum). Mit einer dritten und vierten Stimme war die bis jetzt übliche freie<br />
Rhythmik nicht mehr anwendbar. Um ein geordnetes Zusammenspiel zu ermögli-<br />
chen, mussten deshalb die einzelnen Stimmen rhythmisch genauer festgelegt wer-<br />
den. Dazu verwendete Pérotin den sogenannten Modalrhythmus. Dieser Rhythmus<br />
basiert nicht auf einzelnen Schlägen im Taktgefüge, son<strong>der</strong>n auf sechs Elemen-<br />
tarrhythmen (Modi), die sich im Verlaufe eines Stückes regelmässig wie<strong>der</strong>holen.<br />
Je<strong>der</strong> Modus wurde durch eine sogenannte Ligatur in Quadratnotation aufgeschrie-<br />
ben. Eine Ligatur ist eine mit Balken verbundene Notengruppe zu 2-4 Noten. Das<br />
Muster <strong>der</strong> Abfolge von Ligaturen und Einzelnoten bezeichnet den Modus, in dem<br />
ein Stück gesungen wird.<br />
Beispiel für eine 2 stimmige Ligatur<br />
Ein Viereck mit Hals bedeutet in diesem Fall eine lange Note (longa), eine Viereck<br />
ohne Hals ist eine kurze Note (brevis). Ein Viereck, das mit <strong>der</strong> Spitze nach unten<br />
zeigt, ist eine mittellange Note (semibrevis).<br />
Longa — Brevis — Semibrevis<br />
9
Allerdings gibt es hier einen deutlichen Unterschied zur heutigen Notenschrift:<br />
Eine lange Note war gemäss Modalnotation dreimal so lang wie eine kürzere Note.<br />
Die Dreiteilung wurde von den Mönchen als „perfekte Form“ verstanden, denn im<br />
Mittelalter glaubte man an eine spezielle Ordnung <strong>der</strong> Welt, die sich in drei geheim-<br />
nisvollen Zahlen offenbarte. Die Drei spielte dabei die wichtigste Rolle, die Dreifal-<br />
tigkeit, also <strong>der</strong> Glaube an Gott den Vater, seinen Sohn Jesus Christus und an den<br />
Heiligen Geist. Eine weitere wichtige Zahl war die Vier. Sie umfasste alle Eigenschaf-<br />
ten <strong>der</strong> Welt: die vier Himmelsrichtungen, die vier Jahreszeiten, vier Temperamente<br />
o<strong>der</strong> Launen des Menschen. Die Aufteilung <strong>der</strong> Welt in Drei und Vier war logisch,<br />
da drei mal vier zwölf ergibt. Jesus hatte zwölf Jünger und es gibt zwölf Monate. In<br />
<strong>der</strong> Zahl zwölf verschmelzen sich Glaube und Welt. Auf dem Klavier gibt es übri-<br />
gens innerhalb einer Oktave zwölf verschiedene Tasten. Auch die Baumeister des<br />
Mittelalters haben in ihrer Architektur auf die Masse drei, vier und zwölf vertraut.<br />
Wenn du eine alte Kirche anschaust, achte mal, wie viele Säulen kannst du zählen?<br />
Die komponierten Männerstimmen von Pérotin bewegen sich im hohen Bereich im<br />
Modalrhythmus. Im Mittelalter wurden helle, durchsichtige, lineare Klänge bevor-<br />
zugt.<br />
Da die Modalnotation nur eine festgelegte Anzahl an verschiedenen Rhythmen zu-<br />
liess, ergab sich bald die Notwendigkeit einer Reform. Die zunehmende Komplexität,<br />
vor allem zur <strong>Notation</strong> von Motetten (mehrstimmige Vokalmusik mit Text / mot)<br />
und instrumentaler Musik, verlangte nach einer Festlegung von einzelnen Notenwer-<br />
ten. Der Komponist Philippe de Vitry (1291-1361) schrieb im 14. Jahrhun<strong>der</strong>t ein<br />
Buch mit dem Titel „Ars nova“ (= neue Kunst). Darin löste er die Dreiteilung <strong>der</strong> No-<br />
tenlängen auf und ersetzte diese durch die Zweiteilung. Das Aufschreiben <strong>der</strong> kom-<br />
plizierter werdenden Musik wurde dadurch erheblich erleichtert, aber löste gleich-<br />
zeitig einen Glaubenskrieg aus. Papst Johannes XXII wollte bei <strong>der</strong> alten Dreiteilung<br />
bleiben, konnte sich aber nicht durchsetzen.<br />
Diese weisse Mensuralnotation blieb bis ca. 1600 im Gebrauch<br />
10
Die Mensuralnotation ermöglichte jetzt eine vielfältigere und klarere Aufteilung <strong>der</strong><br />
Rhythmen. Die unterschiedliche Dauer <strong>der</strong> Noten wurde jetzt erstmals anhand un-<br />
terschiedlicher Notenformen veranschaulicht. Neben <strong>der</strong> perfekten dreiteiligen Men-<br />
sur entstanden nun auch Kompositionen mit geraden Taktarten. Das genaue Ver-<br />
hältnis hing von dem Wert <strong>der</strong> Nachbarnote(n) ab. Ab jetzt wurden Systeme mit fünf<br />
Linien verwendet.<br />
Notenschrift aus dem frühen 16. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
Da in <strong>der</strong> Ars Nova als nächst kleinerer Notenwert die Minima hinzutrat, musste<br />
nun auch die Länge <strong>der</strong> Semibrevis bestimmt werden.<br />
11
Vor <strong>der</strong> Erfindung des Buchdrucks hatten Chöre meist nur ein einzelnes handschrift-<br />
liches Exemplar eines Werkes zur Verfügung. Bedingt durch die Vergrösserung <strong>der</strong><br />
Chöre wurden die Noten immer grösser geschrieben, damit je<strong>der</strong> Sänger aus dem<br />
Chorbuch lesen konnte. Im 15. Jahrhun<strong>der</strong>t wurde das Ausfüllen <strong>der</strong> grossen Noten-<br />
köpfe zu aufwendig. Tinte war kostbar und ausserdem war das verwendete Papier<br />
dünner als Pergament und konnte leichter reissen wenn es feucht war. So entstand<br />
die sogenannte weisse Mensuralnotation. Die Schwärzung erfolgte nur noch zur<br />
Kennzeichnung beson<strong>der</strong>s kleiner Notenwerte. Diese Schrift ist <strong>der</strong> heutigen Noten-<br />
schrift bereits sehr ähnlich.<br />
Im 15. Jahrhun<strong>der</strong>t begann man, Notensysteme mit Hilfe vertikaler Linien, den soge-<br />
nannten Mensurstrichen, in Abschnitte zu teilen.<br />
Diese Linien waren noch keine Taktstriche im mo-<br />
<strong>der</strong>nen Sinne, son<strong>der</strong>n eher eine Art Zäsur.<br />
Die Musik jener Zeit zeigte noch unregelmässige<br />
Muster, die Striche wurden zu Hilfe genommen um<br />
in Partituren anzuzeigen, an welchen Stellen die ver-<br />
schiedenen Stimmen gleichzeitig abzusetzen, einzu-<br />
setzen o<strong>der</strong> zu atmen hatten.<br />
Die Mensuralnotation blieb bis ca. 1600 im Gebrauch. Mit dem Einzug tänzerischer<br />
Formen im 16./17. Jahrhun<strong>der</strong>t, setzte die bis heute gebräuchliche <strong>Notation</strong> ein. Da-<br />
bei wurden die kleinsten Notenwerte <strong>der</strong> weissen Mensuralnotation übernommen<br />
und die Taktarten mit den Taktstrichen eingeführt. Die Notenzeichen blieben bis<br />
heute erhalten: Aus <strong>der</strong> Semibrevis wurde die ganze Note, aus <strong>der</strong> Minima die Halbe,<br />
usw. Zudem finden die Brevis als Doppelganze und seltener auch die Longa als Vier-<br />
fachganze heute noch Verwendung, z.B. in langen Schlussakkorden.<br />
Aus <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Notation</strong> zeigt sich, dass ihre Entwicklung hauptsächlich aus<br />
den Bedürfnissen <strong>der</strong> gesungenen Musik entstand. Seit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung Karl des<br />
12
Grossen, die Liturgie <strong>der</strong> Kirchen zu vereinheitlichen, wurden grossartige Lösungen<br />
gefunden. Mit <strong>der</strong> Musik aus dem 16. Jahrhun<strong>der</strong>t stand ein Notensystem, das wir<br />
noch heute benutzen.<br />
Handschrift aus dem 17. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
Heute werden die Noten kaum noch in Handschrift notiert. Die ersten Experimente,<br />
Computer für den Notendruck einzusetzen, fanden ab 1960 statt. Ernst zu nehmende<br />
Ergebnisse gibt es seit ca. 1990. Neben Notensatzprogrammen wie z.B. Finale, Sibeli-<br />
us o<strong>der</strong> capella, gibt es auch Open-Source Lösungen wie z.B. MuseScore, LilyPond,<br />
MusiXTeX.<br />
Hier findest du eine Seite zum Surfen mit Spielanweisungen zur allgemein ge-<br />
bräuchlichen Notenschrift.<br />
Hast du Mühe mit Notenlesen? Eine umfassende Einführung in das Notenlesen<br />
anhand von klingenden Partituren und Arbeitsmaterialien findest du in „Partitur<br />
entdecken“.<br />
Eine Partitur ist eine Zusammenstellung aller Einzelstimmen einer Komposition, so<br />
dass <strong>der</strong> Dirigent das musikalische Geschehen auf einen Blick überschauen kann.<br />
13
Durch An- und Abschalten einzelner Stimmen kannst du in <strong>der</strong> "Gläsernen<br />
Partitur" das Zusammenspiel genauer untersuchen und entdecken.<br />
Für gewisse Spezialgebiete gibt es alternative Notenschriften.<br />
Blindenschrift<br />
Der blinde Franzose Louis Braille (1809 – 1852) spielte selber Klavier und Orgel und<br />
erfand 1830 eine Notenschrift für Blinde. Unter Verwendung <strong>der</strong>selben Zeichen wie<br />
in seiner Blindenschrift, erfand er ein ausgeklügeltes System von Noten-, Oktav-,<br />
Harmonie- und Zusatzsymbolen.<br />
Zur Verdeutlichung des Grundmusters <strong>der</strong> Brailleschrift stelle man sich die Sechs auf<br />
einem Spielwürfel vor. Mit den 63 möglichen Punktkombinationen werden alle<br />
Schriften dargestellt (inkl. verschiedene Sprachen, Mathematik- und Chemieschrift).<br />
Die Braille-Notenschrift ist bis heute weltweit in Gebrauch.<br />
Die verschiedenen Hände beim Klavier werden meistens abschnittweise untereinan-<br />
<strong>der</strong> gesetzt. Da <strong>der</strong> blinde Musiker die Noten auswendig lernt, und die Musikstücke<br />
so übersichtlich wie möglich aufgeschrieben werden müssen, bietet die Braille-<br />
Notenschrift auch Abkürzungsmöglichkeiten für die Wie<strong>der</strong>holung einzelner Takte<br />
o<strong>der</strong> Taktteile. Mit <strong>der</strong> Braille-Notenschrift ist es kaum möglich vom Blatt zu spielen,<br />
weil eine Hand Zeichen für Zeichen durchgehen muss um den Zusammenhang zu<br />
erkennen.<br />
Für den Tastsinn ist die Braille-Notenschrift eine Herausfor<strong>der</strong>ung. Um die 63 For-<br />
men sicher und schnell voneinan<strong>der</strong> zu unterscheiden, braucht es viel Zeit und<br />
Übung. In einer Vielzahl von zusätzlichen Kennzeichnungen, die dem Musikstück<br />
vorangestellt sind, werden Stimmen, Oktavlage, Rhythmus, Akkorde, Tempo, Dy-<br />
namik, usw. bezeichnet.<br />
Musikwerke sind sehr umfangreiche Nie<strong>der</strong>schriften und weisen auf dem Papier oft<br />
mehrere Notenzeilen parallel auf. In Blindennotenschrift kann man diese nur nachei-<br />
nan<strong>der</strong> notieren. Die Braille-Notenschrift erfor<strong>der</strong>t von blinden Musikern deshalb<br />
sehr viel Kopf- und Gedächtnisarbeit.<br />
14
Als Beispiel das Lied "Alle meine Entchen" in Musikbraille:<br />
Dies ist nur eine vereinfachte Darstellung, da weitere Zeichen zu Dynamik, Harmo-<br />
nie, Pausen, Oktaven, Bindungen, Stimmen und mehr dazu kommen.<br />
Tabulaturen<br />
Diese Notenschrift beruht auf einer uralten Tradition.<br />
Die Lautenisten spielten nicht nach Noten, son<strong>der</strong>n nach Tabulaturen. Diese Notati-<br />
onsform bildet das Griffbrett <strong>der</strong> Laute (Linie = Saiten) und die Position <strong>der</strong> Finger<br />
ab. Die Tabulatur wird wie die Notenschrift von links nach rechts gelesen. In <strong>der</strong><br />
zeitgenössischen Musik wird sie zum Teil auch heute benutzt.<br />
Kurzschriften für Akkorde<br />
In <strong>der</strong> Tradition des Generalbasses wird eine Bassstimme mit Ziffern versehen, aus<br />
denen sich <strong>der</strong> über dem Basston zu spielende Akkord ableiten lässt.<br />
15
Viele Komponisten benutzten die Bezifferung aber auch,<br />
um rasch den harmonischen Verlauf eines Werkes skizzieren zu können. So konnte<br />
sich Franz Xavier Süssmayr bei seiner Vollendung von Mozarts Requiem auf einige<br />
bezifferte Bässe stützen, die Mozart noch selbst notiert hatte. Die Abbildung zeigt<br />
einen einfachen Generalbass, im oberen System ist eine mögliche Ausführung <strong>der</strong><br />
Bezifferung ausgeschrieben.<br />
Melodien mit Akkorden<br />
Eine an<strong>der</strong>e Richtung verfolgen die heute vor allem im Jazz und in <strong>der</strong> Popularmusik<br />
üblichen Akkordsymbole, die neben dem Notennamen des Akkord-Grundtons einen<br />
Code aus Buchstaben und Ziffern aufweisen, mit dem die Art <strong>der</strong> Harmonie be-<br />
schrieben wird. Dieses System, kommt ganz ohne Notenlinien aus. Es gibt auch<br />
Sammlungen, in denen lediglich Text und Akkordsymbole eines Liedes abgedruckt<br />
sind, weil die Melodie als bekannt vorausgesetzt wird.<br />
Grafische <strong>Notation</strong><br />
Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t wollten sich viele Komponisten vom Notenbild lösen. Da sie die-<br />
ses ungeeignet und zu konkret für ihre Musik fanden, begannen sie mit grafischer<br />
<strong>Notation</strong> zu experimentieren, um <strong>der</strong> eigenen Inspiration und <strong>der</strong> Kreativität <strong>der</strong><br />
ausführenden Musiker mehr Platz zu geben.<br />
O<strong>der</strong> wie würdest du die Musik von George Crumb aufschreiben?<br />
Zusätzlich zu den herkömmlichen Elementen <strong>der</strong> Notenschrift o<strong>der</strong> anstelle <strong>der</strong>sel-<br />
ben, werden an<strong>der</strong>e Symbole und Texte verwendet, teilweise auch Farben, um die<br />
Ausführung eines Musikstücks zu beschreiben. Sie wird seit dem 20. Jahrhun<strong>der</strong>t in<br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verwendet, wo die traditionelle <strong>Notation</strong> nicht ausreicht, um Inhalte<br />
und Spontanität einer musikalischen Idee zu vermitteln.<br />
Der Cluster (engl. Gruppe, Haufen, Traube) steht für einen Klang, dessen Töne nahe<br />
beieinan<strong>der</strong> liegen. Auf Tasteninstrumenten werden mehrere Nachbartasten gleich-<br />
16
zeitig angeschlagen, entwe<strong>der</strong> mit den Fingern, <strong>der</strong> Faust, <strong>der</strong> Handfläche o<strong>der</strong> dem<br />
Unterarm. Der amerikanische Komponist Henry Cowell hat erstmals 1912 in seinem<br />
Klavierstück „The Tides of Manaunaun“ Cluster verwendet.<br />
Die gebräuchlichste mo<strong>der</strong>nere <strong>Notation</strong>sform sieht so aus:<br />
Aber auch <strong>der</strong> Komponist György Ligeti (1923 – 2006) setzte in seiner Orchestermusik<br />
Atmosphères Cluster ein. Ligeti gilt als innovativer Erneuerer <strong>der</strong> Neuen Musik.<br />
Hier einige gebräuchliche Zeichen für rhythmische Bezeichnungen:<br />
Strich o<strong>der</strong> punkt als Symbol <strong>der</strong> Tondauer<br />
Abstände <strong>der</strong> Tonfolge dem optischen Bild entsprechend<br />
schneller werden<br />
langsamer werden<br />
unregelmässige Tonfolge<br />
Kurze Fermate<br />
lange Fermate<br />
17
Ausschnitt aus <strong>der</strong> Partitur „Atmosphères“ von György Ligeti<br />
18
Komponisten, die grafische <strong>Notation</strong> verwenden, sind u.a. Christian Wolff, John<br />
Cage, Luciano Berio.<br />
Ein Beispiel für grafische <strong>Notation</strong>, das heisst eine Zeichnung, die unmittelbar zu<br />
musikalischer Umsetzung auffor<strong>der</strong>t, ist Mäandros von Anestis Logothesis. Die Le-<br />
serichtung sowie ein Zeitraster sind vorgegeben.<br />
Grafische <strong>Notation</strong> ist oft eine freie, vieldeutige <strong>Notation</strong>sart, <strong>der</strong>en Zeichen und Le-<br />
searten in einer Legende o<strong>der</strong> einem Textkommentar erklärt werden.<br />
Die musikalische Grafik hingegen hat einen ästhetischen Eigenwert als visuelle<br />
Kunst und muss nicht durch ihre Übersetzbarkeit in Musik definiert werden. Wie<br />
Bildpartituren, also Bil<strong>der</strong> statt Grafiken, ist die musikalische Grafik ohne Darstel-<br />
lungsabsicht einer konkreten Musik entworfen worden, kann aber in Musik über-<br />
setzt werden.<br />
Schau doch mal: erSCHAUTE KLÄNGE von Anestis Logothetis<br />
Eine Adresse zum Surfen über Grafische <strong>Notation</strong> und Musikalische Grafik.<br />
19