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die pdf-Version zum Herunterladen - Wentzinger Gymnasium

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Abitur 2012<br />

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Eltern,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr verehrte Gäste!<br />

Uns alle vereint heute ein ganz besonderer Anlass, ein besonders schöner Anlass:<br />

Es ist geschafft! Das mit Angst und Spannung erwartete „Abi Zwanzig-zwölf“, es ist<br />

vollbracht.<br />

Dass <strong>die</strong>s kein gewöhnliches Abitur ist, sehen wir schon an der ungewöhnlichen<br />

Örtlichkeit, in der ich Sie alle ganz herzlich begrüße. Mit – geschätzten – fast 700<br />

Gästen wird <strong>die</strong>se Abi-Feier sicherlich in <strong>die</strong> Annalen des <strong>Wentzinger</strong>-<strong>Gymnasium</strong>s<br />

eingehen. Aber nicht nur <strong>die</strong> große Anzahl der Abiturienten des sog. „Doppel-<br />

Jahrgangs“ macht das Abi 12 zu einer Besonderheit, <strong>die</strong>ses Abitur ist in vielerlei Hinsicht<br />

einzigartig.<br />

Deshalb beglückwünsche ich uns alle zu <strong>die</strong>sem außergewöhnlichen Abschluss.<br />

Der erste und größte Glückwunsch gilt natürlich Ihnen, liebe Abiturientinnen und<br />

Abiturienten. Sie haben Ihr Ziel erreicht. Ob nach 8, 9 oder für manchen gar nach 10<br />

oder 11 Jahren – Sie haben es geschafft! Es waren viele Hürden zu nehmen – innerlich<br />

wie äußerlich. Sie alle, <strong>die</strong> Sie jetzt hier mit uns feiern, haben auch <strong>die</strong> letzte genommen<br />

... und das ist einen Applaus wert.<br />

180 Abiturienten: das ist schon eine Spitzenleistung. Und „spitze“ waren auch Ihre<br />

Leistungen. Madleina Spatz und Sarah Guy mit 1,0 haben gezeigt, was möglich ist. Aber<br />

es gab auch „Punktlandungen“: exakt 100 Punkte im Abi-Block ist in gewissem Sinne<br />

auch eine Kunst.<br />

Wir feiern nicht nur das Abitur. Wir gratulieren einigen von Ihnen auch <strong>zum</strong> bestandenen<br />

Baccalaureát. Zum dritten Mal führt das <strong>Wentzinger</strong>-<strong>Gymnasium</strong> einen bilingualen Zug<br />

erfolgreich <strong>zum</strong> Abschluss. Zehn von Ihnen haben mit dem Abi auch das Bac erreicht.<br />

Das hat viel zusätzliche Kraft und Mühe gekostet. Aber ich bin sicher, <strong>die</strong> Anstrengung<br />

hat sich gelohnt. Sie gehören zu den wenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Doppel-Qualifikation erhalten<br />

und damit stehen Ihnen sicher nun einige Türen mehr offen.<br />

Seit Einführung des 8-jährigen <strong>Gymnasium</strong>s war das Abitur 2012 im Brennpunkt vieler<br />

Diskussionen.<br />

Wird <strong>die</strong> Zusammenführung der beiden Bildungsgänge in einer gemeinsamen Oberstufe<br />

gelingen?<br />

Werden <strong>die</strong> Abitur-Anforderungen den Veränderungen angemessen Rechnung tragen?<br />

Werden <strong>die</strong> personellen und räumlichen Ressourcen ausreichend sein? ...<br />

Bis hin zu der Frage: Wie wird es anschließend weitergehen?<br />

Werden <strong>die</strong> Hochschulen und der Lehrstellenmarkt <strong>die</strong>se Abiturientenzahlen verkraften<br />

können?<br />

Fragen über Fragen, <strong>die</strong> Schüler, Eltern, Lehrer und viele Verantwortliche in Stadt und<br />

Land gleichermaßen beschäftigten.<br />

1


Die ersten Fragen sind nun beantwortet. Sie, <strong>die</strong> Abiturienten 2012, sind der lebendige<br />

Beweis. Auf <strong>die</strong> letzte Frage werden Sie nun eigenständig <strong>die</strong> Antwort finden müssen,<br />

und ich hoffe, jeder wird für sich eine gute, eine richtige Antwort finden.<br />

Aber: Hat sich <strong>die</strong>ser ganze Aufwand wirklich gelohnt?<br />

Kann das „G-8-Experiment“ als gelungen angesehen werden?<br />

Es mutet geradezu grotesk an, dass in der gleichen Woche, in der wir den ersten G-8-<br />

Jahrgang entlassen, in der Gesamtlehrer-Konferenz über <strong>die</strong> Wieder-Einführung eines<br />

9-jährigen <strong>Gymnasium</strong>s beraten wird.<br />

Wie Sie es in Ihrem Abi-Motto treffend <strong>zum</strong> Ausdruck bringen: Ein pädagogisches<br />

Experiment produziert zwangsläufig auch „Versuchskaninchen“.<br />

Ich habe es einmal nachgerechnet: In meinen 40 Dienstjahren habe ich immerhin 8<br />

Kultusminister erlebt, um nicht zu sagen: „überlebt“. Jeder hat an irgendwelchen<br />

Rädchen gedreht, und jedes Mal mussten Schule und Schüler <strong>die</strong> Konsequenzen<br />

tragen. Der Bildungssektor weckt immer schon <strong>die</strong> besonderen Begehrlichkeiten der<br />

Politiker. Denn wer <strong>die</strong> Jugend hat, hat <strong>die</strong> Zukunft in seiner Hand. Darauf komme ich<br />

noch einmal zurück.<br />

Bleiben wir bei den Versuchkaninchen und den alten Hasen.<br />

Ungeachtet der Frage, ob <strong>die</strong> Jahrhundertreform G 8 Sinn macht oder nicht: Ich denke,<br />

wir hier in <strong>die</strong>ser Halle haben für uns das Beste daraus gemacht.<br />

Dafür danke ich allen!<br />

Ich danke den Schülerinnen und Schülern, <strong>die</strong> <strong>die</strong> vielfältigen Belastungen und<br />

Erschwernisse gemeistert haben.<br />

Da schließe ich alle – G8 wie G9 – mit ein; denn <strong>die</strong> Zusammenführung in der<br />

gemeinsamen Oberstufe war für alle eine Herausforderung.<br />

In <strong>die</strong>sem Zusammenhang danke ich besonders auch den Schülervertretern und<br />

Schülersprechern unter Ihnen, <strong>die</strong> in den letzten Jahren viel Erfreuliches auf den Weg<br />

gebracht haben.<br />

Ich danke den Eltern für dafür, dass Sie gerade im Hinblick auf <strong>die</strong> vielen<br />

Verunsicherungen dem <strong>Wentzinger</strong>-<strong>Gymnasium</strong> und damit uns Lehrern Ihr Vertrauen<br />

geschenkt haben. „Danke“ für <strong>die</strong> sehr konstruktive Zusammenarbeit im Elternbeirat und<br />

in vielen anderen Gesprächsrunden.<br />

Und ich nehme mir <strong>die</strong> Freiheit, Ihnen an <strong>die</strong>ser Stelle ganz besonders im Namen Ihrer<br />

Kinder zu danken – zu danken für <strong>die</strong> großartige Unterstützung während der vielen<br />

Jahre, in denen <strong>die</strong> Schule in mannigfacher Weise in das Familienleben hineingefunkt<br />

hat... bis hin zu tatkräftiger Hilfe bei der Organisation des Abi-Balles.<br />

Für das Kollegium war <strong>die</strong> Umstellung auf den 8-jährigen Bildungsgang ein enormer<br />

Kraftakt, der viel Arbeitszeit und große Anstrengungen erfordert hat.<br />

Stundentafeln mussten entwickelt, schuleigene Lehrpläne für alle Fächer neu erstellt<br />

werden. Neue Schulbücher mussten getestet und eingeführt werden. Jede Schule<br />

musste quasi für sich „das Rad neu erfinden“.<br />

Der häufige Nachmittagsunterricht erzeugte weitere Probleme: Mittagessen musste her,<br />

zunächst im Hüttinger-Haus, dann in der neuen Mensa mit „Bio for kids“ und<br />

Qualitätszirkeln. Hausaufgaben-Betreuung wurde organisiert, <strong>die</strong> Zusammenarbeit mit<br />

der Ökostation intensiviert bis hin zur Einrichtung eines umfangreichen Ganztages-<br />

Angebotes für beide <strong>Wentzinger</strong> Schulen.<br />

Dies alles wäre unter normalen Bedingungen schon mehr als genug. Wäre da nicht<br />

noch zu <strong>die</strong>sen vielen pädagogischen Baustellen <strong>die</strong> echte hinzu gekommen.<br />

So danke ich meinem Kollegium besonders herzlich für all <strong>die</strong>se Leistungen, <strong>die</strong> Sie in<br />

den letzten Jahren zusätzlich erbracht haben. Und ich danke vor allen Dingen dafür,<br />

dass Sie bei all <strong>die</strong>sen widrigen Umständen guten Mutes geblieben sind und <strong>die</strong><br />

2


wichtigste Eigenschaft eines Pädagogen: den notwendigen Humor nicht verloren haben.<br />

Auch wenn das Rad, das wir neu erfinden mussten, nicht immer ganz rund lief, war es<br />

Ihr großes Engagement für unsere Schüler, dass <strong>die</strong>s alles so erfolgreich bewältigt<br />

werden konnte.<br />

Lassen Sie mich einige Kolleginnen und Kollegen besonders erwähnen.<br />

Ich sprach eben von der Befürchtung von uns Schulleitern, ob <strong>die</strong> Personal-Ressourcen<br />

für den Doppeljahrgang überhaupt reichen würden.<br />

Am <strong>Wentzinger</strong> haben sie gereicht. Dies u. a. deshalb, weil ein paar „Oldstars“ bereit<br />

waren, trotz Pensionierung ihr pädagogisches Werk zu vollenden. Danke an Frau<br />

Hoffmann, Herrn Opitz und Herrn Schulte.<br />

Ein ganz besonderes „Dankeschön“ gilt den Oberstufenberatern. Mit großer<br />

Einsatzfreude und Umsicht standen sie uns allen während der letzten 2 Jahre zur Seite.<br />

Sie haben <strong>die</strong> Schülerinnen und Schüler der Kursstufe nicht nur sicher durch den<br />

Dschungel der gesetzlichen Bestimmungen geführt; sie hatten auch stets ein offenes<br />

Ohr für <strong>die</strong> persönlichen Belange und waren in <strong>die</strong>sem Sinne Ihre Anwälte.<br />

Danke, Herr Buhl und Herr Hutterer!<br />

Ich sagte es schon: All <strong>die</strong>s musste unter den erschwerten Bedingungen einer realen<br />

Baustelle geplant und organisiert werden. Eine logistische Meisterleistung! Dafür danke<br />

ich den Stundenplanern: Frau Tritschler und Frau Hoffmann bzw. in der Nachfolge Herrn<br />

Rudolph.<br />

Auch ich als Schulleiter konnte all’ das nur stemmen, weil ich ein hervorragendes<br />

Mitarbeiter-Team habe. Allen voran, aber auch stellvertretend möchte ich Dir, lieber<br />

Georg Weiser, dafür meinen persönlichen wie unser aller Dank sagen.<br />

Bleibt noch, jemanden zu erwähnen, der immer für alle und für alles da ist. Ich denke,<br />

Sie ahnen schon, wen ich meine. Schüler, Eltern, Lehrer und wer sonst noch ein<br />

Anliegen haben mag: Frau Grösser kann helfen und sie hilft gerne. So auch heute<br />

Abend wieder. Sie sorgt dafür, dass <strong>die</strong>se Feier ihren angemessenen Ausklang findet.<br />

Wie Sie wissen, verbindet mich mit dem Abi-Jahrgang 2012 nicht nur, dass ich von der<br />

ersten Stunde an mit von der Partie war und einen Teil von Ihnen selbst unterrichtet<br />

habe. Es ist noch etwas anderes, das wir gemeinsam haben. Auch für mich ist das Ende<br />

meiner Schulzeit gekommen, auch ich werde <strong>zum</strong> Ende <strong>die</strong>ses Schuljahres unser<br />

<strong>Wentzinger</strong> verlassen. Zugegeben, ich war insgesamt etwas länger in der Schule als Sie<br />

und auch am <strong>Wentzinger</strong>-<strong>Gymnasium</strong>. Gemeinsam ist jedoch, dass für Sie und für mich<br />

ein neuer Lebensabschnitt beginnt und wir hoffentlich das Beste daraus machen. Bei<br />

Ihnen bin ich mir da ziemlich sicher!<br />

Aus <strong>die</strong>sem Grund ist Ihr Abitur auch für mich etwas Besonderes. So wie Sie vielleicht in<br />

den letzten Tagen Ihre Zeit am <strong>Wentzinger</strong> Revue passieren ließen, ist <strong>die</strong>ser Tag auch<br />

für mich Anlass zu einer Replik, einer Rückschau auf meine Jahre am <strong>Wentzinger</strong> und<br />

damit auf <strong>die</strong> Zeit, <strong>die</strong> ich hier mitgestalten konnte.<br />

Diese, meine letzte Abiturrede ist deshalb auch etwas persönlicher gehalten.<br />

Sie sind der 13. Abitur-Jahrgang, den ich verabschiede. Zwölfmal stand ich also schon<br />

an ähnlicher Stelle und habe das Wort an <strong>die</strong> erfolgreichen Abgänger gerichtet.<br />

Die Vorbereitungen auf <strong>die</strong>se Feier waren für mich ein Motiv, meine alten Abi-Reden<br />

noch einmal zu lesen. Ich habe dabei einen roten Faden gefunden, den roten Faden,<br />

der mein Denken seit meiner Stu<strong>die</strong>nzeit durchzieht.<br />

Zum Einen war und ist <strong>die</strong> Verabschiedung eines Abitur-Jahrganges für mich persönlich<br />

immer ein Moment des Innehaltens, des Nachdenkens und des Hinterfragens.<br />

Hinterfragt habe ich das System „Schule“ ebenso wie meine eigene Arbeit und damit<br />

implizit all das, was wir als Pädagogen den jungen Menschen im Laufe der Schulzeit so<br />

alles <strong>zum</strong>uten.<br />

3


Zum Anderen hat Bildung und Erziehung immer auch eine politische Dimension.<br />

Deshalb war es für mich selbstverständlich, <strong>die</strong> politischen und gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen, in <strong>die</strong> wir unsere Abiturienten entlassen, mit in den Blick zu<br />

nehmen.<br />

In den Abiturreden spiegelt sich deshalb Vieles wider, was sich politisch während meiner<br />

Zeit als Schulleiter des <strong>Wentzinger</strong>-<strong>Gymnasium</strong>s ereignet hat. Den einen oder anderen<br />

Gedanken werde ich wegen seiner Aktualität jetzt noch einmal aufgreifen.<br />

Vor zehn Jahren war der Euro gerade eingeführt, ein Thema von großer Bedeutung, ein<br />

Thema, das <strong>die</strong> Menschen bewegte.<br />

„Wichtig erscheint mir, dass mit dem Euro ein Symbol geschaffen wurde, das wie<br />

vielleicht kaum ein anderes Mittel dazu geeignet ist, Trennendes überwinden zu<br />

helfen“ ... und welches verhindert, „dass in Europa jene Feindseligkeiten wieder Platz<br />

greifen können, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Geschichte der europäischen Völker bis in <strong>die</strong> jüngste<br />

Vergangenheit bestimmt haben“, hatte ich in meiner Abi-Rede 2002 gesagt.<br />

Heute, 10 Jahre später, ist der Euro wieder Thema Nummer 1, und eine Abiturrede kann<br />

an der aktuellen Euro-Krise nicht einfach so vorbei gehen. Denn <strong>die</strong>se Krise wird unser<br />

Leben in naher Zukunft weiterhin entscheidend beeinflussen – also auch für Ihren<br />

Werdegang von entscheidender Bedeutung sein.<br />

So berechtigt meine damalige Hoffnung war und bleibt: Im Moment sieht es eher danach<br />

aus, dass der Euro – wenn nicht gleich ganz Europa, so doch viele Gemüter spaltet.<br />

Wie konnte es dazu kommen?<br />

Man sagt, da gebe es Länder, <strong>die</strong> einfach zu viele Schulden gemacht haben. Die haben<br />

Schuld an der ganzen Misere, das sind <strong>die</strong> Schuldigen. Man lasse sich <strong>die</strong>se<br />

Formulierung einmal auf der Zunge zergehen, das klingt ziemlich nach Verlust der<br />

Unschuld, nach Erbsünde. Wenn jemand Schuld auf sich geladen hat, dann hat er<br />

gefälligst auch dafür zu sorgen, dass <strong>die</strong> Sache wieder in Ordnung kommt. Egal wie,...<br />

man kann ja z. B. Haus und Hof oder wie bei den Ärmsten der Armen üblich: seine<br />

Kinder verkaufen...<br />

Was man allzu gerne übersieht ist, dass <strong>die</strong> Sache ganz anders angefangen hat. Da<br />

gab es tüchtige Geschäftsleute und Bankiers, <strong>die</strong> haben denjenigen, <strong>die</strong> ihre teuren<br />

Waren nicht kaufen konnten, Kredite angeboten. „Kredit“ – das hört sich schon ganz<br />

anders als „Schulden“ an; denn „Kredit“ das hat etwas mit „Glauben“ zu tun. Man glaubt<br />

an jemanden und vertraut ihm. Und nebenbei ist <strong>die</strong>ses geschenkte Vertrauen auch<br />

noch ein paar muntere Zinsen wert. So ließen sich <strong>die</strong> teuren Produkte an den Mann<br />

bringen. Nur so konnten Aldi, Lidl, Norma, Billa und wie sie alle heißen, in fast jedem<br />

griechischen Dorf Fuß fassen und den heimischen Markt und <strong>die</strong> ansässigen<br />

Produzenten durch EU-Importware verdrängen.<br />

Das geht so lange gut, bis den Gläubigern Zweifel kommen, Zweifel an der Bonität, der<br />

Guthaftigkeit derer, denen sie seinerzeit ihren Glauben geschenkt haben. Dann wollen<br />

sie einfach etwas mehr Geld. Das festigt den Glauben wieder ein wenig und hilft, <strong>die</strong><br />

Zweifel für eine Weile zu zerstreuen.<br />

Wie das geht? Eigentlich ganz einfach. Diejenigen, <strong>die</strong> den Kredit vergeben, bestimmen<br />

auch den Preis, der für <strong>die</strong> Kreditwürdigkeit zu zahlen ist. Sie sind damit quasi ihr<br />

eigener Papst. Sie können Heiligsprechen oder verdammen, indem sie ex cathedra<br />

verkünden, wer „Tripel A“ erhält oder wessen Glaubwürdigkeit auf Null gesetzt wird.<br />

Wird der richtige Papst wenigstens noch von den Kurien-Kardinälen gewählt, haben<br />

<strong>die</strong>se selbst ernannten Päpste nicht <strong>die</strong> geringste demokratische Legitimation und sind<br />

4


dennoch in der Lage, <strong>die</strong> älteste europäische Demokratie beinahe aus den Fugen zu<br />

heben.<br />

„Hast du viel, wirst du bald noch viel mehr dazu bekommen.<br />

Hast du wenig, wirst dir bald auch das wenige genommen.<br />

Hast du aber nichts, du Lump – so lass’ dich gleich begraben;<br />

denn ein Recht zu leben haben nur <strong>die</strong>, <strong>die</strong> etwas haben“<br />

Dieser Vers von Heinrich Heine passt trefflich, bringt er doch das Prinzip der<br />

kapitalistischen Weltordnung in wenigen Worten auf den Punkt. Heinrich Heine, der<br />

beinahe der Namensgeber unseres <strong>Gymnasium</strong>s geworden wäre.<br />

Nein, es sind nicht <strong>die</strong> bösen Menschen, <strong>die</strong> Schulden gemacht haben, es ist auch nicht<br />

der Euro schlechthin für all das verantwortlich. Es ist das System, das verbrannte Erde<br />

hinterlässt, wenn <strong>die</strong> Renditen nicht mehr stimmen. Es sind <strong>die</strong> Milliarden, <strong>die</strong> nahezu<br />

mit Lichtgeschwindigkeit in Sekundenschnelle steuerfrei über den Globus wandern und<br />

sich dabei auch noch vermehren. Zahlen mit sehr vielen Nullen, für <strong>die</strong> es in der Realität<br />

keinen Gegenwert gibt. Geld, das von denjenigen frei erfunden wird, <strong>die</strong> das Sagen in<br />

Sachen „Geld“ haben. Kein anderes System hat <strong>die</strong> Macht, sich alle Spielregeln selbst<br />

geben zu können. Und sollte eine Regierung es wagen, <strong>die</strong>ses Tabu antasten zu wollen,<br />

das Schreckgespenst einer dadurch ausgelösten „Verunsicherung der Märkte“ – wie es<br />

so treffend heißt – wird sie schnell zur Raison bringen. Anschließend präsentieren <strong>die</strong><br />

Gleichen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ses absurde System erfunden haben und munter weiter betreiben, uns<br />

allen <strong>die</strong> Rechnung. Das erfundene Geld muss nun schnell gedruckt werden, sonst<br />

bricht alles zusammen. Das nennt man dann „Rettungsschirm“, den wir durch den<br />

Verlust der Kaufkraft unseres sauer ver<strong>die</strong>nten Geldes bezahlen werden.<br />

Bei den Demonstrationen von Attac, <strong>die</strong> vor wenigen Wochen in Frankfurt gegen <strong>die</strong>sen<br />

Wahnwitz stattfanden, wurden einige der Demonstranten in Polizei-Gewahrsam<br />

genommen. Als Grund für <strong>die</strong> Festnahme stand im Polizeibericht: „Kapitalismuskritik“.<br />

Da haben wir es. Nachdem der Wettlauf der Systeme sein abruptes Ende gefunden hat,<br />

gibt es nur noch ein globales Glaubenbekenntnis: der Kapitalismus. Ihn zu kritisieren,<br />

kommt einer Gotteslästerung gleich.<br />

Dabei sollten wir alle eigentlich gelernt haben: Wenn ein Wort auf „-ismus“ endet, ist<br />

größte Vorsicht geboten. Das gilt für Anarchismus genau so wie für Islamismus und<br />

eben auch für Kapitalismus. „Ismen“ treten immer mit Absolutheitsanspruch auf, dulden<br />

deshalb keine Kritik.<br />

„Sapere aude“ – habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu be<strong>die</strong>nen. Diesen<br />

Wahlspruch der deutschen Aufklärung hatte ich <strong>zum</strong> Abitur 2003 als Motto meiner Rede<br />

gewählt. Wie ich aktuell sehe, stehe ich damit nicht alleine. Kein anderer als Heiner<br />

Geißler hat „Sapere aude“ <strong>zum</strong> Titel seines letzten Buches gemacht und will uns damit<br />

alle wach rütteln, <strong>die</strong> krankhaften Auswüchse des kapitalistischen Systems endlich zu<br />

erkennen und den Mut zu haben, <strong>die</strong>sem grenzenlosen Treiben etwas entgegen zu<br />

setzen.<br />

Und damit bin ich bei dem zweiten Knotenpunkt in dem roten Faden, der sich in meinen<br />

Abiturreden wie in meinem beruflichen Selbstverständnis immer wiederfindet.<br />

Kürzlich hatte ich den Vorsitz in einer pädagogischen Staatsprüfung. Während des<br />

Prüfungsgespräches sagte der junge, sehr ambitioniert wirkende Gymnasiallehrer in<br />

spe, es sei schließlich <strong>die</strong> Aufgabe der Pädagogen, dafür zu sorgen, dass <strong>die</strong> jungen<br />

5


Menschen gut funktionierende Teile unserer Gesellschaft werden. Eine Äußerung, <strong>die</strong><br />

mich – offen gesagt – erschreckt hat.<br />

Bildung und Erziehung als reine Anpassung an <strong>die</strong> herrschenden Verhältnisse?<br />

Zweifellos ist es <strong>die</strong> Aufgabe von uns Lehrern, unseren Schülern das nötige Rüstzeug<br />

mitzugeben, um in Beruf und Gesellschaft bestehen zu können. Dazu vermitteln wir<br />

Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, von denen wir annehmen, dass sie zur<br />

Bewältigung zukünftiger Aufgaben nützlich und wichtig sind.<br />

Aber: Kann und soll Schule sich darauf beschränken, junge Menschen zu gut<br />

funktionierenden Teilen der Gesellschaft zu machen. Und wenn ja: Welcher<br />

Gesellschaft?<br />

Wenn ich zurück denke, wie sich <strong>die</strong> Gesellschaft allein schon in den letzten 13 Jahren,<br />

seit denen ich Schulleiter am <strong>Wentzinger</strong>-<strong>Gymnasium</strong> bin, verändert hat, zerfließen<br />

sämtliche Maßstäbe.<br />

Sie ahnen sicher meine Antwort. Aber es ist nicht nur meine Antwort; es ist auch <strong>die</strong><br />

Antwort des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau:<br />

„Die Anforderungen des Arbeitsmarktes sind heute anders als vor 30 Jahren und oft<br />

auch höher. Dennoch: wir dürfen Bildung nicht darauf beschränken, junge Menschen auf<br />

den Beruf und den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Wer ausschließlich vom Bedarf her<br />

denkt, hat schon verfehlt, was mit Bildung eigentlich gemeint ist.<br />

Ziel der Bildung ist nicht zuerst <strong>die</strong> Befähigung <strong>zum</strong> Geldver<strong>die</strong>nen. Bildung schielt und<br />

zielt nicht auf Reichtum. Aber sie ist ein guter Schutz vor Armut, vielleicht sogar der<br />

Wirksamste.<br />

Bildung ist auch etwas anderes als Wissen. Wissen lässt sich büffeln, aber Begreifen<br />

braucht Zeit und Erfahrung.<br />

Ich beobachte eine Ungeduld, <strong>die</strong> schnell nach den Früchten der Bildung fragt, ohne zu<br />

bedenken, dass eine gute Frucht auch eine gute Blüte und eine Zeit der Reife braucht.<br />

Selbstständig und frei denken zu lernen: darum geht es nach wie vor.<br />

Denken und Verstehen: Das hat zu tun mit dem ganzen Menschen, mit Leib und Seele,<br />

mit Herz und Verstand.<br />

Denken und Verstehen: Das hat zu tun mit analytischen Fähigkeiten und Phantasie, mit<br />

Einfühlungsvermögen und mit der Fähigkeit, sich neue Welten zu erschließen“, soweit<br />

Johannes Rau.<br />

An <strong>die</strong>ser Stelle lässt sich das „Sapere aude“ nahtlos anschließen. Denn <strong>die</strong> Vermittlung<br />

„der Fähigkeit, sich neue Welten zu erschließen“, schließt auch den Mut ein,<br />

Bestehendes kritisch zu hinterfragen und neue, eigene Wege zu gehen – Wege, <strong>die</strong><br />

eingefahrene Gleise verlassen. Jede Jugend hat das Recht, eigene Zukunftsentwürfe zu<br />

machen, Gewohnheitsrechte zu brechen und sich von den Fesseln verkrusteter<br />

Strukturen zu befreien.<br />

Davor haben Politiker in der Regel Angst. Deshalb drehen sie so gerne an den<br />

Stellschrauben des Bildungssystems... um Schule noch effizienter zu machen, um<br />

junge Menschen noch schneller einzupassen, sie noch schneller nützlich werden zu<br />

lassen.<br />

Wer Pädagogik in ihrem Anspruch als Begleitung junger Menschen zur eigenen<br />

Persönlichkeitsentfaltung ernst nimmt, muss lernen mit dem Risiko zu leben,<br />

schließlich auch selbst in Frage gestellt zu werden.<br />

Dies ist mein pädagogisches Credo, und ich hoffe, es wird meine Zeit am<br />

<strong>Wentzinger</strong> überdauern.<br />

6


Lassen Sie mich schließen, mit einem sehr persönlichen Erleben. Ich habe 1968 mein<br />

Abitur gemacht in einer Zeit des Aufbruchs, des Aufbruchs vor allem der Jugend. Ich<br />

habe eben schon Heinrich Heine zitiert. Aber es gab noch einen anderen Dichter mit<br />

den gleichen Initialen, der mich damals wie heute in seinen Bann zieht.<br />

Ein Dichter, dessen 50. Todestag in <strong>die</strong>ses Jahr fällt.<br />

Ein Dichter, der hier bei uns beheimatet war. Ein Dichter, der den Begriff Heimat jedoch<br />

ganz anders interpretierte.<br />

Ein Dichter, der damit zu unserer Schule passt. ... zu einer Schule, in der viele junge<br />

Menschen aus vielen Teilen der Welt hoffentlich ein Stück Heimat gefunden haben und<br />

eine Schule, aus der nun viele junge Menschen aufbrechen, um woanders Heimat zu<br />

finden.<br />

Stufen von Hermann Hesse<br />

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend<br />

dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,<br />

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend<br />

zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.<br />

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe<br />

bereit <strong>zum</strong> Abschied sein und Neubeginne,<br />

um sich in Tapferkeit und ohne Trauern<br />

in andre, neue Bindungen zu geben.<br />

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,<br />

der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.<br />

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,<br />

an keinem wie an einer Heimat hängen,<br />

der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,<br />

er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.<br />

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise<br />

und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,<br />

nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,<br />

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.<br />

Es wird vielleicht auch noch <strong>die</strong> Todesstunde<br />

uns neuen Räumen jung entgegen senden,<br />

des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...<br />

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!<br />

Freiburg, am 19. Juni 2012 Wolfgang Gillen<br />

7

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