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Aurora – <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> <strong>Kultur</strong>, <strong>Wissen</strong> <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

www.aurora-magazin.at<br />

Rumänien<br />

...<br />

...<br />

Januar bis April 2007<br />

Themenschwerpunkt<br />

Hg. von Franz Wagner <strong>und</strong> Kristina Werndl<br />

http://www.aurora-magazin.at/gesellschaft/rum_inhalt.htm


Newslet ter<br />

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Aurora-<strong>Magazin</strong><br />

z. H. Franz Wagner<br />

Mayerlehen 13a<br />

5201 Seekirchen<br />

Österreich<br />

redakt.aurora@utanet.at<br />

- 2 -


Inhaltsverzeichnis<br />

Editorial ............................................................................................................................. - 4 -<br />

Die Dracula-Legende......................................................................................................... - 9 -<br />

Bräuche zum Frühlingsbeginn......................................................................................... - 20 -<br />

Die andere Hauptstadt..................................................................................................... - 22 -<br />

Timişoara ........................................................................................................................ - 26 -<br />

Annäherung an die Wirklichkeit ....................................................................................... - 28 -<br />

Ole, Ole – Ceauşescu ade!.............................................................................................. - 33 -<br />

Das Johannis-Prinzip....................................................................................................... - 35 -<br />

Kopf, Herz <strong>und</strong> Rückgrat ................................................................................................. - 38 -<br />

Zu Mircea Eliade – aus der Sicht eines Zaungasts .......................................................... - 40 -<br />

Richtige Antworten, falsche Fragen................................................................................. - 46 -<br />

Westöstliche Stärken....................................................................................................... - 49 -<br />

Zur rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur................................................................... - 53 -<br />

Alles wahr <strong>und</strong> alles nur geträumt.................................................................................... - 56 -<br />

Reise ohne Wiederkehr................................................................................................... - 57 -<br />

Held <strong>und</strong> Unbekannter..................................................................................................... - 60 -<br />

Bucureşti / Bukarest ........................................................................................................ - 64 -<br />

Wie man schwarze Augen trägt....................................................................................... - 69 -<br />

Drei Gedichte .................................................................................................................. - 74 -<br />

Neue Reiselust gen Osten............................................................................................... - 75 -<br />

Siebenbürgens Wehrkirchen trutzen bis heute ................................................................ - 85 -<br />

Meerträubchen <strong>und</strong> Wüstenrenner .................................................................................. - 89 -<br />

Rumäniens Wirtschaft <strong>und</strong> Politik .................................................................................... - 96 -<br />

Ovids Exildichtungen als Beginn einer rumänischen Literatur.......................................... - 98 -<br />

Endlich daheim – in der Fremde.................................................................................... - 103 -<br />

Magabudu <strong>und</strong> sein Schwert ......................................................................................... - 107 -<br />

Mündlich’n, so blau........................................................................................................ - 136 -<br />

Rumänien im World Wide Web...................................................................................... - 142 -<br />

- 3 -


Editorial<br />

Dracula war gestern!<br />

Der Rumänien-Schwerpunkt im Aurora-<strong>Magazin</strong><br />

Von Kristina Werndl<br />

Transsylvanien – der Name klingt wie Musik. Es ist wie Serbien ein Land,<br />

wo die Heldinnen der B-Movies zuhause sind, die schönen <strong>und</strong> gefährlichen<br />

Frauen, die man sich im Amerika der 40er <strong>und</strong> 50er Jahre nicht vor der<br />

eigenen Haustür denken wollte <strong>und</strong> als Immigrantinnen ins Filmgeschehen<br />

importierte.<br />

Seit der Wende zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert ist Rumänien im Westen vorrangig<br />

imaginär präsent – in Form von Bildern/images, die diesem Land<br />

vorauseilen: In erster Linie denkt man da an jene Blutsauger, die Bram<br />

Stoker in die Welt setzte <strong>und</strong> die sich seither in die weltweite Wahrnehmung<br />

dieses Flecken Lands verbissen haben.<br />

Diese Dominanz des Imaginären über das Reale, der mythischen Vampir-<br />

über die Wirklichkeitswelt in Rumänien ist auf den ersten Blick<br />

unproblematisch. Denn Mythen bieten den Menschen seit jeher die<br />

Gelegenheit, Probleme ihrer Zeit an archetypischen Formen des (Zusammen-<br />

)Lebens <strong>und</strong> Handelns zu reflektieren.<br />

Arbeit am Mythos<br />

Mit Rumänien verschwistert wie Adam mit Eva ist der Vampir-Mythos.<br />

Dieser ist Moden unterworfen <strong>und</strong> hat in seiner konkreten Ausgestaltung<br />

mitunter gehörig Patina angesetzt, wie an Roman Polanskis "Tanz der<br />

Vampire" (1967) gut zu bemerken ist. Dessen Ober-Blutsauger, Graf Krolock,<br />

mutet in seinem majestätischen Habitus, seinem Starrblick <strong>und</strong><br />

Zähnefletschen nicht im mindesten mehr erschreckend an – eher als<br />

augenzwinkerndes Zitat auf einen immerdurstigen Widerling. (Erotisch)<br />

schaudern lässt einen da, wenn überhaupt, nur die schöne Wirtstochter<br />

Sharon Tate, die <strong>für</strong> ihre Badelust mit zwei brunnentiefen Löchern im Hals<br />

bezahlt.<br />

Polanskis Film war freilich immer schon als Komödie gedacht, <strong>und</strong> die<br />

karikierende Typenhaftigkeit ist hier Programm. (Unfreiwillig) komisch –<br />

nicht zuletzt ob der irren Sprüche – ist Stephen Sommers Horror-Action-<br />

Fantasy-Movie „Van Helsing“ (2004). Ein synkretistischer Mythen-Cocktail:<br />

„Nichts ist schneller als die Pferde Transsylvaniens“, heißt es darin. Und als<br />

die Welt den Atem anhält <strong>und</strong> schweigt, wie die Natur vor Ausbruch des<br />

Sturmes – in den Sek<strong>und</strong>en bevor Graf Dracula dem Vampirjäger Van<br />

Helsing den Garaus machen will –, äußert dieser im obligatorischen Wort-<br />

- 4 -


Duell den denkwürdigen Satz: „Ich erkenne den Charakter eines Mannes an<br />

seinem schlagenden Herzen”.<br />

Herz, Blut <strong>und</strong> W<strong>und</strong>en<br />

Freilich muss man sich auf anderer Ebene schon fragen, wie es um den<br />

imaginären Charakter des Mythischen bestellt ist. Zumindest in<br />

übertragener Bedeutung ist die vampirische Aneignung von Lebenssaft ja<br />

allgegenwärtig: Tag <strong>für</strong> Tag reißen wir die Energien <strong>und</strong> Ressourcen anderer<br />

Länder an uns, halten wir uns an fremdes Leben, um unseren eigenen<br />

Lebensstandard zu bewahren. Beim Live-8-Konzert sind wir dann mit Bob<br />

Geldof solidarisch <strong>und</strong> machen einige Euros locker ...<br />

Einen ganz üblen Vertreter einer solchen Haltung hat der Schriftsteller Josef<br />

Winkler in seinem jüngsten Prosaband gestaltet: den chauvinistischen, aus<br />

der Familie "Francula" stammenden Kärntner Dorfgendarmen Pelé. Dieser<br />

hält sich durch die Energiezufuhr anderer Menschen fit, lässt sich seine<br />

Zähne in Slowenien richten <strong>und</strong> das Frauchen daham sein Ego umsorgen.<br />

Dracula lebt – so gesehen. Die Arbeit am Mythos (Hans Blumenberg) ist ohne<br />

Telos.<br />

Branding als Vampir-Eldorado<br />

Die Dominanz des Imaginären über das Reale wird da zum Problem, wo sie<br />

die Sicht auf die Zustände verstellt, wo Stereotype in der medialen<br />

Aufmerksamkeitsökonomie die Wahrnehmung von Neuerungen<br />

unterdrücken. Das gilt <strong>für</strong> Rumänien zweifellos. Real ist das Land<br />

weitgehend unbekannt. Medial begegnet es auch nach dem EU-Beitritt meist<br />

nur in Form von Zahlenkolonnen zum BIP-Wachstum <strong>und</strong> Auslands-<br />

Investitionsvolumen. Das Bildgedächtnis aber ist bunter. Was assoziieren<br />

wir im Westen spontan mit Rumänien?<br />

Rurales im Wesentlichen, schlechte Straßen, Pferdefuhrwerke, eine veraltete<br />

Landwirtschaft; Straßenkinder, Menschenhandel <strong>und</strong> Zwangsarbeit,<br />

Korruption; Ceauşescu natürlich; kleinwüchsige Turnerinnen mit traurigen<br />

Augen, die, nachdem sie alle Medaillen abgeräumt haben, in der Umarmung<br />

ihres Trainers verschwinden. Die Fußball-WM 1990 in Italien knapp nach<br />

der Revolution, wo die Rumänen als einzige Mannschaft des Turniers ohne<br />

Nationalwappen auf der linken Brust mit "nackten" Leibchen spielten.<br />

Mit der Revolution – der "revoluţia": nach gängiger Meinung eine<br />

Kombination aus spontaner Volkserhebung <strong>und</strong> geplantem Staatsstreich –<br />

ist ein Schlüsseldatum der jüngeren rumänischen Geschichte genannt, von<br />

dem aus das Land neu besichtigt werden muss. Was hat sich seit dem<br />

gewaltsamen Tod Ceauşescus getan? Wohin hat sich Rumänien entwickelt?<br />

Wirtschaftsmigration<br />

Das Land ist UN-, OSZE-, seit 2004 NATO- <strong>und</strong> seit diesem Jahr EU-<br />

Mitglied. Sibiu/Hermannstadt ist 2007 (zusammen mit Luxemburg)<br />

- 5 -


Gastland der europäischen <strong>Kultur</strong>hauptstadt – eine große Chance <strong>für</strong> die<br />

Region. Rumänien insgesamt ist allerdings ein Land, dem viele junge, gut<br />

qualifizierte Städter in den Westen abhanden kommen, wobei das Gros – wie<br />

so oft – schlechter qualifizierte Arbeiter sind. Diese Arbeits- <strong>und</strong><br />

Wirtschaftsmigranten kontinuieren ein trauriges Kapitel des vergangenen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts: die Erfahrung des Exils <strong>und</strong> der Fremde. Unter dem<br />

Antonescu-Regime, unter sowjetischer Besatzung, unter KP-Führer<br />

Gheorghe Gheorghiu-Dej <strong>und</strong> später unter Ceauşescu waren viele<br />

Intellektuelle zur Emigration gezwungen <strong>und</strong> fanden etwa in Frankreich,<br />

Israel <strong>und</strong> den USA eine Bleibe; andere wurden ermordet. Auch heute leben,<br />

arbeiten <strong>und</strong> studieren viele RumänInnen fern ihrer Heimat im vermeintlich<br />

goldenen Westen.<br />

Denkt man sich Europa als einen Umschlagplatz von Kunst <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>,<br />

erscheint das postrevolutionäre Rumänien als kulturell verödeter<br />

Landstrich. Stimmt dieser Eindruck, fragt man sich, leuchten auf einer<br />

gegenwartskulturellen Landkarte wirklich nur wenige Lichtlein? Hat<br />

Ceauşescu nur verbrannte Erde hinterlassen? Weit gefehlt. Rumänien mit<br />

seinen knapp 22 Millionen Einwohnern birgt ein großes kreatives Potential,<br />

etwa eine bunte Schar von SchriftstellerInnen, deren Werke bei uns nur<br />

deshalb nicht wahrgenommen werden, weil die Übersetzungslage so prekär<br />

ist. Gegenmaßnahmen, die implementiert wurden, brauchen noch Jahre, um<br />

zu greifen. Rumänien verfügt auch über eine florierende Filmszene, die<br />

besonders im Bereich des politischen Films hervortritt <strong>und</strong> bei diversen<br />

internationalen Festivals punkten kann. Kürzlich war in einigen<br />

österreichischen Programm-Kinos Corneliu Porumboius preisgekrönte<br />

Filmsatire "12:08 östlich von Bukarest" zu sehen. Darin zeichnet der<br />

Regisseur ein Bild der gegenwärtigen rumänischen Gesellschaft, die sich an<br />

einem heißen Eisen der aktuellen politischen Diskussion aufreibt: der Frage<br />

um den Charakter der „Revolution“.<br />

Positive Diskriminierung<br />

Rumänien bemüht sich, den Nimbus als korrupte Nation abzulegen, <strong>und</strong><br />

kann dank der parteilosen Justizministerin Monica Macovei beachtliche<br />

Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung aufweisen: Sie anonymisierte die<br />

Zuweisung von Fällen an die Gerichte, setzte eine Antikorruptionsagentur<br />

mit weit reichenden Kompetenzen <strong>und</strong> einem unabhängigen Chef durch <strong>und</strong><br />

machte der Allgemeinheit via Internet die Besitzverhältnisse der öffentlichen<br />

Angestellten <strong>und</strong> Beamten einsichtig. Als landesweiter Vorzeigefall von<br />

Finanzdisziplin <strong>und</strong> gelungener Revitalisierung gilt das von Bürgermeister<br />

Klaus Johannis regierte Sibiu/Hermannstadt.<br />

Ende 1999 wurde ein Gesetz zur Öffnung der Securitate-Akten<br />

verabschiedet, das unter dem gegenwärtigen Staatspräsidenten Traian<br />

Băsescu im Vorfeld des EU-Beitritts in einem "plötzlichen Säuberungsfieber"<br />

(so eine große Bukarester Tageszeitung) kulminierte. Die längst nötige<br />

Aufarbeitung der Securitate-Vergangenheit <strong>und</strong> damit die<br />

Auseinandersetzung mit der jüngeren rumänischen Geschichte gewinnt an<br />

Fahrt; sie lässt <strong>für</strong> die Zukunft einiges erhoffen. Erwähnenswert trotz aller<br />

- 6 -


Unzulänglichkeiten ist das in der Verfassung von 1991 verankerte Prinzip<br />

der positiven Diskriminierung zur parlamentarischen Repräsentation von<br />

ethnischen Minderheiten.<br />

Versunkene Worte<br />

Für Misstöne sorgt international die extremistische PRM (Partidul România<br />

Mare, zu Deutsch: Großrumänienpartei), deren ultranationalistische Stimme<br />

einem aus dem M<strong>und</strong> ihres Führers Vadim Tudor entgegenpöbelt. Der<br />

antidemokratische, durch seine negationistischen Äußerungen zum<br />

Holocaust berüchtigte Ceauşescu-Dichter hat sich kürzlich mit anderen<br />

rechtsextremen, nationalpopulistischen <strong>und</strong> sezessionistischen Parteien zu<br />

einem EU-Parlamentsklub zusammengeschlossen. Mit dabei sein<br />

Parteikollege, der künftige EU-Parlamentarier Dumitru Dragomir, der "Juden<br />

zu Seife" verarbeiten will. Er ist als <strong>Magazin</strong>herausgeber Autor einer Rubrik<br />

mit dem Titel "Zvastika" (Hakenkreuz). Bei solch offenem Antisemitismus<br />

hält sich selbst einer der Väter der europäischen Rechtsfraktion, Andreas<br />

Mölzer, bedeckt.<br />

Glücklicherweise werden im Transformationsprozess seit den 90er Jahren<br />

auch Zeitzeugnisse vergessener bzw. vergessen gemachter Schriftsteller<br />

publik, etwa die Tagebücher Michail Sebastians, der im Vorkriegsrumänien<br />

die Stimmung antijüdischer Ressentiments eingefangen hat. Seine<br />

Tagebücher sind nach Meinungen einiger Rezensenten ein reiferes <strong>und</strong><br />

ebenso dramatisches Zeugnis der Barbarei wie das Tagebuch von Anne<br />

Frank. Etablierte Persönlichkeiten wie der Religionshistoriker Mircea Eliade<br />

<strong>und</strong> der Philosoph E. M. Cioran müssen sich einen kritischen Blick auf ihre<br />

Verstrickungen in den rumänischen Faschismus gefallen lassen.<br />

<strong>Kultur</strong>elle Gegenwartsbestimmung<br />

Es ist hier nicht Raum, die einzelnen Texte <strong>und</strong> ihre VerfasserInnen<br />

vorzustellen, die sich am Rumänien-Schwerpunkt in der Aurora beteiligt<br />

haben. Ziel war es, Rumänien in Europa zu verorten: Wo steht dieses Land<br />

heute, <strong>und</strong> wie stehen "wir" im Westen zu ihm? Versammelt sind Beiträge<br />

verschiedenster AutorInnen: über die rumänische Literatur-, Theater- <strong>und</strong><br />

Filmszene, über rumänische Städte, Politik <strong>und</strong> Wirtschaft, Geschichte <strong>und</strong><br />

Landesnatur, Exil <strong>und</strong> Heimat, Mythen <strong>und</strong> Legenden. Künstlerische<br />

Graphiken <strong>und</strong> belletristische Text sowie eine umfangreiche Linkliste<br />

komplettieren den Schwerpunkt.<br />

Freilich ist das Präsentierte nur eine winzige Auswahl aus einem weiten<br />

Feld, das beackert werden sollte. Deshalb ist der Schwerpunkt strukturell<br />

offen <strong>und</strong> kann noch bis inklusive Juni (Redaktionsschluss: 20. Mai 2007)<br />

durch Text- <strong>und</strong> Bildbeiträge ergänzt werden. Diese nehmen wir gerne unter<br />

den im Impressum verzeichneten E-Mail-Adressen entgegen.<br />

- 7 -


Gen-Auberginen<br />

Das Aurora-<strong>Magazin</strong> sieht seinen Rumänien-Schwerpunkt als Beitrag zur<br />

Behebung einer journalistischen Lücke. Denn Österreichs Breitenmedien<br />

haben, anders als bei der vorletzten EU-Erweiterung, im Vorfeld der neuen<br />

Erweiterungsr<strong>und</strong>e eine umfassende Berichterstattung vermissen lassen.<br />

Wir hoffen, dass wir unser Schäuflein dazu beitragen können, dass man<br />

Rumänien nicht mehr nur historisch bzw. mythisch-legendarisch<br />

wahrnimmt. Wenn man mit diesem Land neben Dracula einen Präsidenten<br />

Băsescu verbindet, wenn man weiß, dass es neben Wäldern, Wehrkirchen<br />

<strong>und</strong> einem artenreichen Donaudelta auch über Ackerflächen verfügt, in<br />

denen US-Konzerne großflächig gentechnisch veränderte Lebensmittel<br />

anbauen – <strong>und</strong> nicht nur Pferdefuhrwerke mit besoffenen Bauern ihre<br />

R<strong>und</strong>en drehen –, ist schon einiges gewonnen. Es ist in der Tat<br />

bemerkenswert, dass Rumänien mittlerweile zu den am stärksten<br />

deregulierten <strong>und</strong> privatisierten Volkswirtschaften der Welt zählt <strong>und</strong> als ein<br />

lange von der Kommunistischen Partei regiertes Land mit 0,2% nur einen<br />

verschwindend kleinen Anteil an formalen Atheisten <strong>und</strong> Konfessionslosen<br />

aufweist.<br />

Wir hoffen, dass sich im wechselseitigen Umgang der alten <strong>und</strong> neuen EU-<br />

Staaten ein vampiristischer Austausch kultureller Lebenssäfte <strong>und</strong><br />

Blutkreisläufe ergeben möge. Wir wünschen: Guten Appetit!<br />

www.aurora-magazin.at<br />

Kristina Werndl (kristina.werndl@gmail.com) ist Redakteurin des Aurora-<strong>Magazin</strong>s.<br />

- 8 -


Die Dracula-Legende<br />

...<br />

Der im siebenbürgischen Sighişoara / Schäßburg geborene Schriftsteller Dieter<br />

Schlesak beleuchtet als intimer Kenner der Orte in Siebenbürgen <strong>und</strong> der Geschichte<br />

Siebenbürgens die wahren Hintergründe, die Fälschungen, aber auch den tieferen<br />

Sinn des Dracula-Mythos. Er berichtet über viele interessante Details, die von<br />

anderen Berichten zum Thema "Dracula" gerne ignoriert werden <strong>und</strong> damit zu einem<br />

falschen Siebenbürgen-Bild in der Welt beitragen.<br />

Von Dieter Schlesak<br />

(01. 01. 2007)<br />

In Berlin erzählte mir noch zu Ceauşescus Zeiten eine befre<strong>und</strong>ete<br />

Kollegin, sie sei oft nach Transsylvanien gefahren, in das sie sich verliebt<br />

hatte. Es sei richtig "draculös" gewesen! Dort im fernen Transsylvanien habe<br />

sie endlich auch das "Schloss Draculas" besuchen können. Jede andere<br />

Legendenbildung hätte die scharfzüngige Berlinerin mit Hohn <strong>und</strong> Spott<br />

bedacht. Als ich diese Anekdote Revue passieren ließ, lag die Schwarze<br />

Kirche in Kronstadt (mit Orgelmusik) bereits hinter uns, das Mittagessen im<br />

"Karpatenhirsch" hatten wir eingenommen, die Tartlauer Burg (die<br />

Kreuzkirche mit doppelseitig bemaltem Flügelaltar aus dem Jahre 1450), wo<br />

Ingmar Bergman mit Liv Ullman die "Päpstin" gedreht hatte, war besichtigt.<br />

Und nun: Das Dracula-Schloss, mit wild fotografierenden Touristen;<br />

enormer Andrang, alle suchten Dracula. Einige Jugendliche trugen zum<br />

Spektakel stilechte T-Shirts, von denen Blutstropfen rannen, andere Pullover<br />

mit Vampirzähnen oder bizarren Aufschriften. Jemand hatte ein Tonband<br />

laufen lassen.<br />

In Wirklichkeit gibt es Draculas Schloss gar nicht; das Schloss des Vampirs<br />

wurde vom englischen Romancier Bram Stoker erf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> nicht in den<br />

Südkarpaten, sondern 200 Kilometer nördlich, in der Nähe der Stadt Bistritz<br />

am Borgo-Pass mit Romanmitteln aufgebaut; das war 1897. Bram Stoker,<br />

der schon 1912 an Syphilis starb, ist nie dort gewesen. Doch der Wunsch,<br />

Dracula wirklich kennen zu lernen, scheint unermesslich zu sein. Es muss<br />

dieses Schloss also unbedingt geben! Ersatzweise wurde den Fans der<br />

einträgliche Gefallen erwiesen: Ceauşescus <strong>Kultur</strong>funktionäre ließen die auf<br />

einem Felsen gelegene Burg Bran (Törzburg) einfach zum Dracula-Domizil<br />

erklären.<br />

Es ist ein stolzes Gemäuer, <strong>und</strong> die Burg ähnelt tatsächlich dem<br />

Klischee des Geisterschlosses. "Denn das Schloss ist auf dem Ende eines<br />

Felsmassivs errichtet, so dass es von drei Seiten aus unzugänglich bleibt.<br />

Hier sind auch ganz große Fenster eingelassen...", so Bram Stoker, der<br />

Erfinder. Von den Dracula-Touristen wird dankbar registriert, dass sogar ein<br />

großes Rokoko-Himmelbett, natürlich in "Draculas Schlafzimmer", besichtigt<br />

werden kann. Und man spielt Film: "Ich habe Draculas Bett gesehen!" Auch<br />

liegt die Burg – ähnlich wie in Stokers Beschreibung – in einer wild<br />

- 9 -


zerklüfteten <strong>und</strong> nachts unheimlichen Gegend.<br />

Nicht nur Touristen, auch Autoren <strong>und</strong> Filmer treten mit Vorliebe zum<br />

schönen Gruselspiel an, ohne je hier gewesen zu sein. So heißt es schon in<br />

Jules Vernes kleinem Roman "Das Karpathenschloss":<br />

"Einzig in Transsylvanien (Siebenbürgen), einer Landschaft, wie geschaffen <strong>für</strong><br />

Geisterbeschwörungen <strong>und</strong> Geistererscheinungen, blüht noch der Aberglaube frührer<br />

Zeiten ... So wurde der bärtige Rübezahl Frick als ein solcher Hexenbruder, der Geister<br />

hervorzaubern kann, betrachtet ... ihm gehorchten die Vampire <strong>und</strong> Feen..."<br />

Als der künstlerisch hervorragende Francis-Ford-Coppola-Film "Bram<br />

Stoker’s Dracula" (1992), der auch "historisch" authentisch sein will, im<br />

Fernsehen gezeigt wurde, kam im Vorspann Transsylvanien / Siebenbürgen<br />

als zeitloses Geisterland daher. Diese alte mitteleuropäische<br />

<strong>Kultur</strong>landschaft, die ich seit meiner Kindheit kenne, wurde nicht nur durch<br />

Filmausschnitte, sondern auch durch andere Bild-Montagen <strong>für</strong> die Masse<br />

der Fernsehzuschauer ganz im Ernst als ein Gnomen- <strong>und</strong> Magierland<br />

vorgestellt: mit primitiven Schafhirten <strong>und</strong> zerklüfteten Felslandschaften,<br />

merkwürdigen Dörfern aus einer archaischen Zeit <strong>und</strong> abenteuerlich<br />

gekleideten Menschen, unheimlich von Lager- oder Kaminfeuern beleuchtet;<br />

eine pittoreske, geschäftstüchtig zurechtgemachte Grusel-Unheimlichkeit,<br />

die wohl vom Zuschauer als Realität, nicht etwa als Fiktion angesehen<br />

werden sollte! Als wäre Siebenbürgen eine Erfindung kranker Hirne.<br />

Als ich mich entschloss, auf Bram Stokers Spuren in meine ehemalige<br />

Heimat zu fahren <strong>und</strong> zuerst nach Bistritz, in die Geburtsstadt meines<br />

Großvaters, kam, war ich dem Gruseln nah: In Bistritz – genauer gesagt: in<br />

der "Goldenen Krone" – übernachtet ja Jonathan Harker, der junge<br />

Rechtsanwaltsgehilfe, der im Roman von London aus zum Vampir geschickt<br />

wird, um harmlose Maklergeschäfte abzuschließen. Die "Goldene Krone" hat<br />

es zu Stokers Zeiten hier allerdings nie gegeben.<br />

Den Weg, den Harper genommen hatte, fuhr ich mit meinem Auto nach.<br />

Meine Frau war dabei. Und sie war erstaunt, eine liebliche Landschaft<br />

vorzufinden: sanfte Hügel, Almen, Schafe, verstreute Gehöfte am angeblich<br />

wilden Borgo-Pass. Ich war zuvor noch nie am Borgo-Pass gewesen, da ich<br />

mich, ebenso wie alle Einheimischen, überhaupt nicht <strong>für</strong> das Gespenst<br />

interessiert hatte. Hier an diesem Pass, den es – oh W<strong>und</strong>er – auch wirklich<br />

gibt, wird Harker von einem geheimnisvollen Kutscher mit großem<br />

schwarzem Hut, der sein Gesicht verdeckt, abgeholt. Der hartgeschnittene<br />

M<strong>und</strong> mit den überroten Lippen <strong>und</strong> den scharfen elfenbeinweißen Zähnen<br />

des angeblichen Kutschers ist noch erkennbar: Es ist in Wahrheit der<br />

Vampir selbst, der Harker vom Borgo-Pass abholt.<br />

Im realen Rumänien kannten die Einheimischen nie einen "Dracula",<br />

auch Vampire wurden bisher keine gesichtet. Selbst der Nationalheld Vlad<br />

Ţepeş Drăculea (sprich: Wlad Tsepesch Dröculea), genannt "der Pfähler" <strong>und</strong><br />

Stokers Dracula-Vorbild, hat sich hier in den letzten Jahren nicht die Ehre<br />

gegeben; schließlich ist er schon seit 500 Jahren tot. Für Stoker <strong>und</strong> die<br />

- 10 -


Filmwirtschaft bleibt er jedoch stets der transsylvanische Ahasverus, der<br />

nicht sterben kann.<br />

Überhaupt sind die Dracula-Filme Legion. Es gibt über 200 davon, manche<br />

behaupten, es wären sogar 400. Filme von Murnau, Herzog, Polanski,<br />

Warhol, Coppola gehören dazu. Und eine Literaturtradition wie keine zweite,<br />

auch in Deutschland: Von Goethes "Braut von Korinth" über Novalis, Heine<br />

bis zu Stefan George <strong>und</strong> Johannes Bobrowski; vom Griechen Phlegon bis zu<br />

Gogol oder Tolstoj, von Byron bis Ingeborg Bachmann. Nachhaltig hat der<br />

Vampirismus in der Kunst, in Kirche <strong>und</strong> <strong>Wissen</strong>schaft mit "vitalen<br />

Menschenleichen" <strong>und</strong> "aufhockenden Toten" die Gemüter beschäftigt. Von<br />

den vielen Gespenstergeschichten, die oft "jenseitige" Liebesgeschichten sind,<br />

ganz zu schweigen. Und die Touristen suchen den Nichtexistenten als gäbe<br />

es ihn wirklich, als wäre er ein echtes Phantom. Sie suchen in der ganzen<br />

Gegend das Schloss oder zumindest eine Ruine, samt Wolfsgeheul.<br />

Vergeblich.<br />

Das Einzige, was die meisten Westeuropäer <strong>und</strong> Amerikaner von<br />

Transsylvanien wissen, ist, dass es die Heimat Draculas ist.<br />

Schauergeschichten werden zu Fertigteilen der <strong>Kultur</strong>industrie <strong>und</strong> der<br />

Werbung: Stereotypen, die an alte Ahnungen appellieren, um neue Lüste zu<br />

verkaufen. Kleine Plastikdraculas im Kaufhaus <strong>für</strong> Kinder. Es gibt sogar<br />

ganz reale Reiseführer, die den Wahnsinn mit Methode <strong>und</strong> harter Währung<br />

betreiben. Ein englischer, reich illustrierter Reiseführer (gedruckt in<br />

Hongkong), ein wahres Kunstwerk, sei hier hervorgehoben: "The Tourist´s<br />

guide to TRANSSYLVANIA" – Transsylvania in Blockschrift! Eine<br />

mittelalterliche Karte im Hintergr<strong>und</strong>, darüber die Maske mit dem<br />

Draculadarsteller Christopher Lee, aufgerissene Augen, Wildschweinzähne,<br />

Blut. Auf dem Titelblatt das Gleiche, dazu noch vier weiße H<strong>und</strong>e, die im<br />

fahlen Licht des Mondes aus der Erde steigen. In der Einleitung heißt es, die<br />

Bewohner des Landes seien Nachkommen der Ostgoten, Petschinegen,<br />

Gepiden, Magyaren, ihr Aussehen erinnere an Tiere <strong>und</strong> Figuren von Bosch.<br />

In den Karpaten hausen noch Harpyien <strong>und</strong> Wolfsmenschen. In der<br />

Ortschaft Vatra-Jiu steigen Strigoi (Gespenster) aus den Gräbern, mit<br />

Grabsteinen auf den Köpfen. Das "Orakel vom Berg Albac": Hier reden <strong>und</strong><br />

prophezeien noch die Waldgeister dem geneigten Besucher. Ein<br />

spektakulärer Kitsch, wie man ihn billiger <strong>und</strong> geschmackloser nicht<br />

erfinden kann; aber, wie gesagt, ganz real: ein Reiseführer.<br />

Wer aber ist Dracula wirklich, wenn er nicht nur eine Romanfigur sein soll?<br />

"Er war nicht sehr groß, aber untersetzt <strong>und</strong> muskulös. Sein Auftreten wirkt kalt <strong>und</strong><br />

hatte etwas Erschreckendes. Er hatte eine Adlernase, geblähte Nasenflügel, ein rötliches,<br />

mageres Gesicht, in dem die sehr langen Wimpern große, weit-offene, grüne Augen<br />

umschatteten; schwarze buschige Brauen gaben ihnen einen drohenden Ausdruck. Er<br />

trug einen Schnurrbart. Breit ausladende Schläfen ließen seinen Kopf noch wuchtiger<br />

erscheinen. Ein Stiernacken verband seinen Kopf, von dem schwarze gekräuselte Locken<br />

hingen, mit seinem breitschultrigen Körper."<br />

So beschreibt ihn Nikolaus Modrussa, der im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert Legat des<br />

Papstes am ungarischen Hof war <strong>und</strong> Vlad Ţepeş (der rumänische Iwan der<br />

- 11 -


Schreckliche) gut kannte. Stoker hat diese Beschreibung in seinen Roman<br />

übernommen. Jener grausame walachische Fürst Vlad Ţepeş diente ihm als<br />

Vorlage <strong>für</strong> seinen "Dracula". Das historische Vorbild wird im Roman jedoch<br />

weniger deutlich als in den Filmen: Vor allem in Francis Ford Coppolas<br />

"Dracula", aber auch bei Dan Curtis oder schon bei Tod Browning – mit dem<br />

berühmten Bela Lugosi als Vampir – agiert auch der echte Vlad. Und es gibt<br />

sogar Dokumentarfilme, die diesen Hintergr<strong>und</strong> ausleuchten wollen, etwa<br />

"Die blutig ernste Geschichte des Grafen Dracula, erzählt von Vincent Price"<br />

(Canada 1984). Hier werden auch Schlacht-Sequenzen des historischen<br />

Schinkens "Vlad Ţepeş" (The True Life of Dracula, 1978) eingeblendet, den<br />

Ceauşescu bestellt hatte: Ţepeş sozusagen als getürkter Ceauşescu-<br />

Vorgänger, grausamer Patriot <strong>und</strong> Volksheld. Bei Coppola wiederum stellt<br />

sich der Vampir der Mina tatsächlich als "Prinz Vlad" vor. Sogar Vlads<br />

bekanntes Porträt eines anonymen Malers blendet Coppola einmal ein. Meist<br />

aber ergeben sich heillose Vermischungen <strong>und</strong> Verwechslungen.<br />

Ein gutes Beispiel da<strong>für</strong> liefert Bram Stoker selbst. Schon bei ihm<br />

finden wir eine irre Mixtur aus geografischen <strong>und</strong> historischen Berichten,<br />

verknüpft mit einer Vampirsage aus Siebenbürgen. Vieles hat der Autor aus<br />

anderen Büchern plagiiert. Seit der Entdeckung eines Stoker-Archivs in<br />

Philadelphia weiß man es: Es gibt die Reisebeschreibungen des britischen<br />

Gesandten in den rumänischen Fürstentümern aus dem Jahre 1822, ein<br />

Transsylvanienbuch der Emily Gerard, die Vampir-Erzählung "Carmilla" des<br />

Sheridan Le Fanu, <strong>und</strong> ein Buch der Sabine Gould "Cartea pricolici", wo<br />

auch die Geschichte der Mädchenmörderin Elisabeth Báthory vorkommt. Die<br />

Blutgräfin, die zur Verjüngung in Blut badete, diente Stoker mit als<br />

Blutmonster-Modell. Eine Reihe dieser <strong>und</strong> anderer Plagiate nutzte später<br />

auch Coppola <strong>und</strong> montierte sie <strong>für</strong> "Bram Stoker’s Dracula" so, dass es am<br />

Ende wieder ein heilloses Durcheinander gab.<br />

Noch komplizierter wird die Sache übrigens durch die Vermischung aus<br />

Fiktion <strong>und</strong> realer Geschichte des walachischen Fürsten Vlad Drăculea: Im<br />

Jahr 1963 deckte der rumänische Gelehrte Grigore Nandriş (sprich:<br />

Nandrisch) auf einem Kongress in New York den "historischen Dracula" <strong>und</strong><br />

dessen Identität auf. Im Anschluss daran kam es zwar zu einer<br />

Demythisierung, so etwa durch die Professoren McNally <strong>und</strong> Radu Florescu<br />

1972 in ihrer Untersuchung "Search of Dracula". Doch insgesamt fehlte eine<br />

faire Auseinandersetzung, <strong>und</strong> Konzessionen an Publikumsgeschmack <strong>und</strong><br />

Sensationsgier blieben bestehen.<br />

Und die Fälschungen nehmen kein Ende. In einem Buch über Dracula-Filme<br />

wird Siebenbürgen-Transsylvanien als "rumänisches Land jenseits der<br />

Berge" beschrieben, <strong>und</strong> so heißt es zum Beispiel: In Sighişoara / Schäßburg<br />

"lebte Dracula in einem Haus mit massiven Mauern, das heute noch steht".<br />

In Wirklichkeit war Schäßburg eine siebenbürgisch-sächsische Stadt, die<br />

damals zu Ungarn, später zu Österreich-Ungarn gehörte; erst seit 1918 ist<br />

sie rumänisch! Zu Vlads Zeiten war sie eine freie Stadt, lag im sogenannten<br />

"Königsboden" im Fürstentum Siebenbürgen <strong>und</strong> war nicht rumänisches<br />

Land, gehörte nie zur Walachei.<br />

- 12 -


Während unseres Besuchs in Schäßburg aßen wir mittags im Dracula-<br />

Restaurant, das touristisch günstig im Paulinus-Haus, dem angeblichen<br />

Geburtshaus Vlads, eingerichtet worden war. Vorher bestaunten wir noch<br />

den Schwibbogen über dem Pfarrgässchen <strong>und</strong> den Blick auf die schiefen,<br />

alten Häuser, den Pfarrhof <strong>und</strong> – oben, wie eine Steinglucke thronend – die<br />

alte Bergkirche, die es schon zu Vlads Zeiten gegeben hat. Geboren ist er mit<br />

ziemlicher Sicherheit hier; sein Vater Vlad Dracul hatte nach der Rückkehr<br />

von Nürnberg von 1431 bis 1435 in der Stadt Asyl gef<strong>und</strong>en, bevor er 1436<br />

auf den Thron der Walachei kam.<br />

Rückblende: Vlads Vater, Vlad II. Dracul, auf dem Reichstag zu Nürnberg.<br />

Irgendwo brannte rot die Jahreszahl 1431, er kniete vor Sigism<strong>und</strong> von<br />

Luxemburg, König von Gottes Gnaden der deutschen, böhmischen <strong>und</strong><br />

ungarischen Lande. Vater Vlad wurde gerade zum Fürsten der Walachei<br />

erhoben <strong>und</strong> zum Ritter des Drachenordens geschlagen. Von jetzt an, kam<br />

die tiefe Stimme des Königs, trägst du den Namen Dracul. Dracul – <strong>und</strong> man<br />

sah aus dem Wort einen Teufel auffliegen, alle bekreuzigten sich. Denn<br />

"Dracul", das heißt auf Rumänisch: Der Teufel! Aus dem Ehrennamen also<br />

wurde aus Unkenntnis ein Höllenname. Auch hier eine Verballhornung!<br />

Drăculéa, wie der Sohn genannt wurde, Vlad III. Ţepeş der Pfähler erbte von<br />

seinem Vater Vlad II. Dracul den Namen, aber dieser Name geht zurück auf<br />

den Drachenorden "Societas Draconis", einen Kampfb<strong>und</strong> gegen die Türken.<br />

Der in Nürnberg so hoch geehrte Vater kehrte dann 1431 nach Schäßburg<br />

zurück, wo er sein Hauptquartier hatte <strong>und</strong> auch das Recht zur<br />

Münzprägung besaß (es gibt noch heute solche Münzen mit dem Drachen in<br />

Ringform, dem Uroborus, der ein Kreuz hält).<br />

Wir aßen. Wir schwiegen. Ich erinnerte mich, dass die Ungarn meine<br />

Geburtsstadt an der Wende zum 17. Jahrh<strong>und</strong>ert nach einer schrecklichen<br />

Kriegsverwüstung Nemesvár genannt hatten. Das ganze Land nun ein<br />

Niemandsland? Ich erinnerte mich: Bukarest, Snagovsee <strong>und</strong> das<br />

Inselkloster, wo uns früher einmal, als ich noch hier lebte, ein schmuddliger<br />

Mönch das Grab des Vlad Ţepeş gezeigt hatte ... das freilich verschlossen<br />

war: 1931, zum 500. Geburtstag von Vlad, war es geöffnet worden, <strong>und</strong> – es<br />

war leer!<br />

Vlad ist tatsächlich verschollen, verschw<strong>und</strong>en. Woher die Historiker heute<br />

den wirklichen Toten, also die Knochen, nehmen wollen, ist schleierhaft. Er<br />

kam in einer Schlacht gegen die Türken ums Leben. Und es heißt, sein Kopf<br />

sei nach Istanbul, sein zerstückelter Körper aber nach Snagov gebracht<br />

worden. Doch beides hat sich wie bei einem Phantom in Nichts aufgelöst, ist<br />

nirgends zu finden. Und die Geburtslegende des Vlad Ţepeş hier in<br />

Sighişoara / Schäßburg ist Legende geblieben.<br />

Vlads gewaltsame Lebensgeschichte<br />

Vater Vlad, Ritter des Drachenordens <strong>und</strong> gewählter Fürst, fand Hilfe<br />

bei König Sigism<strong>und</strong> <strong>und</strong> beim Vetter am moldauischen Hof. Er zog von<br />

Schäßburg aus 1436 in die Hauptstadt Tîrgoviste in der Walachei ein. Schon<br />

- 13 -


als Kind, nach der ersten Thronbesteigung seines Vaters, begleitete Vlad, der<br />

Sohn, seinen Vater auch in den Krieg. 1444 etwa an die türkische Pforte, wo<br />

der Alte seine beiden Söhne, Vlad <strong>und</strong> Radu (den Schönen) als Geiseln<br />

zurücklassen musste. Hier erlebte der halbwüchsige Vlad Grauenhaftes im<br />

Kerker Egrigötz in den anatolischen Bergen. Dort folterte ihn der<br />

Gefängniswärter Gugusyoglu, ließ ihn hungern, gab ihm Menschenfleisch zu<br />

essen <strong>und</strong> Kot, dann Tierhoden, sodass er gequält wurde von Begierden.<br />

Und der Aufseher zwang den damals erst 14-jährigen Jungen ihm zu Willen<br />

zu sein. Fader Gestank in der Zelle nach dieser schweißigen Gewalt. Der<br />

junge Vlad sann auf Rache. Gugusyoglu sollte ein spitzer Holzpfahl<br />

vorbehalten sein.<br />

Vlad Dracul, der Vater, wurde dann vom ungarischen König Johann<br />

Hunyadi geschlagen, der älteste Sohn, Vlads Bruder Mircea, getötet. Vater<br />

Vlad floh. Der Geisel, dem Sohn Vlad, erzählte man Gräuelgeschichten über<br />

den Tod seines Bruders <strong>und</strong> Vaters: Diese seien von Vladislaws Henkern<br />

gezwungen worden, ihr eigenes Grab zu schaufeln, <strong>und</strong> sie seien in Stücke<br />

geschnitten worden. Was nicht stimmte. Es war Rache, die Vlad zum<br />

Blut<strong>für</strong>sten werden ließ.<br />

Der Vater entkam. Damals machten Gräuelnachrichten die R<strong>und</strong>e. Es gab ja<br />

kaum Zeitungen. Und so waren es auch Chroniken <strong>und</strong> tendenziöse<br />

Flugblätter, die Vlad zum "argen Wüterich" <strong>und</strong> Vampir machten, der er<br />

nicht war. Der Vater also entkam. Mircea allerdings wurde tatsächlich<br />

lebendig begraben.<br />

Acht Jahre lang war Vlad auf Wanderschaft, Reisender in Sachen Macht,<br />

Versprechungen, Taktik, Lügen. Er war gleich alt wie der Sultan Mehmed, er<br />

kannte den Hof, die türkischen Wesire. Er sah viele Städte <strong>und</strong> Höfe, Rom,<br />

Stambul, Nürnberg, das Prag des Alchemistenkaisers Rudolf II. Er konnte<br />

viele Sprachen, hatte ein solides <strong>Wissen</strong>. Hunyadi söhnte sich mit Vlad aus,<br />

die Sachsenstädte sprachen <strong>für</strong> ihn. Vlad hatte den Rücken frei, <strong>und</strong> er<br />

marschierte in der Walachei ein.<br />

Aber was hat all das mit dem Film- <strong>und</strong> Romanhelden Dracula zu tun?<br />

Es ist die Idee, die immer wiederkehrt, schon in Stokers Roman, aber auch<br />

in vielen Filmen, bei Curtis, Corman, Polanski, Herzog oder Coppola:<br />

nämlich dass es sich bei Dracula um eine wirkliche Fürstengestalt handelt,<br />

die 500 Jahre überlebt; um einen historischen Wiedergänger also, einen Un-<br />

Toten, der weder leben noch sterben kann, doch ausgestattet ist mit einem<br />

ungeheueren Lebensdurst aus ungestillter Liebe eines ungelebten,<br />

unfertigen Lebens. In Coppolas Film wird Vlad durch die Liebe von Harkers<br />

Verlobter Mina erlöst. Sie tötet ihn <strong>und</strong> er darf endlich zu Staub zerfallen.<br />

In Stokers Roman wird es betont: Dem pedantischen Rechtsanwaltsgehilfen<br />

Jonathan Harker wird im verfallenen Schloss des Vampirs eine<br />

Geschichtslektion in Form einer falschen Familiengeschichte der Drăculeas<br />

zuteil:<br />

"Wir Szekeler sind mit recht stolz, denn in unseren Adern fließt das Blut manchen<br />

tapferen Volkes, das kämpfte, wie es der Löwe tut – um die Herrschaft nämlich. Hierher<br />

- 14 -


... brachten die ukrainischen Stämme von Island herunter den Kampfgeist, den Thor <strong>und</strong><br />

Wotan ihnen verliehen hatten <strong>und</strong> den ihre Krieger an den Küsten von Europa, ja, an<br />

denen von Asien <strong>und</strong> Afrika so wütend austobten, dass schließlich die Leute glaubten, es<br />

seien keine Menschen, sondern Werwölfe."<br />

Die Verballhornung ist verwirrender gar nicht möglich, ein grausiges<br />

Gemisch. So kommen später etwa die Hunnen vor, auf die diese "Werwölfe"<br />

stießen, auf Attila. Wahr ist, dass die Székler, nicht Szekeler wie im Roman,<br />

ein ganz normaler madjarischer Stamm <strong>und</strong> dass die Dráculesti Walachen<br />

sind, nicht Székler. Vlad Ţepeş gehört in die Walachei <strong>und</strong> nicht nach<br />

Transsylvanien, wo er nur zufällig geboren wurde, weil sein Vater zeitweilig<br />

dort im Exil lebte. Aber alle Filme plappern diese Fälschung nach. So wird<br />

etwa in John Badhams Film "Dracula" (1979) Vlad vom Irrenarzt Dr. Seward<br />

in London gebeten, ein Buch in ungarischer Sprache zu übersetzen. Das<br />

könne er nicht, meint er, da er Székler sei <strong>und</strong> kein Madjar. Ein Blick ins<br />

Lexikon hätte genügt: Székler sind ein madjarischer Volksstamm, die<br />

natürlich Madjarisch sprechen. Coppola wiederum lässt Dracula mit<br />

starkem ungarischen Akzent sprechen, was völlig falsch ist. Im "Spiegel"<br />

wurde sogar von einem "unverkennbaren transsylvanischen Akzent"<br />

gesprochen.<br />

Stokers Ignoranz wird auch heute noch weitergetrieben. Sein<br />

Gewährsmann in Sachen Transsylvanien, der Budapester Orientalist<br />

Arminius Wanderbey, der auch als Figur im Roman auftaucht, hatte Stoker<br />

sicher richtig informiert. Stoker lernte Wanderbey, der ihm Erstaunliches<br />

aus Transsylvanien berichtete, an einem Abend des Jahres 1890 kennen.<br />

Transsylvanien war schon damals ein Zauberwort. Jules Verne, aber auch<br />

James Frazer in "The Golden Bough" (1890) hatten behauptet, dass in<br />

Transsylvanien / Siebenbürgen wie in keinem anderen Land Material <strong>für</strong><br />

Vampire zu finden sei.<br />

Warum haben Stoker <strong>und</strong> Jules Verne Transsylvanien zum Handlungsort<br />

gewählt? Vermutlich weil sich da ohne Realitätskontrolle wild drauflos<br />

phantasieren lässt. Doch Harker wie auch der mit hineingezogene Leser<br />

haben im Buch selbst keine Chance, die Wahrheit zu erfahren. Stoker hetzt<br />

sie von einem Schrecken zum andern, keine Realität darf die hysterische<br />

Geschichte stören, die Märchen-Spannung mindern. Alles muss aus der<br />

Welt fallen, Aufklärung soll nicht sein. Harker entdeckt den Vampir <strong>und</strong><br />

Wiedergänger als tagschlafenden Untoten im Sarg, also bleibt die<br />

reichhaltige Schlossbibliothek unkonsultiert; in Budapest ist´s das<br />

Nervenfieber, das den Besuch der Nationalbibliothek verhindert; in London<br />

die Blässe der ihm nahestehenden, nun mit dem Vampirvirus infizierten<br />

Frauen Mina <strong>und</strong> Lucy. Und in der Mythenherstellung sind die Geübtesten<br />

Dracula selbst <strong>und</strong> der Irrenarzt Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Van Helsing,<br />

Gegenspieler des Vampirs <strong>und</strong> Vampirbekämpfer.<br />

Dracula zeigt etwas von der Irrengeschichte unserer Zivilisation. So ist ein<br />

Teil des Schlosses mit den vergitterten Fenstern tatsächlich ein privates<br />

Irrenhaus. Und bei Professor Van Helsing, Vampirologe <strong>und</strong> Irrenarzt in<br />

Amsterdam, ist der Vampir (oder der Irre) schon im Psychiater selbst<br />

- 15 -


angelegt, beim Essen eines Roastbeefs leckt er sich genüsslich die blutigen<br />

Finger ab. Diese Metapher der Heilanstalt – die übrigens viele Vampir-Filme<br />

durchzieht – ist voll auf unsere Zivilisation übertragbar. In Tod Brownings<br />

"Dracula" aus den dreißiger Jahren mit dem berühmten Vampir-Darsteller<br />

Bela Lugosi, einem Ungarn aus Siebenbürgen, der in einem schwarz-roten<br />

Umhang als Dracula beerdigt werden wollte, ist ein Großteil der Handlung<br />

sogar in eine englische Schloss-Klinik verlegt.<br />

Aber auch die blutige Geschichte Vlad Drăculeas des Pfählers spiegelt im<br />

Kleinen den Kern der gesamten Historie: ihren Blutfaden. Krieg.<br />

Grausamkeit. Kannibalismus. Mehr noch: Vlad ist unser Zeitbild: Die<br />

Zivilisation hält sich rückblickend als blutiges historisches Verbrechen nur<br />

durch Gewalt, durch Grausamkeiten, Raubbau, Blutsaugen an der Natur<br />

<strong>und</strong> dem Menschen am Leben.<br />

Aber Stokers Buch ist ungewollt auch Spiegel des Spiegels. Der<br />

geschichtliche Betrug <strong>und</strong> die Verfälschungen beginnen schon bei der<br />

historischen Darstellung des Stoker-Vorbildes Vlad Drăculea, dem Todes-<br />

<strong>und</strong> Blut<strong>für</strong>sten der Chroniken – die eigentlich tendenziöse Flugschriften<br />

meiner Vorfahren, der Siebenbürger Sachsen, sind. Ihre hasserfüllten<br />

Berichte an den ungarischen <strong>und</strong> deutschen Hof bildeten die Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong><br />

die Dracula-Legende. Vlad war besser als sein Ruf. In rumänischen <strong>und</strong><br />

russischen Chroniken ist er Patriot <strong>und</strong> Held. Die deutschen Chroniken sind<br />

Tendenzschriften, <strong>und</strong> es ist anzunehmen, dass sie auch Inspirationsquelle<br />

Stokers waren, als er sie im Britischen Museum las.<br />

Kehren wir zurück zur Realität. Am Anfang stand der Handelskrieg. Vlads<br />

Land war unvorstellbar arm, Staat <strong>und</strong> Gesellschaft korrupt. Und abhängig.<br />

Der rabiate <strong>und</strong> intelligente Mann brauchte Geld, Waffen, Söldner. Sein<br />

sogenanntes Stapelrecht schröpfte den Transithandel der Sachsenstädte in<br />

den Fernen Osten, der über seine Donauhäfen lief. Die Krämerseelen<br />

versuchten deshalb, Vlad zu stürzen: sie unterstützten je einen feindlichen<br />

Thronprätendenten. Vlad rächte sich. Er verwüstete ihr Land. Frauen <strong>und</strong><br />

Kinder wurden getötet, die Männer gepfählt. Ein Kaufmannszug, der das<br />

Stapelrecht nicht beachtete, wurde aufgespießt, ein anderer in einen Saal<br />

gesperrt <strong>und</strong> lebend verbrannt.<br />

"Es war sein Lust <strong>und</strong> gab ihm Mut,<br />

wenn er sah fließen Menschenblut."<br />

So Martin Beheim, der ein großes Epos über den Blut<strong>für</strong>sten Vlad<br />

geschrieben hat. Geschichtsschreibung beruht recht oft auf Phantasie, auf<br />

nicht nachprüfbaren Berichten von längst Toten, oft auf Fälschung.<br />

Ereignisse werden durch Sprache gelenkt, ja schließlich postum erf<strong>und</strong>en.<br />

Wie etwa Vlads Geschichte in dem berühmten Straßburger Druck von 1500:<br />

Vlad der Pfähler speist unter den Gepfählten, vor ihm ein Henkersknecht,<br />

der Leiber zerstückelt <strong>und</strong> siedet, als äße Vlad dann diese Gekochten.<br />

Darüber die Schrift:<br />

- 16 -


"Hie facht sich an gar graussamliche erschröckenliche hystorien von dem wilden Wütrich<br />

Dracole wayde. Wie er die leut gespiesst hat. vnd gepraten. <strong>und</strong> mit den häuptern in<br />

einem kessel gesoten."<br />

Auf diesem Druck ist ein Wald von Gepfählten zu sehen, die in den<br />

unmöglichsten Körperhaltungen aufgespießt sind. Im Hintergr<strong>und</strong> wohl das<br />

siebenbürgisch-sächsische Kronstadt. Der Überlieferung nach geschah dies<br />

einsame Mahl des Grauens bei einem erneuten Einfall des Pfählers in<br />

Siebenbürgen, einer Strafaktion.<br />

Man muss sich vorstellen, was Pfählen heißt – Stephanus Gerlach, ein<br />

Zeitgenosse Vlads, schildert diese Folterart in seinem Türkischen Tagebuch.<br />

"... die Spieße von Holtz mit Unschlitt oder Talk ... man bindt solchen Übeltätern Sailer<br />

an die Füße, stößt ihnen den Spieß zu dem hinteren Leib hinein... Zuerst aber kniet der<br />

Delinquent mit in den Staub gedrücktem Haupte nieder, die angezogenen Oberschenkel<br />

gekreuzt; ... <strong>und</strong> die Bahn hinreichend eingefettet, der Pfahl, aber nicht angespitzt,<br />

sondern abgestumpft, ... die Organe beiseiteschiebt, <strong>und</strong> wird fünfzig bis sechzig<br />

Zentimeter in den Mastdarm eingeführt, dann mit dem Delinquenten senkrecht<br />

aufgerichtet. Und der Körper mit seiner Schwere drückt Mann oder Weib hinab, <strong>und</strong><br />

langsam dringt der Pfahl durch den Körper, sucht den tödlichen Weg."<br />

Erst seit einigen Jahren ist erforscht, dass die Dracula-Legende auch<br />

zur deutschen spätmittelalterlichen Literatur gehörte. Sie beruht auf den<br />

Pamphletschriften "Die histori von dem posen Dracol". Es gibt zwölf Drucke,<br />

der früheste stammt von 1488, er wurde bei Marcus Ayrer in Nürnberg<br />

hergestellt. Außerdem existieren Drucke in Colmar, Lambach, St. Gallen,<br />

Augsburg, Bamberg <strong>und</strong> Nürnberg. Die überlieferten Anekdoten in den<br />

deutschen Tendenzschriften widersprechen anderen historischen Berichten<br />

über Vlad, sie sind bunt <strong>und</strong> voller Grausamkeiten: Behinderte <strong>und</strong> Arme<br />

werden von ihm zum Gastmahl eingeladen. Wieder wird der Saal mit den<br />

vielen Männern, Frauen <strong>und</strong> Kindern niedergebrannt. Dem entsetzten<br />

Gefolge erklärte Vlad, er wolle nicht, dass in seinem Land jemand arm <strong>und</strong><br />

krank sei. Den Zigeunern erging es noch schlimmer:<br />

"Item es komment in sin land by drie huntert Ziginer, da nahm er die besten ... <strong>und</strong> ließ<br />

sy braten, die mußten die ander Ziginer essen ..."<br />

Geschichte war <strong>und</strong> ist blutig. Aber die (meist erf<strong>und</strong>enen) Scheußlichkeiten<br />

des Vlad Drăculea sind grausame Fiktion. Dazu kam das tierische,<br />

pathologische Ergötzen des Volkes an Hinrichtungen <strong>und</strong> Folter in Buden-<br />

<strong>und</strong> Jahrmarktsatmosphäre. Es war die sadistische Phantasie nicht nur<br />

jener Zeit!<br />

In den russischen <strong>und</strong> rumänischen Chroniken hat Vlad wohl gepfählt,<br />

jedoch nur als strenger, aber gerechter Richter wider Reiche <strong>und</strong> Korrupte<br />

zur Abschreckung. Und gegen die Türken als Kampfmittel. Mittels seiner<br />

"Methoden" wird die Walachei ein starker <strong>und</strong> organisierter Staat. Es gibt ein<br />

gut instruiertes Heer, das er selbst unterweist. Weil die Macht eines Fürsten<br />

im Inland schwach ist, liquidiert er Ostern 1459 den Kronrat. Etwa 500<br />

Großbojaren <strong>und</strong> Kleriker lässt er mitsamt ihren Frauen durch den Spieß<br />

- 17 -


ziehen. Ihre Ländereien verteilt er an Kleinadlige <strong>und</strong> freie Bauern, die ihm<br />

da<strong>für</strong> gewogen sind, doch müssen sie auch Kriegsdienste leisten.<br />

Jetzt erst ist Vlad zu seinen großen Heldentaten fähig. 1458 schlägt er<br />

ein türkisches Heer, 10.000 werden gepfählt. 1459 wird eine Gesandtschaft,<br />

die Tribut fordert, gepfählt. Eine Aktion unter der Führung des Beg von<br />

Nicopolis Hamza, die Vlad mit List gefangennehmen soll, misslingt. 4.000<br />

Türken werden rings um Tîrgoviste aufgespießt. Doch ist sein Land zu klein,<br />

um der Großmacht Paroli zu bieten. So schreibt er an mehrere Fürsten <strong>und</strong><br />

Könige, auch an Matthias Corvin, den ungarischen König, um Verbündete zu<br />

gewinnen. Sie lassen ihn allein. Mohammed II, der Eroberer von Byzanz,<br />

greift ihn mit einem Heer von 150.000 Soldaten <strong>und</strong> vielen Schiffen auf der<br />

Donau an. Vlad hat 30.000 Mann. Er führt den ersten Guerillakrieg der<br />

Welt. Er legt Hinterhalte <strong>und</strong> attackiert bei Nacht. Die Osmanen ziehen<br />

erschöpft ab. Doch auch seine Kräfte sind aufgebraucht; er muss wieder<br />

nach Transsylvanien fliehen. Bruder Radu verrät ihn, er wird Fürst. Sein<br />

Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Vetter aus der Moldau, Stefan, verrät ihn, greift ihn sogar an.<br />

König Matthias Corvin verrät ihn, schickt das versprochene Heer nicht,<br />

nimmt ihn auf dem Höhepunkt seiner heroischen Karriere des<br />

Abwehrkampfes gefangen <strong>und</strong> sperrt ihn jahrelang in die finsteren Verliese<br />

der Festung Visegrád unter der Donau bei Budapest. Der Gr<strong>und</strong> sind drei<br />

gefälschte Briefe, in denen Vlad dem Sultan angeblich Verhandlungen anbot<br />

<strong>und</strong> sich ihm unterwerfen wollte, also ein Verräter war; sie wurden dem<br />

ungarischen König (möglicherweise) von den Sachsenstädten zugespielt.<br />

Corvin schickt dem Papst über den Legaten Modrussa eine Kopie der<br />

gefälschten Briefe <strong>und</strong> eine Reihe der kursierenden verleumderischen<br />

Gerüchte über den "Wütrich". Denn der Ungar muss sich sowohl dem Papst<br />

als auch den Venezianern gegenüber rechtfertigen, warum er den großen<br />

Türkenkämpfer ausgerechnet jetzt gefangen nimmt, obwohl er Geld <strong>für</strong> den<br />

Türkenfeldzug erhalten hat: Diese Flugschriften sind der Beginn der<br />

schriftlichen Dracula-Legende. Pius II publiziert sie in seinen "Comentarii".<br />

Hier sind alle Motive der deutschen Chroniken über den "Wütrich" Vlad<br />

aufgeführt:<br />

"Ein w<strong>und</strong>erliche vnd erschröckliche History von einem grossen wüterich genannt Dracol<br />

Wayda. Der do so gar unchristeliche marter hat angelegt de meschen als mit spissen.<br />

auch die leute zu tod geschliffen."<br />

Einige Jahre später lebt Vlad wieder frei in Buda. Dann folgen neue<br />

Schlachten, um den Thron wiederzugewinnen. Doch er ist zu Tode erschöpft<br />

<strong>und</strong> fällt im Kampf. Sein Kopf kommt nach Tzarigrad, der arg zugerichtete<br />

<strong>und</strong> zerstückelte Körper angeblich nach Snagov, in ein Grabmal ohne<br />

Namen. Ist Vlad wirklich ein Untoter, ein Phantom? Sein Grab war, wie wir<br />

sahen, als es geöffnet wurde, leer ...?<br />

Stoker <strong>und</strong> die vielen Filme stellen ihn mit Recht als Wiedergänger <strong>und</strong><br />

Hasser dar. Ein außerweltliches unheimliches Porträt des Rächers, ein<br />

ressentimentgeladenes Ungeheuer der Geschichte, das jede Nacht ein<br />

anderes menschliches Wesen anfällt <strong>und</strong> es infiziert, sodass es auch zum<br />

Vampir wird <strong>und</strong> die tödliche Blutsauger-Krankheit fortschreitet. Was ist<br />

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Geschichte anderes als Revanche, Rache, Ressentiment, Gemetzel um<br />

Gemetzel? Ob nun 1914, 1933 oder als Rachephänomen im Kommunismus,<br />

wo die ehemaligen Widerständler ihre früheren Peiniger übertrafen?<br />

Leider bleibt in den Dracula-Filmen die wesentliche historische Tragödie<br />

Vlads ausgeklammert. Sie dient nur als pittoresker Hintergr<strong>und</strong>. Keiner der<br />

vielen Filme hat den grausamen Wahnsinn der Geschichte als Irrenstück,<br />

als Verrat an der Wahrheit <strong>und</strong> am einzelnen Menschen in Schreckensbilder<br />

übersetzt.<br />

...<br />

Dieser stark gekürzte Beitrag wurde in voller Länge am 12. März 1997 im Süddeutschen<br />

R<strong>und</strong>funk in S2 <strong>Kultur</strong> ausgestrahlt <strong>und</strong> vom Mitteldeutschen R<strong>und</strong>funk Leipzig am 22.<br />

September wiederholt. Er wurde abgedruckt in "Halbjahresschrift <strong>für</strong> südosteuropäische<br />

Geschichte, Literatur <strong>und</strong> Politik", Heft Nr. 1/ 1997. Siehe dazu:<br />

www.halbjahresschrift.homepage.t-online.de<br />

Dr. Dieter Schlesak (schlesak@tiscalinet.it), geb. 1934 in Schäßburg (Siebenbürgen), Schriftsteller.<br />

Nach einem Studium der Germanistik arbeitete der Autor als Volksschullehrer <strong>und</strong> dann als Redakteur<br />

bei der Zeitschrift "Neue Literatur" in Bukarest. Er debütierte als Lyriker noch in seiner Heimat. 1969<br />

folgt die Übersiedlung in die BRD. Seitdem erschienen zahlreiche Gedichtbücher <strong>und</strong> Romane.<br />

Schlesak schrieb Hörspiele <strong>und</strong> Arbeiten <strong>für</strong> Radio <strong>und</strong> Fernsehen. Übersetzer- <strong>und</strong><br />

Herausgebertätigkeit. Essays über rumänische Literatur <strong>und</strong> Philosophie; zuletzt Nichita Stãnescu: Elf<br />

Elegien, Übersetzung <strong>und</strong> Nachwort: Metapoesie der roten Zeit (2005).<br />

Der Autor erhielt mehrere Preise, u.a. den Gryphius-Förderpreis, Schubart-Preis, Lenau-Preis, <strong>und</strong><br />

Stipendien (Deutscher Literaturfonds, Akademie Schloss Solitude); zuletzt <strong>für</strong> das Gesamtwerk die<br />

Ehrengabe der Schillerstiftung / Weimar, 2001. 2005 Ehrendoktor der Universität Bukarest. Schlesak<br />

ist Mitglied des Deutschen P.E.N. Zentrums.<br />

Veröffentlichungen u.a.<br />

Grenzstreifen (1968, Lyrik).<br />

Visa. Ost West Lektionen (1970, Essays). Briefe über die Grenze (1978, Lyrik). Vaterlandstage <strong>und</strong><br />

die Kunst des Verschwindens (1986, Roman). Aufbäumen (1990, Lyrik). Stehendes Ich in laufender<br />

Zeit. (1994, Essays). Landsehn (1997, Lyrik). Tunneleffekt (2000, Lyrik). Weiße Gegend. Gedichte<br />

(2000). Die Dracula-Korrektur (Roman, im August 2000 im Internet veröffentlicht). Der Verweser.<br />

Geisterroman(2001). LOS. Reisegedichte (2002). Romans Netz. Ein Liebesroman (2004). Zeuge an<br />

der Grenze unserer Vorstellung. Porträts, Studien <strong>und</strong> Essays (2005).<br />

Homepage<br />

www.dieterschlesak.de<br />

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Bräuche zum Frühlingsbeginn<br />

März – der erste Frühlingsmonat umfasst viele Bräuche in Rumänien.<br />

Das Märzchen<br />

Von Irina Wolf<br />

(01. 02. 2007)<br />

Der Monat beginnt mit einer malerischen Traditionsfeier des<br />

Frühlingsanfanges, dem "Märzchen". Der Name ist im Rumänischen ein<br />

Diminutiv <strong>für</strong> März. Seit vielen Jahrh<strong>und</strong>erten gilt dieser Brauch als ein Fest<br />

der Freude <strong>und</strong> ist ein Symbol des Sieges des Guten über das Böse. Man<br />

vermutet, dass die Ursprünge des Festes aus Rom stammen, als das Neujahr<br />

am ersten März, am Geburtstag des Gottes Martius, des<br />

Landwirtschaftsgottes <strong>und</strong> Symbols der Wiedergeburt der Natur, gefeiert<br />

wurde.<br />

Im Mittelalter feierten die Menschen den Frühlingsbeginn durch rot-weißes<br />

Anmalen von Steinchen, die als Glücksbringer galten. Rot bedeutete das<br />

Blut, die Sonne <strong>und</strong> das Feuer, den Krieg, aber auch das Leben, die Frau.<br />

Hingegen war weiß die Farbe des sauberen Wassers <strong>und</strong> des Himmels, des<br />

Friedens, des Mannes. Sie gehörten zusammen <strong>und</strong> konnten als Symbole<br />

des Lebens <strong>und</strong> der Unsterblichkeit der Natur nicht getrennt werden.<br />

In manchen Gegenden (Moldau <strong>und</strong> Bukowina) verwendete man als<br />

Talisman auch eine Gold- oder Silbermünze. Nachdem die Steinchen oder<br />

Münzen zwölf Tage lang um den Hals getragen worden waren, kaufte man<br />

süßen Käse, in der Hoffnung, dass das Gesicht das ganze Jahr über schön<br />

<strong>und</strong> weiß bliebe.<br />

Heute schenken Männer Frauen <strong>und</strong> Kindern als Glücksbringer Blumen<br />

oder kleine Plastikfiguren (Blumen, Kleeblätter, Vögel, Tiere), die mit einer<br />

rot-weißen Schnur versehen sind. Eine ähnliche Tradition, "Marteniza"<br />

genannt, gibt es zum ersten März auch in Bulgarien.<br />

Die Alte Dochia<br />

Der Name scheint aus dem byzantinischen Kalender zu stammen. Am<br />

ersten März wird der Namenstag der Heiligen Evdokia gefeiert. In den<br />

rumänischen Sagen heißt es, dass vor langer Zeit der Sohn eines bösen,<br />

alten Weibes namens Dochia lebte, der gegen den Willen seiner Mutter<br />

heiratete. Um ihre Schwiegertochter zu quälen, beschloss Dochia, diese am<br />

ersten März einer Reihe von Prüfungen zu unterziehen: Sie sollte zum Fluss<br />

gehen <strong>und</strong> schwarze Wolle so lange waschen, bis diese weiß würde, <strong>und</strong> in<br />

der noch kalten Jahreszeit reife Beeren suchen. Gott erbarmte sich der<br />

- 20 -


Schwiegertochter <strong>und</strong> half ihr, beide Aufgaben zu erledigen. Als Dochia die<br />

Beeren sah, glaubte sie, der Frühling sei gekommen, <strong>und</strong> brach mit ihren<br />

Ziegen zur Weide ins Gebirge auf. Vorsichtshalber hatte sie sich neun<br />

Schafspelze angezogen. Gott aber schickte Regen, <strong>und</strong> die Alte zog eine<br />

Jacke nach der anderen aus. Da verwandelte sich der Regen in Schnee, <strong>und</strong><br />

der Frost ließ sie <strong>und</strong> ihre Ziegen zu Eis erstarren <strong>und</strong> verwandelte sie<br />

schließlich zu Stein. Diesen versteinerten Gestalten kann der Wanderer noch<br />

heute im Bucegi-Gebirge begegnen.<br />

Die rumänische Tradition besagt, dass die ersten neun Märztage deshalb<br />

von abwechselndem Wetter geprägt sind, weil Dochia jeweils einen<br />

Schafspelz auszieht <strong>und</strong> den Regen oder Schnee abschüttelt. Heute wählt<br />

jeder Rumäne einen der ersten neun Märztage als "Alte", <strong>und</strong> man sagt, dass<br />

sein Glück im restlichen Kalenderjahr vom Wetter dieses Tages abhängt: Ist<br />

der gewählte Tag schön, bedeutet dies das Gleiche <strong>für</strong> das gesamte Jahr, ist<br />

der Tag trüb, wird auch das ganze Jahr nicht so gut sein.<br />

Sind die Tage der "Alten Frauen", des Überganges des Winters zum Frühling,<br />

beendet, beginnen mit dem 10. März die Tage der "Alten Männer", der<br />

Wärme.<br />

Die 40 Mucenici<br />

Zum Frühlingsanfang gehören noch die traditionellen "Mucenici". Die<br />

Hausfrauen backen am neunten März Kuchen in Form einer Acht zur<br />

Erinnerung an die 40 heiligen Mucenici aus Sevastia. Diese waren nach<br />

orthodoxem Glauben christliche Soldaten in der Armee des römischen<br />

Kaisers Licinius <strong>und</strong> wurden wegen ihres Glauben an Jesus circa im Jahr<br />

320 von Agricolae, dem Gouverneur Armeniens, gefangen genommen <strong>und</strong><br />

schließlich umgebracht; ihre Asche wurde in einen See in Sevastia in<br />

Armenien geworfen.<br />

Als Erinnerung kochen in der Walachei die Frauen kleine Teigkringel oder<br />

Teigachter in Zuckerwasser, um sie dann mit gemahlenen Nüssen bestreut<br />

aufzutischen. Das Wasser stellt den See dar, in dem die 40 heiligen Mucenici<br />

ihr Grab fanden. In der Moldau dagegen sind es größere Teiggebilde in<br />

Achterform, die man im Ofen bäckt, mit Honig überzieht <strong>und</strong> mit Nüssen<br />

bestreut.<br />

Irina Wolf (wolfirina@yahoo.com) wurde in Bukarest geboren. Nach Abschluss ihres<br />

Informatikstudiums kam sie 1988 durch ein Herder-Stipendium nach Wien. Nach mehreren Jobs im<br />

Telekommunikations- <strong>und</strong> Forschungsbereich wechselte sie 1993 in den Handelsbereich. Seitdem<br />

arbeit sie bei der Friedrich Wilhelm GmbH & Co.KG <strong>und</strong> hält weiterhin engen Kontakt mit Rumänien.<br />

- 21 -


Die andere Hauptstadt<br />

...<br />

Obwohl in Hermannstadt nur noch 2.000 Deutsche wohnen, ist Sibiu bis heute<br />

das inoffizielle Zentrum der deutschen Sprache <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong> geblieben.<br />

Udo-Peter Wagner <strong>und</strong> Tilman O. Wagner<br />

(01. 01. 2007)<br />

Um die Mitte des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts rief der ungarische König Geisa deutsche<br />

SiedlerInnen nach "Transsylvanien" (in das Land "jenseits der Wälder"), das<br />

spärlich besiedelt <strong>und</strong> den Angriffen der Wandervölker (Kumanen,<br />

Petschenegen, Tataren) ausgesetzt war ("ad retinendam coronam"). Die<br />

SiedlerInnen stammten vom Niederrhein, aus dem Gebiet zwischen Trier <strong>und</strong><br />

Luxemburg. Die Siebenbürger Sachsen, wie sie später genannt wurden (im<br />

Mittelalter wurden die Deutschen als "saxones" bezeichnet), sprachen <strong>und</strong><br />

sprechen moselfränkische M<strong>und</strong>arten, die <strong>für</strong> Sprachforscher interessant sind,<br />

weil sie den Sprachstand des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts widerspiegeln. Die SiedlerInnen<br />

erhielten von der ungarischen Krone als Gegenleistung <strong>für</strong> die Verteidigung der<br />

Südgrenze entlang der Karpaten <strong>und</strong> <strong>für</strong> die Kolonisation des Landes<br />

verschiedene Vorrechte (Erhebung von Steuern <strong>für</strong> eine bestimmte Zeit,<br />

rechtliche <strong>und</strong> kirchliche Selbstverwaltung), die in dem "Goldenen Freibrief" von<br />

1222 festgehalten <strong>und</strong> später immer wieder bestätigt wurden.<br />

Die deutschen SiedlerInnen waren mehrheitlich Ackerbauern <strong>und</strong> Handwerker,<br />

die eine überlegene Produktionsform aus Mitteleuropa in diesen Raum brachten.<br />

Sie legten in etwa 250 Dörfern befestigte Wehrburgen, sogenannte<br />

"Kirchenburgen" an <strong>und</strong> bauten befestigte Städte, an denen sich die Landesfeinde<br />

(ab dem 15. Jahrh<strong>und</strong>ert waren es die Türken) oft genug die Zähne ausbissen.<br />

Die Siebenbürger Sachsen organisierten sich in sieben Stühlen (daher der Name<br />

"Siebenbürgen" <strong>für</strong> den von ihnen besiedelten Teil Transsylvaniens), deren<br />

Vorort die "Haupt- <strong>und</strong> Hermannstadt" wurde, wo der "Sachsencomes" als oberste<br />

Verwaltungsinstanz residierte. Im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert schloss man sich zur<br />

sogenannten "Nationsuniversität" zusammen, die ihren Sitz ebenfalls in<br />

Hermannstadt hatte. Andere bedeutende Städte der Sachsen in Siebenbürgen<br />

waren Kronstadt, Mediasch <strong>und</strong> Schäßburg, im Westen Broos <strong>und</strong> Mühlbach, <strong>und</strong><br />

im Norden Bistritz. Bis zur Reformation gehörte das Sachsengebiet zum Erzbischof<br />

von Graan, ab 1541 setzte sich die Reformation in Hermannstadt <strong>und</strong> dann im<br />

gesamten Sachsengebiet durch. Der evangelische Bischof hatte seinen Sitz in<br />

Birthälm <strong>und</strong> ab 1867 in Hermannstadt.<br />

Nach der <strong>für</strong> die ungarische Krone verlustreichen Schlacht von Mohács (1526)<br />

wurde Siebenbürgen ein unabhängiges Fürstentum, das bloß der Türkei<br />

tributpflichtig war. Als Folge der Friedensschlüsse von Karlowitz (1699) <strong>und</strong><br />

Passarowitz (1718) kam Transsylvanien zur Habsburger Monarchie <strong>und</strong><br />

Hermannstadt wurde Verwaltungssitz der österreichischen Administration. Für<br />

die <strong>Kultur</strong> wichtig wurde in jener Zeit der gebürtige Siebenbürger Sachse Baron<br />

- 22 -


von Brukenthal, der zeitweilig Gubernator von Siebenbürgen war. Nach seinem<br />

Tod wurden dessen Sammlungen (Gemälde, Münzen, Bücher usw.) der<br />

sächsischen Nation zur Verfügung gestellt. Das "Brukenthalmuseum" wurde<br />

mithin zum ersten Museum auf dem Gebiet des heutigen Rumänien.<br />

1867 wurde durch den österreichisch-ungarischen Ausgleich die<br />

Eigenverwaltung ("Königsboden") der Siebenbürger Sachsen zerschlagen <strong>und</strong><br />

die "Nationsuniversität" einige Jahre später aufgelöst. 1918 kam Siebenbürgen als<br />

Folge der verlorenen Kriege zu Rumänien. In Hermannstadt tagte der<br />

Provisorische Verwaltungsrat ("consiliul dirigent"), der den Anschluss an das<br />

Königreich Rumänien dekretierte. Die Siebenbürger Sachsen hatten die Zeichen<br />

der Zeit verstanden <strong>und</strong> schon im Januar 1919 ein Loyalitätsbekenntnis<br />

abgegeben. In der NS-Zeit war Hermannstadt zeitweilig Sitz der sogenannten<br />

"Deutschen Volksgruppe". Nach dem II. Weltkrieg wurde es verwaltungsmäßig<br />

dem Bezirk Kronstadt eingegliedert <strong>und</strong> 1968 als eigenständiger Kreis<br />

organisiert, was es bis heute geblieben ist. Es gehört nach Ausdehnung <strong>und</strong><br />

Bevölkerungszahl zu den mittelgroßen Kreisen Rumäniens. Wo vor der Wende<br />

noch etwa 100.000 Deutsche lebten (in Hermannstadt zählte man 1940 noch 30.000<br />

Siebenbürger Sachsen, also 50 % der Bevölkerung), wohnen heute nur noch r<strong>und</strong><br />

2.000 Deutsche in der Stadt; das entspricht etwa 1,6 % der Stadtbevölkerung.<br />

In Hermannstadt gibt es ein deutsches Gymnasium ("Brukenthalgymnasium"),<br />

eine deutsche Lehrerbildungsanstalt (die einzige in Rumänien), ein halbes<br />

Dutzend Untergymnasien mit deutschen Abteilungen, desgleichen mehrere<br />

deutschsprachige Kindergärten. Seit über 50 Jahren werden evangelische Pfarrer<br />

am "Protestantischen Theologischen Institut" ausgebildet. 1969 wurde <strong>für</strong> die<br />

deutsche Minderheit eine Germanistikabteilung innerhalb der neu gegründeten<br />

philologischen Fakultät ins Leben gerufen, die heute über 400 Studierende<br />

beherbergt, Deutsch sprechende LehrerInnen, JournalistInnen <strong>und</strong><br />

ÜbersetzerInnen ausbildet <strong>und</strong> zahlreiche internationale Kontakte pflegt.<br />

Das deutsche geistige Leben wird auch von der Presse getragen: in Hermannstadt<br />

erscheint die Wochenschrift "Hermannstädter Zeitung", das Theologische Institut<br />

ediert die "Kirchlichen Blätter", die Hermannstädter Zweigstelle der "Akademie<br />

<strong>für</strong> Gesellschaftswissenschaften" gibt die "Forschungen zur Volks- <strong>und</strong><br />

Landesk<strong>und</strong>e" heraus. Unregelmäßig erscheinen die "Germanistischen Beiträge"<br />

des Germanistik-Lehrstuhls.<br />

In Hermannstadt wurde bereits gegen Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts ein<br />

deutsches Theater gegründet. Die damit in Verbindung stehende Zeitschrift war<br />

die erste Publikation auf dem Boden des heutigen Rumänien. In der Zeit zwischen<br />

den beiden Weltkriegen setzte dann das Hermannstädter "Deutsche<br />

Landestheater aus Rumänien" die sprachliche Traditionslinie fort. Daran<br />

anschließend wurde schließlich 1956 eine deutsche Abteilung am städtischen<br />

rumänischen Theater ins Leben gerufen, die auch heute noch besteht. In<br />

Hermannstadt gibt es zudem ein deutschsprachiges Puppentheater.<br />

Das kirchliche Leben der Deutschen beiderlei Konfessionen (evangelisch <strong>und</strong><br />

katholisch) geht sozusagen normal weiter: der Evangelischen Kirche stehen zwei<br />

- 23 -


Kirchhäuser zur Verfügung, in denen auf Deutsch gepredigt wird. Es gibt<br />

Jugendarbeit <strong>und</strong> Altenbetreuung. Deutsche Predigten finden auch einmal pro<br />

Monat in der Katholischen Kirche statt. Die reiche musikalische Tradition der Stadt<br />

(bis ins 18. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückreichend) wird mit Erfolg fortgesetzt. Es gibt einen<br />

"Bach-Chor", der in Jahreskonzerten große deutsche, aber auch einheimische<br />

Komponisten aufführt.<br />

Durch den Exodus der deutschen Bevölkerung hat auch das deutschsprachige<br />

literarische Leben abgenommen. Der Literaturkreis der Stadt besteht seit 1991<br />

nicht mehr, doch gab es punktuell bescheidene Fortsetzungen im Literaturkreis<br />

des "Pädagogischen Lyzeums" <strong>und</strong> in jenem der GermanistikstudentInnen, der in<br />

letzter Zeit als "Lesekreis" reaktiviert wurde. Die in Hermannstadt oder, wenn<br />

man den Raum etwas ausdehnt, in Südsiebenbürgen verbliebenen<br />

SchriftstellerInnen haben zum Beispiel die Gelegenheit, sich einmal jährlich bei<br />

den "Deutschen Literaturtagen" in Reschitz zu treffen. In Hermannstadt steht ihnen<br />

der hora- <strong>und</strong> der Honterus-Verlag zur Verfügung, in Kronstadt der Aldus-Verlag,<br />

es gibt auch den staatlichen Kriterion-Verlag. Namen wie Joachim Wittstock,<br />

Eginald Schlattner, Ursula Bedners oder Carmen Pucheanu haben auch im<br />

Ausland einen guten Klang, hinzu kommen noch solche wie E. G. Seidner oder<br />

Wilhelm Meitert, die sich vor allem im sächsischen Dialekt artikulieren. Nicht<br />

unerwähnt, weil fördernd soll die "Blutzufuhr" aus Deutschland bleiben: Das<br />

Generalkonsulat der BRD <strong>und</strong> der "IFA" initiieren <strong>und</strong> finanzieren zahlreiche<br />

<strong>Kultur</strong>austausche. Im Jahr 2003 wurde an der Lucian-Blaga-Universität ein<br />

österreichisches <strong>Kultur</strong>institut eingerichtet.<br />

Im Jahr 2007 wartet Hermannstadt in einer gemeinsamen organisatorischen<br />

Anstrengung mit Luxemburg als <strong>Kultur</strong>hauptstadt Europas mit einer zahlreichen<br />

Vielfalt an kulturellen Veranstaltungen auf. 54 verschiedene Festivals verwöhnen<br />

die neugierigen Augen <strong>und</strong> Ohren der BesucherInnen mit internationalem<br />

Programm. So eröffnet das Sibiu-Jazz-Festival zwischen dem 8. <strong>und</strong> 15. Mai mit<br />

einer musikalischen Darbietung das Jahreskulturprogramm. Am 11. Mai treffen<br />

Interessierte an der Philologischen Fakultät zusammen, um über den rumänischen<br />

Philosophen Emil Cioran (1911-1995) im Rahmen des Internationalen<br />

Kolloquiums, welches seinen Namen trägt, zu sprechen. Während das<br />

Internationale Theaterfestival zwischen dem 26. Mai <strong>und</strong> 5. Juni zum XIII. Mal mit<br />

Schauspielkunst aus der ganzen Welt locken wird, kommen Kinder <strong>und</strong><br />

Jugendliche zur zehnten Ausgabe des Festivals <strong>für</strong> unkonventionelle Kunst "La<br />

strada" zusammen. Weitere musikalische Präsentationen sollen zwischen dem 1.<br />

Juni <strong>und</strong> 1. September unter dem Motto "Halte den Rhythmus" <strong>für</strong> Abwechslung<br />

sorgen. Im August werden zwei traditionelle folkloristische<br />

Kunsthandwerkfestivals zu Töpferwerkstätten <strong>und</strong> Keramikausstellungen<br />

einladen. Am 25. August soll das mittelalterliche Festival "Siebenbürgische<br />

Burgen" einen mediävalen Flair verbreiten, abschließend lädt die europäische<br />

<strong>Kultur</strong>hauptstadt zum Internationalen Astra Dokumentarfilmfest zwischen dem 23.<br />

<strong>und</strong> 28. Oktober ein. (Programm im Internet: www.sibiu.ro/ro/cultura2005.htm)<br />

Im September 2007 werden unter der Schirmherrschaft der Konferenz<br />

Europäischer Kirchen (KEK) <strong>und</strong> dem Rat Europäischer Bischofskonferenzen der<br />

römisch-katholischen Kirche (CCEE) alle christlichen Kirchen Europas zur Dritten<br />

- 24 -


Ökumenischen Versammlung (nach Basel, 1989, <strong>und</strong> Graz, 1997) zwischen dem 4.<br />

<strong>und</strong> 8. September in Hermannstadt erwartet. Nicht zuletzt der angekündigte<br />

Besuch des Papstes wird Hermannstadt dazu verhelfen, in altem neuen Glanz zu<br />

erstrahlen.<br />

Tilman Otto Wagner (t.wagner@novumverlag.com) wurde 1977 in Hermannstadt / Sibiu geboren <strong>und</strong><br />

studierte an der dortigen Universität Anglistik <strong>und</strong> Germanistik. Ab 2000 Studium der Anglistik <strong>und</strong><br />

Germanistik an der Universität Klagenfurt. Nach einem Semester als Lehrer an einer High School in<br />

Mexiko (Tecnologico de Monterrey, Chihuahua) Doktoratsstudium der Germanistik an der Universität<br />

Wien sowie Studium an der Akademie der Bildenden Künste in der Klasse <strong>für</strong> Post Conceptual Art<br />

Practices.<br />

- 25 -


Timişoara<br />

Der Reichtum an <strong>Kultur</strong>schätzen, den Temeswar bietet, ist bemerkenswert<br />

<strong>und</strong> vergleichbar mit rumänischen "<strong>Kultur</strong>hauptstädten" wie Sibiu oder Bukarest.<br />

Doch was den Besucher erwartet, ist mehr als ein "barockes Freilichtmuseum".<br />

Timişoara ist eine pulsierende, moderne Universitätsstadt mit großer wirtschaftlicher<br />

Zukunft.<br />

Von Klemens Jäger<br />

(01. 03. 2007)<br />

Wird im Moment über Rumänien berichtet, so geht es – neben dem<br />

bevorstehenden EU-Beitritt – fast immer über den Bauboom in Bukarest, die<br />

Europäische <strong>Kultur</strong>hauptstadt Sibiu/Hermannstadt oder das UNESCO<br />

Weltkulturerbe, die Klöster in der Moldau. Timişoara ist viel weniger in den<br />

Medien präsent <strong>und</strong> darf sich nicht mit Titeln wie "<strong>Kultur</strong>hauptstadt" oder<br />

"Weltkulturerbe" schmücken – zu Unrecht!<br />

Denn auch diese Großstadt im Westen Rumäniens blickt auf eine reiche<br />

kulturelle Geschichte zurück. Über lange Zeit hinweg lebten in Timişoara<br />

Menschen vieler Nationalitäten <strong>und</strong> Religionen friedlich nebeneinander:<br />

Rumänen, Serben, Ungarn, Juden <strong>und</strong> vor allem Deutsche (Alt-Österreicher)<br />

haben hier ihre Spuren hinterlassen. Früher wurde Temeswar sogar Klein-<br />

Wien genannt.<br />

In der Tat wurde die Stadt Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wie Budapest <strong>und</strong><br />

Wien ringstraßenförmig ausgebaut. Die Stadtmauer musste der Ringstraße<br />

weichen, es ist nur mehr eine Bastion im Westen der Stadt übriggeblieben.<br />

Diese alten Gemäuer beherbergen heute Restaurants, Bars <strong>und</strong> Clubs.<br />

Westlich dieser Bastion liegt einer der schönsten Plätze der Stadt, der<br />

Domplatz (Piaţa Unirii/Einheitsplatz). Hier fühlt man sich wie in einem<br />

barocken Freilichtmuseum, von allen Seiten wird man von prachtvoll<br />

geschmückten Fassaden in allen Farben angelacht. Die wichtigsten Gebäude<br />

sind der römisch-katholische Dom von Joseph Emanuel Fischer von Erlach,<br />

das Komitatshaus (Prefectura Veche) <strong>und</strong> die serbisch-orthodoxe<br />

Bischofskirche. In der Mitte des Platzes befindet sich die Dreifaltigkeitssäule<br />

(Monumentul Sfântei Treimi) <strong>und</strong> ein Brunnen (Fântâna din Piaţa Unirii),<br />

aus dem schwefelhaltiges Thermalwasser sprudelt. In den letzten Jahren<br />

haben an der Piaţa Unirii zahlreiche Kaffeehäuser <strong>und</strong> Restaurants eröffnet,<br />

die diesen Ort vor allem im Sommer (Schanigärten) zu einem beliebten<br />

Flanier- <strong>und</strong> Ausgehplatz machen. Hier treffen sich auch viele junge Leute,<br />

Schüler aus dem nahe gelegenen Nikolaus-Lenau-Lyzeum, wo noch in<br />

deutscher Sprache unterrichtet wird.<br />

- 26 -


Südlich der Piaţa Unirii befinden sich zwei weitere wichtige Plätze, der<br />

Freiheitsplatz (Piaţa Libertaţii) <strong>und</strong> der Siegesplatz (Piaţa Victoriei). Letzterer<br />

wird von zwei imposanten Bauten flankiert, im Süden die rumänischorthodoxe<br />

Kathedrale <strong>und</strong> im Norden die Oper. Vor der Oper befindet sich<br />

ein schlichtes Holzkreuz, das an den Aufstand gegen Ceauşescu im Jahr<br />

1989 erinnert. Dieser Platz war eines der Hauptkampfgebiete der in<br />

Timişoara ausgebrochenen Revolte, die sich schließlich auf das ganze Land<br />

ausbreitete <strong>und</strong> zum Sturz des Diktators führte. In der Mitte des Platzes<br />

thront eine Statue der Apostolischen Wölfin, die auf die romanische<br />

Abstammung der Rumänen hinweist.<br />

Neben der Piaţa Victoriei steht das Hunyaden-Schloss (Castelul Huniazilor),<br />

welches heute das Banater Museum beherbergt. Um das Zentrum herum<br />

fließt – wie in Wien der Donaukanal – die Bega, an deren Ufern sich<br />

großzügig angelegte Parks befinden. Sie bilden die grüne Lunge der Stadt.<br />

Viele Restaurantschiffe <strong>und</strong> Bäder entlang des Kanals laden zum Verweilen<br />

ein.<br />

Stadtauswärts der Bega liegen die historischen Vorstädte Josefstadt<br />

(Iosefin), Elisabethstadt (Elisabetin) <strong>und</strong> Fabrikstadt (Fabric); aber auch<br />

moderne Stadtviertel wie der Uni-Campus, den die Einheimischen Complex<br />

nennen. Zwischen den zahlreichen Universitäten tummeln sich viele<br />

Studierende. Auch im größten <strong>und</strong> modernsten Einkaufszentrum der Stadt –<br />

Iulius-Mall – trifft man viele juge Leute.<br />

Abschließend kann man sagen, dass Temeschwar heute eine moderne Stadt<br />

mit vielen historischen Spuren ist, die vor allem wirtschaftlich eine große<br />

Zukunft hat. Ein Besuch in Klein-Wien ist definitiv zu empfehlen!<br />

Klemens Jäger (klemens.jaeger@studentintelligence.eu) ist Student an der Wirtschaftsuniversität<br />

Wien.<br />

- 27 -


Annäherung an die Wirklichkeit<br />

Ein Überblick über die zeitgenössische rumänische Prosa<br />

Die rumänische Literatur befindet sich in Aufbruchstimmung. Vor allem die jungen<br />

AutorInnen zeigen durch ihren dynamischen Umgang mit Sprache <strong>und</strong> Form,<br />

welches Potential in ihnen steckt. Vielfältig <strong>und</strong> komplex sind aber auch ihre Themen.<br />

Wiederholt kommen hier die Probleme, Obsessionen <strong>und</strong> Ideen, aber auch die<br />

Träume <strong>und</strong> Hoffnungen der zeitgenössischen Europäer zum Ausdruck. So kann<br />

man ihre Literatur als rumänisch <strong>und</strong> europäisch zugleich betrachten, als ein anderes<br />

Gesicht unseres Europas <strong>und</strong> unseres Selbst.<br />

Von Iulia Dondorici<br />

(01. 01. 2007)<br />

Im deutschsprachigen Raum weiß man sehr wenig über die<br />

zeitgenössische rumänische Literatur. Zum Teil liegt es an mangelnden<br />

Übersetzungen – spontan fällt mir ein einziges Buch eines rumänischen<br />

zeitgenössischen Autors ein, das in den letzten Jahren in Deutschand<br />

erschienen ist. In Wahrheit sind es einige mehr, auf die ich noch zu<br />

sprechen kommen werde. Bis jetzt schien es auch keinen besonderen Gr<strong>und</strong><br />

zu geben, sich mit dem Thema in einer breiteren Öffentlichkeit auseinander<br />

zu setzen. Ob sich dies mit dem EU-Beitritt Rumäniens ändern wird, ist<br />

schwer abzuschätzen. Die Situation ist nicht vergleichbar mit der des jungen<br />

rumänischen Films, dessen aktuelle Präsenz auf den großen europäischen<br />

Filmfestivals beispielgebend ist. So sehr sich die künstlerischen Mittel aber<br />

auch unterscheiden: die Themen, die im Film <strong>und</strong> in der zeitgenössischen<br />

Literatur Rumäniens zur Sprache kommen, sind sehr ähnlich. Ob das auch<br />

ein Versprechen <strong>für</strong> einen künftigen Erfolg der rumänischen Literatur ist?<br />

Kurzes historisches Intermezzo<br />

Nachdem es die rumänische Literatur in der kurzen Zwischenkriegszeit<br />

geschafft hatte, sich auf die Ebene ihrer westeuropäischen Schwestern<br />

emporzuschwingen <strong>und</strong> eine im weitesten Sinne moderne Literatur zu<br />

werden – auch wenn sie traditionsgemäß hauptsächlich an Frankreich <strong>und</strong><br />

an den literarischen Strömungen, die dort stattfanden, orientiert war –,<br />

bedeuteten der Zweite Weltkrieg <strong>und</strong> die anschließende russische Besatzung<br />

eine Katastrophe <strong>für</strong> das kulturelle, gesellschaftliche <strong>und</strong> politische Leben.<br />

Die meisten rumänischen <strong>Kultur</strong>schaffenden fanden sich entweder in<br />

kommunistischen Gefängnissen wieder, gingen ins Exil oder stellten sich<br />

sogar auf die Seite der Kommunistischen Partei <strong>und</strong> ihrer Ideologie, um<br />

diese mit Wort <strong>und</strong> Tat zu unterstützen. Mircea Eliade, Emil Cioran oder<br />

Eugène Ionesco emigrierten beispielsweise nach Frankreich, um dort weiter<br />

in Freiheit literarisch tätig bleiben zu können.<br />

Nach der politischen Brutalität der 50er Jahre kam es Ende der 60er <strong>und</strong><br />

Anfang der 70er Jahre zur sogenannten "Liberalisierung", während derer es<br />

- 28 -


zum ersten Mal erlaubt war, überhaupt etwas anderes als sozialistischrealistische<br />

Literatur (zu propagandistischen Zwecken) zu schreiben <strong>und</strong> zu<br />

veröffentlichen. Bedeutende Prosa-AutorInnen der 60er <strong>und</strong> 70er Jahre<br />

waren Ştefan Bănulescu, Gabriela Adameşteanu, Ana Blandiana, Nora Iuga<br />

(1), Dumitru Radu Popescu oder Marin Preda.<br />

Ende der 70er Jahre war diese Liberalisierung schon wieder vorbei.<br />

Nach einigen Staatsbesuchen in den kommunistischen Ländern Asiens hatte<br />

Ceauşescu sich vorgenommen, eine Diktatur nach dem Beispiel Maos in<br />

Rumänien aufzubauen, was verschärfte ideologische Zensur in allen<br />

kulturellen Bereichen nach sich zog. Erschwernisse beim Druck sowohl von<br />

Büchern als auch von Zeitungen kündigten bereits an, dass sich die 80er<br />

Jahre bald schon zu einem der dunkelsten Jahrzehnte in der Geschichte<br />

Rumäniens entwickeln sollten.<br />

Es waren aber auch die Jahre einer bedeutsamen Erneuerung der<br />

rumänischen Literatur. Viele junge AutorInnen debütierten – wenn auch<br />

unter sehr ungünstigen Bedingungen. Sie brachten neuen Wind in die<br />

rumänische Literaturszene. Gemeint sind die AutorInnen der sogenannten<br />

"Generation der 80er Jahre", die als erste VertreterInnen eines rumänischen<br />

Postmodernismus gelten. Sie traten als Gruppe auf <strong>und</strong> begannen<br />

gemeinsame literarische Experimente. Einer der interessantesten <strong>und</strong> bis<br />

heute sehr aktiven <strong>und</strong> beliebten Schriftsteller dieser Generation ist Mircea<br />

Cărtărescu. Auch im deutschsprachigen Raum präsent (2), schrieb er sowohl<br />

Gedichte (der schönste Band ist "Levantul" aus dem Jahr 1990) wie auch<br />

Erzählungen <strong>und</strong> Romane, unter anderem "Nostalgia" (1993) <strong>und</strong> den Zyklus<br />

"Orbitor" (zwei Bände, 1996 bzw. 2002 erschienen).<br />

Als weitere wichtige SchriftstellerInnen der "Achtziger-Generation"<br />

könnte man Mircea Nedelciu, Adriana Babeţi, Adriana Bittel, Răzvan<br />

Petrescu <strong>und</strong> Gheorghe Crăciun nennen. Und, last but not least, entwickelte<br />

sich in dieser Zeit die Literatur der deutschen Minderheit weiter. Deren<br />

Mitglieder schrieben <strong>und</strong> veröffentlichten in deutscher Sprache. Es geht um<br />

die heute auch außerhalb Rumäniens bekannte "Aktionsgruppe Banat"<br />

(1972-75), zu der u. a. Herta Müller, Ernst Wichert, Richard Wagner <strong>und</strong><br />

William Totok gehörten. Aufgr<strong>und</strong> kritischer Äußerungen gegenüber dem<br />

kommunistischen Regime erhielten sie Publikationsverbot <strong>und</strong> emigrierten<br />

in der zweiten Häfte der 80er Jahre nach Deutschland. Hier konnten sie ihre<br />

literarischen Projekte weiter verfolgen. So zählen heute Herta Müller <strong>und</strong><br />

Richard Wagner zu den bekanntesten, sowohl von LeserInnen wie auch von<br />

KritikerInnen stark rezipierten deutschsprachigen SchriftstellerInnen. Ihre<br />

Bücher beschäftigen sich wiederholt mit "rumänischen" Themen, die<br />

gleichzeitig höchst relevant <strong>für</strong> die globalisierten, in heutigen westlichen<br />

Gesellschaften lebenden multikulturellen Menschen sind: die Rückkehr des<br />

Exilanten, die Möglichkeiten der Integration des Individuums in einer<br />

fremden Welt, das Verhältnis des Ich zum Fremden, menschliche<br />

Beziehungen <strong>und</strong> das Gefühl von Heimat.<br />

Junge rumänische Literatur<br />

- 29 -


Der Schritt der "jungen Literatur" in die Öffentlichkeit hat in Rumänien<br />

erst durch das groß angelegte Projekt eines bedeutenden Verlages – Polirom<br />

aus Iaşi – stattgef<strong>und</strong>en. Vor einigen Jahren setzte sich der Verlag zum Ziel,<br />

junge SchriftstellerInnen zu entdecken, zu fördern <strong>und</strong> zu veröffentlichen.<br />

Das Projekt wurde sowohl von der Leserschaft als auch von der Kritik<br />

begrüßt <strong>und</strong> erstaunlich gut aufgenommen, wahrscheinlich auch deshalb,<br />

weil man eine Krise der literarischen Szene spürte, in der bisher<br />

überwiegend die SchriftstellerInnen der älteren Generation agiert hatten. Wo<br />

viele der etablierten AutorInnen heute noch immer literarisch-ästhetisch die<br />

Vergangenheit aufarbeiten <strong>und</strong> problematisieren, zeichnet sich unter den<br />

jungen LiteratInnen der Zug ab, sich eher mit der unmittelbaren Gegenwart<br />

auseinander zu setzen. AutorInnen wie Sorin Stoica, Dan Lungu, T.O. Bobe<br />

(3) <strong>und</strong> Florina Iliş greifen in ihren Erzählbänden <strong>und</strong> Romanen allgemeine<br />

soziale Entwicklungen auf, konzentrieren sich aber auch auf typische<br />

Situationen <strong>und</strong> Probleme, mit denen sich junge Leute in der heutigen Welt<br />

konfrontiert sehen. So entsteht in dieser Literatur das oft ironische <strong>und</strong> mit<br />

viel Humor betrachtete bunte Bild der rumänischen postkommunistischen<br />

Gesellschaft bzw. von postkommunistischen Gesellschaftssegmenten mit<br />

ihren (Generations-) Konflikten <strong>und</strong> Abgründen, ihrem Chaos, ihrer<br />

materiellen Unsicherheit, aber auch Hoffnung <strong>und</strong> Vielfältigkeit, Abenteuer<br />

<strong>und</strong> einem unglaublichen Spaß am Leben.<br />

Die Sprache dieser AutorInnen ist absichtlich kolloquial <strong>und</strong> leicht zu<br />

verstehen, weil sie <strong>für</strong> ein breites Publikum schreiben. In den Büchern<br />

schleichen sich nicht selten Figuren wie Straßenkinder, Lumpen, Verrückte,<br />

oder aber normale, einfache Leute ein. Ihre Ästhetik ist die eines<br />

inszenierten Realismus, dargestellt etwa am Geständnis des Ich-Erzählers in<br />

Sorin Stoicas Roman "O limbă comună" (Editura Polirom, 2005):<br />

"Viele haben mich gefragt – zum Beispiel meine Kollegen – wo ich das, worüber ich<br />

schreibe, herhabe. Ich denke mir nichts aus, ich reproduziere nur. Ich möchte nichts<br />

erfinden. Wenn Leute sich im Text wiedererkennen, lachen sie sich tot. (…) Sich der<br />

Wirklichkeit durch Lachen annähern zu können! …". (4)<br />

Eine Richtung die der obigen entgegengesetzt ist könnte man "Literatur<br />

der Ich-Zentrierung" nennen. Als Tendenz taucht sie in allen europäischen<br />

Literaturen der Gegenwart auf. So schreiben viele AutorInnen der jungen<br />

Generation fiktionale Autobiografien, literarische Inszenierungen des eigenen<br />

Lebens. Dabei liegt der Schwerpunkt oft auf der Kindheit, auf Bildern <strong>und</strong> –<br />

gattungsbedingt – auf der Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit. Diese<br />

Tendenz war schon in den 80er Jahren mit dem Roman "Bietele corpuri"<br />

(1988) von Sonia Larian, einer der besten rumänischen Schriftstellerinnen<br />

der Gegenwart, zu bemerken. Mit ästhetischen Konstruktionen des eigenen<br />

Lebens beschäftigen sich junge Autoren wie Filip Florian, Ana Maria Sandu,<br />

Simona Popescu <strong>und</strong> Cezar Paul Bădescu. Diese Liste könnte fortgeführt<br />

werden, gehört doch die Beschäftigung mit dem eigenen Ich zu den<br />

produktivsten Strömungen der rumänischen zeitgenössischen Literatur. Die<br />

Sprache dieser AutorInnen ist bewusst kompliziert, selbstreflexiv, oft<br />

metaphorisch. Zudem verwenden sie zahlreiche Techniken des<br />

- 30 -


postmodernen Romans <strong>und</strong> kreieren sprachlich-literarische Bilder <strong>und</strong><br />

Collagen.<br />

Irgendwo dazwischen lässt sich beispielsweise ein Autor wie Daniel<br />

Bănulescu positionieren, der auch ins Deutsche übersetzt (5) <strong>und</strong> erfolgreich<br />

rezipiert wurde.(6) Er ist Verfasser eines Romanzyklus über die<br />

kommunistische Vergangenheit Rumäniens. Frei von Klischees, mit<br />

erstaunlichem Humor, aber auch mit Selbstironie <strong>und</strong> scharfer Kritik an der<br />

rumänischen Gesellschaft <strong>und</strong> Mentalität, die großen nationalen (<strong>und</strong><br />

nationalistischen) Mythen der rumänischen Geschichte dekonstruierend, ist<br />

Bănulescu – in Form einer postmodernistischen Parabel – eine komplexe<br />

Darstellung der rumänischen kommunistischen Gesellschaft gelungen.<br />

Die rumänische Literatur ist gegenwärtig sehr dynamisch <strong>und</strong><br />

entwicklungsfähig, <strong>und</strong> auch vielfältiger <strong>und</strong> komplexer als in diesem<br />

knappen Überblick zum Ausdruck gebracht werden kann. Vor allem die<br />

jungen AutorInnen sind vielversprechend. Ihre Themen sind letztlich die<br />

Probleme, Obsessionen, Ideen, aber auch die Träume <strong>und</strong> Hoffnungen der<br />

zeitgenössischen EuropäerInnen. Ihre Literatur kann man als rumänisch<br />

<strong>und</strong> europäisch zugleich betrachten, als ein anderes Gesicht unseres<br />

Europas <strong>und</strong> unseres Selbst.<br />

...<br />

Anmerkungen<br />

(1) Ins Deutsche wurden die folgende zwei Gedichtbände von Nora Iuga übersetzt: "Der<br />

Autobus mit dem Buckligen. Gedichtroman", Akademie Schloss Solitude, Stuttgart 2003<br />

<strong>und</strong> "Gefährliche Launen". Ausgewählte Gedichte, aus dem Rumänischen von Ernst<br />

Wichert mit einem Nachwort von Mircea Cărtărescu, Klett Verlag, Stuttgart, 2007. Sie ist<br />

auch durch zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften <strong>und</strong> Lesungen dem deutschen<br />

Publikum bekannt. Zur Zeit gilt sie als die beste Übersetzerin aus dem Deutschen ins<br />

Rumänische.<br />

(2) Auch von Mircea Cărtărescu wurden ins Deutsche zwei Bücher übersetzt:<br />

"Selbstporträt in einer Streichholzflamme. Gedichte", von Gerhard Csejka, Mircea<br />

Cătrărescu <strong>und</strong> Barbara Richter, DAAD, 2001 <strong>und</strong> "Nostalgia", Volk <strong>und</strong> Welt, 1997. Er<br />

wurde in Deutschland <strong>und</strong> Österreich zu zahlreichen Lesungen <strong>und</strong> Gesprächen<br />

eingeladen.<br />

(3) Auf Deutsch erschien der Erzählband "Zentrifuge", Akademie Schloss Solitude,<br />

Stuttgart, 2004.<br />

(4) Zitat aus der Erzählung "Rugina" , in "O limbă comună", Polirom Verlag, Iaşi, 2005.<br />

(5) Daniel Bănulescu, "Ich küsse dir den Hintern, Geliebter Führer!", Roman, aus dem<br />

Rumänischen von Aranca Munteanu, Edition per procura, Wien, 2005. Zudem erschien<br />

auf Deutsch auch der Gedichtband Bănulescus "Schrumpeln wirst du wirst eine exotische<br />

Frucht sein", Gva-Vertriebsgemeinschaft, 2003.<br />

(6) Rezensionen <strong>und</strong> Artikel über "Ich küsse dir den Hintern..." wurden in großen<br />

Tageszeitungen wie z. B. der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht.<br />

- 31 -


Iulia Dondorici (IuliaCornelia.Dondorici@gmx.de), geboren 1979 in Tirgoviste (Rumänien). Studium<br />

der Anglistik <strong>und</strong> Rumänistik an der Universität Bukarest <strong>und</strong> der Humboldt-Universität zu Berlin.<br />

Gegenwärtig: Arbeit an einer Promotion in Rumänischer Literaturwissenschaft an der Humboldt-<br />

Universität zu Berlin (Thema: "Körperbilder in der rumänischen Literatur der Moderne")<br />

Veröffentlichung zahlreicher Rezensionen <strong>und</strong> Berichte zu aktuellen Ereignissen des literarischen<br />

Lebens in "Observator cultural" (Bukarest) <strong>und</strong> "Literaturkritik.de".<br />

Übersetzungstätigkeit:<br />

(Deutsch-Rumänisch): Hans-Dieter Otto: "Militärische Irrtümer" (erschienen 2005 bei "Paralela 45"<br />

Verlag).<br />

Homepage<br />

...<br />

www.dondorici.de<br />

- 32 -


Ole, Ole – Ceauşescu ade!<br />

Ein kleiner, feiner rumänischer Film fühlt der (post)revolutionären<br />

Befindlichkeit der Rumänen auf den Zahn.<br />

Von Kristina Werndl<br />

(01. 01. 2007)<br />

Wenn man weltweit alle Splitter, die vom Kreuz Christi als Reliquien<br />

verwahrt werden, zusammenzählt, ergibt des mehrere Kreuze. Wenn man all<br />

die Widerstandskämpfer in Deutschland <strong>und</strong> Österreich während des<br />

zweiten Weltkriegs addiert, w<strong>und</strong>ert man sich, wie sich Hitler so lange an der<br />

Macht halten konnte. Wenn man vor 89 die Intensität des Wunsches nach<br />

einem Ende der Ceauşescu-Herrschaft (1965–89) berücksichtigt, verw<strong>und</strong>ert<br />

es nicht, dass sich viele an seinem Fall beteiligt haben wollen. Jeder will an<br />

großen Ereignissen mitnaschen, Held sein, <strong>und</strong> da<strong>für</strong> verdreht man schon<br />

einmal die Geschichte zu seinen Gunsten, schreibt sie im Erzählvorgang<br />

neu, verwandelt sie in Geschichten, die nicht mehr der historischen<br />

Wahrheit, sondern dem eigenen Ego <strong>und</strong> einem ruhigen Gewissen<br />

verpflichtet sind. Von diesem Phänomen handelt Corneliu Porumboius (Jg.<br />

1975) Spielfilm "12:08 östlich von Bukarest (A fost sau n-a fost?)".<br />

Mit wenig Personal <strong>und</strong> kaum Plot zeichnet der Regisseur ein Bild der<br />

gegenwärtigen rumänischen Gesellschaft: Ein Talk-Show-Moderator lädt sich<br />

zwei Gäste in seinen privaten TV-Sender, um 16 Jahre nach der Flucht<br />

Ceauşescus mit dem Hubschrauber vom Dach des Präsidentenpalastes zu<br />

klären, ob es in seinem Städtchen eine Revolution gegeben habe. Haben die<br />

Stadtbewohner schon vor 12:08, vor der Flucht Ceauşescus also, am<br />

Hauptplatz demonstriert? Dann könnte man erst von einer Revolution<br />

sprechen ...<br />

Der Sendeverlauf macht deutlich, dass die Stadtbewohner die in Temesvar<br />

entsprungene Revolution nur von ihren Fernsehsesseln aus verfolgten. Allein<br />

einer der Sendegäste, der dem Alkohol zugeneigte Manescu – ironischerweise<br />

ein Geschichtslehrer! –, hält an seiner fragwürdigen Version der Ereignisse<br />

fest: Er habe mit einer eingeschworenen Truppe schon vor 12:08 die<br />

Revolution in seiner Stadt losgetreten.<br />

Mit skurrilem Witz, der auch in der musikalischen Gestaltung des<br />

Films seinen Niederschlag findet, erzählt Porumboiu eine Geschichte, in der<br />

er geschickt die großen gesellschaftlichen Probleme <strong>und</strong> die große Politik im<br />

Privaten bricht: In der Erinnerung des Sendegastes Piscoci ist der Tag der<br />

Revolution, der 22. Dezember 1989, jenes Datum, an dem er <strong>für</strong> seine Frau<br />

Versöhnungsblumen aus dem botanischen Garten klaute. Nach der<br />

Fernsehübertragung sei er auf den Platz gegangen, um Maria zu zeigen,<br />

"dass ich ein Held bin" – "Wir haben Revolution gemacht, wie wir konnten,<br />

wir haben sie auf unsere Art gemacht."<br />

- 33 -


Schon die Figur des Moderators sagt viel über Übergangsphänomene aus:<br />

Vor der Revolution Textilingenieur, hat er sich danach wie viele andere (mehr<br />

oder weniger sauber) neu orientiert <strong>und</strong> sich eine berufliche Identität als<br />

Fernsehboss verpasst. Während der Talk-Sendung trumpft er mit vorab<br />

angelesenen klassischen Zitaten auf – ein kritischer, zugleich aber auch<br />

liebenswürdiger Blick auf Menschen, die improvisierend <strong>und</strong> dilettantisch<br />

das Neuerworbene ausstellen. Wenn er sich vor der Sendung bekreuzigt, von<br />

der Provinz aus Bukarest beschimpft, sich mit revolutionsmüden <strong>und</strong><br />

reaktionären Anrufern konfrontiert sieht, wenn sich seine latente<br />

Fremdenfeindlichkeit Bahn bricht, sein Nationalismus das Weihnachtsfest<br />

von Latino-Klängen bedroht sieht – dann hat das alles jenseits des<br />

szenischen Witzes Aussagewert über die rumänische Gesellschaft. In dieser<br />

wird seit dem Umsturz darüber diskutiert, um was es sich bei der "revoluţia"<br />

genau gehandelt habe. Meist wird von einer Kombination aus spontaner<br />

Volkserhebung <strong>und</strong> geplantem Staatsstreich gesprochen; eine ausländische<br />

Beteiligung wird als drittes Element ebenfalls ins Spiel gebracht.<br />

Kaum ein osteuropäisches Land hat sich in den letzten Jahren – mit<br />

bedingt durch die Öffnung des Securitate-Archivs – auf so ernsthafte <strong>und</strong><br />

zugleich originelle Weise wie Rumänien im Kino mit der eigenen Geschichte<br />

konfrontiert; als Beispiele seien Catalin Mitulescus Film "Wie ich das Ende<br />

der Welt erlebte (Cum mi-am petrecut sfarsitul lumii") <strong>und</strong> Radu Munteanus<br />

"Hartia va fi albastra (Das Papier wird blau sein") genannt. Porumboius<br />

Filmsatire ist ein weiteres gelungenes Beispiel da<strong>für</strong>. Sie sei jedem nicht<br />

zuletzt <strong>für</strong> eine Hinterfragung seines Geschichtsverständnisses <strong>und</strong> der<br />

Winkelzüge seiner Erinnerung empfohlen. Bei den Filmfestspielen von<br />

Cannes 2006 erhielt "12:08 östlich von Bukarest" die Caméra d'Or <strong>für</strong> den<br />

besten Erstlingsfilm.<br />

Kristina Werndl (kristina.werndl@gmail.com) ist Redakteurin des Aurora-<strong>Magazin</strong>s.<br />

- 34 -


Das Johannis-Prinzip<br />

...Wie der Deutsche Klaus Johannis das rumänische Hermannstadt rettet<br />

Schulen mit funktionierenden Heizungen. Beamte, die nicht brüllen <strong>und</strong> fast so<br />

etwas wie Kompetenz vermuten lassen. Ges<strong>und</strong>e Stadtfinanzen <strong>und</strong> eine<br />

Arbeitslosenrate, die gegen null tendiert: Hermannstadts Renaissance ist mit Händen<br />

zu greifen. Es herrscht eine Atmosphäre des Aufbruchs.<br />

Von Boris Kalnoky<br />

(01. 01. 2007)<br />

Gemächlich windet sich der Zug durch die grünen Hügel<br />

Siebenbürgens. Wer auf Schienen nach Hermannstadt will, der muss sich<br />

von der Haupttrasse <strong>und</strong> von Expresszügen verabschieden, um im<br />

Bummeltempo durch malerische Natur in eine andere Welt zu gelangen –<br />

eine Welt, die zu verschwinden drohte.<br />

Die historische Metropole der Siebenbürger Sachsen – von den meisten<br />

dieser Rumäniendeutschen nach der Wende verlassen <strong>und</strong> von der<br />

Regierung vernachlässigt – war klinisch tot. Baufällig, bankrott,<br />

buchstäblich im Zerfall. Binnen weniger Jahre hat sie sich jedoch wie Phönix<br />

aus der Asche erhoben. So eindrucksvoll, dass Hermannstadt 2007 die<br />

<strong>Kultur</strong>hauptstadt Europas sein darf – zusammen mit Luxemburg. Ein<br />

wahres W<strong>und</strong>er, <strong>und</strong> doch nur das Werk eines Mannes.<br />

Der heißt Klaus Johannis, ist Physiklehrer <strong>und</strong> seit vier Jahren<br />

Bürgermeister <strong>und</strong> tut eigentlich nur ganz einfache, vernünftige Dinge. Das<br />

W<strong>und</strong>er besteht eher darin, dass ausgerechnet er Bürgermeister in<br />

Rumänien werden konnte. Kaum vier Prozent der Bevölkerung sind noch<br />

deutsch, der Rest, bis auf einige Prozent Ungarn, sind Rumänen. Dennoch<br />

war es der Deutsche Johannis, der bei den Kommunalwahlen im Jahre 2000<br />

siegte, noch dazu deutlich. "Die erste Wahl 2000, das war eine typische<br />

Protestwahl", erinnert sich Johannis. "Die Leute hatten nach der Wende alle<br />

anderen Parteien ausprobiert, waren jedes Mal enttäuscht <strong>und</strong> stimmten<br />

nun eben <strong>für</strong> den Außenseiter."<br />

Bei der letzten Wahl Anfang Juni konnte jedoch von Protestwahl keine<br />

Rede mehr sein. Da stimmten 90 Prozent der Hermannstädter <strong>für</strong> den<br />

Deutschen, weil er ihre Heimatstadt wieder lebenswert gemacht hat.<br />

Johannis erscheint vielen wie ein Schutzengel in letzter Not, der gottgesandt<br />

vom Himmel fiel. Das jüngste Wahlergebnis, sagt Johannis, "war <strong>für</strong> die<br />

anderen Parteien ein echter Schock. 90 Prozent, das gibt es bei<br />

demokratischen Wahlen eigentlich gar nicht."<br />

Was ist es, das man tun muss, um in Rumänien solche Begeisterung zu<br />

entfachen? "Ganz einfache Sachen", sagt Johannis. Schulen mit<br />

- 35 -


funktionierenden Heizungen. Beamte, die nicht brüllen <strong>und</strong> fast so etwas wie<br />

Kompetenz vermuten lassen. Wenn ihnen der Herr Bürgermeister einfach<br />

bloß auf die Finger schaut, dann verdreifacht sich sogar unversehens der<br />

Finanzhaushalt. Vor allem aber zählt die Liebe dieses Mannes zu seiner<br />

Heimatstadt. Ihn habe deren Verfall derart erschüttert; da habe er<br />

kandidiert: "Ich wollte, dass ich selbst <strong>und</strong> alle Hermannstädter wieder<br />

sagen können, wie schön es ist, hier zu leben."<br />

Drei Beispiele nennt er <strong>für</strong> den Johannis-Stil. Das erste betrifft die<br />

Verwaltung. Vor vier Jahren musste der Bürger, wenn er etwas wollte, bei<br />

einer von zahllosen Dienststellen einen Antrag einreichen, wurde dann von<br />

Amtsstube zu Amtsstube gejagt <strong>und</strong> musste endlich, wenn alles erduldet<br />

<strong>und</strong> erlitten war, Ewigkeiten auf eine Antwort warten. Jetzt gibt es nur noch<br />

eine Anlaufstelle, das Bürgerzentrum. "Dort warten fünf Kollegen mit<br />

Computern. Was immer man will, ob Information, Beschwerde,<br />

Steuererklärung, Baugenehmigung - im Bürgerzentrum bekommt man den<br />

nötigen Rat, das passende Formular, kann jeden Antrag einreichen. Und<br />

egal, worum es geht, nach zwei bis drei Wochen ist die Antwort da." Das ist<br />

nicht nur <strong>für</strong> Rumänien unerhört, so manche b<strong>und</strong>esdeutsche Behörde<br />

könnte einen Johannis gebrauchen.<br />

Das zweite Beispiel betrifft die Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Immobiliensteuer. Daraus<br />

finanziert sich die Stadt, <strong>und</strong> bislang musste der Bürger bei der Behörde<br />

Schlange stehen, um einzuzahlen. "Bis zu zehn St<strong>und</strong>en", sagt Johannis.<br />

Das hat er abgeschafft. Nun kann bei jedem Postamt eingezahlt werden.<br />

Das dritte Beispiel: nette Beamte. Unerhört in weiten Teilen Rumäniens,<br />

aber Hermannstadts Beamte sind fre<strong>und</strong>lich, hilfsbereit <strong>und</strong> bemühen sich<br />

um Kompetenz. Die meisten Bürger hätten das nie <strong>für</strong> möglich gehalten. Wie<br />

hat er es geschafft? "Ich habe ein paar Exempel statuiert. Vor allem im<br />

Führungsstab. Das sickert dann rasch nach unten durch, wenn die Chefs<br />

wissen, dass ein neuer Stil gefragt ist."<br />

Hermannstadts Renaissance ist allenthalben mit Händen zu greifen. Es<br />

herrscht eine Atmosphäre des Aufbruchs, überall wird an den Gebäuden der<br />

mittelalterlichen Altstadt renoviert, die einst einsturzgefährdete oder bereits<br />

eingestürzte Stadtmauer wird erneuert. All das kostet Geld, Rumänien ist<br />

ein armes Land, <strong>und</strong> Hermannstadt in dieser Hinsicht durchaus eine<br />

rumänische Stadt. Aber Johannis hat Geld aus dem Nichts gezaubert. "Es<br />

ist eigentlich nur eine Frage der Finanzdisziplin", sagt er bescheiden auf die<br />

Frage, wie er denn den Haushalt innerhalb von vier Jahren verfünffacht hat.<br />

Und unterstreicht, dass minus Inflation höchstens von einer Verdreifachung<br />

die Rede sein könne – auf gegenwärtig 40 Millionen Euro.<br />

Wie aber hat Johannis bei seinen Beamten Finanzdisziplin durchgesetzt?<br />

Seine Antwort klingt wie eine höfliche Umschreibung <strong>für</strong> das Zunähen<br />

löchriger Beamtentaschen. "Ich bin halt persönlich jeden Tag überall<br />

gewesen <strong>und</strong> habe mir die Dinge angesehen." Solcherlei spricht sich herum,<br />

<strong>und</strong> dies mag erklären, wieso Hermannstadt inzwischen bei Investoren so<br />

- 36 -


einen guten Ruf hat. In den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit ist er durch<br />

Deutschland gereist <strong>und</strong> hat viel geredet, um Investoren zu gewinnen. "Das<br />

hat überhaupt nichts gebracht." Also blieb er fortan daheim <strong>und</strong> kümmerte<br />

sich um investitionsfre<strong>und</strong>liche Rahmenbedingungen. Die Stadt erschloss<br />

Brachland <strong>für</strong> ein fünftes Industriegebiet <strong>und</strong> berechnete Investoren nur die<br />

Selbstkosten. Bot eine funktionierende, transparente Verwaltung – in<br />

Rumänien ein geschätzter Vorteil.<br />

Die wichtigste Rahmenbedingung ist allerdings Johannis selbst.<br />

Inbegriff ernsten Understatements <strong>und</strong> siebenbürgisch-sächsischer<br />

Unaufdringlichkeit, würde er selbst das natürlich nie so sagen. Er sagt<br />

vielmehr: "Die Investoren schätzen, dass ihr Ansprechpartner die Stadt ist."<br />

Und nicht etwa der rumänische Staat. Die Stadt als Partner schätzen<br />

Investoren freilich deswegen, weil sie in der Person von Johannis auftritt.<br />

Und so blüht der Arbeitsmarkt auf. Arbeitsplätze werden geschaffen, bis<br />

nächstes Jahr 3000, bis 2006 bis zu 6000. In Hermannstadt herrscht jetzt<br />

bereits mehr oder minder Vollbeschäftigung (vor vier Jahren gab es noch 20<br />

Prozent Arbeitslose) – die Stadt wird zum Magneten <strong>für</strong>s Umland. Das wird<br />

die Einwohnerzahl anschwellen lassen, <strong>und</strong> das wiederum könnte eigene<br />

Probleme schaffen. Aber, sagt Johannis, "solche Probleme, die durch einen<br />

Überfluss an Chancen entstehen, löse ich gern."<br />

Bleibt die Frage, wie Hermannstadt zur <strong>Kultur</strong>hauptstadt 2007 erkoren<br />

wurde. Bei diesem Thema löst sich der ernste Siebenbürger <strong>und</strong> beginnt, von<br />

der Geschichte der Deutschen hier zu erzählen. Viele der ersten Zuwanderer<br />

vor 800 Jahren kamen offenbar aus dem Raum des heutigen Luxemburg.<br />

Das ist die Basis einer heute sehr engen Beziehung zwischen dem<br />

Großherzogtum <strong>und</strong> Hermannstadt. Der reiche Kleinstaat unterhält ein<br />

eigenes Konsulat in der kulturell reichen Kleinstadt. Als dann Luxemburg –<br />

erneut – <strong>Kultur</strong>hauptstadt werden sollte, schlug man dort vor, sich diese<br />

Würde mit Hermannstadt zu teilen. Allerdings wäre es vermutlich kaum<br />

dazu gekommen, hätte Johannis die Stadt nicht bereits wettbewerbstauglich<br />

gemacht.<br />

Hermannstadt ist dabei, zu einer echten Erfolgsgeschichte zu werden. Es<br />

ist erstaunlich, wie viel ein einziger Mann manchmal bewegen kann. Wenn<br />

er kann. Und wenn man ihn lässt.<br />

Dieser Artikel wurde uns fre<strong>und</strong>licherweise von www.welt.de zur Verfügung gestellt.<br />

Boris Kalnoky (Bild: Morgenpost). Der 1961 geborene Journalist studierte Politik <strong>und</strong> Geschichte in<br />

Hamburg <strong>und</strong> ist als Südosteuropa-Korrespondent (derzeit in Istanbul) <strong>für</strong> die WELT <strong>und</strong> die Berliner<br />

Morgenpost tätig.<br />

- 37 -


Kopf, Herz <strong>und</strong> Rückgrat<br />

......<br />

Die Tagebücher des rumänischen Schriftstellers Mihail Sebastian<br />

Von Catalin Dorian Florescu<br />

(01. 01. 2007)<br />

So wie es nicht einerlei war, ob man in Ost- oder Westeuropa lebte, war es<br />

auch nicht egal, wo man starb. Als Künstler erst recht nicht. Nicht einmal der Tod<br />

macht uns gleich. Nachdem zuerst die Nazis vorgeführt hatten, wie wenig der<br />

Mensch sich auf das Gute in ihm verlassen kann, erledigten im Osten die<br />

Kommunisten das Übrige. So viele Denunzianten, Kollaborateure, Täter, dazu die<br />

Wendehälse <strong>und</strong> die schweigende Mehrheit.<br />

Während Anne Franks erstmals 1947 publizierte Tagebücher im "freien" Westen<br />

weltberühmt wurden, musste ein reiferes <strong>und</strong> ebenso dramatisches Zeugnis der<br />

Barbarei bis in die Neunzigerjahre warten, um entdeckt zu werden. Dann aber<br />

schlugen Mihail Sebastians Tagebücher aus den Jahren 1935 bis 1944 in Rumänien<br />

ein <strong>und</strong> wurden bald auch in Frankreich <strong>und</strong> Amerika gelesen. Das muss erwähnt<br />

werden, sind rumänische Künstler im Ausland doch meist unbekannt. Zu oft weiß<br />

man nur über Kriminelle, Armut <strong>und</strong> Dracula Bescheid. Sebastian wurde die<br />

Bekanntheit 50 Jahre nach seinem mysteriösen Unfalltod in dem von den Russen<br />

besetzten Bukarest vergönnt. Er hatte gerade die perfideste Zeit überlebt, in der<br />

weite Teile der rumänischen Gesellschaft offen antisemitisch wurden <strong>und</strong> der<br />

"Eisernen Garde" huldigten – der rumänischen, mystisch angehauchten Variante<br />

deutscher Schlächterkunst.<br />

Das fällt mir schwer zu sagen, denn mein Herz schlägt durch meine Geburt <strong>und</strong><br />

Kindheit <strong>für</strong> dieses Land. Ich entdeckte durch Sebastian – so sehr man bei<br />

Tagebüchern achten muss, nicht in den Sog des Weltgefühls des Autors zu<br />

geraten – die verborgenste Seite meiner ersten Heimat: die Täterseite. In der<br />

Schule wurde mir nur der glorreiche Kampf der Kommunisten beigebracht. Auf<br />

die rechte Gehirnwäsche folgte die linke.<br />

Mihail Sebastian ist ein bekannter Autor, als er Tagebuch zu schreiben<br />

beginnt. Er kennt sie alle, die Reichen <strong>und</strong> die Künstler, er verkehrt in den besten<br />

Kreisen. Man weiß um seine jüdische Abstammung. Er weiß, wie sehr er als<br />

Vorzeigejude dient. Sebastians Luzidität, seine Fähigkeit, sich nichts<br />

vorzumachen, sind bemerkenswert. Es gibt im Vorkriegsrumänien eine<br />

Stimmung, welche eine gewisse deutsche Überlegenheit <strong>und</strong> antijüdische<br />

Ressentiments gutheißt. Journalisten <strong>und</strong> Schriftsteller werden zu geistigen<br />

Brandstiftern.<br />

Wie sanft geht der feine Beobachter Sebastian mit denen um, die nicht nur den<br />

Kopf, sondern auch das Herz <strong>und</strong> das Rückgrat verlieren. Wir tauchen mit ihm ein<br />

in jene Atmosphäre, die uns zeigt, wie wenig es braucht, bis die dünne<br />

Zivilisationsschicht zerbröckelt. Für ihn hingegen bedeutet diese Entwicklung<br />

- 38 -


den Verlust seiner engsten Fre<strong>und</strong>e. Einer davon ist der Religionswissenschaftler<br />

Mircea Eliade. Mit unendlicher Geduld <strong>und</strong> Traurigkeit beobachtet Sebastian<br />

seine eigene Vereinsamung. Immer in Sorge um die Fre<strong>und</strong>schaft mit Eliade, hält<br />

er ihn höchstens <strong>für</strong> naiv <strong>und</strong> verblendet. Er hat fast schmerzhaft Anstand. Eliade<br />

hingegen begibt sich bedrohlich nah zum Schreibtischtätertum, als er seine<br />

dummen Visionen vom großen, von Verjudung bedrohten rumänischen Volk<br />

veröffentlicht.<br />

Man kann diese Tagebücher wie ein Zeitdokument lesen, man wird viel<br />

Stimmungsvolles über eine untergegangene Welt erfahren, mit den<br />

Theaterbesuchen, den Kaffeehäusern, den Liebesaffären. Sebastian ist Teil davon,<br />

aber sein wesentliches Lebensgefühl ist jenes eines Versagers. Diese Thematik<br />

wiederholt sich bis zum Überdruss: "Wenn ich nur ein Haus, eine Frau, eine<br />

gesicherte Existenz hätte", so ähnlich klingt es an vielen Stellen. Er ist wie viele<br />

Künstler von Selbstzweifeln geplagt <strong>und</strong> niemals seiner selbst <strong>und</strong> seiner<br />

Fähigkeiten sicher.<br />

Nach 200 Seiten wird der Text atemberaubend dicht <strong>und</strong> von großer<br />

erzählerischer Qualität. Wir erleben den Ausbruch des Krieges, die fiebrige<br />

Beschäftigung der ganzen Stadt mit Gerüchten über dessen Verlauf, wir erfahren,<br />

wie die antijüdischen Gesetze das Leben erschweren, es gibt Pogrome <strong>und</strong><br />

Deportationen. Bukarest wird von den Alliierten zerbombt, Rauch steigt aus den<br />

Trümmern, Feuer lodert in den Vierteln.<br />

Mittendrin steht ein Mensch, verarmt, gealtert <strong>und</strong> müde, dessen Stücke<br />

niemand aufführen will. Einer aber, der den Kopf, das Herz <strong>und</strong> das Rückgrat<br />

nicht verliert. Das ist die größte Leistung dieses Autors. Er setzt dem Wahnsinn<br />

seine Person entgegen. Er hört klassische Musik sogar am deutschen Radio,<br />

notiert alles ganz genau, er liest Balzac <strong>und</strong> Shakespeare, wenn er abends<br />

erschöpft von der Zwangsarbeit nach Hause kommt. Er schreibt Theaterstücke<br />

<strong>und</strong> Romane. Das alles hat <strong>für</strong> ihn Sinn <strong>und</strong> Wert, während draußen die Hölle auf<br />

Erden herrscht.<br />

Mihail Sebastian befindet sich im Widerstand nicht dank der Waffen, sondern<br />

dank des Wortes. Er bleibt sich nah, lässt sich nicht entmenschlichen. Der Raum<br />

seiner Empfindungen <strong>und</strong> Erlebnisse ist der Raum, in dem die Welt gerettet wird.<br />

Als die Welt gerettet wurde, starb Sebastian, ohne sich darüber freuen zu können.<br />

Jetzt wird er auch <strong>für</strong> deutschsprachige Leser entdeckt. Einer aber hätte noch<br />

größeren Gr<strong>und</strong> zur Freude. Francis Ford Coppola will eine Erzählung von Eliade<br />

verfilmen. Sebastian hätte das seinem Fre<strong>und</strong> bestimmt gegönnt.<br />

....PreDieser Artikel wurde uns fre<strong>und</strong>licherweise von www.diepresse.at<br />

zur Verfügung gestellt. Er erschien am 28. 01. 2006 in Spectrum.<br />

Catalin Dorian Florescu (www.florescu.ch). Geboren am 27. 8. 1967 in Timisoara, Rumänien. Im Sommer<br />

1982 Flucht mit den Eltern in den Westen. Seit August 1982 wohnhaft in Zürich. Mittlerweile Schweizer<br />

Bürger. Hochschulstudium der Psychologie <strong>und</strong> Psychopathologie an der Universität Zürich. Abschluss 1995.<br />

Von 1995 bis 2001 als Psychotherapeut in einem Rehabilitationszentrum <strong>für</strong> Drogenabhängige tätig. Fünfjährige<br />

Weiterbildung in Gestalttherapie. Seit Dezember 2001 freier Schriftsteller in Zürich.<br />

- 39 -


Zu Mircea Eliade –<br />

aus der Sicht eines Zaungasts<br />

Die Debatte um die Verstrickung der führenden Köpfe des Landes in den<br />

Nationalsozialismus kam in Rumänien erst nach 1989 zustande: Die Säulenheiligen<br />

des nach der Wende tief verunsicherten Staates gerieten ins Schussfeld der Kritik im<br />

In-<strong>und</strong> Ausland, darunter auch Mircea Eliade. Er starb 1986, ohne sich je öffentlich<br />

mit den Schattenseiten seiner Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben. Am<br />

Beispiel Eliades lassen sich heute die Zusammenhänge zwischen bestimmten<br />

Formen von Religiosität <strong>und</strong> politischem Extremismus studieren.<br />

..<br />

Von Herwig Gottwald<br />

(01. 01. 2007)<br />

Seit geraumer Zeit hat die Erforschung der dunklen Seiten der europäischen<br />

Nationen, ihrer unterschiedlichen Verstrickungen in den Faschismus bzw.<br />

Nationalsozialismus auch Rumänien erreicht <strong>und</strong> nicht zuletzt die Verbindungen<br />

zahlreicher Intellektueller zum faschistischen Regime bloßgelegt. Während in<br />

manchen europäischen Ländern dieser Prozess der 'Vergangenheitsbewältigung'<br />

bereits vor der 'Wende' einsetzte, etwa in Österreich nach der Wahl Kurt<br />

Waldheims zum B<strong>und</strong>espräsidenten (in der BRD als einzigem 'Nachfolgestaat' NS-<br />

Deutschlands wesentlich früher, mit deutlichen Schüben anlässlich des Eichmann-<br />

<strong>und</strong> des Auschwitz-Prozesses Anfang der 1960er Jahre), kam es in anderen erst<br />

nach 1989 zu diesem meist schmerzhaften, <strong>für</strong> viele aber befreienden Aufarbeiten<br />

der Schattenseiten ihrer jüngeren Geschichte. In Staaten wie Frankreich<br />

(Kollaboration unter dem Vichy-Regime), Polen (Pogrome gegen Reste der<br />

jüdischen Bevölkerung nach 1945), Schweiz (indirekte Verstrickung einzelner<br />

Banken <strong>und</strong> Politiker in den Holocaust), die bisher erfolgreich entweder als Opfer<br />

oder als unbeteiligt auftreten konnten, setzte diese Auseinandersetzung ebenso<br />

ein wie in jenen Ländern, deren damalige Regierungen direkte Verbündete<br />

Hitler-Deutschlands waren: Italien, Ungarn, die Slowakei, Kroatien, Bulgarien <strong>und</strong><br />

eben Rumänien. Eine Sonderstellung nahm in den neunziger Jahren die<br />

ehemalige DDR ein, deren kommunistische Regierungen lange jeden Verdacht<br />

auf Mittäterschaft von vornherein abgewehrt hatten. Die DDR galt als<br />

sozialistisches Land ohne jede nationalsozialistische Kontinuität; der Lyriker Kurt<br />

Drawert spricht in seinem Monolog Spiegelland (1992) von der "braunen<br />

Unterwäsche", "auf der die rote Kleidung getragen wurde"(1), <strong>und</strong> charakterisiert<br />

damit einen von oben gesteuerten Verdrängungs- <strong>und</strong> Verleugnungsprozess, der<br />

in unterschiedlichem Ausmaß <strong>und</strong> in verschiedenen Ausformungen auch den<br />

Umgang anderer Gesellschaften mit der Gewaltvergangenheit der Jahrzehnte bis<br />

1945 bzw. darüber hinaus prägte. In den baltischen Ländern etwa ist der<br />

Aufarbeitungs- <strong>und</strong> Bewältigungsprozess erst kurz vor bzw. nach dem EU-Beitritt<br />

allmählich in Gang gekommen, in anderen lässt er weiterhin auf sich warten.<br />

In besonderem Maße waren die Intellektuellen, Künstler, Philosophen von diesen<br />

gesamtgesellschaftlichen Vorgängen betroffen. Der "Verrat der Intellektuellen"<br />

(wie Julien Benda die Anfälligkeit großer Teile dieser gesellschaftlichen Gruppen<br />

- 40 -


gegenüber politischem Extremismus bezeichnete)(2) hatte in zahlreichen<br />

europäischen Ländern verheerende Wirkungen, die in manchen erst allmählich<br />

zutage traten: Während der norwegische Nobelpreisträger Knut Hamsun bereits<br />

unmittelbar nach Kriegsende öffentlich zur Verantwortung gezogen, vor Gericht<br />

gestellt, mit einer hohen, ihn wirtschaftlich ruinierenden Geldstrafe belegt wurde<br />

(erst in jüngster Zeit kam es zu einer langsamen Rehabilitierung in seinem<br />

Heimatland)(3), während auch der französische Romancier <strong>und</strong> Kollaborateur<br />

Louis-Ferdinand Céline erst nach Jahren in seine Heimat zurückkehren konnte,<br />

gelang es anderen politisch belasteten Intellektuellen, sich einer Konfrontation<br />

mit ihrer Vergangenheit weitgehend zu entziehen: Martin Heidegger ist der<br />

prominenteste deutsche Philosoph mit eindeutig nationalsozialistischer<br />

Vergangenheit, dem sein politisches Engagement 1933 nicht geschadet hat, der<br />

im Gegenteil nach 1945 einen zweiten Aufstieg erlebte <strong>und</strong> dessen Werk bis<br />

heute, im Zeichen der Postmoderne, nahezu ungebrochen positiv rezipiert wird<br />

(etwa in germanistischen Lehrbüchern ebenso zur Gr<strong>und</strong>lektüre empfohlen wird<br />

wie in einschlägigen kulturwissenschaftlichen Handbüchern). Ein extremes<br />

Beispiel ist der Fall Paul de Man. Der belgische Literaturtheoretiker, längst zur<br />

Ikone der internationalen Postmoderne avanciert <strong>und</strong> als Kanonautor des<br />

Poststrukturalismus in die Lehrbücher <strong>für</strong> die akademische Jugend eingegangen,<br />

war während des Zweiten Weltkrieges Mitarbeiter der belgischen<br />

Kollaborationszeitung "Le Soir" <strong>und</strong> schrieb in den Jahren 1940 bis 1941 mehrere<br />

antisemitische Artikel, in denen er sich u.a. "<strong>für</strong> eine von Europa isolierte jüdische<br />

Kolonie" aussprach (4), was nach seiner 'Emigration' in die USA (nach 1945!) bis<br />

nach seinem Tod vertuscht wurde, seiner Beliebtheit in den postmodernen<br />

Literaturtheorien aber keinen Abbruch tat.(5) Weitere Fälle sind Julius Evola <strong>für</strong><br />

Italien, Enrico Marco <strong>für</strong> Spanien <strong>und</strong> eben Cioran <strong>und</strong> Eliade <strong>für</strong> Rumänien.<br />

Natürlich sind nicht alle auf der gleichen Ebene angesiedelt <strong>und</strong> müssen daher<br />

entsprechend differenziert behandelt werden.<br />

Die Debatte um die Verstrickung der führenden Köpfe des Landes in dessen<br />

unheilvollste historische Epoche kam in Rumänien erst nach 1989 zustande: Die<br />

Säulenheiligen des nach der Wende tief verunsicherten Staates, vom neuen<br />

Präsidenten Nastase als "kultureller Mehrwert" bezeichnet (6), gerieten nunmehr<br />

ins Schussfeld der öffentlichen Kritik im In- <strong>und</strong> Ausland. Man konnte etwa dem<br />

bis heute mit guten Gründen weltweit gelesenen <strong>und</strong> auch bew<strong>und</strong>erten<br />

philosophischen Essayisten <strong>und</strong> Dichter E.M. Cioran seine Bew<strong>und</strong>erung <strong>für</strong><br />

Hitler <strong>und</strong> den rumänischen Faschistenführer Codreanu ebenso nachweisen wie<br />

seinen Antisemitismus <strong>und</strong> seine Ablehnung der Demokratie.(7) Im Fall Eliade<br />

waren die Dinge ähnlich kompliziert:(8) Als führender Intellektueller der<br />

rechtsgerichteten "Jungen Generation" nähert er sich Ende der dreißiger Jahre<br />

der faschistischen "Eisernen Garde", gerät als junger Assistent unter den Einfluss<br />

des dieser nahestehenden Philosophen Nae Ionescu(9) <strong>und</strong> wird schließlich<br />

<strong>Kultur</strong>attaché an der rumänischen Botschaft in London. Nach dem Kriegseintritt<br />

Rumäniens arbeitet er als Diplomat in Lissabon, wo er die Salazar-Diktatur als<br />

Bollwerk gegen die "anglo-bolschewistische Allianz" feiert.(10) Er bleibt bis 1945<br />

Sympathisant Hitler-Deutschlands <strong>und</strong> ist von dessen Niederlage politisch schwer<br />

enttäuscht. Er verliert alle politischen Funktionen <strong>und</strong> emigriert nach Paris, da<br />

ihm eine Rückkehr nach Rumänien versagt bleibt, wendet sich von der Politik ab<br />

<strong>und</strong> seinen religionswissenschaftlichen Studien zu, die ihm schließlich einen<br />

Lehrstuhl <strong>für</strong> Religionsgeschichte an der Universität Chicago einbringen. In den<br />

- 41 -


folgenden Jahren erscheinen seine bedeutendsten wissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

literarischen Texte, die ihn weltweit bekannt machen <strong>und</strong> an denen bis heute<br />

niemand vorbeikommt, der sich mit den Themen Religionsgeschichte oder<br />

Mythos bzw. Mythologie befasst. Eliade stirbt 1986, ohne sich öffentlich mit den<br />

Schattenseiten seiner Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben (im<br />

Unterschied etwa zu Knut Hamsun, vergleichbar aber mit Heidegger). Inzwischen<br />

sind weitere Quellen aus der Zeit vor 1945 bekannt geworden, die Eliades<br />

Verstrickung in den rumänischen Faschismus deutlich machen: Der rumänische<br />

Holocaust-Überlebende Norman Manea stellte 1992 die Schattenseiten des<br />

berühmten Schriftstellers anhand von dessen profaschistischen Artikeln einem<br />

breiteren Publikum vor, diese selbst wurden neuerlich publiziert,(11) <strong>und</strong> 1997<br />

erschienen die Tagebücher des jüdisch-rumänischen Fre<strong>und</strong>es Eliades Mihail<br />

Sebastian, in denen die Verstrickungen Ciorans, Eliades u.a., der um sich<br />

greifende Antisemitismus aus erster Hand dokumentiert waren. Sebastian konnte<br />

"die Verwandlung seiner Fre<strong>und</strong>e, die Brutalisierung ihrer ideologischen<br />

Physiognomie beobachten. Ihre 'Rhinozerisierung', wie Eugène Ionesco, ein<br />

weiterer Zeitzeuge, der sich allerdings nach Paris retten konnte, es später<br />

formulieren sollte."(12)<br />

Diese noch keineswegs beendete Debatte um Eliade <strong>und</strong> Cioran, die u.a. im<br />

Bukarester Goethe-Institut wissenschaftlich weitergeführt wurde,(13) berührt<br />

neben dem politischen bzw. gesellschaftspolitischen Bereich auch den der<br />

Religionswissenschaft bzw. Mythosforschung: Es geht um den Zusammenhang<br />

zwischen dem religionsgeschichtlichen Schwerpunkt Eliades, seinen<br />

religionswissenschaftlichen Thesen <strong>und</strong> seiner politischen Vergangenheit, damit<br />

aber letztlich um die "Frage nach dem Zusammenhang von Religion <strong>und</strong><br />

Faschismus",(14) die Stiehler wie folgt zuspitzt:<br />

"Die Verbindung von Ethnokratie <strong>und</strong> Orthodoxie, von 'Rumänität' […] <strong>und</strong> Spiritualität,<br />

kurz: von 'völkischem' Terror im Namen Gottes, stellt die spezifisch rumänische Variante<br />

des europäischen Faschismus dar. Hier liegt der Kern von Eliades<br />

religionsgeschichtlichem Interesse. Hier wurzelt seine Unterscheidung eines 'kosmischen'<br />

(primitiv-agrarischen) Christentums von einem 'jüdisch-historischen', seine von Nae<br />

Ionescu übernommene Identifizierung des Organischen mit dem Orthodoxen, die Affinität<br />

zur 'Rassenlehre' wie die Mystifikation der auf Seiten Francos im Spanischen Bürgerkrieg<br />

gefallenen rumänischen Nationalisten oder der auf Seiten Hitlers im 'Heiligen Krieg'<br />

gegen die Sowjetunion."(15)<br />

Diese pronociert formulierte These begründet Stiehler in seinem wichtigen, aber<br />

knappen Artikel nicht, sie enthält aber genug Sprengstoff, um nicht einfach<br />

übergangen werden zu können. Auch in den Diskussionen des Bukarester<br />

Goethe-Instituts spielten "religiöse Einflüsse auf die politische Implementierung<br />

faschistischer Ideen" eine zentrale Rolle:<br />

"Was <strong>für</strong> den Nationalismus im Allgemeinen gilt, gilt noch mehr <strong>für</strong> den faschistischen<br />

Hypernationalismus: er bedarf der Rückversicherung bei den übernatürlichen Mächten<br />

des Schicksals <strong>und</strong> der Vorsehung, also einer neuen Politik aus dem Glauben."(16)<br />

Ohne diese vertrackte Verbindung zwischen Eliades Religionstheorien <strong>und</strong><br />

seinem politischen Engagement in Abrede stellen zu wollen, wäre es dennoch<br />

unangemessen, das wissenschaftliche Werk des bedeutenden Forschers vor<br />

- 42 -


allem darauf zu reduzieren. Eliades Hauptwerke sind in mehrfacher Hinsicht bis<br />

heute in der Religionswissenschaft <strong>und</strong> in der Mythosforschung nicht zu<br />

übergehen. Neben seiner mehrbändigen "Geschichte der religiösen Ideen",(17)<br />

einem weiterhin maßgeblichen Nachschlagewerk <strong>für</strong> die einschlägige Forschung<br />

bzw. deren Nachbardisziplinen, aber auch <strong>für</strong> interessierte Laien, sind vor allem<br />

seine bahnbrechenden Arbeiten zur Mythosforschung zu nennen: "Kosmos <strong>und</strong><br />

Geschichte", "Mythos <strong>und</strong> Wirklichkeit", "Das Heilige <strong>und</strong> das Profane", "Die<br />

Religionen <strong>und</strong> das Heilige",(18) aber auch "Schamanismus <strong>und</strong> archaische<br />

Ekstasetechnik"(19) oder "Mythen, Träume <strong>und</strong> Mysterien".(20) Diese Bücher sind<br />

eine F<strong>und</strong>grube <strong>für</strong> alle, die sich <strong>für</strong> vormoderne Gesellschaften, deren<br />

Glaubens- <strong>und</strong> Lebensformen, <strong>für</strong> Mythen europäischer <strong>und</strong> außereuropäischer<br />

Völker interessieren oder sogar darüber arbeiten. Im Bereich der<br />

Mythosforschung sind sie schlechterdings unverzichtbar, vor allem dort, wo sie<br />

über Ernst Cassirers epochale Rekonstruktion des mythischen Denkens in dessen<br />

Entwicklungsgeschichte(21) hinausgreifen <strong>und</strong> auch Quellen bzw.<br />

Forschungsergebnisse berücksichtigen, die Cassirer nicht kennen konnte.<br />

Gr<strong>und</strong>legend bis heute sind etwa seine Beschreibungen <strong>und</strong> Interpretationen<br />

mythischer Raum- <strong>und</strong> Zeitvorstellungen, mythischer Geschichtsauffassungen,<br />

damit des gesamten mentalen Gefüges vormoderner Gesellschaften. Ebenso<br />

wichtig sind seine Interpretationen einzelner Mythen-Systeme <strong>und</strong> Rituale in<br />

deren institutionellen Verankerungen <strong>und</strong> mentalen Gr<strong>und</strong>lagen.<br />

Dass Eliade dabei selbst des Öfteren eigene religiöse Auffassungen in die<br />

Interpretation einfließen lässt, ist nicht nur methodisch problematisch, sondern<br />

auch unter den oben angesprochenen Aspekten bedeutsam. Seine religiösen<br />

Bekenntnisse etwa im Schlussteil von "Kosmos <strong>und</strong> Geschichte" (1949, deutsche<br />

Übersetzung 1952) sind auffallend <strong>und</strong> werfen im Lichte der neueren Erkenntnisse<br />

über seine politische Vergangenheit neue Fragen auf. Man könnte diese<br />

Passagen auch als Belege <strong>für</strong> Stiehlers Thesen heranzuziehen versuchen.<br />

Damit ist aber ein Bereich berührt, der über den individuellen Fall Mircea<br />

Eliade hinausweist <strong>und</strong> die Notwendigkeit anzeigt, "eine vergleichende<br />

Geschichte der Intellektuellen diesseits <strong>und</strong> jenseits des ehemaligen eisernen<br />

Vorhangs"(22) in Angriff zu nehmen, wobei zweifellos die kryptischen<br />

Zusammenhänge zwischen bestimmten Formen von Religiosität <strong>und</strong> politischem<br />

Extremismus besondere Aufmerksamkeit erfahren müssten. Autoren wie Julius<br />

Evola(23) oder Vertreter der sogenannten 'Konservativen Revolution' wie Ernst<br />

Jünger sowie deren Vorläufer (von Spengler bis Klages bzw. in Italien von<br />

Marinetti bis d’Annunzio) müssten dabei berücksichtigt werden, gerade auch<br />

unter den Aspekten jener meist gegenaufklärerischen Formen von (Neo-<br />

)Religiosität, die manchmal stärker (Eliade, Evola), manchmal schwächer zum<br />

Ausdruck kommt, ohne dass dabei alle genannten Schriftsteller <strong>und</strong> Forscher<br />

'unter einen Kamm geschoren' werden dürfen.<br />

...<br />

Anmerkungen:<br />

(1) Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog. Frankfurt a.M. 1992, S. 69.<br />

- 43 -


(2) Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen (1927). Neuauflage München / Wien<br />

(Hanser) 1978.<br />

(3) Vgl. dazu: Walter Baumgartner: Knut Hamsun. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997<br />

(=rowohlts monographien 543); sowie Robert Ferguson: Knut Hamsun : Leben gegen<br />

den Strom. Biografie. München 1990.<br />

(4) Vgl. dazu Brian Vickers: Nietzsche im Zerrspiegel de Mans: Rhetorik gegen die<br />

Rhetorik. In: Nietzsche oder "Die Sprache ist Rhetorik". München 1994, S. 219-240;<br />

Vickers bezieht sich nicht nur auf die Verstrickungen des berühmten Literaturtheoretikers<br />

der sog. "Dekonstruktion" in den Nationalsozialismus, sondern hebt auch dessen<br />

Verleugnungs- <strong>und</strong> Verdrängungsstrategien nach 1945 hervor <strong>und</strong> interpretiert diese als<br />

Signale <strong>für</strong> eine "Kontinuität zwischen de Mans Leben <strong>und</strong> seiner Literaturkritik: In<br />

beiden stellt er sich als jemand dar, der bereit ist, Ereignisse zu verdrehen oder 'Realität'<br />

wie auch Motive <strong>und</strong> Texte 'neu zu gestalten', wenn der Erfolg einer Strategie oder eines<br />

Argumentes davon abhängt, die Dinge in einem <strong>für</strong> ihn günstigen Licht zu zeigen." S.<br />

221; vgl. dazu den satirischen Schlüsselroman von Gilbert Adair: Der Tod des Autors.<br />

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002 (Neuauflage).<br />

(5) Dass ausgerechnet postmoderne Theoretiker sich auf Heidegger oder Paul de Man<br />

berufen (auch auf Nietzsche), dürfte kein Zufall sein <strong>und</strong> bedarf einer näheren Analyse;<br />

zu Heideggers NS-Verstrickung <strong>und</strong> deren Einfluss auf seine Philosophie vgl. Pierre<br />

Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers (1975). Frankfurt a.M. 1988; dazu<br />

auch kritisch Jean Améry: Werke, Band 6. Aufsätze zur Philosophie. Herausgegeben von<br />

Gerhard Scheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2004.<br />

(6) Vgl. Heinrich Stiehler: Gedanken zu Cioran, Eliade, Ionesco <strong>und</strong> dem Vergessen des<br />

Faschismus. In: Zwischenwelt. Literatur. Widerstand. Exil 19 (Febr. 2003), Nr. 4, S. 8-<br />

10.<br />

(7) Vgl. Alexandra Laignel-Lavastine: Cioran, Eliade, Ionescu: l’oubli du fascisme. Paris<br />

2002; zu Cioran: Patrice Bollon: Cioran. Der Ketzer (frz. Original 1997). Frankfurt a.M.<br />

2006. Bollon ist im Gegensatz zu Lavastine um eine stärkere Differenzierung <strong>und</strong><br />

Berücksichtigung historischer Kontexte bemüht; vgl. S. 20-24; die Diskussion ist noch<br />

mitten im Gange <strong>und</strong> wird von interessierten Cioran-Lesern bzw. Leserinnen mit<br />

Interesse verfolgt.<br />

(8) Die kürzlich erschienene Eliade-Biografie von Florin Turcanu, die eben ins Deutsche<br />

übersetzt wurde, konnte ich noch nicht einsehen: Mircea Eliade: Der Philosoph des<br />

Heiligen oder Im Gefängnis der Geschichte. Eine Biografie. Aus d. Franz. übers. von Silke<br />

Lührmann. Albersroda : Edition Antaios, 2006.<br />

(9) Vgl. Hannah Müller: Mircea Eliade <strong>und</strong> Nae Ionescu. Der Schüler <strong>und</strong> sein Meister. In:<br />

Zeitschrift <strong>für</strong> Religionswissenschaft 12 (2004), S. 79-98.<br />

(10) Zit. nach Stiehler, S. 9; Bezug auf Eliades vor kurzem in Spanien publiziertes<br />

Tagebuch aus seiner portugiesischen Zeit: Mircea Eliade: Diario Portugès. Barcelona<br />

2001.<br />

(11) Vgl. Edward Kanterian: Die Zeit der Rhinozerosse. Eliade, Cioran <strong>und</strong> Ionescu in der<br />

Faschismus-Diskussion. In: Neue Zürcher Zeitung, 11.11.2002, S. 21.<br />

(12) Richard Wagner: Das Zeitalter der Rhinozerosse. Ein überwältigendes Dokument –<br />

Mihail Sebastians rumänische Tagebücher 1935-1944. In: NZZ, 19.2.2005; zu Ionescos<br />

Rolle vgl. Stiehler, S. 9.<br />

- 44 -


(13) Vgl. den Bericht zu einer einschlägigen Tagung im November 2005 von Horst<br />

Junginger: Die Intellektuellen <strong>und</strong> der Faschismus in Mittel- <strong>und</strong> Südosteuropa.<br />

Geschichte <strong>und</strong> Erinnerung. Tagungsbericht vom 15.1.2006 (Internet:<br />

http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/<br />

tagungsberichte/id=1030).<br />

(14) Ebd.<br />

(15) Stiehler, S. 9.<br />

(16) Junginger 2006.<br />

(17) In fünf Bänden bei Herder erschienen (Taschenbuchausgabe).<br />

(18) Alle im Insel-Verlag veröffentlicht.<br />

(19) Frankfurt a.M. 1999 (stw 126).<br />

(20) Otto Müller Verlag Salzburg 1961.<br />

(21) Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bd. II: Das mythische<br />

Denken (1924). Darmstadt 1994; vgl. dazu mein eben erschienenes Buch: Spuren des<br />

Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle <strong>und</strong> Fallstudien.<br />

Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, bes. S. 116ff; zu Eliade in<br />

mythostheoretischer Sicht S. 62f., 156ff., 328f.<br />

(22) Stiehler, S. 8.<br />

(23) Vor allem in seinem Hauptwerk "Revolte gegen die moderne Welt" (1935,<br />

wiederaufgelegt in dt. Übersetzung 1982, derzeit im Arun Verlag erhältlich).<br />

Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Herwig Gottwald (herwig.gottwald@sbg.ac.at), geb. 1957 in Bad Ischl (Oö.),<br />

Matura 1976, danach Soldat des B<strong>und</strong>esheeres, Studium der Germanistik <strong>und</strong> Geschichte in Salzburg<br />

(Doktorat 1984), AHS-Lehrer von 1981 bis Okt. 1994, dann Assistent am Institut <strong>für</strong> Germanistik in<br />

Salzburg. Mitglied des Adalbert-Stifter-Instituts Linz, der Elias-Canetti-Gesellschaft Rousse <strong>und</strong> der<br />

Erika-Mitterer-Gesellschaft Wien.<br />

<strong>Wissen</strong>schaftliche Schwerpunkte<br />

Editionsphilologie (Mitarbeit an der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke Adalbert Stifters,<br />

Edition der dritten <strong>und</strong> vierten Fassung der "Mappe meines Urgroßvaters"). Mythos, Mythologie <strong>und</strong><br />

moderne Literatur; Gegenwartsliteratur.<br />

- 45 -


Richtige Antworten, falsche Fragen<br />

...<br />

Rumänien wird von einer Drift in die Rechtsradikalität bedroht, aber auch von der<br />

mafiosen Unterminierung. Wie gut diese beiden Entwicklungen miteinander<br />

konvergieren, nämlich die Sündenböcke benennende Ideologie der roßrumänischen<br />

Partei <strong>und</strong> die darob ungestört fortschreitende Verluderung, das zeigt sich<br />

allenthalben.<br />

Von Martin A. Hainz<br />

(01. 02. 2007)<br />

"Dass das Richtige nicht doch fehl am Platz ist"<br />

(Karl Rahner)<br />

Gegenwärtig wird in Rumänien etwas diskutiert, das offensichtlich ist:<br />

die Fragwürdigkeit der Revolution von 1989. Anstoß dieser nach den<br />

Ereignissen nur zögerlich diskutierten Frage ist ein Film Corneliu<br />

Porumboius. In den deutschsprachigen Kinos 12:08 östlich von Bukarest<br />

betitelt, fragt er in rumänischen Lichtspielhäusern noch deutlicher: A fost<br />

sau n-a fost? Also: Gab es eine oder gab es keine?<br />

Es ist naheliegend, welche Antwort der Film gibt. Und diese Antwort ist<br />

wohlbegründet zu geben, alles spricht <strong>für</strong> lokale Unruhen, die Putschisten<br />

zu einem exakt choreographierten Aufstand nutzten. Kaum anders waren die<br />

perfekten Fernsehdirektübertragungen aus einem maroden Land im Moment<br />

des Aufstandes zu erklären, auch war bezeichnend, welcher Stil hernach die<br />

Regierung prägte – <strong>und</strong> wer dieser angehörte. Damals wäre darum auch die<br />

nun endlich beim Volk angelangte Frage breit in Rumänien zu diskutieren<br />

gewesen; ehe das Staatskapital in abenteuerlicher Weise zum Privatkapital<br />

hoher Parteibonzen wurde, ehe die junge Demokratie so mit dem mafiosen<br />

Gebaren der ehemals Herrschenden jedenfalls kontaminiert wurde ...<br />

Heute dagegen ist die Frage letztlich nicht nur sinnlos, sie ist auch<br />

gefährlich. Denn die Wahrheit, die dann zutage tritt, ist die falsche. Darum<br />

das Motto des Textes, wonach Rahner als Exempel ein Haus imaginiert, das<br />

"in 12 St<strong>und</strong>en [...] mitten in einer Hochwasserflut stehen wird" – was<br />

dessen Bewohnern mitzuteilen aber falsch wäre, wenn man zugleich weiß,<br />

"dass der Dachstuhl ihres Hauses brennt <strong>und</strong> es geraten ist, sich aus dem<br />

Haus zu entfernen."<br />

Durchaus analog stimmt gewiss der Bef<strong>und</strong>, dass es die Revolution in<br />

Rumänien allenfalls in Ansätzen gegeben habe, aber auch diese Ansätze<br />

schließlich in einem taktischen Manöver der Putschisten aufgingen. Aber<br />

dringlicher ist es, nach den Versäumnissen der Gegenwart zu fragen, wobei<br />

man sich auf etwas stützen wird müssen, was die sozusagen falsche<br />

Wahrheit untergräbt: nämlich so etwas wie einen Verfassungspatriotismus.<br />

Denn Rumänien wird von einer Drift in die Rechtsradikalität bedroht, aber<br />

- 46 -


auch von der mafiosen Unterminierung, die sich nun, da die Geburtsst<strong>und</strong>e<br />

der Republik ja schon mafios gewesen sei, fast schon im Recht wähnt. Und<br />

wie gut diese beiden Entwicklungen miteinander konvergieren, nämlich die<br />

Sündenböcke benennende Ideologie der Großrumänischen Partei <strong>und</strong> die<br />

darob ungestört fortschreitende Verluderung, das zeigt sich allenthalben.<br />

Wer nun vom Putsch von 1989 spricht, der bekommt beides zur<br />

Antwort: Dass also das gar nicht das eigentliche Rumänien sei, weshalb man<br />

mit "Maschinenpistolen Ordnung schaffen" müsse, wie es Vadim Tudor<br />

formulierte, aber auch, dass man es sich ob dieser Umstände eben richten<br />

müsse. Beides schwächt die Öffentlichkeit, es bedeutet, Partikularinteressen<br />

hemmungslos durchzusetzen; <strong>und</strong> dort, wo das nicht geht, das Recht zwar<br />

nicht zu beugen, aber immerhin ad absurdum zu führen – indem enteignete<br />

Häuser vor der Rückgabe von den einstmals darin billig wohnenden<br />

Parteigetreuen in Mitleidenschaft gezogen werden, Badewannen <strong>und</strong> Fenster<br />

zerschlagen ...<br />

Rumänische Hochhäuser verrotten oft von oben: Die Bewohner der tieferen<br />

Stockwerke finanzieren die Dachreparaturen nicht mit, deren Kosten die<br />

Bewohner unterm Dach aber nicht tragen können, weshalb erst das oberste<br />

Geschoß unbewohnbar wird, dann aber das Haus sukzessive insgesamt. Die<br />

Gesetze, die hier Abhilfe schaffen sollen, greifen darum nicht, weil das Sich-<br />

Arrangieren mit der Justiz in der Regel <strong>für</strong> die zunächst nicht betroffenen<br />

Bewohner billiger als ein neues Dach ist. So wie der Mangel an Solidarität<br />

hier das Haus von oben zerfrisst, zerfrisst er die Gesellschaft von unten.<br />

Sozialverträglichkeit von Investitionen? – ein Fremdwort. Minderheiten sind<br />

exponiert, vor allem werden selbst die löchrigen Gesetze wider<br />

Diskriminierungen nicht durchgesetzt. Unternehmen, die "zigeunerisch"<br />

("tiganesti") sind, werden kaum beauftragt, <strong>und</strong> damit die Roma teils<br />

tatsächlich in jene Kriminalität gedrängt, die man ihnen hier nachsagt: Das<br />

Klischee leistet seiner Erfüllung Vorschub. Auch ökologische Nachhaltigkeit<br />

gibt es in Rumänien nur theoretisch. Öl, das aufs Nachbargr<strong>und</strong>stück fließt,<br />

ist hier des Nachbars Problem.<br />

Da<strong>für</strong>, dass all das so bleibt, sorgt die zynische Intelligenz, die die Frage<br />

A fost sau n-a fost? nicht stellt, sondern gebraucht. Diese Intelligenz zerfrisst<br />

gerade auch den Bildungs- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>sektor, wo theoretisch wie praktisch<br />

die behutsam negative Utopie etwa der gesellschaftskritischen Literatur<br />

ausgemerzt wird. So formuliert die Temesvarer Germanistik zu Herta Müller,<br />

deren Bilder stünden bloß in der Tradition der Antiheimatliteratur, womit die<br />

Schilderungen der Autorin eigentlich schon entwirklicht wären;<br />

sicherheitshalber heißt es dann aber noch, die Bilder Herta Müllers zeigten<br />

einen "aus der Zeit gefallenen Raum" – diese Ansicht teilt mittlerweile die<br />

nächste Generation von Germanisten dieser Universität, namentlich Bogdan<br />

Dascalu. Als völlig unbedenklichen Philosophen rezipiert man da<strong>für</strong> Otto<br />

Weininger, wo nun das, was wirklich allegorisch gedacht sein mag, plötzlich<br />

keinesfalls entwirklicht zu denken sein soll, Weiningers Ressentiments wider<br />

die Frau <strong>und</strong> vor allem den Juden werden solcherart schließlich überboten.<br />

- 47 -


Neben dieser sozusagen theoretischen Abwehr der Kritik besteht aber auch<br />

die handfestere, dass all die Positionen in <strong>Wissen</strong>schaft <strong>und</strong> Lehre auf der<br />

Basis von Schmiergeld <strong>und</strong> gegebenenfalls Unterwürfigkeit, die das Mafiose<br />

des Systems jedenfalls nicht gefährdet, vergeben werden. Insofern<br />

Universitäten in Rumänien zugleich die Aufgaben des Landesschulrates<br />

wahrnehmen, reichen die Tentakel dieses Systems bis zur definitiven<br />

Anstellung von Lehrern in entlegensten Kleinstädten ... So wird Korruption<br />

zur Erbkrankheit.<br />

Dies höhlt die Zivilgesellschaft Rumäniens aus, was von jenen, die diese<br />

Unterhöhlung betreiben, zugleich als Empfehlung eines Totalitarismus (des,<br />

d.h. ihres Kapitals) dargestellt wird. Dem lässt sich nur entgegentreten, wo<br />

Demokratie als ständiger Prozess begriffen wird, als etwas, das keiner<br />

Historie bedarf, sich also auch durch jenes A fost sau n-a fost? nicht<br />

widerlegen lässt, weder im Sinne der einen noch in jenem der anderen, die in<br />

ihrer scheinbaren Antithetik doch beide eines nur wollen: dass die Wahrheit<br />

die Verlogenheit propagiere.<br />

Mag. Dr. Martin A. Hainz (martin.hainz@univie.ac.at), geboren 1974, arbeitet am Institut <strong>für</strong><br />

Germanistik der Universität Wien.<br />

- 48 -


Westöstliche Stärken<br />

...<br />

Aurora-Interview mit Christian Rosner, Geschäftsführer von S&T AG<br />

...<br />

"Es gibt keine spezifische Mentalität oder Geschäftskultur in Rumänien verglichen mit<br />

anderen Ländern in Osteuropa, aber auch vielen westeuropäischen Ländern. Das Land<br />

entwickelt sich rasend schnell, die Unterschiede werden nivelliert. Für seriöse Geschäfte<br />

gelten in Rumänien fast dieselben Regeln wie in Österreich."<br />

Das Interview führte Franz Wagner<br />

(01. 04. 2007)<br />

AM: Die österreichische Wirtschaft hat seit 1990 über 8 Mrd. Euro in Rumänien investiert<br />

<strong>und</strong> nimmt damit im Ranking der Direktinvestitionen den ersten Platz ein; mehr als 3.500<br />

Firmen mit österreichischer Kapitalbeteiligung sind in Rumänien registriert. Was macht<br />

dieses Land <strong>für</strong> Österreichs Unternehmen so interessant?<br />

Rosner: Rumänien ist ein Land mit sehr großem Potential <strong>und</strong> hohen<br />

Wachstumsraten. Die österreichischen Unternehmen haben dieses Potential<br />

frühzeitig erkannt <strong>und</strong> genutzt. Der IT-Markt in Rumänien etwa verzeichnet<br />

jährlich zweistellige Wachstumsraten. Mehrere Faktoren treiben die rasante<br />

Entwicklung der rumänischen Wirtschaft an: Zum einen setzt Rumänien die<br />

Privatisierung der staatlichen Betriebe unvermindert fort. R<strong>und</strong> um den EU-<br />

Beitritt sind außerdem hohe Investitionen getätigt worden, <strong>und</strong> auch<br />

weiterhin wird viel investiert, um die Wirtschaft <strong>und</strong> die öffentliche<br />

Verwaltung EU-konform <strong>und</strong> global wettbewerbsfähig zu machen. Darüber<br />

hinaus bietet Rumänien Personal zu niedrigen Kosten <strong>und</strong> vor allem in den<br />

Universitätsstädten hervorragend ausgebildete Fachkräfte. Nicht zuletzt sind<br />

die kulturellen Unterschiede zwischen Rumänien <strong>und</strong> westeuropäischen<br />

Ländern gering, was das Verständnis <strong>und</strong> die Zusammenarbeit erleichtert.<br />

Das ist auch einer der wesentlichen Gründe neben den guten<br />

Sprachkenntnissen, warum Nearshoring-Projekte in Rumänien erfolgreich<br />

funktionieren.<br />

AM: Wie hat S&T es eigentlich geschafft, zum Marktführer in Rumänien aufzusteigen,<br />

noch vor Schwergewichten wie IBM oder HP?<br />

Rosner: S&T Rumänien wurde 1994 gegründet, ist also bereits lange Jahre<br />

erfolgreich am Markt. 2001 haben wir unsere Aktivitäten in Rumänien durch<br />

die Übernahme der Netway Computer Systems verstärkt <strong>und</strong> das Geschäft<br />

auch in den Folgejahren konsequent weiter ausgebaut. 2006 erfolgte eine<br />

weitere Verstärkung durch die Eröffnung unseres Nearshoring Software<br />

Centers in Bukarest sowie durch den Start des ersten S&T Competence<br />

Centers. Im Mai 2007 wird ein weiteres Competence Center in Rumänien<br />

eröffnet. Das Erfolgskriterium in Rumänien ist, wie in anderen S&T Ländern<br />

auch, die starke lokale Präsenz gekoppelt mit der internationalen<br />

Ausrichtung der Gruppe. Unsere Mitarbeiter <strong>und</strong> ein ausgezeichnetes<br />

Managementteam vor Ort verfügen über ausgezeichnete Kontakte zu lokalen<br />

K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Behörden <strong>und</strong> können auf eine Vielzahl von erfolgreichen<br />

- 49 -


Projekten verweisen. Westeuropäische bzw. österreichische K<strong>und</strong>en, die S&T<br />

bei ihrer Expansion nach Rumänien unterstützt, werden in Österreich <strong>und</strong><br />

Rumänien auf höchstem Niveau betreut.<br />

AM: "<strong>Kultur</strong>schock Rumänien" ist der Titel eines populären Reiseführers von Joscha<br />

Remus. Auf welche Besonderheiten sollte jemand achten, der ein unternehmerisches<br />

Engagement in diesem Land plant. Gibt es eine spezifisch rumänische Mentalität resp.<br />

"Geschäftskultur"?<br />

Rosner: Meines Erachtens gibt es keine spezifische Mentalität oder<br />

Geschäftskultur in Rumänien verglichen mit anderen Ländern in Osteuropa,<br />

aber auch vielen westeuropäischen. Das Land entwickelt sich rasend<br />

schnell, die Unterschiede werden nivelliert. Für seriöse Geschäfte gelten in<br />

Rumänien fast dieselben Regeln wie in Österreich. S&T setzt bewusst auf<br />

eine starke lokale Niederlassung mit heimischen Mitarbeitern, die das<br />

Geschäft vor Ort bestens kennen <strong>und</strong> daher auch am besten entwickeln<br />

können.<br />

AM: S&T beschäftigt weltweit r<strong>und</strong> 3.000 Mitarbeiter, darunter 200 in Rumänien. Wie<br />

zufrieden sind Sie mit dem Ausbildungsstand der einheimischen Fachkräfte? Entsprechen<br />

Forschung <strong>und</strong> Lehre an den rumänischen Hochschulen den westeuropäischen<br />

Standards? Wo sehen Sie noch Defizite?<br />

Rosner: Wir sind sehr zufrieden mit den rumänischen Fachkräften. Sie<br />

verfügen über eine ausgezeichnete Ausbildung <strong>und</strong> was wohl noch wichtiger<br />

ist, über sehr hohe Motivation. Die Aufbruchstimmung, die das Land erfasst<br />

hat, zeigt sich am Engagement der Mitarbeiter, die etwas bewegen <strong>und</strong><br />

erreichen wollen. Speziell die Universitätsstädte bieten, im Vergleich zu<br />

westlichen Ländern, auch genügend Fachkräfte, auf die die Unternehmen<br />

zugreifen können. Das ist vor allem <strong>für</strong> international agierende<br />

Unternehmen, die im Westen den Fachkräftemangel spüren, von großem<br />

Vorteil. Von Vorteil sind selbstverständlich auch die niedrigen<br />

Personalkosten, auch wenn sich Bulgarien oder die Ukraine in diesem<br />

Bereich bereits zur Konkurrenz entwickeln.<br />

AM: Gerhard Glanz, Geschäftsführer des Maschinenbauers Emco, ließ jüngst mit der<br />

Bemerkung aufhorchen, dass Produktionen, die ein hohes Maß an Handarbeit erfordern,<br />

in den osteuropäischen Billiglohnländern gerade richtig seien; der hochkomplexe<br />

Maschinenbau habe dort aber nichts verloren. Auf Gr<strong>und</strong> von Qualitäts- <strong>und</strong><br />

Imagemängeln sowie Reklamationen <strong>und</strong> kostenintensiven Nacharbeiten könne ein<br />

Technologieunternehmen trotz der geringen Arbeitskosten in den neuen EU-<br />

Mitgliedsstaaten langfristig nicht überleben. Legt man diese Aussagen auf S&T um – der<br />

IT-Bereich ist dem Maschinenbau an Komplexität ja mindestens ebenbürtig – denken Sie<br />

selbst manchmal daran, dem Osten Europas den Rücken zu kehren <strong>und</strong> wieder an die<br />

alten "Hochleistungsstandorte" in Österreich oder Deutschland zurückzukehren?<br />

Rosner: Nein, dies trifft keineswegs im IT Geschäft zu. Im Gegenteil, wir<br />

verstärken unsere Aktivitäten in Osteuropa mit den Kompetenz- <strong>und</strong><br />

Entwicklungszentren als auch verstärktem „lokalen Go-to-Market". Ich<br />

denke, erfolgreich ist, wer die Stärken des Westens mit denen des Ostens<br />

ideal kombiniert.<br />

- 50 -


AM: Was tun Sie selbst, um das Qualitätsniveau in Ihren osteuropäischen<br />

Niederlassungen konstant zu halten bzw. zu verbessern? Gibt es betriebliche Aus- <strong>und</strong><br />

Weiterbildungsmöglichkeiten?<br />

Rosner: Die S&T Unternehmensgruppe investiert jährlich r<strong>und</strong> 3% der<br />

Gesamtlohnsumme bzw. zwei Millionen Euro in die betriebliche Aus- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung. Die Niederlassungen in den Ländern organisieren<br />

Weiterbildungsmaßnahmen, außerdem gibt es zahlreiche<br />

länderübergreifende Initiativen. Besonders wichtig sind uns dabei<br />

Technologie-Zertifizierungen, Sprachtrainings, aber auch Talent-<br />

Förderungsprogramme, die lokale Zusammenarbeit mit Universitäten <strong>und</strong><br />

länderübergreifender Know-How-Transfer.<br />

AM: Welche Erfahrungen haben Sie mit der Korruption in Rumänien gemacht? Erwarten<br />

Sie in nächster Zeit Verbesserungen in dieser Hinsicht? Gibt es – Stichwort<br />

"Antikorruptionsagentur" u.a. – bereits sichtbare Erfolge?<br />

Rosner: Der EU-Beitritt <strong>und</strong> die sukzessive Ausrichtung des Landes auf den<br />

globalen Wettbewerb fördern die positive Entwicklung auch in diesem<br />

Bereich.<br />

AM: Was halten Sie von der oft geäußerten Be<strong>für</strong>chtung, wonach der Westen nach dem<br />

Auslaufen der Zugangsbeschränkungen mit billigen Arbeitskräften aus den neuen EU-<br />

Ländern überschwemmt werden könnte? Sind diese Ängste berechtigt?<br />

Rosner: Ich denke, je schneller sich der Lebensstandard in den östlichen<br />

Ländern westlichem Niveau annähert, desto weniger besteht die Gefahr einer<br />

Überschwemmung mit billigen Arbeitskräften. Menschen, die in ihrer Heimat<br />

Arbeit finden, die ihnen das Leben sichert, haben normalerweise wenig<br />

Interesse daran, ins Ausland zu gehen. Es geht aber auch darum, im Westen<br />

einen Schwerpunkt auf die Qualifikation der Arbeitskräfte zu legen <strong>und</strong><br />

gezielt in die Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung zu investieren.<br />

AM: Umgekehrt gefragt: Kommen Ihnen – Stichwort Arbeitsmigration – in Rumänien die<br />

gut ausgebildeten, jungen Fachkräfte abhanden? Es gibt ja Berichte, wonach vor allem<br />

im Westen Rumäniens bereits akuter Arbeitskräftemangel herrschen soll.<br />

Rosner: Nein, uns kommen sie nicht abhanden. Wir bieten unseren<br />

rumänischen Mitarbeitern ja herausfordernde Positionen <strong>und</strong> interessante<br />

Entwicklungswege im Land an. Hier muss man wohl unterscheiden<br />

zwischen Fachkräften <strong>und</strong> geringer ausgebildetem Personal.<br />

AM: Könnten Sie abschließend einen kurzen Einblick in die zentralen Aktivitäten von S&T<br />

in Rumänien geben? Welche größeren Vorhaben wollen Sie in nächster Zeit dort<br />

realisieren? Wie sieht ganz allgemein die Zukunft von S&T in Rumänien aus?<br />

Rosner: S&T Rumänien ist der führende IT-Dienstleister am Markt <strong>und</strong><br />

zählt die namhaften rumänischen Unternehmen, z.B. Petrom, Romgaz,<br />

National Bank of Romania, Romtelecom, zu seinen K<strong>und</strong>en. Diese starke<br />

Marktposition wollen wir weiter ausbauen. Gleichzeitig bringt sich Rumänien<br />

intensiv in unser internationales Netzwerk ein. In Rumänien betreiben wir<br />

zwei unserer fünf Kompetenzzentren <strong>und</strong> das <strong>für</strong> die gesamte Gruppe<br />

- 51 -


arbeitende Nearshoring Center ist in Rumänien beheimatet. S&T Rumänien<br />

gehört also zu unseren erfolgreichsten Niederlassungen, auf die wir auch in<br />

Zukunft setzen.<br />

AM: Herr Rosner, vielen Dank <strong>für</strong> das Interview!<br />

Christian Rosner snt@snt-world.com leitet seit Jänner 2006 als Chief Executive Officer die S&T AG-<br />

Unternehmensgruppe. Davor fungierte er seit Jänner 2004 als Chief Operating Officer der S&T. Der<br />

IT- <strong>und</strong> Telekommunikationsexperte startete seine Karriere 1977 bei Philips Data <strong>und</strong> hatte leitende<br />

Positionen bei Nixdorf Computer, Digital Equipment <strong>und</strong> Hewlett Packard inne. In der Funktion des<br />

CEO verantwortete er unter anderem die Führung der Unternehmen EMTS Technologie AG, der<br />

eTel Austria AG <strong>und</strong> als Geschäftsführer <strong>für</strong> Österreich <strong>und</strong> Zentral- <strong>und</strong> Osteuropa der CWS sowie<br />

Commodore Computer.<br />

Homepage<br />

www.snt-world.com<br />

- 52 -


Zur rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur<br />

...<br />

Viele rumänische Schriftsteller waren in den 80er Jahren Ziel von Verhaftungen<br />

<strong>und</strong> Verfolgungen, was die meisten zu einer Auswanderung bewegte.<br />

Ihre damaligen traumatischen Erfahrungen spiegeln sich teilweise<br />

noch in ihren heute erscheinenden Werken.<br />

Von Tanja Becker<br />

(01. 01. 2007)<br />

Wer Rumänien von seiner literarischen Seite kennen lernen möchte, hat<br />

keine andere Wahl als sich hauptsächlich an die rumäniendeutschen Schriftsteller<br />

zu halten, weil immer noch sehr wenig rumänische Gegenwartsliteratur ins<br />

Deutsche übersetzt ist. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der rumäniendeutschen<br />

Autoren lebt mittlerweile in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, beschäftigt sich<br />

aber immer noch mit der alten Heimat. Der Sprachduktus dieser Werke ist häufig<br />

von der in Rumänien gelebten Vielsprachigkeit <strong>und</strong> dem etwas altertümlich<br />

anmutenden Deutsch der dortigen Minderheit geprägt.<br />

Relativ bekannt sind die Mitglieder der sogenannten Aktionsgruppe Banat, jenes<br />

1972 in Temeswar entstandenen Literaturkreises junger deutschsprachiger<br />

Autoren, die gegen die Einengung ihres freien Schaffens durch den<br />

Provinzialismus in der eigenen <strong>Kultur</strong>tradition wie auch durch die Verbote eines<br />

sozialistischen Staates ankämpften. Sie gehörten der deutschen Minderheit aus<br />

dem Banat in der Grenzregion zu Ungarn <strong>und</strong> Serbien an, die vor etwa 250 Jahren<br />

unter Maria Theresia dorthin ausgewandert sind, um das Land urbar zu machen.<br />

Durch ihre zunächst reformkommunistischen politischen Ansichten <strong>und</strong> ihre<br />

Ablehnung des häufig noch vom Nationalsozialismus überschatteten<br />

Schwabentums wurden sie rasch zur Minderheit innerhalb der Minderheit. In den<br />

80er Jahren, als sich die wirtschaftliche <strong>und</strong> politische Situation in Rumänien<br />

immer mehr zuspitzte, waren auch sie Verhaftungen <strong>und</strong> Verfolgungen<br />

ausgesetzt, was die meisten zu einer Auswanderung bewegte. Ihre damaligen<br />

traumatischen Erfahrungen spiegeln sich teilweise noch in ihren heute<br />

entstehenden Werken.<br />

Erwähnt sei zunächst Herta Müller, die 1953 in Nitzkydorf, einem von Banater<br />

Schwaben bewohnten deutschsprachigen Dorf in Rumänien, geboren wurde. Sie<br />

studierte Germanistik <strong>und</strong> Rumänistik in Temeswar <strong>und</strong> arbeitete zunächst als<br />

Deutschlehrerin <strong>und</strong> Übersetzerin, verlor jedoch ihren Arbeitsplatz, weil sie nicht<br />

mit dem rumänischen Geheimdienst zusammenarbeiten wollte. Danach war sie<br />

Kindergärtnerin. 1987 durfte sie ausreisen <strong>und</strong> lebt heute in Berlin. Sie erhielt<br />

zahlreiche Preise, darunter den Kleistpreis.<br />

Lektüreempfehlungen:<br />

"Herztier" (1994)<br />

- 53 -


Lola kam aus dem armen Süden Rumäniens, wollte dem Elend mit Hilfe des<br />

erfolgreichen Mannes entfliehen <strong>und</strong> hing eines Tages am Strick. Die Fre<strong>und</strong>e<br />

glauben nicht an Selbstmord <strong>und</strong> versuchen Widerstand zu leisten. Sie<br />

zerbrechen daran. "Herztier" erzählt von Bestechungs- <strong>und</strong><br />

Anpassungsversuchen, den Gesten des Widerstands <strong>und</strong> den Verstößen gegen<br />

die Norm, vom Nicht-leben-Können <strong>und</strong> davon, wie "Menschen sich selbst zu<br />

einem Fehler werden".<br />

"Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" (1999)<br />

Dieses Buch erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die regelmäßig zum<br />

Verhör beim Geheimdienst bestellt wird. Auf dem Weg dorthin, während der<br />

Fahrt mit der Straßenbahn, lässt sie ihr Leben an sich vorüberziehen. Sie denkt<br />

zurück an ihre Kindheit auf dem Dorf, an ihre Beziehung zum Vater <strong>und</strong> an die Ehe<br />

mit dem Sohn jenes Mannes, der <strong>für</strong> die Deportation ihrer Großeltern<br />

verantwortlich war. An diesem Tag hält der Fahrer an der Haltestelle, an der sie<br />

aussteigen muss nicht an. Und so geht sie zum ersten Mal nicht zum Verhör.<br />

"Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt" (l995)<br />

So lautet ein rumänisches Sprichwort, das die Unbeholfenheit des flügellahmen<br />

Wildvogels auf menschliches Ungeschick <strong>und</strong> Unheil überträgt. Das Buch ist die<br />

Ballade der Auswanderung. Die Nähe zerbröckelt, aus Fre<strong>und</strong>en werden<br />

misstrauische Feinde. Es geht nicht mit rechten Dingen zu, sondern alles auf<br />

krummen Wegen. Was hier, von der Oberfläche der Zeit in mythische Tiefen<br />

reichend, mitgeteilt wird, ist ein in seiner dichterischen Knappheit großer Beitrag<br />

zum Thema der Emigration.<br />

Weiter sei hingewiesen auf den ebenfalls relativ bekannten Richard Wagner, der<br />

1952 in Lovrin, im rumänischen Teil des Banats, geboren wurde. Er arbeitete als<br />

Deutschlehrer <strong>und</strong> Journalist <strong>und</strong> veröffentlichte Lyrik <strong>und</strong> Prosa in deutscher<br />

Sprache. Nach einem Arbeits- <strong>und</strong> Publikationsverbot verließ er Rumänien<br />

gemeinsam mit seiner damaligen Frau Herta Müller im Jahre 1987. Seitdem lebt<br />

er als freier Schriftsteller in Berlin. Er erhielt zahlreiche Preise <strong>und</strong> Stipendien.<br />

Lektüreempfehlungen:<br />

"Der leere Himmel" (2003)<br />

Der Balkan liegt weit hinten, wo Europas Wirklichkeit sich krümmt. Schon<br />

Goethes Faust sah staunend auf das Gebiet, wo "die Völker aufeinanderschlagen",<br />

<strong>und</strong> Bismark war das Land zwischen Ägäis <strong>und</strong> Donau, Bosporus <strong>und</strong> Adria nicht<br />

die ges<strong>und</strong>en Knochen eines pommerschen Musketiers wert. Gerne hat Europa<br />

weggesehen, doch das sprichwörtliche "Pulverfass" hat immer wieder Feuer<br />

gefangen, <strong>und</strong> seine Flammen schlugen dem Kontinent entgegen. Ein Bindeglied<br />

zwischen Okzident <strong>und</strong> Orient könnte der Balkan sein, doch die jahrh<strong>und</strong>ertealten<br />

Brücken liegen heute in den Flüssen Donau, Drina oder Nereta – zertrümmert von<br />

Serben, Kroaten, Moslems, von der Nato. Hinter einem Schleier aus Mythen <strong>und</strong><br />

Folklore sucht Richard Wagner nach Gründen <strong>für</strong> die jugoslawische Katastrophe<br />

<strong>und</strong> geht dabei immer wieder auf sein Geburtsland Rumänien ein.<br />

- 54 -


"Miss Bukarest" (2001)<br />

Dinu Schullerus, der aus Rumänien stammende Detektiv hieß früher Matache. Vor<br />

zehn Jahren ist er mit seiner Frau Lotte, einer Siebenbürger Sächsin, nach West-<br />

Berlin ausgereist, weil beide Dinus Arbeit bei der Securitate nicht mehr ertragen<br />

konnten. Als Geheimdienstoffizier hat Dinu Dissidenten bespitzelt, Künstler <strong>und</strong><br />

Akademiker. Unter anderem auch die attraktive Erika Binder, die ehemals beste<br />

Fre<strong>und</strong>in seiner Frau, mit der er überdies noch ein Verhältnis hatte. Genau diese<br />

Erika Binder wird nun in Berlin tot aufgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Dinu macht sich auf, die<br />

Mörder seiner Ex-Geliebten zu finden.<br />

"Habseligkeiten" (2004)<br />

Die Beerdigung des Vaters ist der Anlass <strong>für</strong> Werner Zillich, sich die Geschichte<br />

seiner Familie, einer schwäbischen Handwerkerfamilie im Banat, vor Augen zu<br />

führen. Die Müller, Pferdehändler oder Näherinnen hatten keinerlei Einfluss auf<br />

das Weltgeschehen, dennoch hat es ihr Leben beeinflusst. So berichtet Zillich<br />

vom Abenteuer einer Amerika-Auswanderung im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> von einer<br />

heimlichen Liebe im Arbeitslager der Nachkriegszeit, ebenso von der käuflichen<br />

Liebe junger ungarischer Prostituierter unserer Tage. Sein eigenes Leben<br />

spiegelt die Krisen <strong>und</strong> Absurditäten der europäischen Epoche wider, <strong>und</strong> bevor<br />

das Rad der Geschichte <strong>für</strong> immer stehen bleibt, nimmt es eine letzte,<br />

w<strong>und</strong>erbare Wendung.<br />

Tanja Becker (tanja_ursula_becker@yahoo.de) studierte Deutsch <strong>und</strong> Französich <strong>für</strong> das Lehramt an<br />

Gymnasien in Erlangen <strong>und</strong> Augsburg, DEA in Lettres Modernes an der Sorbonne (Paris IV),<br />

zweijährige Tätigkeit als Deutschassistentin in Frankreich, 1997-2003 DAAD-Lektorin an der<br />

Politehnica-Universität Temeswar, ab 2003 Privatdozentin, Übersetzerin. Forschungen im Bereich<br />

Komparatistik, Aufsätze zur germanistischen Forschung <strong>und</strong> Lehre.<br />

- 55 -


Alles wahr <strong>und</strong> alles nur geträumt<br />

...<br />

Mircea Cartarescus kunstvolle Prosa lädt uns zum Traumwandeln ins Bukarest der<br />

geheimnisvollen Villen, der verräucherten Keller <strong>und</strong> verwahrlosten Neubauviertel.<br />

Von Tanja Becker<br />

(01. 01. 2007)<br />

Rumänische Gegenwartsliteratur ist kaum in deutscher Übersetzung<br />

vorhanden. Um so interessanter ist der 1997 in deutscher Sprache erschienene<br />

Roman "Nostalgia" von dem in Rumänien gefeierten Mircea Cartarescu.<br />

Cartarescu wurde 1956 in Bukarest geboren, studierte rumänische Sprache <strong>und</strong><br />

Literatur an der Bukarester Universität <strong>und</strong> arbeitete danach als Lehrer.<br />

Inzwischen ist er Universitätsdozent. Zwischen 1978 <strong>und</strong> 1985 veröffentlichte er<br />

mehrere Gedichtbände. 1989 erschien sein Prosaband "Visul" (Der Traum), der<br />

allerdings von der Zensur um wesentliche Passagen gekürzt worden war. Unter<br />

dem Titel "Nostalgia" legte er das Buch 1993 noch einmal in vollständiger Fassung<br />

vor. Es wurde ebenso wie der 1994 entstanden Roman "Travestie" in Rumänien<br />

preisgekrönt <strong>und</strong> in mehrere Sprachen übersetzt.<br />

In "Nostalgia" ist alles wahr <strong>und</strong> alles nur geträumt – Cartarescus kunstvolle Prosa<br />

lädt uns ein zum Traumwandeln ins Bukarest der geheimnisvollen Villen, der<br />

verräucherten Keller, der verwahrlosten Neubauviertel. Dort begegnen wir<br />

einem Spielsüchtigen, der wieder <strong>und</strong> wieder das Schicksal im russischen<br />

Roulette herausfordert – schließlich hat er sechs Patronen im Revolver. Die<br />

beiden ebenso verklemmten wie narzisstischen Gymnasiasten Andrei <strong>und</strong> Gina<br />

verwandeln sich irgendwann in den jeweils anderen. Ihre erste Liebesnacht<br />

haben sie ausgerechnet ins Naturk<strong>und</strong>emuseum verlegt. Ein geheimnisvoller<br />

Knabe, Mendelibus genannt, wird Anführer einer Kindergang <strong>und</strong> entwickelt<br />

w<strong>und</strong>ersame Einsichten: "Es gibt vier Arten von Menschen. Die Ungeborenen, die<br />

Lebenden, die Gestorbenen <strong>und</strong> diejenigen, die weder geboren, noch am Leben<br />

noch gestorben sind – das sind die Sterne."<br />

Cartarescu, der sich selbst einmal ironisch den Nationalpreis "<strong>für</strong> die<br />

vollendete Beherrschung einer ausdrucksreichen Sprache" zuerkannt hat, lässt<br />

uns immer wieder die Spur eines Schriftstellers kreuzen, der listig sein Spiel mit<br />

Tanz <strong>und</strong> Statik, Licht <strong>und</strong> Schatten, Transparenz <strong>und</strong> Verhüllung treibt: "Soll sich<br />

jeder vorstellen, was er will. Finde jeder <strong>für</strong> diesen spiegelverhüllenden Text,<br />

diese Textur, Textile, diese Plane, die nur dann gelungen ist, wenn man nicht<br />

durch sie hindurch sehen kann, die Begründungen, die Deutungen, die ihm<br />

passen."<br />

Tanja Becker (tanja_ursula_becker@yahoo.de) studierte Deutsch <strong>und</strong> Französich <strong>für</strong> das Lehramt an<br />

Gymnasien in Erlangen <strong>und</strong> Augsburg, DEA in Lettres Modernes an der Sorbonne (Paris IV),<br />

zweijährige Tätigkeit als Deutschassistentin in Frankreich, 1997-2003 DAAD-Lektorin an der<br />

Politehnica-Universität Temeswar, ab 2003 Privatdozentin, Übersetzerin. Forschungen im Bereich<br />

Komparatistik, Aufsätze zur germanistischen Forschung <strong>und</strong> Lehre.<br />

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Reise ohne Wiederkehr<br />

Dass man sich dem Holocaust auch auf humorvolle Weise nähern kann, bewiesen in<br />

den 1990er Jahren gleich zwei Spielfilme: Roberto Benignis "Das Leben ist schön"<br />

<strong>und</strong> Radu Mihaileanus "Zug des Lebens".<br />

...<br />

Von Franz Wagner<br />

(01. 01. 2007)<br />

Wie lässt sich die unfassbare Brutalität, mit der die Nationalsozialisten<br />

jüdische Männer, Frauen <strong>und</strong> Kinder abschlachteten, auf erzählerische Weise<br />

rekonstruieren? Wie kann man die ausweglose Angst der Millionen Deportierten<br />

begreiflich machen, ihren Kampf ums Überleben, ihr schreckliches Martyrium in<br />

Lagern wie Auschwitz oder Mauthausen?<br />

Dass eine Annäherung an das Grauen der industriell betriebenen<br />

Menschenvernichtung jedenfalls nicht automatisch zum Scheitern verurteilt sein<br />

muss, wurde spätestens mit Filmen wie "Schindlers Liste" klar. Steven Spielbergs<br />

1993 erschienener Film über den Unternehmer Oskar Schindler, der während des<br />

Zweiten Weltkrieges über 1.000 bei ihm angestellte jüdische Zwangsarbeiter vor<br />

dem Tod in den Gaskammern der Nazis rettete, ergab ein psychologisch<br />

differenzierteres Bild des Dritten Reichs als viele Vorgängerfilme. Darüber hinaus<br />

entwickelte er sich gegen Ende der 1990er Jahre zum Initialzünder <strong>für</strong> eine Reihe<br />

weiterer Produktionen, die sich mit der Shoah, dem Völkermord an r<strong>und</strong> sechs<br />

Millionen europäischer Juden, auseinander setzten.<br />

Dass man sich diesem Thema auch auf humorvolle Weise nähern kann,<br />

bewiesen 1998 gleich zwei Spielfilme: Roberto Benignis "Das Leben ist schön"<br />

<strong>und</strong> Radu Mihaileanus "Zug des Lebens". Obwohl sich der Plot nicht recht<br />

vergleichen lässt, verfügen die Figuren beider Produktionen über eine<br />

bemerkenswerte Gemeinsamkeit: Um den Krieg zu überstehen, entwerfen sie<br />

Masken <strong>und</strong> Verkleidungen, gaukeln sich <strong>und</strong> ihren Angehörigen etwas vor, das<br />

es gar nicht gibt, <strong>und</strong> denken sich Geschichten aus, die noch im tiefsten Unglück<br />

ein klein wenig Hoffnung schenken. Benignis Hauptfigur ist der in ein deutsches<br />

KZ verschleppte Vater Guido, der seinen kleinen Jungen dort vor den Nazis<br />

verbirgt <strong>und</strong> diesem das Leben im Lager als aufregendes Abenteuer vorstellt; bis<br />

zuletzt glaubt der Sohn an das Märchen von den guten Deutschen, die nur auf<br />

böse tun. In "Zug des Lebens" verlangt der Rabbi (Clément Harari) eines im<br />

europäischen Osten angesiedelten jüdischen Stetls von seiner Gemeinde eine<br />

noch weit drastischere inszenatorische Leistung: "Wer will Nazi sein?", fragt der<br />

Rabbiner das versammelte Dorf. Er meint die Frage durchaus ernst – hier kann<br />

man sich als Zuseher das Lachen nicht verkneifen. Das ist nicht weiter<br />

verw<strong>und</strong>erlich, immerhin ist der Film nicht als Drama, sondern als reichlich<br />

überdrehte Groteske angelegt, die Anleihen bei Charlie Chaplins "Der große<br />

Diktator" (1940) oder Ernst Lubitschs "Sein oder Nichtsein" (1942) nimmt.<br />

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Die Idee, sich als Nazis zu verkleiden, stammt vom Dorfnarren Schlomo (Lionel<br />

Abelanski), der gerüchteweise von sich nähernden deutschen Truppen gehört hat<br />

<strong>und</strong> das Stetl mit einem wahnwitzigen Plan vor der Deportation retten will:<br />

Ausgestattet mit genügend Proviant, selbst genähten Wehrmachtsuniformen,<br />

gefälschten Papieren <strong>und</strong> einem gehörigen Maß an Unverfrorenheit will man in<br />

einem mit Hakenkreuzen getarnten Zug an den deutschen Besatzern vorbei bis<br />

über die rettende Grenze nach Russland vordringen, das selbst bloß<br />

Zwischenstation <strong>für</strong> das eigentliche Reiseziel ist: Eretz Israel – Palästina.<br />

Gesagt, getan. Das Dorf teilt sich in zwei Gruppen: Diejenigen, die am besten<br />

Deutsch sprechen, stellen die Nazis. Sie werden von Israel Schmecht (Johan<br />

Leysen), einem eilends aus Österreich herbeigerufenen jiddischen Schriftsteller,<br />

auf ihre zukünftige Rolle als Deutsche vorbereitet <strong>und</strong> erhalten Lehrst<strong>und</strong>en in der<br />

"Theologie der Soldaten des Dritten Reichs". Auch die Aussprache wird<br />

verbessert: Aus "Mein Fihrer!" etwa wird "Mein Führer!". Der Holzhändler<br />

Mordechai Schwarz (Rufus), der vom Dorfrat gegen seinen Willen zum deutschen<br />

Kommandanten <strong>und</strong> künftigen Leiter des Zugs bestimmt wird, erhält von<br />

Schmecht Sonderlektionen: "Das Deutsche ist sehr hart, präzise <strong>und</strong> traurig,<br />

Jiddisch ist eine Parodie des Deutschen, hat jedoch Humor". Darauf erk<strong>und</strong>igt sich<br />

Mordechai bei dem Österreicher: "<strong>Wissen</strong> die Deutschen, dass wir ihre Sprache<br />

parodieren? Vielleicht ist das der Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> den Krieg?"<br />

Die andere Hälfte des Stetls verkörpert die zu deportierenden Juden. Im<br />

Gegensatz zu "Major" Mordechai, <strong>für</strong> den ein eigener Salonwagen gezimmert<br />

wurde, müssen sie sich – so realitätsnah wie möglich – dicht an dicht in die<br />

Viehwaggons am Ende des Zuges drängen. Als Lokführer wird kurzerhand ein<br />

entfernter jüdischer Verwandter, Archivar im Eisenbahnministerium, installiert,<br />

dessen einzige Qualifikation <strong>für</strong> diesen Job ein Buch mit dem Titel: "Wie bediene<br />

ich eine Dampflokomotive?" ist. Immerhin: Nach einigen Fehlgriffen nimmt die<br />

Zugmaschine schnaubend Fahrt auf. In den Mienen der Passagiere macht sich<br />

Bedrückung breit; jeder weiß, dass es von jetzt an kein Zurück mehr gibt – so<br />

oder so.<br />

In "Zug des Lebens" lässt Regisseur Mihaileanu, dessen eigener Vater der<br />

Vernichtung durch die Nazis nur knapp entging, in warmen, lebensfrohen Bildern<br />

den heute längst vergessenen Alltag eines jiddischen Stetls im Osten Europas<br />

wieder auferstehen. Dass es dabei allzu idyllisch zugeht <strong>und</strong> das Dorf anfangs in<br />

einem geradezu vorbiblischen Zustand jenseits von Gut <strong>und</strong> Böse gezeigt wird,<br />

verleiht dem Film eine surreale Note, die, als sich der Zug mit den "Deportierten"<br />

nach Russland aufmacht, noch bestärkt wird durch poetische Bilder von im Wind<br />

flutenden Kornfeldern, sattgrünen Wiesen <strong>und</strong> Sonnenuntergängen, die direkt aus<br />

der rumänischen Fremdenverkehrswerbung stammen könnten. Die Traum-hafte<br />

Schönheit dieser jiddischen Lebenswelt, die der Regisseur hier zu vermitteln<br />

sucht, ist als Liebeserklärung an eine untergegangene <strong>Kultur</strong> zu verstehen, deren<br />

Teil einst auch Mihaileanus Vater war.<br />

Doch all die Schönheit des Films ist, angesichts des hehren Themas, zugleich<br />

dessen größte Schwäche. Mihaileanu findet kein rechtes Mittel, um die Angst der<br />

Dorfbewohner vor ihrer Enttarnung durch die "echten" Nazis zu vermitteln. Nie<br />

- 58 -


kommt – angesichts des möglichen Endpunkts der Reise – ein Gefühl von Enge,<br />

Dunkelheit oder Verzweiflung auf. Die ständig näher rückende Gefahr bleibt bis<br />

zum Ende fern wie am Anfang. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass Mihaileanu<br />

das Grauen der Shoah nur an der Peripherie zeigt. Auch fern von Auschwitz ließe<br />

sich gewiss ein authentischeres Bild des Schreckens zeichnen. Doch darum geht<br />

es dem Regisseur, der auch das Drehbuch verfasst hat, gar nicht. Im Zentrum<br />

seines Films steht das Leben im Dorf, das zum Leben im Zug wird, mit all jenen<br />

Verwicklungen <strong>und</strong> kleinen Streitereien, Liebesgeschichten <strong>und</strong> Anekdoten, die<br />

der Alltag bietet. Dass man sich gerade auf der Fahrt zu seinen möglichen<br />

Henkern befindet, bleibt eine ferne Ahnung am Horizont. Stattdessen reiht sich<br />

Witz an Witz <strong>und</strong> dominiert Situationskomik von immerhin beachtlicher Finesse.<br />

Bei all dem zeichnet Mihaileanu aber keine Personen, sondern Typen <strong>und</strong><br />

bleibt dabei allzu oft im Klischee stecken. Man sieht einige "echte" Nazis <strong>und</strong><br />

auch, wie Menschen verhaftet <strong>und</strong> Dörfer niedergebrannt werden. Doch dies<br />

alles bleibt seltsam blass, wirkt wie ein bemühter moralischer Fingerzeig,<br />

vermag nicht zu schockieren. Abschließende Erkenntnis: Selten so gelacht!<br />

Dennoch: Das Lachen bleibt einem – im Unterschied zu Benignis "Das Leben ist<br />

schön" – hier nie im Halse stecken.<br />

Franz Wagner (wagn@utanet.at) ist Redakteur des Aurora-<strong>Magazin</strong>s.<br />

- 59 -


Held <strong>und</strong> Unbekannter<br />

...<br />

George Enescu erfreute sich schon zu Lebzeiten größerer Beliebtheit als<br />

jeder andere rumänische Komponist: dank seiner Werke, die "national" <strong>und</strong><br />

"universal" zugleich waren, dank seines grandiosen Geigenspiels <strong>und</strong><br />

charismatischen Dirigats <strong>und</strong> dank der unschätzbaren musikalischen Aufbauhilfe <strong>für</strong><br />

sein Land, in dem ein Konzertleben sich erst Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu<br />

entwickeln begann.<br />

Von Johannes Killyen<br />

(01. 02. 2007)<br />

In Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, wissen selbst Musikexperten<br />

wenig mit dem Namen Enescu anzufangen. Zwei Rhapsodien hat er<br />

geschrieben, zwei Reißer, die ins Blut gehen. Ein großer Geiger war er. Das<br />

fällt vielen noch ein. Und sonst? Sicher: Alle wichtigen Werke Enescus sind<br />

auf Tonträger gebannt <strong>und</strong> auch greifbar. Bekanntheit garantiert das jedoch<br />

nicht, in Zeiten einer schier grenzenlosen Verfügbarkeit von Musik. Wer sich<br />

dagegen über Enescu belesen will, wird auch nach längerer Recherche kaum<br />

eine handvoll Bücher finden, es sei denn, er (oder sie) ist des Rumänischen<br />

mächtig.<br />

In Rumänien war George Enescu zu Lebzeiten ein Held, obwohl oder gerade<br />

weil er die rumänische <strong>Kultur</strong> <strong>und</strong> Musik in seine Wahlheimat Paris <strong>und</strong> die<br />

großen Konzertsäle der Welt trug. Er galt als "nationaler" ebenso wie<br />

"universaler" Komponist, eine Verbindung, aus der in Rumänien gerne<br />

Denkmäler gemeißelt werden. Solch ein Denkmal ist Enescu spätestens<br />

nach seinem Tod vor 52 Jahren geworden: Geehrt durch ein gigantisches<br />

Festival, das ebenso seinen Namen trägt wie sein Geburtsort im Nordosten<br />

des Landes. Unangreifbar <strong>für</strong> die große Mehrheit der rumänischen<br />

Musikwissenschaftler ist er geblieben, <strong>und</strong> wohl auch ein wenig geliebt in<br />

der Bevölkerung – vor allem <strong>für</strong> seine Rhapsodien.<br />

Auf posthume Beliebtheit aber kam es Enescu, der 1888-1895 am<br />

Wiener Konservatorium Violine <strong>und</strong> Komposition (bei Joseph Hellmesberger<br />

junior <strong>und</strong> Robert Fuchs) studierte <strong>und</strong> schnell als W<strong>und</strong>erkind galt, gewiss<br />

nicht an. Er konnte zu Lebzeiten wie kaum ein Anderer über diese<br />

Beliebtheit verfügen, dank seines grandiosen Geigenspiels <strong>und</strong><br />

charismatischen Dirigats, dank der unschätzbaren musikalischen<br />

Aufbauhilfe <strong>für</strong> sein Land, in dem ein Konzertleben sich erst Ende des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zu entwickeln begann. Als Komponist dagegen agierte er –<br />

abgesehen von weniger bedeutenden Gefälligkeitswerken – weitgehend<br />

unabhängig. Um Aufführungen seiner Werke musste der Sohn eines<br />

orthodoxen Priesters, der ab 1895 in Paris studierte (bei Marsick, Massenet,<br />

Fauré <strong>und</strong> Gédalge), selten betteln. Denn wo immer er auftrat, konnte<br />

Enescu eigene Kompositionen aufs Programm setzen.<br />

- 60 -


Ein eigener Weg in die Moderne<br />

Die Eigenständigkeit seines kompositorischen Weges ist bemerkenswert:<br />

Ausgehend von Brahms (den er in Wien persönlich kennenlernte) <strong>und</strong><br />

Wagner, beeinflusst auch von der französischen Musik, fand Enescu einen<br />

spezifisch rumänischen Weg in die Moderne. Hatte er zu Beginn, unter<br />

anderem in den Rhapsodien op. 11, die Volksmusik auf geschickte, aber<br />

doch konventionelle Weise eingeb<strong>und</strong>en, gewann diese – meist gesungene –<br />

Volksmusik <strong>für</strong> seine Werke bald strukturelle Bedeutung. Béla Bartóks<br />

Aussage, "dass es nicht genügt, lediglich Motive der Bauernmusik oder<br />

Nachahmungen solcher Motive der Kunst einzuverleiben, (weil) das nur<br />

einen äußerlichen Aufputz bedeuten würde", gilt auch <strong>für</strong> Enescu.<br />

Es ist nicht nur die Exotik der Volksmusik, die er sich zunutze macht, es<br />

sind ihre Prinzipien – zum Beispiel das Primat der Melodie: In Enescus<br />

einziger Oper "Oedipe", aber auch in vielen anderen Werken, findet sich<br />

tonale neben bitonaler, modale neben vollkommen atonaler Harmonik, die<br />

nie Selbstzweck ist, sondern einem einzigen Ziel dient – den Charakter der<br />

Melodie zu wahren <strong>und</strong> zu betonen.<br />

Scheint es ihm anders nicht möglich, lässt Enescu das gesamte<br />

Orchester unisono aufspielen (in der ersten Orchestersuite op. 9 einen<br />

ganzen Satz lang), oft unterlegt er der Melodie nur Orgelpunkte oder<br />

Bordunquinten oder fächert sie in polyphoner Engführung auf in die<br />

Mehrstimmigkeit – das Prinzip der Heterophonie. All das hat der <strong>für</strong> seine<br />

Höflichkeit <strong>und</strong> lichte Fre<strong>und</strong>lichkeit bekannte Komponist der rumänischen<br />

Bauernmusik abgehorcht. All das <strong>und</strong> noch mehr: Den chromatischen<br />

Aufbau der zugr<strong>und</strong>e liegenden Tonleitern, den ungemein lyrischen<br />

Ausdruck <strong>und</strong> den rezitativartigen "langen" Gesang (cântec lung), der nie<br />

stagniert <strong>und</strong> voll Schmerz <strong>und</strong> Sehnsucht sein Ziel sucht.<br />

Dass die genannten Kompositionsprinzipien rumänischer Provenienz sind,<br />

ist Enescus Werken manchmal anzuhören – oft jedoch auch nicht. Den<br />

Schritt vom nationalen zum universalen Komponisten hat er souverän<br />

vollzogen.<br />

Symphoniker im Herzen<br />

Auch Lieder hat Enescu komponiert <strong>und</strong> Chorwerke, daneben große,<br />

hervorragende Kammermusik <strong>und</strong> eine Oper, "Ödipus", von erschlagender<br />

Wucht. Doch im Gr<strong>und</strong>e seines Herzens war der Lehrer Yehudi Menuhins<br />

Symphoniker: "Symphonisch ... ist die Bezeichnung, die ich <strong>für</strong> mein<br />

Lebenswerk beanspruche, in das ich meine ganze Seele gelegt habe. Aber<br />

wenn ich Symphoniker bin, dann heißt das, dass ich mich (nur) so<br />

ausdrücken kann, ohne Absicht." Mit "symphonisch" dürfte Enescu, der<br />

gerne blumig formulierte <strong>und</strong> ganz in romantischer Tradition davor<br />

zurückscheute, seine künstlerischen Mittel offen zu legen, wohl Folgendes<br />

gemeint haben: Den Umgang mit großen Formen <strong>und</strong> Klangkörpern, die<br />

Entwicklung aus autonomer musikalischer Motivation eher als die<br />

- 61 -


Orientierung an außermusikalischen Programmen oder dramatischen<br />

Vorlagen.<br />

Enescus offizieller Werkkatalog – mit den seiner Ansicht nach "gültigen"<br />

Kompositionen – enthält r<strong>und</strong> 40 Kompositionen, denen die Opuszahlen 1-<br />

33 zugeordnet sind. Viele sind <strong>für</strong> Orchester geschrieben: Eine konzertante<br />

Symphonie <strong>für</strong> Cello <strong>und</strong> Orchester (op. 8), zwei Rumänische Rhapsodien<br />

(op. 11), drei Orchestersuiten (op. 9, op. 20, op. 27), zwei Intermezzi <strong>für</strong><br />

Streicher (op. 12), das symphonische Poem "Vox Maris" (op. 31), eine<br />

Konzertouvertüre über Themen im rumänischen Volkscharakter (op. 32),<br />

eine Kammersinfonie <strong>für</strong> zwölf Instrumente als letztes Werk (op. 33),<br />

schließlich drei vollendete (op. 13, op. 17, op. 21) Sinfonien <strong>und</strong> zwei<br />

unvollendete (ohne Opuszahl), die der Komponist <strong>und</strong> Musikwissenschaftler<br />

Pascal Bentoiu vor einigen Jahren komplettiert hat.<br />

George Enescus populärste Werke sind zweifellos die erwähnten<br />

Rumänischen Rhapsodien op. 11 (1901/1902), zwei eingängige Reißer, die<br />

zwar hervorragend instrumentiert <strong>und</strong> dramaturgisch geschickt aufgebaut<br />

sind, aber doch arg das Klischee vom "Nationalkomponisten" bedienen. Nicht<br />

von ungefähr war Enescu unglücklich darüber, dass er stets <strong>und</strong> vor allem<br />

diese beiden Frühwerke mit ihren relativ oberflächlichen Folklorismen<br />

dirigieren sollte.<br />

Ende des Lebens<br />

George Enescu <strong>und</strong> Rumänien – sie sollten am Ende nicht mehr<br />

zusammenkommen. 1946 hatte der Meister sein Heimatland verlassen,<br />

offiziell, um nach langer Kriegszeit wieder einmal im Ausland zu<br />

konzertieren. Es wurde ein Abschied <strong>für</strong> immer <strong>und</strong> der einzige Weg, um der<br />

Vereinnahmung durch die neuen kommunistischen Machthaber zu<br />

entgehen. Diese ächteten wenig später den größten rumänischen<br />

Komponisten. Der Kritik von drittklassigen Tonsetzern im<br />

Komponistenverband folgte am Ende der Ausschluss: Werke Enescus<br />

wurden aus den Konzertprogrammen gestrichen.<br />

Schließlich aber die Versöhnung auf Distanz: Höfliche Einladungen aus<br />

Rumänien, Rehabilitation <strong>und</strong> öffentliche Verlautbarungen. Enescu, so hieß<br />

es, wünsche nichts sehnlicher, als noch einmal zurückzukehren ins Land<br />

hinter den Karpaten, auf den "Boden voller Sagen <strong>und</strong> Legenden", in dem er<br />

so tief verwurzelt war. "Ihr Herz bedarf in erster Linie der Wärme, mit der Sie<br />

das Volk erwartet, dem Sie Ihr ganzes Leben so ergeben gedient", schrieb<br />

Staatschef Petru Groza. Schließlich die Botschaft, die offiziell Gültigkeit bis<br />

1989 hatte: Die Krankheit lasse eine Heimkehr nicht zu.<br />

Nun war Enescu Anfang der 50er Jahre zwar körperlich mehr als<br />

angeschlagen, doch <strong>für</strong> Konzerte in New York <strong>und</strong> London reichte die Kraft<br />

allemal. Dennoch war eine Reise nach Rumänien <strong>für</strong> ihn nicht mehr<br />

denkbar. Er litt mit "seinem" Land, von dem er lange profitiert <strong>und</strong> dem er<br />

- 62 -


dann alles doppelt <strong>und</strong> dreifach zurückgegeben hatte. Doch sehen wollte er<br />

es nicht mehr. Am 4. Mai 1955 starb er im Vier-Sterne-Hotel Atala in Paris.<br />

Johannes Killyen (killyen@gmx.de), geboren 1971 in Kronstadt/Brasov als angehöriger der<br />

Siebenbürger Sachsen in Rumänien, mit den Eltern 1980 ausgewandert, in Baden-Württemberg<br />

aufgewachsen. Studierte ab 1993 in Münster, Cluj (Klausenburg) <strong>und</strong> Halle/Saale Musikwissenschaft,<br />

Französisch <strong>und</strong> Kunstgeschichte. Magisterarbeit über Enescus Oper "Oedipe" (Ödipus). Tätigkeit als<br />

Musikrezensent <strong>für</strong> Tages- <strong>und</strong> Fachpresse, im Jahr 2000 Volontariat bei der Mitteldeutschen Zeitung<br />

Halle, danach freier <strong>Kultur</strong>journalist. 2003 Pressesprecher der Evangelischen Landeskirche Anhalts in<br />

Dessau.<br />

Homepage<br />

www.suedost-musik.de<br />

- 63 -


Bucureşti / Bukarest<br />

Stadt der Kontraste<br />

Zwischen meinem ersten <strong>und</strong> letzten Spaziergang durch diese Stadt, in der ich<br />

aufgewachsen bin, liegen vierzig Jahre. Vieles hat sich nach der Revolution<br />

verändert,<br />

zum Guten <strong>und</strong> zum weniger Schönen. Doch die Calea Victoriei ist geblieben, das<br />

Athenäum, das Naturgeschichtliche Museum, das Kunstmuseum, der Königliche<br />

Palast, der Triumphbogen, der Herastrau-See, der Unirii-Platz, der<br />

Universitätsplatz, der Romana-Platz <strong>und</strong> vieles andere.<br />

Von Irina Wolf<br />

(01. 01. 2007)<br />

"Manchmal erinnere ich mich an die Zeiten <strong>und</strong> Menschen, die es in unserer<br />

Gegend gab, als ich mein Leben begann." Ungefähr so beginnt eines der<br />

schönsten Bücher des rumänischen Autors Ion Creanga: "Erinnerungen aus der<br />

Kindheit". So wie er blickt jeder von uns ab <strong>und</strong> zu auf seine Kindheit zurück.<br />

Meine spielte sich in der Hauptstadt Rumäniens, im Bukarest der 70er <strong>und</strong> 80er<br />

Jahre ab. Trotz des Kommunismus war es eine w<strong>und</strong>erschöne Zeit.<br />

Was wäre eine Stadt ohne Altstadtkern?! Ich kann mich sehr gut an das<br />

geheimnisvolle Viertel r<strong>und</strong> um die Ruine des alten Fürstenhofs des Vlad Tepes<br />

<strong>und</strong> die Lipscani Straße erinnern. Als Kind begleitete ich wöchentlich meine sehr<br />

elegante Mutter in diese Gegend zum Frisör. Anschließend landeten wir direkt<br />

auf der Lipscani Straße (benannt nach Händlern aus Leipzig), wo ich die Freude<br />

hatte, Salz- <strong>und</strong> Mohnbrezen zu essen. Da die Händler ihre Ware auf der Straße<br />

verkauften <strong>und</strong> mit lauter Stimme die K<strong>und</strong>en anzulocken versuchten, fühlte ich<br />

mich in dieser Gegend oft wie auf einem orientalischen Basar.<br />

Obwohl ich nicht glaube, dass meine Mutter ahnte, wo ich als Erwachsene<br />

leben würde, hatte sie die Inspiration, mich in die deutsche Schule zu schicken;<br />

eine ganz spezielle Schule im damaligen Bukarest: Eine Schule, in der Rumänisch<br />

Fremdsprache, von Russischlernen keine Rede war, wo Ordnung, Disziplin <strong>und</strong><br />

Gemeinschaftszugehörigkeit als Hauptmerkmale der Erziehung galten. Die<br />

Lehrer waren meistens Schwaben <strong>und</strong> Sachsen aus Rumänien. Heute leben wir<br />

alle, ehemalige Schüler <strong>und</strong> Lehrer, auf vielen Erdteilen verstreut, <strong>und</strong> trotzdem<br />

gibt es jährlich ein großes Treffen, sei es in Bukarest oder in Deutschland.<br />

Wie alle braven Eltern haben auch meine sich sehr um meine Freizeitaktivitäten<br />

gekümmert. So folgten der Reihe nach Ballett-, Tennis-, Schwimm-, Klavier- <strong>und</strong><br />

Malkurse. Die meisten davon fanden im Cotroceni Palast, dem heutigen<br />

Präsidentensitz, statt. Der Palast wurde 1888 vom Fürsten Carol I. im<br />

venezianischen Stil erbaut. Während meiner Kindheit war er der Palast der<br />

Pioniere, eine Kinder- <strong>und</strong> Jugendorganisation im Kommunismus. In Gedanken<br />

spaziere ich noch heute auf den Promenadenwegen durch den großen Garten<br />

zum Malkurs im Tal oder zum Klavierkurs den Hügel hinauf zum Palastgebäude.<br />

- 64 -


Wie viele andere Gebäude wurde leider auch der Cotroceni Palast beim<br />

großen Erdbeben 1977 zerstört. Damals war ich 14 Jahre alt <strong>und</strong> kann mich noch<br />

an die Nacht mit Vollmond erinnern. Mit einer Klassenkollegin fuhren wir nach<br />

der Schule nach Hause <strong>und</strong> bereiteten uns vor, noch <strong>für</strong> eine Prüfung zu lernen. Es<br />

kam aber nicht mehr dazu, zumindest nicht an diesem Abend. Das Wackeln des<br />

Lusters <strong>und</strong> das Krachen der Wände unserer Wohnung, in denen sich immer<br />

größere Risse zeigten, erschien mir endlos. Als endlich alles aufgehört hatte,<br />

waren auf dem Luster nur mehr drei von fünf Leuchten, der Strom war ausgefallen<br />

<strong>und</strong> das Telefon funktionierte nicht. Aber wir hatten überlebt. Viele hatten nicht<br />

so viel Glück. Es gab zahlreiche Tote <strong>und</strong> die Innenstadt war tagelang gesperrt.<br />

Zu Fuß schauten wir uns die Ruinen bekannter Hotels an <strong>und</strong> fuhren noch<br />

monatelang auf unserem Schulweg an Gebäuden vorbei, die saniert wurden.<br />

Zehn Jahre brauchte man, um den Cotroceni Palast zu renovieren. Leider wurde<br />

die von Stefan Cantacuzino 1679 errichtete Kirche, um die herum nachträglich der<br />

Palast gebaut wurde, 1985 vom Diktator Nicolae Ceausescu niedergerissen. 1995<br />

habe ich den Palast – inzwischen zu einem Museum umgewidmet – besichtigt. Der<br />

Gang durch den Eingangssaal, die prachtvolle Ehrenstiege hinauf <strong>und</strong> durch die<br />

Räumlichkeiten, wo die ehemalige königliche Familie gewohnt hatte, war<br />

beeindruckend.<br />

Es gibt zahlreiche Paläste in Bukarest, elegante Bauten der ehemaligen<br />

Bojaren. Die meisten wurden während der Herrschaft von Carol I. (1866-1914)<br />

errichtet <strong>und</strong> liegen an einer der wichtigsten Straßen Bukarests, der Calea<br />

Victoriei. Es sind das: der Cantacuzino Palast (heute das Museum des<br />

Komponisten George Enescu, ein w<strong>und</strong>erschönes Gebäude mit einem von<br />

Löwenstatuen bewachten Eingang), das Athenäum, der Königliche Palast<br />

(Wohnort des Königs Mihai bis 1947 <strong>und</strong> anschließend der kommunistischen<br />

Herrscher), das Senatsgebäude, der Palast der Post, der Militär-Club <strong>und</strong><br />

schließlich der monumentale CEC-Palast (Sparkassenzentrale).<br />

Von allen Kursen während meiner Kindheit haben die Malkurse den größten<br />

Eindruck hinterlassen, sodass ich das Bukarester Kunstmuseum, das in einem Teil<br />

des königlichen Palastes untergebracht ist, oft besuchte. Eine reiche<br />

Bildersammlung rumänischer Maler ist zu sehen, einige wenige seien hier<br />

erwähnt: Nicolae Grigorescu, Ion Andreescu, Stefan Luchian <strong>und</strong> Camil Ressu<br />

erwähnt, daneben Meisterwerke italienischer, holländischer <strong>und</strong> spanischer<br />

Künstler sowie spätbyzantinische Ikonen.<br />

Das Athenäum, ein beeindruckender Musiktempel mit klassizistischem<br />

ionischen Säulenportal, wurde 1885 vom Architekten Albert Galleron entworfen.<br />

Hinter der mit einem Dreiecksgiebel abgeschlossenen Vorhalle erhebt sich das<br />

eigentliche Konzerthaus, ein kuppelgedeckter R<strong>und</strong>bau. Vor dem Gebäude<br />

befindet sich die Statue des bekanntesten Dichters Rumäniens, Mihai Eminescu.<br />

Ich hörte in meiner Jugend im Athenäum, dem Sitz der Staatsphilharmonie<br />

George Enescu, viele Konzerte.<br />

Vor vielen Jahren hatte ich auch die Freude, anlässlich der Hochzeit meines<br />

Cousins den Militär-Club von innen zu erleben. In seiner Nähe, am<br />

- 65 -


Universitätsplatz, befinden sich ältere, beeindruckende Gebäude. Dieser galt in<br />

meiner Jugend als klassischer Treffpunkt, man traf sich entweder bei der Uhr<br />

oder beim "Pferdeschwanz". Mit Letzterem ist die Reiterstatue von Mihai Viteazul<br />

vor dem Universitätsgebäude gemeint. Die Universität, errichtet 1864, <strong>und</strong> der<br />

Platz r<strong>und</strong>herum mit dem 1895 gebauten Justizpalast, dem alten Rathaus <strong>und</strong> dem<br />

alten Parlamentsgebäude sind das Zentrum Bukarests.<br />

Heute ist jedoch das bekannteste Gebäude Bukarests das neue<br />

Parlamentsgebäude, eine Mega-Konstruktion auf 330.000 m 2 Fläche, die an die<br />

Vorstellungen des ehemaligen Diktators erinnert. Errichtet zwischen 1985 <strong>und</strong><br />

1989, ist es nach dem Pentagon das zweitgrößte Gebäude der Welt. Als ich 1991,<br />

nach drei Jahren Auslandsaufenthalt, nach Bukarest zurückkehrte, war dieser<br />

gigantische Bau <strong>und</strong> davor der endlos lange, mit Springbrunnen gestaltete<br />

Boulevard bis zum Unirii Platz einer der stärksten, nicht unbedingt positiven<br />

Eindrücke im neuen Bukarest. Erst fünfzehn Jahre später besuchte ich ihn bei<br />

einem R<strong>und</strong>gang. Die Geschichte (während der Baumaßnahmen waren 400<br />

Architekten <strong>und</strong> 20.000 Arbeiter beschäftigt) <strong>und</strong> die Ausstattung (Räume mit bis<br />

zu 2000 m 2 , Hallen <strong>und</strong> Galerien aus Marmor, Tausende Tonnen von Lustern,<br />

H<strong>und</strong>erttausende Tonnen von Bronze <strong>und</strong> Holz <strong>für</strong> monumentale Türen sowie<br />

Tausende Quadratmeter gold- <strong>und</strong> silberbestickter Samt- <strong>und</strong> Brokatvorhänge)<br />

sind beeindruckend. Daneben sind es immer auch die Kleinigkeiten, die einem<br />

auffallen, wie zum Beispiel die Schwierigkeit beziehungsweise Unmöglichkeit,<br />

das Gebäude insgesamt sauber zu halten, die Vorhänge zu säubern, die Türen<br />

neu zu streichen <strong>und</strong> die Luftballons, aus denen schon längst die Luft entwichen<br />

ist, von den hohen Lustern herunter zu holen. An diese Kleinigkeiten hat der<br />

ehemalige Diktator keinen Gedanken verschwendet.<br />

Wie in jeder Großstadt gibt es auch in Bukarest nicht nur Gebäude, sondern auch<br />

schöne Gärten <strong>und</strong> Parks, obwohl Bukarest heute weit entfernt ist von einer<br />

umweltfre<strong>und</strong>lichen, "grünen" Stadt. Gegenüber dem Cotroceni Palast befindet<br />

sich der Botanische Garten, durch den ich mit meinen Eltern oft spazieren<br />

gegangen bin. Sicherlich kennen manche von Euch das eigenartige Gefühl, nach<br />

vielen, vielen Jahren mit dem eigenen Kind die gleichen Wege zu gehen, den<br />

kleinen See mit den schönen Fischen <strong>und</strong> die vielen Blumen wiederzusehen.<br />

Ein w<strong>und</strong>erschöner Garten ist der Cismigiu, fast im Zentrum der Stadt,<br />

gegenüber dem Rathaus. Er wurde 1843 von Carl Meyer entworfen <strong>und</strong> grenzt an<br />

ein bekanntes Lyzeum, die Schule Gheorghe Lazar. Darin verbrachte ich meine<br />

letzten vier Jahre als Schülerin; durch den Garten liefen wir im Sportunterricht.<br />

Heute ist Cismigiu ein Schmuckstück Bukarests mit sehr gepflegten<br />

Blumenrabatten, alten Bäumen <strong>und</strong> einem See, auf dem man Ruderboot fahren<br />

kann. Die in der Schule am Cismigiu Park verbrachten Jahre erinnern mich auch<br />

an einen Novemberabend 1979, als ich eine Premiere erlebte: die Fahrt mit der<br />

ersten Bukarester U-Bahn. Obwohl ich mit meinen Schulkollegen damals nur eine<br />

Station gefahren bin, waren wir sehr stolz auf das neue öffentliche Verkehrsmittel.<br />

Der größte Park Bukarests ist Herastrau. Er befindet sich im nördlichen Teil der<br />

Stadt <strong>und</strong> umfasst circa 110 ha. Die Architekten Pinard <strong>und</strong> Rebhun haben die<br />

Pflanzen ausgewählt (zum Beispiel die Roseninsel sowie zahlreiche Büsche <strong>und</strong><br />

- 66 -


Bäume); der Einfluss der Gründer ist heute noch spürbar. Durch seine Größe<br />

bietet der Park sowohl Erholungsmöglichkeiten <strong>für</strong> Großeltern, die mit ihren<br />

Enkeln spazieren gehen oder eine Bootsfahrt auf dem Herastrau-See machen, als<br />

auch Sportmöglichkeiten <strong>für</strong> Tennisspieler <strong>und</strong> Inlineskater. In den zahlreichen<br />

Restaurants kann man lustige Abende verbringen; das älteste <strong>und</strong> größte ist "Die<br />

Möwe" am Seeufer.<br />

Diese grünen Flächen sind <strong>für</strong> mich im heutigen dynamischen, aber sehr<br />

hektischen Bukarest, das ein Ort des täglichen Verkehrschaos <strong>und</strong> der<br />

durchgängig geöffneten Geschäfte ist, wahre Oasen.<br />

Die Gegend r<strong>und</strong> um den Herastrau Park ist eine der schönsten <strong>und</strong><br />

wohlhabendsten Bukarests. Einer der Eingänge im Herastrau Park ist bekannt<br />

durch den Triumphbogen, der 1922 als Denkmal des Sieges rumänischer<br />

Truppen im Ersten Weltkrieg errichtet wurde. Ganz wie in Paris strömt auch hier<br />

der Verkehr von einer Reihe großer Straßen sternförmig auf den monumentalen<br />

Bogen zu.<br />

Ein paar sehenswürdige Museen grenzen an den Herastrau Park oder sind in<br />

der Nähe gelegen. Das Dorfmuseum ist eine besondere Attraktion. Es ist ein<br />

Freilichtmuseum, das Bauernhöfe aus allen Teilen Rumäniens vereint. In der Nähe<br />

befindet sich ein weiteres empfehlenswertes Museum, das naturgeschichtliche<br />

Museum "Antipa". Mein Sohn, der als Kind davon träumte, Paläontologe zu<br />

werden, hatte viel Freude bei der Entdeckung der Weichtiersammlung, die mehr<br />

als 110.000 Exemplare enthält, der Krebstiere mit 40.000 Exemplaren, oder der<br />

Fischsammlung mit 10.000 Exemplaren (Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere<br />

<strong>und</strong> Insekten).<br />

Trotz des Kommunismus war die Kunst in Bukarest sehr hoch geschätzt. Obwohl<br />

wir in den Theatern ziemlich froren (die Garderobe war leer, da nicht geheizt<br />

wurde, man empfahl uns, mit den Mänteln in den Saal zu gehen), war der Großteil<br />

der Theaterstücke <strong>und</strong> Konzerte ausverkauft. Bukarest besaß damals schon viele<br />

<strong>und</strong> sehr gute Theater mit hervorragenden Schauspielern. Für mich, wie auch <strong>für</strong><br />

mehrere meiner damaligen Schulkollegen, die heute im Ausland leben, ist ein<br />

Theaterbesuch in Bukarest bei einem "Heimbesuch" ein Muss. Und vielleicht wird<br />

gerade ein Stück gegeben, in dem ich einen meiner Lieblingsschauspieler aus<br />

meiner Jugend wieder sehen werde.<br />

Das wohl bekannteste <strong>und</strong> größte Theater ist das Nationaltheater, das sich am<br />

Universitätsplatz befindet <strong>und</strong> an das Hotel Intercontinental grenzt. In meiner<br />

Kindheit sah das Gebäude anders aus, es hatte einen "Hut" als Dach - "Caragiale’s<br />

Hut", benannt nach dem bekanntesten rumänischen Theaterschriftsteller Ion Luca<br />

Caragiale. 1973 wurde es renoviert <strong>und</strong> blieb ohne "Hut". Die Säle, Theaterstücke<br />

<strong>und</strong> selbstverständlich auch die Schauspieler glänzen aber im Nationaltheater<br />

noch immer.<br />

Eine Metropole wie Bukarest bietet eine große Auswahl an kulturellen <strong>und</strong><br />

kirchlichen Angeboten. Jedes Jahr werden neue Kirchen gebaut. Obwohl es<br />

während des Kommunismus nicht ratsam war, in der Nähe der Kirchen Bukarests<br />

- 67 -


gesehen zu werden, erinnere ich mich an die Osterzeit, zu der die<br />

Menschenmassen auf die Straßen strömten. Die Polizisten sicherten sogar die<br />

Gegend r<strong>und</strong> um die Kirchen zum Schutz der Menschen vor den Autos ab. Es ist<br />

Brauch im rumänisch-orthodoxen Glauben, in der Osternacht zur Messe zu gehen<br />

<strong>und</strong> um Mitternacht "Licht zu holen". Um diese Uhrzeit kommt der Priester aus der<br />

Kirche heraus, <strong>und</strong> jeder der Anwesenden nimmt Licht von einem Nachbarn <strong>und</strong><br />

gibt das Licht an den Nächsten weiter. Mit Staunen sah ich im Kommunismus zu,<br />

wie die Menschen dies taten <strong>und</strong> anschließend mit den brennenden Kerzen in<br />

Busse sowie die eigenen Autos stiegen oder zu Fuß nach Hause gingen. Diese<br />

scheinbare Religionsfreiheit konnte nicht verhindern, dass 1987 eine der<br />

bekanntesten Kirchen Bukarests niedergerissen wurde.<br />

Die "Heilige Freitag", die Kirche der Auferstehung, die Beschützerin<br />

Bukarests, war eine schöne Kirche. Ich bekam sie während meiner Kindheit oft<br />

von Außen zu sehen, da sie sich in der Nähe der Wohnung meiner Paten befand,<br />

zu denen wir oft auf Besuch gingen. Das Ceausescu-Paar war bekannt da<strong>für</strong>, dass<br />

es auf seinen Fahrten durch Bukarest keine Kirchen sehen wollte. Daher<br />

versuchten die Architekten zuerst, alle Kirchen "nach innen", das heißt von der<br />

Straßenseite weg zwischen die Wohnhäuser zu versetzen. Bei manchen<br />

funktionierte das aber nicht. So auch bei der "Heiligen Freitag"-Kirche, die<br />

niedergerissen wurde. 2000 Leute waren anwesend <strong>und</strong> schleuderten dabei ihren<br />

Fluch gegen die damalige Regierung. Gott sei Dank ist der historische Bau der<br />

Erzbischofskathedrale erhalten geblieben.<br />

Das war nur ein kurzer Bericht, ein paar wenige Gedanken. Vierzig Jahre sind<br />

vergangen <strong>und</strong> nur drei Monate seit meinem ersten <strong>und</strong> bisher letzten<br />

Spaziergang durch Bukarest. Nach der Revolution hat sich vieles verändert, zum<br />

Guten <strong>und</strong> zum weniger Schönen. Doch die Calea Victoriei ist geblieben, das<br />

Athenäum, das Naturgeschichtliche Museum, das Kunstmuseum, der Königliche<br />

Palast, der Triumphbogen, der Herastrau-See, der Unirii-Platz, der<br />

Universitätsplatz, der Romana-Platz usw. Alle Erinnerungen können aufgefrischt<br />

werden <strong>und</strong> darüber hinaus ist noch viel Neues zu entdecken.<br />

Auch gute Architekturmodelle (z.B. das neue Novotel, World Trade Plaza) sind zu<br />

sehen. Doch der Parlamentspalast sprengt alle Grenzen. Schade, dass viele<br />

schöne Bauten der Belle Epoche zerfallen, da die Mittel zur Restaurierung fehlen.<br />

Irina Wolf (wolfirina@yahoo.com) wurde in Bukarest geboren. Nach Abschluss ihres<br />

Informatikstudiums kam sie 1988 durch ein Herder-Stipendium nach Wien. Nach mehreren Jobs im<br />

Telekommunikations- <strong>und</strong> Forschungsbereich wechselte sie 1993 in den Handelsbereich. Seitdem<br />

arbeit sie bei der Friedrich Wilhelm GmbH & Co.KG <strong>und</strong> hält weiterhin engen Kontakt mit Rumänien.<br />

- 68 -


...<br />

Wie man schwarze Augen trägt<br />

Wenn die Klischees zu Bildern werden<br />

.<br />

Von Teresa Präauer<br />

(01. 01. 2007)<br />

...<br />

Teresa Präauer: Aus: Drei "Kopftuchköpfe". 40 x 40. Buntstift, Tusche, Aquarell/Papier. 2006<br />

Wie man schwarze Augen trägt<br />

wenn die Klischees zu Bildern werden<br />

Beim Blättern durch alt gewordene rumänische Reiseliteratur entdecke<br />

ich sie immer <strong>und</strong> immer wieder: beispielsweise die rosenrankenden<br />

Tuchmuster, die die Frauenköpfe ummanteln. Die einen Rahmen bilden<br />

um ein Augenpaar, das sich entdeckt fühlt, im Vorüberfahren noch<br />

einmal skeptisch blinzelt oder aber bereitwillig grinst, sich zeigt <strong>und</strong><br />

- 69 -


ausstellt: den Frauenkörper, in Pose geworfen <strong>und</strong> ausgestattet mit<br />

einem Kopftuch als stereotyp gewordenes Accessoire des<br />

Rückständigen, als unmodisches Attribut unserem Blick längst lästig.<br />

Das Kopftuch steht nicht immer oder schon lang nicht mehr <strong>für</strong><br />

Schmuck, sondern <strong>für</strong> Arbeit <strong>und</strong> Zweckmäßigkeit, <strong>für</strong> unschicken<br />

Schutz vor Wind <strong>und</strong> Wetter, auch: <strong>für</strong> das weibliche Sich-Verstecken,<br />

Sich-Anschmiegen, Sich-Einpassen in eine Gesellschaft, in der der<br />

Mann das Lenkrad von Fortschrittlichkeit <strong>und</strong> Mobilität in seiner Hand<br />

hält. Und hier fällt mir eine zweite Abbildung ein, die <strong>für</strong> das Rumänien<br />

der Reiseführer als Metapher gelten könnte: ein Pferdefuhrwerk, dessen<br />

klobige Räder das Gehäuse, die Blech-Ummantelung eines Autos ohne<br />

Fahrgestell tragen. Am Lenkrad sitzt ein frecher Kerl, der, von seinen<br />

Kumpanen flankiert, die Straße einer Ortschaft entlang rattert, wie um<br />

sein Besitztum öffentlich zu machen. Diese neue Hülle über altem<br />

Werkel könnte aber nicht nur dazu dienen, politisch-wirtschaftlichgesellschaftliche<br />

Bedingungen von Fortschritt <strong>und</strong> Fortschreiten zu<br />

illustrieren, sondern ihre Frage an die Bildhaftigkeit selbst zu stellen:<br />

Das Klischee hat als Werkzeug des mechanischen<br />

Vervielfältigungsprozesses die Vormachtstellung über die Form des<br />

gedruckten Abbilds. Es fragt, so scheint es mir in der beschriebenen<br />

Abbildung, <strong>für</strong> welche neuen Bildvorlagen wir unsere alten entsorgen.<br />

- 70 -


...<br />

Teresa Präauer: Aus: Drei "Kopftuchköpfe". 40 x 40. Buntstift, Tusche, Aquarell/Papier. 2006<br />

.....<br />

Sodann: In dem entsorgten Material der aus der Mode gekommenen<br />

Bilder kann nun die mit einem Pinsel bewaffnete Hand fischen <strong>und</strong><br />

finden. Dort, wo die Klischees entsorgt sind, befriedet sind, sich nicht<br />

mehr als Hingucker andienen. – Aber hier ist noch etwas aufgeladen!<br />

Und da schlägt die fette Farbspur der Erinnerung durch, <strong>und</strong><br />

manchmal bemerkt man, dass das entsorgte Bild, wo es als Paus-<br />

Papier über dem aktuellen, zeitgemäßen zu liegen kommt, noch<br />

gemeinsame Konturen findet.<br />

Einen Dienst an der Erinnerungsarbeit, die Denken ist, scheint auch<br />

die Mode, prêt à porter et traduire, zu leisten, wenngleich sie sich <strong>für</strong><br />

den kuscheligen Teil der Arbeit entscheiden darf: sie nimmt sich die<br />

Zeichen ohne Rücksicht auf deren Bedeutung. Im Winter 2006/07<br />

führen bestickte Felljacken <strong>und</strong> Reiterstiefel vorindustriell anmutenden<br />

Osteuropa-Schick in der Wiener Innenstadt spazieren.<br />

Das Schönste bei der Weihnachtsmesse im ländlichen Oberösterreich<br />

der 50er <strong>und</strong> 60er Jahre sei es gewesen, nach der Bescherung alle<br />

- 71 -


Köpfchen durchzuzählen <strong>und</strong> dabei zu prüfen <strong>und</strong> zu entdecken, wie<br />

denn das jeweils neue Tüchel der Fre<strong>und</strong>in oder Nachbarin aussähe,<br />

erzählt mir meine Mutter schmunzelnd. Ich stelle mir das als großes<br />

buntes Ornament der floral-geometrischen Neuigkeiten vor, von oben<br />

gesehen ein Teppich aus Locken, Tüchern, Mustern, Bändern über den<br />

kalten, steinernen Boden der Landkirche gestreut.<br />

Dort entsteht – bei mir, in meiner Arbeit –, ganz nostalgiefrei, eine Lust,<br />

alles, was es gibt <strong>und</strong> was geboten wird, als Bild aus Struktur <strong>und</strong><br />

Form zu betrachten. Im neuen <strong>und</strong> alten Abbilder-Müll zu stöbern <strong>und</strong><br />

herauszuziehen, was noch leuchtet. Und dort hinzuhören, wo Sprache<br />

zischt <strong>und</strong> Rhythmus hat <strong>und</strong> sich die Bilder zu den Worten gesellen<br />

<strong>und</strong> umgekehrt. Wo sie in der Vorstellung tief farbig werden, satt an<br />

Farbe. Dort hinzuhören, wo das Bild zu sprechen beginnt <strong>und</strong><br />

beispielsweise etwas beschreibt vom Ausstaffieren der menschlichen<br />

Figur, sodass der Körper wieder seinen Weg heraussuchen muss aus<br />

dem Stoff <strong>und</strong> überall hervorbricht, wo eine Öffnung vom Spitzensaum<br />

vorgegeben <strong>und</strong> eingefasst worden ist.<br />

...<br />

- 72 -


Teresa Präauer: Aus: Drei "Kopftuchköpfe". 40 x 40. Buntstift, Tusche, Aquarell/Papier. 2006<br />

...<br />

Dass die Menschen auf diesen Bildern wie Berge sind, Tuchhügel mit<br />

Gesichtswald voller Lebensbäume <strong>und</strong> Lippen-Wall, rot gekennzeichnet.<br />

Hier ist es vielleicht, das Gesicht, ganz "Wüstenhochebene, sehr<br />

bewegt, pathetische schr<strong>und</strong>ige Wirbel, Flammen, drinnen, vertufft",<br />

wie der rumänische Dichter Caius Dobrescu schreibt. Es sind<br />

Skulpturengesichter mit Turmfrisuren, von Blumentüchern umknotet,<br />

mit Spangen am Haar gehalten. Es ist schwarzer Rock- <strong>und</strong><br />

Kopftuchstoff mit leuchtend pinken Rosen, die aus Frauen Kegelfiguren<br />

<strong>und</strong> aus ihren umrissenen Köpfen Trapezformen machen, ein ganzes<br />

Schlemmer-Ballett der Bindebänder <strong>und</strong> Wickelschürzen um<br />

Menschenmitten mit kostbaren Seidenquasten. Auftritt der Filzhut als<br />

Kopfputz mit Pfauenfederbuschschmuck, die Hemden, an Ärmeln<br />

gefaltet, der Brustpelz aus Schafsfell zu Tuchhosen, Strümpfen,<br />

Schaftstiefeln. Das Tuch, das die Trägerin selbst zum eckigen Zeugstück<br />

macht. Die erstarrte Pose <strong>für</strong>s Bildquadrat <strong>und</strong> ihre Sammlung der<br />

Farbigkeiten <strong>und</strong> Menschenblicke <strong>und</strong> Tuchmuster. Aus all dem<br />

Abgelegten blickt eins aus dem Plissee der Farbschichten: schöner ein<br />

Gesicht, wie Klopstock singt, <strong>und</strong> dies tut es stets gegenwärtig.<br />

Anmerkungen<br />

...<br />

Der Titel "Wie man schwarze Augen trägt" verweist auf das "Taschenpoem" von<br />

Filip Brunea-Fox, übersetzt von Ernest Wichner in der Lyrik-Anthologie "Auf der<br />

Karte Europas ein Fleck". Zürich. 1991. (= Ammann)<br />

Einige Gedichte von Caius Dobrescu sind nachzulesen in einem Buch über "Poesie<br />

aus Rumänien": "Ich ist ein andrer ist bang", herausgegeben von Gregor Laschen.<br />

Der vorliegende Text "wie echt" ist übersetzt von Werner Dürrson. Bremerhaven.<br />

2000. (= edition die horen)<br />

Teresa Präauer, Studium der Germanistik in Salzburg <strong>und</strong> Berlin & Bildende Kunst in<br />

der Malereiklasse am Salzburger Mozarteum. Lebt als Bildende Künstlerin in Wien.<br />

Ausstellungen, Stipendien (bm:bwk), Ankauf (BKA), Preis (Land Oö.). Publikationen u.a.<br />

in: SALZ. Zeitschrift <strong>für</strong> Literatur. Heft 123, März 2006.<br />

- 73 -


Drei Gedichte<br />

.<br />

Von Erika-Elisabeth Mureşan<br />

(01. 01. 2007)<br />

Ein Augenblick<br />

zart-frisches Leben mein Geschenk an dich<br />

ist die Zeit eine Gabe an sich ist<br />

der Impuls Freiheit<br />

vielleicht<br />

staunt man viel oder<br />

liebt man zu selten das Menschliche in<br />

uns ist taub-stumme Faszination<br />

Ein Nahblick<br />

unwichtig<br />

grasgrüne Haut<br />

erhobene baumfrische Hügel<br />

so individuell <strong>und</strong> ganz<br />

mein<br />

Ein Orientierungsblick<br />

welches menschliche Gesicht welche<br />

Masken der Straßen<br />

welche Asphaltschritte welche<br />

Richtungsgedanken<br />

welcher Befreiungspuls welche<br />

Wortnuancen<br />

welches Du welches<br />

Ich<br />

Erika-Elisabeth Mureşan (erika.em@web.de), geboren am 20. Dezember 1983,<br />

siebenbürgisch-sächsischer Herkunft. Seit 2003 Studentin der Germanistik <strong>und</strong> Anglistik<br />

an der Babeş-Bolyai Universität in Klausenburg (Rumänien). Mitarbeit am Wörterbuch zur<br />

Zeitschrift "Echinox" unter der Leitung von Lektor Horea Poenar (2005). Veröffentlichung<br />

in der österreichischen Zeitschrift DUM (2005).<br />

- 74 -


Neue Reiselust gen Osten<br />

Tourismus <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>politik in der Westukraine<br />

...<br />

Es bleibt zu hoffen, dass sich zahlreiche engagierte <strong>und</strong> mutige Menschen<br />

finden, die auch der Grenzregion der südlichen Westukraine/Rumäniens eine<br />

Chance<br />

geben, sich zu entwickeln <strong>und</strong> zu wachsen. Der Reichtum an Sehenswürdigkeiten<br />

ist ein großer, den es zu entdecken <strong>und</strong> zu erleben gilt.<br />

Von Brigitte Macaria<br />

(01. 02. 2007)<br />

Sehr bald nach dem Fall des Eisernen Vorhanges wurde <strong>für</strong><br />

europäische, vor allem aber <strong>für</strong> außereuropäische, besonders USamerikanische<br />

<strong>und</strong> japanische Touristen, der Besuch des Städtedreiecks<br />

Wien-Budapest-Prag zu einer beliebten Reiseroute. In den letzten Jahren<br />

erweiterte sich dieses Dreieck <strong>für</strong> viele um die polnische Stadt Krakau, deren<br />

kultureller Reichtum das zentraleuropäische Mosaik um einige interessante<br />

Facetten erweitert <strong>und</strong> abr<strong>und</strong>et. Dem vorausgegangen waren enorme<br />

Anstrengungen zur Renovierung <strong>und</strong> Modernisierung der alten<br />

Residenzstadt der polnischen Könige. Dass in derselben historischen Region,<br />

jedoch von Krakau durch eine Staatsgrenze getrennt, eine weitere Stadt mit<br />

ähnlicher kultureller Bedeutung liegt, blieb vielen Touristen zwar vielleicht<br />

nicht verborgen, war jedoch wegen der lange Zeit schlechteren<br />

Erreichbarkeit meist nicht konkret erfahrbar. Die Rede ist hierbei von der<br />

alten Hauptstadt des ehemaligen K&K Kronlandes "Königreich Galizien <strong>und</strong><br />

Lodomerien" – Lemberg.<br />

Lemberg: Alte Handelsstadt <strong>und</strong> UNESCO-Weltkulturerbe<br />

Lemberg <strong>und</strong> ihre touristischen Reichtümer laden in den letzten Jahren<br />

vor allem kulturhistorisch interessierte Reisende (beziehungsweise<br />

Personengruppen mit biografischen Bezugspunkten zu dieser Region)<br />

zunehmend zu einer vielfältigen Entdeckungstour ein:<br />

Lemberg (poln.: Lwów, ukr.: L´viv), jene Stadt, die anlässlich ihrer<br />

Gr<strong>und</strong>steinlegung durch Fürst Danylo Halytskyj im Herbst 2006 ihr 750jähriges<br />

Jubiläumsfest feierte, liegt an den Schnittlinien verschiedener<br />

Herrschaftsräume <strong>und</strong> Sprachen. Dieser Diamant Osteuropas ist in vielerlei<br />

Hinsicht eine wahre Schatzkammer, die sich vor Vergleichen mit Krakau,<br />

Prag, Wien oder Budapest nicht zu scheuen braucht. Lemberg ist mit seinen<br />

über 2000 historischen, architektonischen <strong>und</strong> kulturellen Denkmälern ein<br />

Museum unter freiem Himmel. Der Stadtkern, welchem 1998 von der<br />

UNESCO der Weltkulturerbe-Status verliehen wurde, stammt aus der frühen<br />

Neuzeit <strong>und</strong> birgt vor allem Schätze aus der Renaissance <strong>und</strong> dem Barock.<br />

Neben den Kirchen <strong>und</strong> Bürgerhäusern der ehemals reichen Handelsstadt,<br />

am Kreuzungspunkt von Verkehrswegen zwischen Ostsee, Mittelmeer <strong>und</strong><br />

- 75 -


Schwarzem Meer, besitzt die Stadt über 20 nennenswerte Museen, welche<br />

über die Ukraine hinaus von Bedeutung sind.<br />

An erster Stelle steht zweifellos die Lemberger "Gemäldegalerie". Diese<br />

kann seit 2004 – neben dem bisherigen Ausstellungsgebäude in der<br />

Stefanyk-Straße – auch im ehemaligen Stadtpalais der Fürsten Potocki einen<br />

Teil ihrer Schätze präsentieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf<br />

Renaissance <strong>und</strong> Barock.<br />

Der mit 44 historisch bedeutenden Gebäuden eingefasste historische<br />

Marktplatz (Rynok) präsentiert sich in einer farbenprächtig restaurierten<br />

Fassadenfront aus Renaissance- <strong>und</strong> üppigen Barockbauwerken. Ebenfalls<br />

am Hauptplatz liegt das großzügig dimensionierte Apothekenmuseum; dieses<br />

zeigt mehrgeschossig das alchimistisch anmutende Schaffen <strong>und</strong> Tun der<br />

Pharmazeuten der letzten Jahrh<strong>und</strong>erte. Auch heute findet sich ein aktiver<br />

Apothekenbetrieb in diesem Gebäude.<br />

Von der letzten Ruhestätte zum Museum<br />

Der Lyčakivs'ke-Friedhof erzählt in teilweite prunkvollen<br />

Grabmonumenten dem Besucher von seinen österreichischen, deutschen,<br />

polnischen <strong>und</strong> ukrainischen Dauergästen. Der große ukrainische<br />

Schriftsteller Ivan Franko fand hier ebenfalls in einem Ehrengrab seine letzte<br />

Ruhestätte. Von der Gr<strong>und</strong>steinlegung im letzten Drittel des 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts bis heute wurden über 300.000 Gräber, Grabplatten <strong>und</strong><br />

Gruftinschriften angelegt, die dem Besucher von einer bewegten Geschichte<br />

der Stadt <strong>und</strong> ihrer Bewohner erzählen. Dieser historisch bedeutende<br />

Friedhof gilt zu Recht als einer der sehenswertesten <strong>und</strong> ältesten Europas.<br />

Die kunstvollen Steinmetz- <strong>und</strong> Bildhauerarbeiten vermitteln<br />

Museumscharakter; zudem werden seit 1975 nur mehr in absoluten<br />

Ausnahmefällen Beisetzungen verzeichnet. Seit 1991 hat dieses Areal<br />

Museumsstatus erlangt.<br />

Das Freilichtmuseum im "Kaiserwald"<br />

Unweit des Friedhofes findet sich eine vergleichsweise lebensbejahende<br />

erwandernswerte Sehenswürdigkeit Lembergs: Das weitläufige Museum <strong>für</strong><br />

Volksarchitektur <strong>und</strong> Lebensweise liegt im waldig-hügeligen Areal des alten<br />

Kaiserwaldes, heute Ševčenko- Wäldchen genannt. In Erinnerung an einen<br />

Besuch des Kaisers im Jahre 1780 war seinerzeit die Bezeichnung<br />

"Kaiserwald" geprägt worden; interessanterweise wird diese<br />

altösterreichische Benennung von vielen Lembergern immer noch<br />

verstanden.<br />

Inmitten dieses bewaldeten Areals liegt nun das großzügig angelegte<br />

Freilichtmuseum: Über 120 meist aus Holz gefertigte Gebäude –<br />

Bauernhäuser, Stallungen, Mühlen, Holzkirchen, ein Schulhaus <strong>und</strong><br />

Taubenhäuser aus der gesamten westukrainischen Region – werden auf 50<br />

ha Fläche gezeigt. Besondere Beachtung verdienen die Bauten der<br />

- 76 -


Karpatenregion, namentlich jene der Bojken, Lemken <strong>und</strong> Huzulen, da sie<br />

vor dem endgültigen Entschwinden zumindest in Museumskreisen bewahrt<br />

werden können. Die ältesten Objekte reichen bis in die erste Hälfte des 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zurück <strong>und</strong> ein Großteil ist <strong>für</strong> den Besucher geöffnet <strong>und</strong><br />

präsentiert rustikales Interieur. Viele der Hausgärten werden aktiv betreut,<br />

dadurch entsteht ein besonders lebhaftes Flair <strong>für</strong> den Besucher.<br />

Möglichkeiten des organisierten Tourismus in Lemberg<br />

Den Individualreisenden ohne ausreichende kyrillische Sprachkenntnisse<br />

kommen die ortsansässigen Produzenten ausgezeichneter<br />

Informationsmaterialien entsprechend entgegen. Meist sind die<br />

Informationsbroschüren, Bücher <strong>und</strong> Stadtpläne in englischer oder sogar<br />

deutscher Sprache abgefasst <strong>und</strong> können in den städtischen Museen im<br />

Zentrum erworben werden. Sogar ein Informationsbüro besteht seit einigen<br />

Jahren, wenngleich es von seinem ursprünglichen zentralen Platz im<br />

Rathaus zur etwas weniger frequentierten Stelle im äußeren Bereich der<br />

Stadtmauer ausweichen musste. Derzeit ist das Tourismusbüro eine private<br />

Institution mit durchaus westlichen Qualitätsansprüchen. Die<br />

internationalen Sprachkenntnisse der fre<strong>und</strong>lichen Mitarbeiter sind sehr<br />

erfreulich.<br />

Eine nachwirkende multikulturelle Vergangenheit<br />

Im architektonischen Erbe allein liegt nicht das ganze Geheimnis der<br />

Attraktivität von Lemberg. Es ist seine kulturelle Vielfalt – sichtbar in den<br />

verschiedenen Sprachen <strong>und</strong> Religionen der Bewohner dieser Stadt – welche<br />

schon in der Vergangenheit Verbindungen zu verschiedenen Teilen Europas<br />

hergestellt hat. So spielt die Stadt nicht nur in der ukrainischen, sondern<br />

auch in der polnischen, österreichischen sowie in der sowjetischen<br />

Geschichte eine bedeutende Rolle. Daraus resultiert das besondere Interesse<br />

von Ukrainern, Russen, Polen, Österreichern <strong>und</strong> damit auch des gesamten<br />

deutschsprachigen Raums <strong>für</strong> die ehemals östlichste Region der K&K-<br />

Donaumonarchie.<br />

So erfreut sich etwa die im Norden der Altstadt gelegene "Österreich-<br />

Bibliothek" großer Beliebtheit. Dort werden deutschsprachige Filme im<br />

Originalton gezeigt, Fachbücher sowie Belletristik eifrig verborgt <strong>und</strong> ein<br />

reger kultureller Austausch zwischen Lembergern <strong>und</strong> deutschsprachigen<br />

Personen vor Ort gepflegt. Weiters findet sich der verlängerte Arm der<br />

Österreich-Kooperation in einem Institutsraum des Obergeschoßes der<br />

Lemberger Universität. Die größte Buchmesse der Ukraine findet ebenfalls in<br />

Lemberg statt.<br />

Apropos Bücher - Das „Lemberger Buchforum" bietet über 700 Verlagen die<br />

Möglichkeit sich einer interessierten Besucherschaft von über 60.000<br />

Interessenten zu präsentieren.<br />

- 77 -


Die Überschneidungen von unterschiedlichen <strong>Kultur</strong>en <strong>und</strong> Religionen<br />

während der vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erte in der Westukraine sind den<br />

meisten Landesinteressierten vor allem aus der Literatur bekannt. Galizien<br />

<strong>und</strong> die Bukowina waren ja ein umfassender religiöser <strong>und</strong> linguistischer<br />

"melting pot".<br />

Der jüdische Anteil an der Geschichte Lembergs <strong>und</strong> der Westukraine ist<br />

auch <strong>für</strong> weniger involvierte Beobachter unübersehbar.<br />

Die Städte Czernowitz, Ivano-Frankivs’k (zur Zeit der Donaumonarchie<br />

"Stanislau" benannt), Čortkiw sowie Kolomea bieten bildungsinteressierten<br />

Reisenden die Möglichkeit, sich verschiedene <strong>Kultur</strong>en zu erschließen <strong>und</strong><br />

den Lebenswelten berühmter Persönlichkeiten wie Rose Ausländer, Paul<br />

Celan, Wasilj Stefanyk, Karl Emil Franzos, Bruno Schultz, Mihai Eminescu<br />

<strong>und</strong> vieler anderer nachzuspüren. Von großer Attraktivität <strong>für</strong> den kultur-<br />

<strong>und</strong> bildungsinteressierten Touristen sind auch die volkskulturell<br />

nennenswerten Besonderheiten der Westukraine.<br />

Hoffnungsträger UNESCO?<br />

Wie die erfolgreichen Bemühungen um die Aufnahme der Altstadt von<br />

Lemberg in das UNESCO-Weltkulturerbe-Verzeichnis <strong>und</strong> die diesbezüglich<br />

laufenden Bemühungen von Czernowitz zeigen, sind sich die<br />

Verantwortlichen der Bedeutung des kulturellen Erbes bewusst. Darauf<br />

weisen auch die konkreten Schritte zur Revitalisierung der alten<br />

Adelsschlösser im Umkreis von Lemberg hin: Während das Schloss Oles’ko<br />

bereits in der sowjetischen Periode <strong>für</strong> Ausstellungen genutzt wurde, sollen<br />

nun weitere Schlösser revitalisiert <strong>und</strong> als touristisches Gesamtpaket<br />

entsprechend beworben werden.<br />

Von einem ähnlichen Wunsch, sich in kulturpolitischem Weitblick zu üben,<br />

zeugt die partielle Neugestaltung des Volksk<strong>und</strong>emuseums von Kolomea.<br />

Dieses im Kernland der Huzulenkultur gelegene Städtchen befindet sich im<br />

südlichen Karpatenbogen unweit der rumänischen Grenze.<br />

Die Karpaten <strong>und</strong> die ihnen westlich <strong>und</strong> östlich vorgelagerten Landschaften<br />

sind äußerst reizvoll <strong>und</strong> gut <strong>für</strong> den klassischen Erholungs- <strong>und</strong><br />

Wandertourismus geeignet. Die Region bietet zahlreiche Möglichkeiten <strong>für</strong><br />

Winter- <strong>und</strong> Sommersport. Alteingesessene Thermalkurorte wie Truskavec’<br />

oder Moršin stehen ganzjährig in Betrieb <strong>und</strong> hatten ihre Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />

bereits im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Die Einrichtungen des Sport- <strong>und</strong><br />

Erholungstourismus sprechen in erster Linie Gäste aus der Ukraine <strong>und</strong> den<br />

anderen ehemaligen Sowjetrepubliken an. Langfristig gesehen sollen aber<br />

auch Gäste aus dem Westen <strong>für</strong> die Karpatenregion interessiert werden.<br />

Eine der ersten Studien bezüglich des touristischen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Potenzials der Karpatenregion wurde bereits 1999 gemeinsam mit<br />

Projektpartnern aus dem EU-Raum abgewickelt. (Es folgten auch weitere<br />

theoretische Studien). Der im Folgenden näher bezeichnete touristische<br />

- 78 -


Marktauftritt der fünf Karpatenregionen ist das Resultat aus einer Studie<br />

der neunziger Jahre mit einem irländischen Projektpartner:<br />

Theorie <strong>und</strong> Praxis einer Tourismusstudie<br />

"Euro-Region" – bald mehr als ein Begriff?<br />

Die aktuelle Entwicklungspolitik der Westukraine steht in<br />

Zusammenhang mit dieser Tourismusstudie. Dabei wurden zwölf mögliche<br />

weitere touristische Vorgehensweisen erarbeitet. Kernziel war dabei auch die<br />

Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten des touristisch orientierten<br />

Managements vor Ort. Mit dem Überbegriff "Euro-Region" werden<br />

verschiedene länderübergreifende Interessen <strong>und</strong> Projekte formuliert. Diese<br />

Region umfasst alle Länder, die an den Karpaten geografisch Anteil haben.<br />

In der hierarchisch untergeordneten "Mikro-Karpaten-Region" sind die fünf<br />

im Folgenden näher beschriebenen westukrainischen Gebiete<br />

zusammengefasst. Ihre Koordinierung erfolgt durch den "Karpatenrat" in<br />

Iwano Frankiwsk.<br />

Der Versuch eines gemeinsamen Marktauftrittes der fünf<br />

westukrainischen Verwaltungsgebiete der "Karpatenregion"<br />

Als erste Ansätze einer gebietsübergreifenden Tourismusförderung<br />

treten die fünf Verwaltungsgebiete Lemberg, Ivano-Frankivs’k, Užhorod,<br />

Ternopil’ <strong>und</strong> Czernowitz unter der Marke "Karpatenregion" gemeinsam auf.<br />

Der geschlossene Auftritt bei namhaften Tourismusmessen im In- <strong>und</strong><br />

Ausland vermittelt bereits eine gute Idee, wie vernetzt angedachter Sport-<br />

<strong>und</strong> Bildungstourismus künftig aussehen könnte. Die gesamte Region ist<br />

auch <strong>für</strong> das Nischenprodukt "Grüner Tourismus" bestens geeignet. Am<br />

ehesten ist dies vergleichbar mit den deutschsprachigen, zunehmend<br />

beliebter werdenden Begriffen "Erlebnisurlaub am Land" <strong>und</strong> "Urlaub am<br />

Bauernhof". In Ivano-Frankivs’k entschloss man sich daher, eine<br />

gemeinsame touristische Anlauf- <strong>und</strong> Koordinationsstelle einzurichten.<br />

Dieser gemeinsame Marktauftritt – mit Unterlagen in englischer Sprache –<br />

darf als erster relevanter Schritt gesehen werden, auch einem des<br />

Kyrillischen unk<strong>und</strong>igen Publikum die Region der Westukraine besser<br />

erschließbar zu machen.<br />

Eine objektive Beurteilung des Entwicklungsstandes der westukrainischen<br />

Tourismuswirtschaft ist unverändert schwierig einzustufen: Die<br />

Bewertungsparameter <strong>für</strong> Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg gilt es mittel- <strong>und</strong> langfristig<br />

vor Ort zu erarbeiten.<br />

Erkennen <strong>und</strong> Beleben des kulturellen Potenzials<br />

Im Umland von Lemberg finden sich die sehenswerten, historisch<br />

bedeutenden Schlossanlagen Oles’ko, Žovkva, Svirž <strong>und</strong> Pidhirci. Das<br />

Städtchen Žovkva beispielsweise bietet dem achtsamen <strong>und</strong> interessierten<br />

Besucher eine baulich äußerst interessante Palette: Ein Klosterkomplex,<br />

- 79 -


heute von einer polnischen Nonnenschaft geführt, eine w<strong>und</strong>erschöne<br />

Holzkirche mit beachtlichen Ikonen <strong>und</strong> die einzige Wehrsynagoge der<br />

Region finden sich allesamt in dem kleinen Städtchen. Die einstmalige<br />

Bedeutung des kleinen, heute ins Lemberger Hinterland abgerückten Ortes<br />

lässt sich heute nur mehr partiell erahnen.<br />

Die imposante Burganlage von Mukačevo liegt bereits im Verwaltungsgebiet<br />

von Užhorod, das ist jene Region, die am nächsten zur ungarischen Grenze<br />

liegt.<br />

Um bei einem monumentalen Festungsbau in der Czernowitzer Oblast zu<br />

verweilen, sei die sehenswerte imposante Festungsstadt Chotyn hier<br />

genannt. Sie findet sich eine gute Autost<strong>und</strong>e nordöstlich von Czernowitz.<br />

Diese Festungsanlage liegt am Dnister <strong>und</strong> lag bereits im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

an einem bedeutenden Handelsweg. Die Burganlage war Mitte des 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts auch die letzte Bastion gegen die Türken. Sie konnte nur dank<br />

eines Zusammenschlusses der geeinten slawischen Armee gehalten werden.<br />

Diese Sehenswürdigkeiten sind trotz der eher mäßig ausgebauten<br />

Straßenverbindungen in einer mehrtägigen Reise durchaus erreichbar <strong>und</strong><br />

zu besichtigen. Für Individualreisende ist die Orientierung durch die<br />

ausnahmslos kyrillische Hinweis- <strong>und</strong> Straßenbeschilderung dennoch<br />

unverändert schwierig.<br />

Einige kleinere Reisebüros in Deutschland <strong>und</strong> der Schweiz bieten Reisen<br />

<strong>für</strong> Kleingruppen sowie Individualtouristen in die Westukraine an, die sich<br />

durchaus eines wachsenden Interesses erfreuen dürften. Positiv fällt auch<br />

das wachsende Interesse der Ukrainer dabei auf: Mit dem Anbot von<br />

Privatquartieren – vor allem in den Ski- <strong>und</strong> Wanderregionen – will man den<br />

westlichen Tourismusinteressen entgegenkommen. Im Gegensatz dazu<br />

wirken die klotzartigen Hotelkästen der Sowjetzeit auf westlich orientierte<br />

Reisende einfach wenig einladend. Deshalb wird auch die Idee, mit örtlichen<br />

Gepflogenheiten sowie Land <strong>und</strong> Leuten in direkten Kontakt zu treten,<br />

zunehmend geschätzt.<br />

Touristische Entwicklungen in Theorie <strong>und</strong> Praxis<br />

Westliche Beobachter mögen bald erkennen, dass die touristischen<br />

Möglichkeiten vor Ort bei Weitem nicht bestmöglichst erkannt <strong>und</strong> genutzt<br />

werden. Es stimmt, dass manche Veränderungen, wie die Koordinierung des<br />

Marktauftrittes der fünf Verwaltungsgebiete, auch mit Hilfe von EU-Mitteln<br />

realisiert worden sind. Die Konditionen <strong>für</strong> die Teilnahme an EU-gestützten<br />

Projekten sind häufig sehr kompliziert <strong>und</strong> lassen auch investitionsfreudige<br />

<strong>und</strong> engagierte Tourismusfachleute vor Ort immer wieder zurückschrecken.<br />

Um eine spätere handfeste, weil sichtbare Umsetzung der angedachten<br />

Projekte zu sichern, wird jedoch ein Umdenkprozess vor Ort unumgänglich<br />

sein. Dabei geht es nicht darum, theoretische Maßnahmenpapiere am<br />

laufenden Bande zu produzieren, sondern durch engagiertes Erkennen der<br />

einzelnen Fachinstitute, Tourismus-Departments an Fachhochschulen <strong>und</strong><br />

Universitäten entsprechend zukunftsorientiert zu agieren.<br />

- 80 -


Der chronische Kapitalmangel <strong>und</strong> die häufig fehlenden Perspektiven der<br />

Menschen vor Ort sind sehr starke Bremsmechanismen, die so manches<br />

theoretisch wohlklingende Tourismuspapier nicht in die Praxis umsetzen<br />

lassen. Diese Umsetzungsblockaden beruhen mitunter wohl auch auf dem<br />

mangelhaften <strong>Wissen</strong> über vorhandene Ressourcen <strong>und</strong> deren Bedeutung im<br />

nationalen <strong>und</strong> internationalen Rahmen.<br />

Lücken in der touristischen Basisarbeit<br />

Neben der mangelhaften Datenlage hinsichtlich der Touristenzahlen<br />

besteht ein weiteres Gr<strong>und</strong>problem im Fehlen tatsächlicher<br />

Feldforschungen. Das bedeutet konkret das Erfassen der tatsächlichen<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> Wünsche bezüglich der Weiterentwicklung in kulturellen<br />

<strong>und</strong> touristischen Belangen der einzubindenden Bevölkerung vor Ort.<br />

Hier<strong>für</strong> gilt es eine seriöse Arbeitsgr<strong>und</strong>lage zu schaffen. Eine<br />

zukunftsorientierte Planung kann nur gemeinsam mit den Menschen vor Ort<br />

stattfinden, die von Entwicklungen <strong>und</strong> Veränderungen ja auch betroffen<br />

sind <strong>und</strong> davon profitieren sollen.<br />

Die Schätzungen der Besucherströme aus dem In- <strong>und</strong> Ausland sind eben<br />

Schätzungen, die nicht unbedingt der realen Situation entsprechen. In<br />

Lemberg gibt es beispielsweise Angaben über jährliche Besucherzahlen von<br />

etwa 120.000 Personen; davon sollen 20.000 Reisende aus dem Ausland<br />

sein. Woher diese Besucher kommen, bleibt bereits wieder offen. Dass die<br />

realen Daten von Tourismus-Insidern etwa zwanzigmal höher eingeschätzt<br />

werden, hilft nicht wirklich weiter.<br />

Eine Bedarfserhebung hinsichtlich der Reiseentwicklung in Czernowitz sieht<br />

noch diffuser aus. Das Czernowitzer Management & Tourismus-Institut ist<br />

eingegliedert in das Institut <strong>für</strong> Handel <strong>und</strong> Wirtschaft. Es ist mit einer<br />

österreichischen Fachhochschulstruktur annähernd vergleichbar. Der<br />

engagierte Lehrgangsleiter ist durchaus an Kooperationen mit ausländischen<br />

Tourismus- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>- Fachbetrieben interessiert. Die Einbindung der<br />

Studierenden in konkrete wissenschaftliche Rechercheprojekte,<br />

Machbarkeits- Studien (Feasibility studies) <strong>und</strong> die Unterstützung bei der<br />

schrittweisen Umsetzung der daraus resultierenden Ergebnisse vor Ort sollte<br />

dabei ein zukunftsweisender Parameter sein.<br />

Einem Kooperationsversuch zwischen der Tourismus-Fachhochschule "Modul" (Wien),<br />

einer Tourismusfachschule in Strals<strong>und</strong> (Norddeutschland) <strong>und</strong> dem Tourismusinstitut in<br />

Czernowitz wurde leider vor wenigen Jahren kein bürokratisches grünes Licht seitens eines<br />

zukunftsweisenden vernetzenden EU-finanzgestützten Lehrplankonzeptes gegeben.<br />

An konkreten Kooperationsschritten wurde die letzten beiden Jahre auch seitens der <strong>Kultur</strong>-<br />

Konzeptionisten von "<strong>Kultur</strong> & Tourismus Management" gearbeitet. Diese interkulturell<br />

agierende <strong>und</strong> kulturvernetzende Firma mit Sitz in Wien ist eine Arbeitsgemeinschaft,<br />

bestehend aus Personen des ukrainischen <strong>und</strong> österreichischen <strong>Kultur</strong>kreises, die ein besseres<br />

<strong>Kultur</strong>verständis entwickeln will.<br />

- 81 -


Eine weitere Initiative bietet die Plattform "Fre<strong>und</strong>e der Bukowina". Sie versteht sich als<br />

Drehscheibe eines breit angedachten Networkings <strong>und</strong> wurde 2006 in Österreich begründet.<br />

Sie will Anlaufstelle sein <strong>für</strong> nationale <strong>und</strong> internationale Institute <strong>und</strong> Bildungsträger,<br />

Einzelinitiativen, Vereine <strong>und</strong> Stiftungen, die im wissenschaftlichen, kulturellen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Sinne die <strong>Kultur</strong>landschaft Bukowina als eine Region mit vielschichtigem<br />

Potenzial erkennen <strong>und</strong> sich einbringen möchten.<br />

Konkrete Chancen in der Nordbukowina – Czernowitz<br />

Die Stadt Czernowitz (rum. Cernăuţi, ukr.: Černivci) hat hinsichtlich<br />

ihrer Infrastruktur, der internationalen Erreichbarkeit <strong>und</strong> ihrer<br />

Positionierung in UNESCO- Kreisen gegenüber Lemberg noch großen<br />

Aufholbedarf. In zahlreichen innerstädtischen Altstadtgassen wurden auf<br />

Initiative der Stadtverwaltung hin in den letzten Jahren verstärkt zahlreiche<br />

Restaurierungen vorgenommen. Beispielsweise wich an vielen Bürgersteigen<br />

wackeliges Kopfsteinpflaster den optisch bedingt ansprechenden, doch<br />

durchaus gut begehbaren Asphaltplatten-Lösungen.<br />

Das F<strong>und</strong>ament der Stadt Czernowitz ist durch die Lössbasis kein besonders<br />

stabiles; die Restaurierungsarbeiten werden durch die aufsteigende<br />

Feuchtigkeit nicht eben begünstigt. Anlässlich der allherbstlich<br />

stattfindenden Stadtfeste werden eifrig Fassadenübermalungen <strong>und</strong><br />

frontseitig gelegene Restaurierungen an öffentlichen Gebäuden <strong>und</strong><br />

Privathäusern vorgenommen. Tatsächlich gibt es in Czernowitz einen schier<br />

unendlichen Aufholbedarf an restaurierungsbedürftigen Objekten.<br />

Das im Norden der Stadt gelegene, ehemals weit über die Grenzen der<br />

Bukowina hinaus bekannte osteuropäische chassidische Zentrum des<br />

W<strong>und</strong>errabbis Friedman – der auch "der Lubawitscher" oder der "Ruschiner"<br />

genannt wird –, befindet sich in einem kleinen Ort namens Sadagora <strong>und</strong> ist<br />

seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben.<br />

Nach Erbstreitigkeiten mit den heute in Amerika <strong>und</strong> Israel lebenden<br />

Nachkommen der Friedmann-Dynastie scheint der Verfall des<br />

zwischenzeitlich als Metallfarbenfabrik genutzten Gemäuers unaufhaltsam.<br />

Dabei wurde in den frühen neunziger Jahren bereits die Idee eines "Schtetl-<br />

Tourismus" r<strong>und</strong> um das Friedmann'sche Monumentalgebäude angedacht.<br />

Die Bedenken gegen eine Art "Disneyland in Sadagora" waren bislang<br />

allerdings unbegründet.<br />

Der beeindruckende alte jüdische Friedhof mit seinen kunstvollen<br />

Steinornamenten, der großflächiger wirkt als der Ortskern von Sadagora<br />

selbst, ist da<strong>für</strong> unverändert ein großer Besuchermagnet geblieben. Die<br />

mitunter zwischen den Grabsteinen herumstreifenden Ziegen <strong>und</strong> Schafe<br />

vermitteln ein recht eindrucksvolles Bild davon, wie es aussieht, wenn die<br />

Natur sich stückweise eine sakrale Stätte zurückzuerobern versucht.<br />

Die Trennung des historisch gewachsenen "Buchenlandes" in Nord- <strong>und</strong><br />

Südbukowina<br />

- 82 -


Die bislang definitive politische Trennung dieser einst gewachsenen<br />

<strong>Kultur</strong>landschaft erfolgte im Juni 1940. Seit der Besetzung durch die<br />

Sowjetarmee in diesem Jahr ist die kulturell <strong>und</strong> historisch entstandene<br />

Struktur der Bukowina zweigeteilt geblieben. Die rote Armee marschierte in<br />

die Nordbukowina mit Czernowitz ein. Somit war das Ende des<br />

"Buchenlandes", das als territoriale Einheit unter den Habsburgern<br />

geschaffen worden war, mit Unterbrechung (in den Jahren 1941-1944)<br />

durch die international anerkannte <strong>und</strong> bis heute geltende Grenze zwischen<br />

Rumänien <strong>und</strong> Ukraine besiegelt.<br />

Die Befreiung vom rumänischen Staatsnationalismus durch das<br />

bolschewistische Regime führte in der Nordbukowina zu einer Sowjetisierung<br />

durch die Sowjetmacht – <strong>und</strong> in der Folge zu einem totalen Bruch in der<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftspolitischen Lebensweise. (Dies betraf auch<br />

die Region Bessarabien, der heutigen Republik Moldau).<br />

Der südliche Teil des Buchenlandes, die "Südbukowina", findet sich heute in<br />

Nordrumänien <strong>und</strong> ist über den landschaftlich reizvollen Pass Siret von<br />

Czernowitz kommend zu passieren. Die Gebietshauptstadt der<br />

Südbukowina, Suceava, wird von Reisenden gerne als Ausgangspunkt <strong>für</strong><br />

die Besichtigung der prächtigen, an Freskenreichtum unübertroffenen<br />

Moldauklöster ausgewählt. Die bekanntesten sowie historisch bedeutsamen<br />

Objekte dieser Landschaft sind heute zweifelsohne die Moldauklöster.<br />

Zahlreiche von ihnen stehen heute bereits unter UNESCO- Denkmalschutz<br />

<strong>und</strong> werden auch von internationalen Reisegruppen eifrig besucht. Selbst<br />

Pilgergruppen können in den größeren Klosteranlagen Herberge gegen ein<br />

kleines Salär beziehen.<br />

Die Hoffnung auf Länder überschreitende <strong>Kultur</strong>- <strong>und</strong> Themenwege, die<br />

den Reisenden <strong>und</strong> Erk<strong>und</strong>enden einen neuen <strong>Kultur</strong>raum besser zu<br />

erschließen helfen, soll einer der zukunftsorientierten Mosaiksteine einer<br />

bereisbaren <strong>und</strong> einladenden Grenzregion sein. Gerade in den grenznahen<br />

östlichen <strong>und</strong> nördlichen Teilen Österreichs, die ja zur Zeit vor der<br />

Grenzöffnung innerhalb Europas lange Zeit als wirtschaftlich wenig attraktiv<br />

galten, gibt es mittlerweile zahlreiche Themenwege in Grenzlandschaften, die<br />

auch auf Naturparkebene Grenzland erlebbar <strong>und</strong> interessant machen. So<br />

bleibt zu hoffen, dass sich zahlreiche engagierte <strong>und</strong> mutige Menschen<br />

finden, die auch der Grenzregion der südlichen Westukraine eine Chance<br />

geben, sich zu entwickeln <strong>und</strong> zu wachsen!<br />

Der Reichtum an Sehenswürdigkeiten ist ein großer, den es zu entdecken, zu<br />

unterstützen <strong>und</strong> zu erleben gilt!<br />

Dr. Brigitte Macaria (bukowina@chello.at), geboren in Wels (OÖ). Lebt in Wien <strong>und</strong> im Waldviertel.<br />

Studium der Medien- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>wissenschaft an der Università di Bologna (D.A.M.S); Internationales<br />

Europarecht an der Cattolicà di Milano, Italianistik <strong>und</strong> Theaterwissenschaft an der Universität Wien.<br />

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Arbeitsgebiete<br />

Konsulenz <strong>für</strong> interkulturelle <strong>und</strong> grenzüberschreitende Projekte (u.a. Tourismus-, Machbarkeitsstudie<br />

<strong>für</strong> historische Objekte, Regionalmangement); Networking, Projektmanagement; Eventorganisation in<br />

den Bereichen Kunst, Tanz, Theater, Festival; Archiv- <strong>und</strong> Internet- Recherchen (Genealogie <strong>und</strong><br />

Forschungen in In- <strong>und</strong> Ausland);<br />

Homepage<br />

...<br />

www.m-m-creations.<br />

com/bukowina<br />

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Siebenbürgens Wehrkirchen trutzen bis heute<br />

...Auf Spurensuche in den einst deutschen Dörfern Siebenbürgens<br />

In welches Bauerndorf man auch kommt in Siebenbürgen, das Bild ist ähnlich:<br />

Die jungen Leute sind weggegangen, nur die Alten sind geblieben <strong>und</strong> fühlen sich<br />

doch längst als Fremde im eigenen Land. Kaum ein Dorf, wo mehr als zehn, fünfzehn<br />

Leute noch tatsächlich miteinander Deutsch sprechen.<br />

Von Reinhard Kriechbaum<br />

(01. 01. 2007)<br />

Mit einiger Mühe bin ich nach Mergeln gekommen. Ein Einheimischer hat<br />

mich die gut zwanzig Kilometer in ein weites, fruchtbares Ackertal im Auto<br />

mitgenommen. Ich hatte gehört, dass es hier <strong>und</strong> in einigen benachbarten<br />

siebenbürgischen Bauerndörfern noch einige besonders gut erhaltene<br />

Kirchenburgen gebe. Nun stehe ich also vor einer solchen imposanten Anlage:<br />

Eine Mauer mit wehrhaften Ecktürmen umgibt die Kirche, die selbst zwei<br />

massive, blockartige Türme hat.<br />

Nicht lange muss ich draußen bleiben, denn ein älterer Mann sieht mich, fragt<br />

mich in akzentfreiem Deutsch nach meinem Ziel. Mein Interesse an der<br />

Kirchenburg stachelt seine Gesprächigkeit an. Er ist nicht Rumäne, sondern<br />

Deutscher. Ja, hier im Dorf ist er aufgewachsen. Jetzt lebt Johann Brenner<br />

allerdings schon lange in Deutschland, so wie fast alle deutschsprachigen<br />

Familien aus dem Ort. Aber im Sommer machen viele Rentner <strong>und</strong> auch ihre<br />

Kinder <strong>und</strong> Enkel gerne Urlaub in der alten Heimat. Die Häuser gehören ihnen ja<br />

noch <strong>und</strong> in Deutschland fühlen sie sich nicht wirklich zu Hause. Sie streichen<br />

Fensterläden <strong>und</strong> halten die alten Bauernhäuser in Stand. Natürlich ist ihnen auch<br />

die Erhaltung der Kirche – "ihrer Kirche"! – ein großes Anliegen.<br />

Mittlerweile hat mich Johann Brenner seinem Bruder vorgestellt, der nach wie vor<br />

in Mergeln lebt <strong>und</strong> Mesnerdienste versieht. Gemeinsam sind wir auf einen der<br />

Türme gestiegen <strong>und</strong> schauen über das malerische Dorf, über die Firste der roten<br />

Ziegeldächer, über die Obstgärten <strong>und</strong> Getreidefelder. Bauern fahren mit<br />

Ochsenkarren die Ernte ein. Die Räder versinken ein wenig im Schlamm der<br />

naturbelassenen Wege.<br />

Spielende Kinder schauen zu uns herauf, rufen <strong>und</strong> winken. "Zigeunerkinder",<br />

sagt Johann Brenner missmutig. "Hier war der deutsche Ortsteil", erklärt er mir.<br />

Dann hatte es in der Hitlerzeit geheißen: Heim ins Reich! Auch die<br />

kommunistischen Jahrzehnte waren der deutschen Minderheit nicht zuträglich.<br />

"Zuerst sind die Rumänen gekommen, dann die Zigeuner." Die Aussicht auf eine<br />

staatliche Pension in Deutschland lockte nach der Wende viele Familien zur<br />

raschen Auswanderung.<br />

... In welches Bauerndorf man auch kommt in Siebenbürgen, das Bild ist<br />

ähnlich: Die jungen Leute sind weggegangen, nur die Alten sind geblieben <strong>und</strong><br />

- 85 -


fühlen sich doch längst als Fremde im eigenen Land. Kaum ein Dorf, wo mehr als<br />

zehn, fünfzehn Leute noch tatsächlich miteinander Deutsch sprechen. Aber die<br />

Kirchenburg <strong>und</strong> das dem meist schon verlassenen evangelischen Pfarrhof<br />

angeschlossene Schulhaus bergen Erinnerungen an Jugendzeiten, als<br />

siebenbürgische <strong>Kultur</strong> noch lebte. "Auf dieser Bank sind wir als Konfirmanden im<br />

Gottesdienst gesessen", sagt Johann Brenner. "Das Uhrwerk im Turm hat mein<br />

Großvater gemacht." Darauf ist er stolz. Natürlich ist mit der deutschsprachigen<br />

Bevölkerung auch die Zahl der evangelischen Pfarrer zurückgegangen. Vier <strong>und</strong><br />

noch mehr Gemeinden muss einer mittlerweile versorgen.<br />

Wir spazieren durchs Dorf, der Mann plaudert mit Fre<strong>und</strong>en, die in ihrer alten<br />

Heimat Urlaub machen. Man erzählt sich Schwänke aus der Schulzeit. Ich möchte<br />

mehr wissen. "Gehen Sie doch dort hinüber, in das gelbe Haus. Dort wohnt<br />

Lehrer Frank!" Ich habe Glück, Herr Frank ist zu Hause <strong>und</strong> freut sich über den<br />

unerwarteten Besucher. Auch er ist nur im Sommer in Rumänien, lebt sonst in der<br />

Nähe von Stuttgart. Aber bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1986 war er hier<br />

tätig, 33 Jahre lang hat er den allmählichen Rückgang der deutschen Gemeinde<br />

erlebt. "Bis 1952 hatten wir sogar eine Gymnasialstufe an unserer Dorfschule",<br />

erinnert er sich wehmütig.<br />

Man braucht sich nicht zu w<strong>und</strong>ern, wenn sich Lehrer Frank emotionell äußert:<br />

"Meine Schüler haben nach der Übersiedlung nach Deutschland nie einen<br />

Sprachkurs besuchen müssen, meine Tochter beherrscht die Beistrichsetzung<br />

besser als mancher Deutsche!" Was den Pädagogen, den seine Schüler immer<br />

noch gerne besuchen, mit Stolz erfüllt: "Alle haben etwas gelernt, keiner aus<br />

unserer Gemeinde ist in Deutschland jetzt arbeitslos." Wilhelm Frank, dieser<br />

charismatische Dorfschulmeister, hat "gegen Essen unterrichtet". Für die<br />

Bezahlung des Lehrers <strong>und</strong> des evangelischen Pfarrers kamen nämlich<br />

traditionellerweise die Gemeinden auf. Wie groß war seine Schule? "Alle zwei<br />

Jahre wurde eine neue Klasse eröffnet", erklärt der Lehrer. Meist waren das<br />

vierzig Kinder, "wir hatten also zwanzig Geburten pro Jahr".<br />

Die bunten, vielformigen Trachten Siebenbürgens sind nicht nur längst aus<br />

dem Straßenbild verschw<strong>und</strong>en, selbst beim Kirchgang kann man sie kaum noch<br />

irgendwo sehen. Aber den Straßendörfern mit ihren weiten Angern, den zur<br />

Straßenseite hin halb abgewalmten Dächern <strong>und</strong> den auffälligen Hoftoren sieht<br />

man an, dass sie einst Dörfer von "Siebenbürger Sachsen" waren. Um die Mitte<br />

des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts hat der erste deutsche Einwanderungsschub stattgef<strong>und</strong>en.<br />

Die Bezeichnung "Sachsen" hat gar nichts mit dem heutigen deutschen<br />

B<strong>und</strong>esland zu tun, hat sich aber schon im Mittelalter eingebürgert. Die meisten<br />

Einwanderer kamen aus dem Rhein- <strong>und</strong> Moselgebiet, aus Belgien <strong>und</strong><br />

Luxemburg. Ihre Dialekte sind dem Unk<strong>und</strong>igen kaum verständlich.<br />

Es ging darum, das dünn besiedelte Gebiet innerhalb des Karpatenbogens<br />

besser gegen Tatareneinfälle, später gegen die Türken abzusichern. In den<br />

Landstrichen "im fernen Ungarnlande jenseits des Waldes" (daher heißt<br />

Siebenbürgen bis heute auch Transsylvanien) durften die Einwanderer auf<br />

großzügig bemessenes eigenes Land <strong>und</strong> weitgehende politische Freiheiten<br />

hoffen. Ihre Gegenleistung bestand in der Kultivierung des Landes <strong>und</strong> in der<br />

Verpflichtung zur Grenzsicherung.<br />

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Im östlich gelegenen "Burzenland" (um Kronstadt/Brasov) richtete sich der im<br />

dritten Kreuzzug eher glücklos agierende Deutsche Ritterorden ein. Auch die<br />

Ordensritter gründeten Dörfer <strong>und</strong> erbauten ansehnliche Kirchenburgen:<br />

Tartlau/Prejmer, zwölf Kilometer nordöstlich von Kronstadt, ist die besterhaltene<br />

<strong>und</strong> beeindruckendste kirchliche Wehranlage, die auf die Deutschordensritter<br />

zurückgeht.<br />

Das Wirken des Deutschen Ritterordens war freilich nur von begrenzter<br />

Dauer, denn die zunehmende politische Macht war dem Ungarnkönig Andreas II.<br />

(dem Vater der heiligen Elisabeth) ein Dorn im Auge. Die Ritter wurden mit<br />

Waffengewalt vertrieben, ließen sich fortan in Preußen <strong>und</strong> an der Ostsee nieder.<br />

Im 14. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>ert mauserte sich das transsylvanische Sammelsurium von<br />

Einwanderer-Dörfern zur eigenen, verbindenden <strong>Kultur</strong> <strong>und</strong> wurde auch zu einer<br />

politischen Größenordnung. Auch nach der Eroberung durch die Türken blieb<br />

Siebenbürgen kulturell eigenständig <strong>und</strong> leistungsfähig. Vor allem die<br />

Reformation wirkte schul- <strong>und</strong> damit kulturbildend: Johannes Honterus – sein<br />

Denkmal steht vor der berühmten "Schwarzen Kirche" in Kronstadt – war der<br />

Reformator Siebenbürgens. Im Zuge der Gegenreformation <strong>und</strong> dann unter Maria<br />

Theresia kamen weitere – nunmehr: evangelische – Einwanderer ins Land:<br />

"Landler" aus Oberösterreich, aber auch Tiroler, Steirer, Kärntner – Einzelgänger,<br />

Familien, aber auch halbe Dörfer. Manche assimilierten sich, <strong>für</strong> andere war<br />

Siebenbürgen Durchgangsstation. Zum Beispiel <strong>für</strong> eine Gruppe Kärntner, die<br />

sich nach Auflösung des siebenbürgischen Toleranzgesetzes unter Joseph II.<br />

plötzlich als unerwünschte Protestanten in einem rekatholisierten Land<br />

wiederfanden <strong>und</strong> schließlich über die Walachei <strong>und</strong> die Ukraine in die USA<br />

auswanderten (auf die Höfe der Hutterischen Bruderschaft).<br />

Aber das sind eigene Geschichten. Siebenbürgen ist im Kern ein kulturelles <strong>und</strong><br />

religiöses Mischgebiet mit deutlichen lokalen Abgrenzungen geblieben: Noch<br />

heute sind die protestantischen Gemeinden (Augsburger Bekenntnis) so gut wie<br />

ausschließlich deutschsprachig. Die ungarischen Szekler bilden – soferne sie<br />

nicht ebenfalls Protestanten sind – die katholischen Kirchengemeinden. Der<br />

katholische Klerus Rumäniens spricht untereinander Ungarisch. Die Orthodoxie<br />

schließlich ist Sache der Rumänen, wobei die deutschsprachigen Siebenbürger<br />

zwischen "Rumänen" <strong>und</strong> "Zigeunern" unseligerweise kaum Unterschiede<br />

machen. Die Spannungen <strong>und</strong> Vorurteile sind gewaltig, am besten harmonisieren<br />

noch Deutschstämmige <strong>und</strong> Ungarn (Szekler) miteinander.<br />

Doch zurück zu den Kirchenburgen. Sie sind die architektonischen<br />

Wahrzeichen der Region. In ungefähr zweih<strong>und</strong>ert Dörfern gewinnt man noch<br />

einen Eindruck von den ursprünglichen Anlagen, haben sich Ringmauern mit<br />

Wehrgängen, an den Türmen <strong>und</strong> den Kirchen selbst Verteidigungseinrichtungen<br />

wie Pechnasen <strong>und</strong> Schießscharten erhalten. Nicht selten gibt es in den<br />

Langschiffen der spätromanischen, früh- <strong>und</strong> hochgotischen Kirchen einen<br />

Brunnen. In den Kirchenburgen konnte sich die bäuerliche Bevölkerung im<br />

Notfall einschließen <strong>und</strong> eine Zeitlang leben, denn in den Verteidigungstürmen<br />

hatte man auch Lebensmittel eingelagert.<br />

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In Homorod/Hamerude weist mich der dortige Mesner eigens auf den<br />

"Speckturm" hin. In seiner Jugend, erzählt er, ist hier tatsächlich noch das Fleisch<br />

gelagert worden, <strong>und</strong> nach dem Sonntagsgottesdienst hätten die Bauern jeweils<br />

ihre Wochenration geholt. Die Aufbewahrung im "Speckturm" hatte auch<br />

konservatorische Gründe. Die Bauernhäuser sind ja nicht unterkellert, wogegen<br />

in den dicken Turmmauern ein günstigeres Klima zum Aufbewahren<br />

verderblicher Nahrungsmittel herrschte.<br />

Wer nun neugierig geworden ist, wo Kirchenburgen zu finden sind: Im<br />

Dreieck zwischen den Städten Kronstadt/Brasov, Hermannstadt/Sibiu <strong>und</strong><br />

Schäßburg/Sighisoara gibt es sie in großer Zahl. Vereinzelt findet man sie weiter<br />

nördlich in der Gegend von Bistritz/Bistrita. Nicht versäumen darf man einen<br />

Besuch in Birthälm/Biertan (Ausgangspunkt: Schäßburg): eine riesige gotische<br />

Hallenkirche auf einem mit drei Mauerringen umgebenen Hügel. An diesem<br />

ehemaligen Bischofssitz findet man sogar eine Übernachtungsmöglichkeit. Auch<br />

die Kirchenburg von Meschen/Mosna ist von mehreren Mauern umgeben. Die<br />

Umgebung von Mediasch <strong>und</strong> jene von Reps sind besonders reich an gut<br />

erhaltenen Wehrkirchen.<br />

Die Kirchen sind versperrt, aber es lohnt sich immer, nach dem Kirchenschlüssel<br />

zu fragen: Die Mesner wohnen meistens nur ein paar Häuser weiter. Sie sprechen<br />

deutsch, freuen sich über interessierte Besucher <strong>und</strong> gleichen im Regelfall<br />

wandelnden Geschichtsbüchern. Und weil es in den ländlichen Regionen<br />

Siebenbürgens ja so gut wie keine Gasthäuser (<strong>und</strong> Hotels schon gar nicht) gibt,<br />

ist man als Reisender <strong>für</strong> die so entstehenden privaten Kontakte doppelt dankbar.<br />

Eine zweiwöchige Wanderung von Wehrkirche zu Wehrkirche kann <strong>für</strong><br />

kulturinteressierte Menschen mit ein wenig Wagemut <strong>und</strong> ohne<br />

Berührungsängste ein einmaliges Erlebnis sein. Vor allem ist es wichtig, in<br />

diesem Völkergemisch aus Deutschen, Ungarn, Rumänen <strong>und</strong> Zigeunern<br />

Fingerspitzengefühl zu zeigen <strong>und</strong> die bestehenden Vorurteile eben zu<br />

akzeptieren. Die bäuerliche <strong>Kultur</strong>landschaft gehört zu den unverfälschtesten in<br />

Europa. Die Obstbaumblüte im Mai ist die idyllischste Reisezeit.<br />

Reinhard Kriechbaum (kriechbaum@drehpunktkultur.at), geboren 1956. Studium der Fächer<br />

Kunstgeschichte <strong>und</strong> Volksk<strong>und</strong>e an der Universität Graz, Chordirigieren <strong>und</strong> Gesang an der dortigen<br />

Musikhochschule. Von 1982 bis 1989 <strong>Kultur</strong>redakteur der "Salzburger Nachrichten", 1989 bis 1991<br />

Leiter der Pressestelle der Erzdiözese Salzburg. Seit 1992 freier <strong>Kultur</strong>journalist <strong>für</strong> in- <strong>und</strong><br />

ausländische Medien. Reisejournalismus mit Schwerpunkt Osteuropa. Einige Buchveröffentlichungen<br />

im Rosenheimer Verlagshaus.<br />

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Meerträubchen <strong>und</strong> Wüstenrenner<br />

Die Donau-Auen-Expertin Erika Schneider im Aurora-Interview<br />

"Die Donau durchzieht mit ihren zahlreichen Nebenflüssen wie ein grünes Band<br />

Mittel- <strong>und</strong> Südosteuropa. Sie durchquert auf ihrem Weg bis zur Mündung ins<br />

Schwarze Meer nicht nur unterschiedliche Naturräume, sondern auch<br />

unterschiedliche Sprach- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>räume. Diese Vielfalt im geographischen,<br />

biologisch-ökologischen <strong>und</strong> kulturellen Bereich ist das, was die Besonderheit der<br />

Donau ausmacht ."<br />

Das Interview führte Franz Wagner<br />

(01. 01. 2007)<br />

AM: Frau Schneider, wenn Sie mit Deutschen oder Österreichern sprechen, deren <strong>Wissen</strong><br />

über Rumänien begrenzt ist, welche Klischees <strong>und</strong> Vorurteile über dieses Land begegnen<br />

Ihnen am häufigsten?<br />

Schneider: Am häufigsten wird die Korruption als ein allgemeines Merkmal <strong>für</strong> Rumänien<br />

angeführt. Die Rumänen werden als "şmecher" bzw. als schlitzohrig bezeichnet <strong>und</strong><br />

immer wieder wird gesagt, dass man in dem Lande alles nur mit "Bakschisch", also mit<br />

Bestechungsgeldern erledigen könne. Auch Trägheit <strong>und</strong> zu wenig zupacken, d. h. die<br />

Dinge laufen lassen wie sie eben kommen, gehören bei vielen zum Bild der Rumänen.<br />

Man sollte aber nicht auf solche Klischees achten, die leider existieren, denn es gibt auch<br />

dort einen großen Facettenreichtum verschiedenster Menschen <strong>und</strong> Denkweisen <strong>und</strong> in<br />

letzter Zeit wirklich große <strong>und</strong> bemerkenswerte Anstrengungen <strong>für</strong> Verbesserungen, die<br />

von dem Willen einer Integration in die Europäische Union <strong>und</strong> von einer Anerkennung<br />

als europafähiger Partner geprägt sind. Viele Rumänen meinen: "wir wollen zurück nach<br />

Europa" <strong>und</strong> verstehen darunter Bindungen, die es früher aus der Geschichte heraus<br />

gegeben hat.<br />

AM: Wirft man einen Blick in die hiesigen Zeitungen, wird viel über die<br />

Investitionstätigkeit westeuropäischer Unternehmen in Rumänien geschrieben, wobei hier<br />

besonders die industrielle, technische oder ökonomische Entwicklung des Landes im<br />

Fokus liegt. Über das "andere" Rumänien – zum Beispiel darüber, dass immer noch 96 %<br />

aller ländlichen Haushalte ohne Anschluss an eine Kläranlage sind – erfährt man abseits<br />

der üblichen Katastrophenmeldungen (Donau-Hochwasser,…) dagegen kaum etwas. In<br />

welchen Bereichen empfinden Sie die Diskrepanz zwischen täglicher Realität <strong>und</strong><br />

öffentlicher Wahrnehmung am stärksten? Worüber sollte zuvorderst berichtet werden?<br />

Schneider: Tatsächlich wird meist über wirtschaftliche Entwicklung, neue<br />

Niederlassungen ausländischer Firmen usw. berichtet. Weniger weiß man über die<br />

Landbevölkerung, die unter schwierigen Bedingungen lebt, ohne entsprechende<br />

Infrastruktur in den Dörfern <strong>und</strong> mit geringstem Einkommen. Hinzu kommt die Tatsache,<br />

dass es in den wenigsten Dörfern Trinkwasserversorgung gibt. Abwasserreinigung,<br />

Kläranlagen gibt es auch nicht. Ungeregelt ist meist auch die Müllentsorgung im<br />

ländlichen Raum, die große Umweltprobleme aufwirft <strong>und</strong> dringend einer Lösung bedarf.<br />

Dorfränder, Böschungen <strong>und</strong> vor allem Fließgewässer dienen als Müllkippe, weil immer<br />

noch die Mentalität besteht, dass das Wasser alles mitnimmt. Dass es aber auch<br />

irgendwo ankommen muss <strong>und</strong> dort Probleme bereitet, wird wenig berücksichtigt. Das<br />

Problem der Müllentsorgung hat jedoch, wie Untersuchungen zeigen, auch mit dem<br />

Umweltverhalten <strong>und</strong> dem geringen Umweltbewusstsein der Bevölkerung zu tun.<br />

Aktionen zur Bewusstseinsbildung fallen, wie auch meine persönliche Erfahrung zeigt, auf<br />

fruchtbaren Boden besonders bei der jungen Generation (Programme mit Schülern).<br />

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AM: Als Biologin setzen Sie sich bereits seit Jahrzehnten mit dem Ökosystem "Donau"<br />

auseinander. Es scheint, als hätten Sie eine besondere Beziehung zu diesem Fluss.<br />

Warum dieses lebenslange Interesse?<br />

Schneider: Die Donau sowie das gesamte Einzugsgebiet der Donau ist von vielen<br />

Gesichtspunkten aus gesehen überaus interessant. Sie durchzieht vom Schwarzwald <strong>und</strong><br />

dem Voralpenland, mit zahlreichen Nebenflüssen aus den Alpen, wie ein grünes Band<br />

Mittel- <strong>und</strong> Südosteuropa <strong>und</strong> durchquert auf ihrem Weg bis zur Mündung ins Schwarze<br />

Meer nicht nur unterschiedliche Naturräume, sondern auch unterschiedliche Sprach- <strong>und</strong><br />

<strong>Kultur</strong>räume. Diese Vielfalt im geographischen, biologisch-ökologischen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Bereich ist das, was die Besonderheit der Donau ausmacht, die so unterschiedliche<br />

Räume miteinander verbindet, <strong>und</strong> eine Einheit mit Vielfalt darstellt. Es ist die<br />

Verbindungsachse, die trennt <strong>und</strong> vereinigt <strong>und</strong> einfach vieles zu bieten hat.<br />

AM: Im Jahr 1990 erklärte die UNESCO das Donau-Delta zum Biospärenreservat, über<br />

die Hälfte des Gebietes ist als Weltnaturerbe ausgezeichnet. Was macht diesen gerade<br />

einmal 10.000 Jahre alten "Haufen Sand", der seit der letzten Eiszeit in das Schwarze<br />

Meer hineinwächst, zu etwas so Schützenswertem?<br />

Schneider: Das Donau-Delta ist nicht allein ein "Haufen Sand" , sondern ein Komplex<br />

von Ökosystemen <strong>und</strong> Lebensräumen, der durch die Dynamik der Donau <strong>und</strong> des<br />

Schwarzen Meeres entstanden ist. Durch die Ablagerungen von Sedimenten an der<br />

Donaumündung entstand im Laufe von Jahrtausenden ein vielfältiges Mosaik, bestehend<br />

aus Wasserläufen, Seen mit ausgedehnten Seerosendecken <strong>und</strong> anderen<br />

Wasserpflanzen, riesigen Schilfflächen, zum Teil als Schwingdecken "Plaur" ausgebildet,<br />

schmalen Galerie-artigen Silberweidenwäldern, offenen Schlammflächen <strong>und</strong> in<br />

Meeresnähe ausgedehnte, fächerartig angeordnete Sanddünenkomplexe. Letztere bergen<br />

in den Dünentälchen von den Schwankungen des Gr<strong>und</strong>wassers geprägte<br />

Hartholzauenwälder besonderer Art, bestehend vor allen aus Sumpfesche, Stiel- <strong>und</strong><br />

Balkaneiche <strong>und</strong> ausgezeichnet durch Lianenreichtum <strong>und</strong> vielfältigen<br />

Einnischungsmöglichkeiten <strong>für</strong> Tiere. Die offenen Dünenkämme haben oft wüstenartigen<br />

Charakter <strong>und</strong> beherbergen an die extreme Trockenheit angepasste Arten wie Persische<br />

Winde, Meerträubchen, Kolchische Segge, verschiedene Flechtenarten u.a.m. Hier<br />

tummelt sich der Wüstenrenner, eine Eidechsenart der asiatischen Steppe, hier finden<br />

sich die Trichter des Ameisenlöwen <strong>und</strong> viele Insektenarten von hoher biogeographischer<br />

Relevanz. Mit seiner Vielfalt an Lebensräumen beherbergt das Donau-Delta eine hohe<br />

Artenvielfalt. Hier gibt es 1.668 Pflanzenarten, etwa 70 verschiedene Süßwasserfische,<br />

etwa 330 Vogelarten, darunter zahlreiche Reiherarten: Silber- <strong>und</strong> Seidenreiher,<br />

Purpurreiher, Nachtreiher, sowie Löffler, Brauner Sichler u.v.m. Das Donau-Delta ist der<br />

Lebensraum der größten europäischen Population des Rosapelikans, etwa 4.000<br />

Brutpaare, <strong>und</strong> des Krauskopfpelikans mit etwa 100 Brutpaaren, <strong>und</strong> beherbergt 60%<br />

der Weltpopulation der Zwergscharbe (Kleiner Kormoran). Es ist auch das<br />

Überwinterungsgebiet von etwa 40.000 Rothalsgänsen (50% der Weltpopulation), die aus<br />

dem Gebiet der Taimyrä-Halbinsel an den Rand des Donau-Deltas kommen. Fischotter<br />

<strong>und</strong> Europäischer Nerz sind hier zu Hause. Von letzterem gibt es im Donau-Delta die<br />

europaweit größte Population. Die Aufzählung könnte noch mit vielen interessanten Arten<br />

fortgesetzt werden. Zu erwähnen wäre vielleicht noch die Vielzahl unterschiedlicher<br />

Insektenarten wie Schmetterlinge, Käfer, Heuschrecken, von denen bisher etwa 2.000<br />

Arten erfasst sind, wobei ihre Zahl sicher noch viel höher liegt.<br />

AM: In der Zeit des Ceauşescu-Regimes wurde ein umfassendes Programm zur<br />

"Nutzbarmachung" der Donau <strong>und</strong> seiner Mündungsgebiete ins Leben gerufen, das unter<br />

anderem große Produktionsstätten <strong>für</strong> Fisch, Schilf, Getreide, Holz <strong>und</strong> Baustoffe vorsah.<br />

Was ist heute von diesem Programm geblieben? Welche Fehler wurden damals gemacht?<br />

Schneider: Die großen Umgestaltungspläne des Überschwemmungsgebietes der Unteren<br />

Donau begannen noch vor Ceauşescu im Jahr 1963, als großflächige Trockenlegungen<br />

der ausgedehnten "Balta"-Gebiete vorgenommen wurden. Von den 5.402 km 2 der Auen<br />

- 90 -


an der Unteren Donau oberstrom des Deltas wurden mehr als 4.500 km 2 durch Dämme<br />

vom Strom getrennt <strong>und</strong> zu landwirtschaftlichen Zwecken trockengelegt oder in<br />

Fischzuchtanlagen umgewandelt. Die Umgestaltungsmaßnahmen betrafen auch das Delta<br />

(4.152 km 2 Fläche ohne Lagunen-Komplex von Razelm-Sinoe), wo es zunächst zur<br />

Einrichtung von Schilfpoldern <strong>und</strong> Fischzuchtanlagen kam. 1983 wurden die<br />

Eindeichungs- <strong>und</strong> Trockenlegungsarbeiten mit verstärkter Intensität fortgesetzt. Dort<br />

wurden bis zur Wende insgesamt 97.409 ha Fläche eingedeicht, davon 39.974 ha <strong>für</strong><br />

intensive Landwirtschaft. Mit dem Verlust des Überschwemmungsgebietes kam es zu<br />

einem drastischen Einbruch der Fischpopulationen. Die Untere Donau ist nämlich<br />

vorzugsweise der Lebensraum zahlreicher Cypriniden (Karpfenartiger), die zum Ablaichen<br />

vegetationsreiche, flach überflutete Flächen, die so genannte "intinsura" brauchen. Durch<br />

die Abtrennung der Auen gingen diese "Fischkinderstuben" verloren <strong>und</strong> damit auch fast<br />

das gesamte traditionelle Fischereiwesen an der Unteren Donau oberstrom des Deltas.<br />

Der großflächige Verlust an Wasserflächen durch Trockenlegen vieler Auenseen führte zu<br />

lokalen Klimaveränderungen, die unter anderem einen Einfluss auf die Landwirtschaft an<br />

den Terrassenhängen der Donau hatten. Der gestörte Wasserhaushalt in den Auen der<br />

Unteren Donau führte unter den Bedingungen des kontinentalen Klimas (mit hoher<br />

Verdunstung) zur Versalzung vieler Böden, so dass sie <strong>für</strong> die landwirtschaftliche Nutzung<br />

an Wert verloren oder unbrauchbar wurden. Die Versalzung traf auch auf die<br />

eingedeichten Flächen im Donau-Delta zu. Zudem war der Verlust der Auen als<br />

biologische Filter <strong>für</strong> Schadstoffe zu beklagen, die nun stromabwärts transportiert wurden<br />

<strong>und</strong> zu einem erhöhten Eintrag an belastetem Wasser ins Donau-Delta führten. Nicht<br />

zuletzt zeigte auch das Hochwasser des abgelaufenen Jahres, dass durch die Abtrennung<br />

der Auen dem Strom die Räume <strong>für</strong> Hochwasserretention genommen wurden <strong>und</strong> sich die<br />

Wassermassen ihren Weg zum Teil selbst suchten, wobei es zu verheerenden Folgen<br />

kam. Die wichtige Retentionsfunktion der Auen wurde außer Acht gelassen sowie auch<br />

ihre sonstigen Funktionen als Lebensraum <strong>für</strong> Tiere, als biologischer Filter, Klimaregler<br />

etc. Insgesamt wurde der Lebensraum vieler Arten drastisch reduziert oder ging vollends<br />

verloren. Dennoch waren im Delta zum Zeitpunkt der Wende große Flächen unversehrt<br />

geblieben. Von dem gesamten Umgestaltungsprogramm sind viele geschädigte Gebiete<br />

übrig geblieben, aber viele eingerichtete Polder werden auf Gr<strong>und</strong> zu hoher Strom- <strong>und</strong><br />

Pumpkosten sowie mangelnder Infrastruktur nicht mehr entsprechend der Bestimmung<br />

des Umgestaltungsplanes genutzt.<br />

AM: Claudio Margris schreibt in seinem Buch "Donau. Biographie eines Flusses", dass<br />

sich die Bevölkerung des Deltas von über 21.000 im Jahr 1970 auf weniger als 15.000 im<br />

Jahr 1992 verringert habe. Warum damals dieser dramatische Rückgang? Wie war die<br />

Entwicklung nach 1992?<br />

Schneider: Der Bevölkerungsrückgang war auf den Mangel an Arbeitsmöglichkeiten<br />

zurückzuführen <strong>und</strong> auf den Mangel an weiterführenden Schulen. In den meisten Orten<br />

gab <strong>und</strong> gibt es nur die ersten vier Klassen, danach müssen die Kinder in größere Orte<br />

gehen, um die weiterführenden Schulen zu besuchen. Es gab <strong>und</strong> gibt nur zwei größere<br />

Ortschaften im Delta: Sulina (etwa 5.000 Einwohner, aber gegenwärtig eher weniger)<br />

<strong>und</strong> Chilia (etwa 2.000, ebenfalls eher weniger). Es wurden große staatliche Fischfarmen<br />

eingerichtet, die das traditionelle Fischereigewerbe einengten <strong>und</strong> die<br />

Arbeitsmöglichkeiten reduzierten. Der Bevölkerungsschw<strong>und</strong> im Donau-Delta setzte sich<br />

auch nach der Wende fort, so dass zur Zeit die Einwohnerzahl mit etwa 8.000 angegeben<br />

wird. Viele sind noch in ihren Herkunftsorten im Delta gemeldet, wohnen aber nicht mehr<br />

dort. Besonders <strong>für</strong> die jungen Leute gibt es keine Arbeit, außerdem ist das schwere,<br />

entbehrungsreiche Leben im Donau-Delta ein Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> das Ausweichen auf andere<br />

Möglichkeiten. "Die Kinder sollen es besser haben", heißt es. Diese Entwicklung ist nur<br />

dann zu stoppen, wenn es <strong>für</strong> die Bevölkerung im Delta Alternativen gibt, die es lohnend<br />

machen, dort zu bleiben.<br />

AM: Was kann man tun, um zu verhindern, dass immer mehr Junge aus der Delta-<br />

Region in die Städte abwandern? Eine Option wäre etwa die des Ökotourismus:<br />

Einheimische Fischer, die ihre Gäste in kleinen Booten durch das Delta führen…<br />

- 91 -


Schneider: Die Option Ökotourismus mit Naturbeobachten <strong>und</strong> Genießen des einfachen<br />

Lebens <strong>und</strong> der Ruhe der Deltaweiten kann einige Verbesserungen <strong>für</strong> die Region<br />

bringen, aber nur wenn es gute Alternativmöglichkeiten gibt <strong>und</strong> lokale Initiativen<br />

unterstützt, die es lohnen machen, dort zu bleiben. Dazu gehört, dass man die<br />

Einwohner unterstützt, ihre Häuser besser auszustatten, die sanitären Möglichkeiten zu<br />

verbessern, die Wasserversorgung regelt, die gesamte Infrastruktur in den Dörfern<br />

verbessert <strong>und</strong> nicht jeder Einkauf nur in Tulcea getätigt werden kann. Des weiteren<br />

sollte man auch die lokalen Fischer unterstützen <strong>und</strong> bevorzugen, die Preise <strong>für</strong><br />

angebotenen Fisch sollten korrekt festgelegt werden, der Fischmarkt sollte frei sein <strong>und</strong><br />

sich nach Angebot <strong>und</strong> Nachfrage regeln. Auch sollte der Zugang der lokalen Bevölkerung<br />

zu den Ressourcen – natürlich mit bestimmten Umweltauflagen – frei sein <strong>und</strong><br />

Nutzungsmöglichkeiten bevorzugen, die sowohl der Bewahrung der Biodiversität als auch<br />

der Ressourcennutzung durch die lokale Bevölkerung zugute kommen. Der Ökotourismus<br />

sollte auch dahingehend unterstützt werden, dass die lokalen Produkte den Touristen<br />

angeboten werden können, z.B. selbstgemachter Käse (es gibt Schafzucht <strong>und</strong><br />

traditionelle Rinderhaltung). Da der Ökotourismus nur <strong>für</strong> die Sommermonate<br />

interessante Möglichkeiten bietet, sollte man über zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten <strong>für</strong><br />

die Bewohner des Deltas nachdenken, zu denen auch das Aufleben traditioneller<br />

Handwerkstätigkeiten (z. B. Flechten von Matten <strong>und</strong> Körben) gehört. Der Ökotourismus<br />

hat bereits einige Verbesserungen gebracht. Viele Einwohner, besonders am Sulina-Arm<br />

sowie auf der rechten Seite des Sf. Gheorghe-Arms, haben sich kleine Pensionen gebaut<br />

<strong>und</strong> eingerichtet, sozusagen Familienbetriebe, die von Touristen gern angenommen<br />

werden. Allerdings hat auch diese Bautätigkeit ihre Kehrseiten, vor allem dann, wenn die<br />

Architektur der Bauten nicht der traditionellen Bauweise angepasst ist. Es müsste<br />

vielmehr auf eine vernünftige Raumplanung geachtet werden.<br />

AM: Welche Rolle spielt die Donau als Trinkwasserquelle? Haben die Rumänen<br />

überwiegend Zugang zu sauberem Trinkwasser?<br />

Schneider: Im Einzugsgebiet der Donau sind etwa 22 Millionen Menschen mit ihrer<br />

Trinkwassernutzung von der Donau abhängig. An der Unteren Donau beziehen alle<br />

größeren Städte ihr Trinkwasser aus dem Fluss. Die Stadt Tulcea am Donau-Delta<br />

entnimmt ihr Trinkwasser ebenfalls der Donau. Da<strong>für</strong> gibt es auch Aufbereitungsanlagen,<br />

die aber dringend vergrößert werden müssen. Abwasserreinigung, Kläranlagen gibt es<br />

jedoch kaum oder von zu geringer Kapazität, so dass Abwässer zum großen Teil in die<br />

Donau eingeleitet werden. In den Dörfern entlang der Unteren Donau wird das<br />

Trinkwasser eher aus Gebieten der Donauterrasse entnommen. Dort gibt es überall<br />

Trinkwasserbrunnen. Allerdings gibt es in den Dörfern keine oder kaum eine zentrale<br />

Trinkwasserversorgung mit Wasserleitungen zu den Häusern. In einigen Orten ist man<br />

gerade dabei, Trinkwasserleitungen zu legen. Für die Bevölkerung des Donau-Deltas war<br />

das Donauwasser die einzige Trinkwasserquelle. Auch heute noch sieht man bei einigen<br />

Gehöften große Behälter aus Kalkstein, in die das Wasser hineingeschüttet wurde, um es<br />

zu filtern. In manchen Deltadörfern gibt es Brunnen, deren Trinkwasser heilig ist <strong>und</strong><br />

daneben ein Kreuz steht, weil das Wasser darin so wertvoll ist. In wenigen Dörfern des<br />

Deltas wurden Trinkwasserleitungen gelegt (Mila 23), an die sich die Bewohner<br />

anschließen können. Heute wird das Trinkwasser ins Delta meist in Wasserkästen aus der<br />

Stadt gebracht. Die größten Investitionen sind im Bereich Trinkwasserversorgung <strong>und</strong><br />

Abwasserreinigung erforderlich <strong>und</strong> es gibt bereits viele diesbezügliche Anstrengungen<br />

<strong>und</strong> konkrete Projekte.<br />

AM: Im Jahr 2000 unterzeichneten die Umweltminister von Rumänien, Bulgarien,<br />

Moldawien <strong>und</strong> der Ukraine das Projekt "Grüner Korridor", eine Vereinbarung zum Schutz<br />

der unteren Donau <strong>und</strong> des Deltas, das bisher größte Renaturierungsvorhaben in Europa.<br />

Wie verträgt sich dieses Vorhaben mit dem im Jahr 2004 von der Ukraine begonnenen<br />

Bau des Bystroe-Kanals, der in Zukunft direkt durch einen Teil des Mündungsgebietes<br />

führen soll?<br />

- 92 -


Schneider: Der Bystroe-Kanal stellt <strong>für</strong> die Donaumündung aus ökologischer Sicht ein<br />

Problem dar. Untersuchungen zeigen deutlich, dass der Bystroe-Kanal längerfristig<br />

negative Auswirkungen auf das Ökosystem Donau-Delta/Donau haben wird. Diese betrifft<br />

vor allem die Störe, die aus dem Schwarzen Meer Donau aufwärts wandern. Diese<br />

brauchen <strong>für</strong> ihre Wanderung im wahrsten Sinne des Wortes einen freien, natürlichen<br />

Korridor. Der Bystroe-Arm des sek<strong>und</strong>ären Deltas am Chilia-Arm ist Teil dieses Korridors.<br />

<strong>Wissen</strong>schaftliche Untersuchungen belegen, dass z. B. der als Schifffahrtskanal<br />

ausgebaute Sulina-Arm im Donau-Delta <strong>für</strong> die Störwanderung verloren gegangen ist <strong>und</strong><br />

von den Störarten gemieden wird. Leider belegt das Problem Bystroe, dass die<br />

Integration von Umweltproblemen in einem solchem Vorhaben nicht berücksichtigt wird.<br />

Der Bystroe-Kanal ist nur eine kurze Strecke, zieht jedoch weitere Maßnahmen nach sich,<br />

die den gesamten Chilia-Arm betreffen werden, wenn das Vorhaben der Ukrainer, eine<br />

eigene Schifffahrtsstraße auf dem Chilia/Kilija-Arm zu haben, verwirklicht wird oder wenn<br />

ein geplanter Anlenkungsdamm ins Meer hinaus gebaut wird. Dabei könnte es dann zu<br />

Problemen veränderter Ablagerung <strong>und</strong> auch zu Erosion an anderer Stelle der Küste<br />

kommen. Der Bystroe-Kanal ist keine dauerhafte Lösung <strong>für</strong> die Schifffahrt, da er immer<br />

wieder ausgebaggert werden muss. Zur Zeit werden große Geldsummen genannt, die <strong>für</strong><br />

den Bystroe-Kanal verwendet werden sollen, die Baggerung allein verschlingt jedoch<br />

nicht soviel Geld <strong>und</strong> es scheint, dass das Geld <strong>für</strong> andere Zwecke verwendet wird.<br />

AM: Wo liegt Ihrer Ansicht nach die Grenze zwischen einer angemessenen<br />

wirtschaftlichen Nutzung der Donau als "Wasserstraße" <strong>und</strong> einem schonenden Umgang<br />

ihrer natürlichen Ressourcen – etwa am Beispiel des von der EU ins Leben gerufenen<br />

"Trans European Network for Transport"?<br />

Schneider: Leider ist es auch bei diesem Projekt so, dass diejenigen, die die<br />

Entscheidung <strong>für</strong> TENs-T treffen, sich nicht mit den Ökologen an einen Tisch setzen, um<br />

gemeinsam Lösungen zu finden, die naturverträglich <strong>und</strong> auch <strong>für</strong> die Schifffahrt tragbar<br />

sind. Wenn die Schifffahrt nicht an die Flussbedingungen der Donau angepasst wird, ist<br />

langfristig eine nachhaltige Beeinträchtigung <strong>für</strong> die Umwelt zu erwarten. Die Donau<br />

bietet Alternativen durch ihre große Strombreite, so dass sie mit flacheren, breiteren<br />

Schiffen größerer Länge befahren werden könnte ohne dass Flussbettveränderungen<br />

durchgeführt werden müssten, auch wenn niedrigere Wasserstände vorhanden sind<br />

(Anpassung der Schifffahrt an den Fluss <strong>und</strong> nicht des Flusses an die Schifffahrt). Auf der<br />

Donau gibt es im Vergleich zum Rhein einen viel geringeren Verkehr. Wo auf dem der<br />

Rhein bei Duisburg 100 Millionen Tonnen Fracht transportiert werden <strong>und</strong> bei Karlsruhe-<br />

Mannheim etwa 40 Millionen, so sind es auf der Unteren Donau 6-10 Millionen Tonnen,<br />

eine Ziffer, die auch <strong>für</strong> den serbischen Abschnitt Gültigkeit hat. Außerdem müsste der<br />

Schiffsverkehr auf der Donau auch in Relation mit den anderen Verkehrsmitteln LKW <strong>und</strong><br />

Eisenbahn gesehen werden. Man kann jedoch den Verkehr auf dem Rhein nicht mit dem<br />

auf der Donau vergleichen. Für die untere Donau würde es ein eigenes regionales<br />

Konzept brauchen, dass sowohl der Schifffahrt als auch den Umweltbelangen Rechnung<br />

trägt. Auch wäre noch zu erwähnen, dass <strong>für</strong> jede Maßnahmenplanung eine<br />

Umweltverträglichkeitsstudie gemacht werden muss (Strategic Environmental<br />

Assessment), <strong>und</strong> zwar aufgr<strong>und</strong> einer integrierten Untersuchung, die sowohl dem<br />

Transport als auch den Umweltbelangen Rechnung trägt. Außerdem gibt es verschiedene<br />

legale Instrumente, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Nach der Europäischen<br />

Wasserrahmenrichtlinie müssen auch stark veränderte Wasserkörper einem potentiell<br />

guten Zustand zugeführt werden.<br />

AM: Ein Lehrsatz der Ökologie besagt, dass sich in "katastrophenreichen" Landschaften<br />

wesentlich mehr Arten ansiedeln können. Dem steht aber das Bedürfnis des Menschen<br />

nach mehr Schutz, insbesondere vor den regelmäßigen Donau-Hochwässern, entgegen.<br />

Wie kann es trotz allem ein Miteinander von Mensch <strong>und</strong> Natur an der Donau geben? Was<br />

passiert zum Beispiel, wenn es durch Dammbauten oder Kanälen zu keinen regelmäßigen<br />

Überschwemmungen mehr kommen kann? Welche Auswirkungen hätte das <strong>für</strong> die Natur?<br />

- 93 -


Schneider: Es ist bekannt, dass der Fluss <strong>und</strong> seine Aue ein dynamisches System bilden<br />

<strong>und</strong> gerade die Dynamik <strong>und</strong> die Vielfalt der Kleinlebensräume die Arten- <strong>und</strong><br />

Habitatvielfalt bedingt. Die Menschen haben in früheren Zeiten auch mit dem Fluss <strong>und</strong><br />

meist in Einklang mit ihm gelebt. Die Ortschaften wurden meist am Rand der<br />

Niederterrasse gebaut, sowie es beispielsweise an der Unteren Donau auch deutlich wird.<br />

Erst durch die Trennung der Auen vom Strom <strong>und</strong> der Trockenlegung konnte man in die<br />

Auen bauen. Gerade aber der Verlust an Auen bzw. an Retentionsraum <strong>für</strong> den Fluss hat<br />

große Hochwasserprobleme heraufbeschworen. Bedingt durch die Hochwasserereignisse<br />

des Jahres 2006 hat ein Umdenkprozess begonnen <strong>und</strong> es wurden in Rumänien Pläne<br />

entworfen, wie man die Hochwassersicherheit vergrößern könne. Um die Ortschaften, die<br />

gefährdet sind, weil die Terrasse zu niedrig ist oder weil man in die Auen gebaut hat,<br />

müssen Ringschutzdeiche errichtet werden. Dort wo es möglich ist, müssen die Dämme<br />

jedoch geöffnet <strong>und</strong> die Auen wieder mit dem Strom verb<strong>und</strong>en werden, um Flächen zur<br />

Hochwasserrückhaltung zu schaffen, was sowohl der Natur als auch dem Menschen<br />

zugute kommen wird. Immer lauter <strong>und</strong> bestimmter wird über das Konzept "mehr Raum<br />

<strong>für</strong> Flüsse" nachgedacht <strong>und</strong> verhandelt. Das Ausbleiben der Überschwemmungen führt<br />

zu Veränderungen vor allem im Wasserhaushalt, bringt einen Verlust typischer<br />

Lebensräume, führt z.B. an der unteren Donau zu Versalzung <strong>und</strong> Versteppung, zu<br />

Klimaveränderungen etc. Schließlich verschwindet der Lebensraum zahlreicher Arten.<br />

AM: Einer Untersuchung zufolge kamen 1980 noch knapp 80.000 ausländische Touristen<br />

ins Delta, im Jahr 1993 dann nur noch etwa 7.000. Warum kam es damals zu diesem<br />

starken Besucherschw<strong>und</strong>? Hat sich die Zahl der Reisenden heute wieder erholt?<br />

Schneider: In den achtziger Jahren wurden viele Gruppenreisen organisiert. Das war zu<br />

der Zeit als beispielsweise auch Neckermannreisen ans Schwarze Meer stattfanden, die<br />

dann auch ins Donau-Delta führten. Später, als die Bedingungen <strong>für</strong> Ausländer immer<br />

strenger wurden, blieben die Touristen weg. Im Zuge der Umgestaltungspläne <strong>für</strong> das<br />

Donaudelta wurden die Besucher dann eher ferngehalten. Die Zahl der Reisenden hat<br />

sich heute einigermaßen erholt, hält sich jedoch auf relativ niedrigem Niveau. Ursache<br />

da<strong>für</strong> sind steigende Preise, teure Hotels <strong>und</strong> teilweise nicht so gute Dienstleistungen. Für<br />

die Rumänen sind Angebote <strong>für</strong> Auslandsreisen viel besser <strong>und</strong> begehrenswerter, erstens<br />

weil man bis Ende der Ceauşecsu-Ära nicht reisen konnte <strong>und</strong> nun die Möglichkeit hat,<br />

<strong>und</strong> zweitens, weil die ausländischen Angebote attraktiver <strong>und</strong> preiswerter sind als im<br />

eigenen Land. Ökotourismus hingegen ist <strong>für</strong> Ausländer, die Rumäniens Natur kennen<br />

lernen wollen, sehr attraktiv.<br />

AM: Wie können die einheimischen Bewohner des Deltas vom Tourismus profitieren,<br />

wenn die meisten Besucher noch immer in den großen Städten übernachten <strong>und</strong> dann<br />

nur auf einen Sprung ins Naturschutzgebiet kommen? Der überwiegende Teil der<br />

Einnahmen geht doch vor allem an die Reiseveranstalter oder an Führer, die sich nicht<br />

aus der ansässigen Bevölkerung rekrutieren.<br />

Schneider: Große Busreisen, die nur als Tagesausflug gedacht <strong>und</strong> mit Übernachtungen<br />

im Hotel verb<strong>und</strong>en sind, finden immer weniger Statt. Der Trend geht schon zu kleineren<br />

Reisen <strong>und</strong> Nutzung von Hausbooten. In dem Fall hat die lokale Bevölkerung aber auch<br />

wenig davon. Es müssen, wie schon erwähnt, auch <strong>für</strong> die lokale Bevölkerung<br />

Alternativen geboten werden, die es ihnen ermöglichen, im Tourismusgeschäft besser<br />

mitzumachen.<br />

AM: Welche Maßnahmen halten Sie <strong>für</strong> nötig, damit das Donaudelta auch in Zukunft als<br />

gemeinsamer Lebensraum <strong>für</strong> Tier <strong>und</strong> Mensch erhalten werden kann?<br />

Schneider: Maßnahmen zur Stärkung des Umweltbewusstseins, des Bewusstseins <strong>für</strong> die<br />

Werte des Donaudeltas <strong>und</strong> ihren Schutz; Erarbeitung von Lösungen, die Naturschutz<br />

<strong>und</strong> nachhaltige Nutzung der Ressourcen verbinden; Zugang der lokalen Bevölkerung zu<br />

den Ressourcen <strong>und</strong> deren geregelte Nutzung; ein gut geregeltes Kontrollsystem <strong>für</strong> die<br />

- 94 -


Ressourcennutzung <strong>und</strong> den Tourismus, um Übergriffe auszuschalten; Eindämmung des<br />

wilden Motor-Schnellboottourismus <strong>und</strong> bessere Kontrolle der Zugänge solcher<br />

Motorboote <strong>und</strong> der im Delta genutzten Wege (auf manchen Kanälen geht es zu wie auf<br />

der Autobahn); besserer Schutz der Kernzonen des Biosphärenreservats mit<br />

funktionierenden Kontrollmechanismen (einschließlich Kampf gegen Wilderei); bessere<br />

Abstimmung der Biosphärenreservatsverwaltung mit den lokalen <strong>und</strong> regionalen<br />

Behörden; Einbindung der lokalen Bevölkerung in Entscheidungsprozesse: Informations-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationsveranstaltungen.<br />

AM: Sehr geehrte Frau Schneider, haben Sie vielen Dank <strong>für</strong> das Interview!<br />

Prof. Dr. Erika Schneider (erika.schneider@iwg.uni-karlsruhe.de), Jahrgang 1942, ist<br />

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Auen-Institut des WWF (World Wide F<strong>und</strong> for Nature) in Rastatt.<br />

Sie studierte Biologie mit Schwerpunkt Botanik an der Universität Klausenburg. Als Forscherin<br />

arbeitete sie bis 1969 am Biologischen Forschungszentrum der Rumänischen Akademie der<br />

<strong>Wissen</strong>schaften in Klausenburg <strong>und</strong> anschließend bis 1984 im Naturwissenschaftlichen Museum in<br />

Hermannstadt, damals Abteilung des Brukenthal-Museums. 1985 trat sie in das WWF-Auen-Institut<br />

Rastatt ein, wo sie bis heute als Expertin <strong>für</strong> Vegetationsk<strong>und</strong>e, Pflanzenökologie, Renaturierung von<br />

Feuchtgebieten <strong>und</strong> Umweltverträglichkeitsstudien wirkt. In den letzten Jahren lag der Schwerpunkt<br />

ihrer Tätigkeit in der Renaturierung des Donaudeltas.<br />

Publikationen<br />

...<br />

Über 100 Veröffentlichungen in Fachzeitschriften <strong>und</strong> Büchern, Mitarbeit an r<strong>und</strong> 50 Fachgutachten,<br />

Mitgliedschaft in mehreren internationalen Gesellschaften <strong>und</strong> Teilnahme an zahlreichen Tagungen.<br />

Umfassendere Arbeiten der letzten Jahre sind: "Die Auen im Einzugsgebiet der unteren<br />

Donau"(1991), "Die ökologische Funktion der Donauauen <strong>und</strong> ihre Renaturierung" (engl., 2002), "Die<br />

Auenwälder der Donau (franz., 2003).<br />

Homepage<br />

...<br />

www.auen.uni-karlsruhe.de<br />

- 95 -


Rumäniens Wirtschaft <strong>und</strong> Politik<br />

Wandel <strong>und</strong> gegenwärtige Gestalt<br />

Schon früh wurde der wirtschaftliche Aufschwung Rumäniens von <strong>und</strong> <strong>für</strong><br />

eine sehr schmale Elite betrieben. Das ist heute nicht viel anders. Wie sonst wäre<br />

es zu erklären, dass die wirtschaftlichen Wachstumsraten abenteuerlich hoch,<br />

die Armut aber nach wie vor groß ist.<br />

Von Hannes Hofbauer<br />

(01. 01. 2007)<br />

Im Sog der drei historischen Zentren Europas finden sich rumänischsprachige<br />

Gebiete <strong>und</strong> Menschen seit Jahrh<strong>und</strong>erten zwischen den Interessen Wiens bzw.<br />

Brüssels, Moskaus <strong>und</strong> Konstantinopels / Istanbuls. Der sich über ein Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

hinziehende Rückzug der Osmanen aus der Region <strong>und</strong> die damit einhergehende<br />

Auflösung der drei von der Hohen Pforte oberherrschaftlich verwalteten<br />

historischen rumänischen Fürstentümer Moldawien, Transsylvanien <strong>und</strong> Walachei<br />

hat der nachmaligen Türkei ihren Einfluss auf Rumänien geraubt. Umso stärker<br />

traten seit dem späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert die österreichischen Habsburger <strong>und</strong> die<br />

russischen Romanovs in Erscheinung.<br />

Die Eingliederung von Teilen der rumänischen Siedlungsgebiete als<br />

Siebenbürgen <strong>und</strong> Bukowina unter Wiener bzw. von Bessarabien unter Moskauer<br />

Kontrolle modernisierten wirtschaftlich gesehen einerseits die ehemaligen<br />

tributären Ökonomien, brachten sie jedoch andererseits unter verstärkte<br />

ökonomische Abhängigkeit. Mit der Gründung Rumäniens als geopolitischem<br />

Kompromiss der Weltmächte am Berliner Kongress 1878 verstärkten das<br />

Deutsche Reich <strong>und</strong> Österreich-Ungarn ihren Einfluss in den rumänischen<br />

Siedlungsgebieten. Die Abhängigkeit des Landes von westlichen Interessen kam<br />

politisch am sichtbarsten in der Einsetzung eines hohenzollerischen<br />

Adelssprösslings, Karl, als erstem rumänischen König zum Ausdruck. Der<br />

wirtschaftliche Aufschwung des Landes wurde von <strong>und</strong> <strong>für</strong> eine sehr schmale Elite<br />

betrieben. Eine Bodenreform im Jahr 1920 machte aus feudal vollständig<br />

abhängigen Landarbeitern Kleinstbauern, dem Hunger der Landbevölkerung<br />

konnte sie ebenso wenig entgegenwirken wie dem Analphabetismus, der vier<br />

Fünftel der RumänInnen betraf. Die gegenüber dem Land parasitäre Stadt blieb<br />

als solche bestehen.<br />

Mit dem Sieg der Roten Armee über Hitler-Deutschland <strong>und</strong> seine<br />

Verbündeten 1944 übernahm eine in der rumänischen Gesellschaft kaum<br />

verankerte kommunistische Partei die Initiative. Rasche Proletarisierung unter<br />

entwicklungsdiktatorischen Bedingungen industrialisierte das Land,<br />

alphabetisierte die Bevölkerung <strong>und</strong> veränderte die Lebensbedingungen<br />

gr<strong>und</strong>legend: im Jahr 1990 hatte die durchschnittliche Lebenserwartung mit 70<br />

Jahren fast westeuropäisches Niveau erreicht, 1930 war sie noch bei 40 Jahren<br />

gelegen.<br />

- 96 -


Nach der Erschießung des letzten national-kommunistischen Führers Nicolae<br />

Ceausescu dauerte es in Rumänien länger als in vergleichbaren Nachbarländern,<br />

bis sich westliche Konzerne das vormalige Staatseigentum aufteilten. Das lag<br />

unter anderem an dem geringen Druck, den mächtige Institutionen wie Weltbank<br />

<strong>und</strong> Währungsfonds auf die postkommunistische Elite ausüben konnten:<br />

Ceausescu hatte die in den 1970er Jahren angehäufte Außenschuld Rumäniens im<br />

Jahr 1989 zurückbezahlt, das Land war schuldenfrei.<br />

Erst gegen Ende der 1990er Jahre konnte sich eine den westeuropäischen<br />

<strong>und</strong> US-amerikanischen Konzernen ergebene Administration in Bukarest<br />

etablieren. Seither testet das Kapital aus den Zentren radikale ökonomische <strong>und</strong><br />

soziale Maßnahmen in der rumänischen Peripherie. Mit der Einführung eines<br />

Einheitssteuersatzes von 16% "Flat tax" <strong>für</strong> Unternehmenssteuern ist Rumänien <strong>für</strong><br />

große Investoren steuerlich das günstigste Land in der Europäischen Union<br />

geworden. Der Durchschnittslohn beträgt ein Fünftel des westeuropäischen<br />

Niveaus. Die durch neue Verelendung ausgelöste Mobilisierung hat nach<br />

Schätzung des Arbeitsministers zwei Millionen RumänInnen – als großteils<br />

"Illegale" – auf westeuropäische Arbeitsmärkte getrieben. In der Landwirtschaft<br />

mit dem EU-weit höchsten Beschäftigtenanteil von 35% bauen US-Konzerne<br />

großflächig gentechnisch veränderte Lebensmittel an. Die Profitraten von<br />

Banken,Versicherungsgesellschaften <strong>und</strong> Energiekonzernen, die allesamt von<br />

westeuropäischen Zentralen aus geführt werden, liegen weit über dem EUeuropäischen<br />

Durchschnitt. Und von der westeuropäischen Öffentlichkeit<br />

weitgehend unbemerkt, sitzt der bekannteste rumänische Gewerkschaftsführer,<br />

der Bergarbeiter Miron Cozma, seit 1999 wegen Staatsgefährdung im Gefängnis.<br />

Dies wohl als Warnung an alle im rumänischen Transformationsrausch zu kurz<br />

Gekommenen, gegen ihre soziale Marginalisierung auf die Straße zu gehen.<br />

Wohin sich die Millionen unbrauchbar Gewordenen, vom Kommunismus<br />

Proletarisierten <strong>und</strong> jetzt Prekarisierten in naher Zukunft wenden sollen, ist nach<br />

der EU-weiten Schließung des Arbeitsmarktes <strong>für</strong> RumänInnen zur zentralen<br />

sozialen Frage geworden. Zur Zeit sieht es nicht danach aus, dass sich eine<br />

politische Kraft dieser Frage annimmt. Stattdessen wird in den Mainstream-<br />

Medien weiterhin viel vom Phänomen Rumänien zu lesen sein, in dem die<br />

wirtschaftlichen Wachstumsraten abenteuerlich hoch <strong>und</strong> – gleichzeitig angeblich<br />

unverständlicher Weise – die Armut abenteuerlich groß ist.<br />

Hannes Hofbauer (promedia@mediashop.at), Jahrgang 1955, hat Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeschichte<br />

an der Universität Wien studiert. Er arbeitet als Journalist <strong>und</strong> Publizist. Seit 1989 bereist er die<br />

Länder Osteuropas <strong>und</strong> hat – mit Co-Autoren – historisch angelegte Regionenportraits der Bukowina,<br />

Transsylvaniens/ Siebenbürgens <strong>und</strong> Schlesiens verfasst<br />

- 97 -


"Ovids Exildichtungen sind der Beginn<br />

einer 'rumänischen Literatur'"<br />

Aurora-Interview mit dem Altphilologen Gerhard Petersmann<br />

"Rumänien begreift sich in Mentalität <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong> als romanisches, der westlichen<br />

lateinischen <strong>Kultur</strong> Europas zugehörendes Land. Das kulturelle Erbe Roms ist<br />

allgegenwärtig <strong>und</strong> <strong>für</strong> Rumänien identitätsstiftend."<br />

Das Interview führte Franz Wagner<br />

(01. 03. 2007)<br />

AM: Was versteht man heute unter dem Begriff der Exildichtung <strong>und</strong> wie hat sich dieser<br />

entwickelt? Kann man von einem eigenen Genre sprechen?<br />

Petersmann: Unter Exil- oder auch Emigrantenliteratur versteht man im<br />

weiteren Sinne Werke verschiedener Gattungen von Autoren oder<br />

Autorinnen, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen ihre<br />

Heimat unter Zwang oder auf Gr<strong>und</strong> freier Entscheidungen verlassen<br />

mussten. Derartige Literatur geht bis in die Anfänge der Schriftkultur<br />

zurück, weil Vertreibung, Exil <strong>und</strong> Verbannung offenbar immer geschehen<br />

sind <strong>und</strong> leider auch geschehen – man denke an die aus welchen Gründen<br />

auch immer heute vorhandenen Migrationen aus Afrika <strong>und</strong> Asien. Auch die<br />

europäische Antike kennt zahlreiche Beispiele von Exilliteratur – von<br />

frühgriechischer Lyrik um 600 v. Chr. (Alkaios, Sappho, Hipponax u.a.) über<br />

Ovid <strong>und</strong> Seneca im 1. Jhdt. n. Chr. bis in die Spätantike reicht der Bogen.<br />

Exilliteratur entsteht aus den politischen Rahmenbedingungen einer<br />

Epoche, spiegelt Kämpfe um Macht <strong>und</strong> Einfluss wider, hat also wohl auch<br />

eine anthropologische Komponente. Waren es in der frühen Neuzeit<br />

Religionskämpfe, die Literatur Heimatvertriebener erzeugte, so wurden<br />

Verbannte <strong>und</strong> Emigranten des Zarenreiches im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert abgelöst<br />

von Exilierten <strong>und</strong> Flüchtlingen aus dem Sowjetimperium des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Die wohl größte <strong>und</strong> schrecklichste Ausweitung erfuhr<br />

Exilliteratur, von der man weniger als Gattung, aber durchaus als<br />

literarischem Genre sprechen kann, in der Zeit des Nationalsozialismus mit<br />

seinen unzähligen verbannten <strong>und</strong> verjagten, geflüchteten <strong>und</strong><br />

ausgewanderten Intellektuellen <strong>und</strong> Künstlern.<br />

AM: Im Alter von 50 Jahren wurde Publius Ovidius Naso nach Tomi am Schwarzen Meer,<br />

dem heutigen Constanza, verbannt. Ovid gibt später an, dass Kaiser Augustus diese<br />

Entscheidung persönlich getroffen habe, <strong>und</strong> sein Landesverweis weder durch ein<br />

Gerichtsverfahren noch durch einen Beschluss des Senats legitmiert war. Was war der<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> diesen überraschenden Schritt des Kaisers?<br />

Petersmann: P. Ovidius Naso, in Sulmo (heute Sulmona, in der Region<br />

L´Aquila) 43 v. Chr., ein Jahr nach der Ermordung Caesars geboren, gehört<br />

wohl neben Seneca zu den prominentesten verbannten Römern. Kaiser<br />

Augustus erließ im Jahre 8 n. Chr. einen von Ovid selbst als edictum<br />

bezeichneten Relegationsbescheid. In diesem wird die relegatio, die mildere<br />

- 98 -


Form der Verbannung nach Tomis (oder auch Tomi) verhängt.<br />

Staatsbürgerschaftliche Rechte <strong>und</strong> Vermögen blieben unangetastet, auch<br />

ein Publikationsverbot wurde gegen den bereits sehr berühmten Dichter<br />

offenk<strong>und</strong>ig nicht ausgesprochen. Die Gründe <strong>für</strong> dieses kaiserliche Edikt<br />

sind trotz aller Forschung bis heute ungeklärt. Es gibt lediglich Ovids eigene<br />

Hinweise in seinen Exildichtungen, den fünf Büchern der Tristia (carmina),<br />

also den "Liedern der Trauer", <strong>und</strong> den vier Büchern Epistulae ex Ponto, den<br />

ebenfalls hexametrischen Elegien der "Briefe vom Schwarzen Meer". Diese<br />

Hinweise sind kryptisch <strong>und</strong> haben zahllose Theorien nach sich gezogen, die<br />

allesamt Theorien geblieben sind. Ovid spricht von carmen <strong>und</strong> error, von<br />

seinem poetischen Werk <strong>und</strong> einem Missverständnis der staatlichen<br />

Autorität. Es bleibt offen, ob Ovid ein bestimmtes Werk seiner<br />

künstlerischen Produktion, etwa die Liebeselegien oder die schlüpfrigen<br />

Lieder seiner belehrenden <strong>und</strong> zum Sexualgenuss anregenden "Liebeskunst"<br />

gemeint hat oder sein Gesamtwerk - inklusive der weltberühmten<br />

Metamorphosen <strong>und</strong> des durch die Verbannung unterbrochenen<br />

Festkalenders Roms (Fasti). Hinsichtlich des error, des Missverständnisses,<br />

deutet er einmal durch den Hinweis auf eine in seinen Metamorphosen<br />

erzählte Geschichte des Mythos von Aktaion (Actaeon) an, dass er etwas<br />

gesehen oder unabsichtlich von etwas Kenntnis erlangt habe, was seine<br />

lebenslange Entfernung aus Rom nach sich zog. Der griechische Mythos<br />

erzählt, der schöne junge Jäger Aktaion habe bei der Jagd im tiefen Forst die<br />

Göttin Diana nackt beim Baden an einer Quelle gesehen <strong>und</strong> sei von ihr zur<br />

Strafe in einen Hirsch verwandelt worden. Die Metamorphose war tödlich –<br />

Aktaion wurde von seinen eigenen H<strong>und</strong>en zerrissen.<br />

AM: Die am äußersten Rand des römischen Imperiums gelegene Stadt Tomi zum Exilort<br />

zu bestimmen, erscheint ungewöhnlich. Warum wurde Ovid nicht wie üblich auf eine<br />

abgelegene italienische Insel oder in eine Griechenstadt Kleinasiens verbannt?<br />

Petersmann: Tomis (nach griech. Tomis, Tomidos) oder Tomi (nach griech.<br />

Tomoi) liegt im südlichen Teil des Donaudeltas <strong>und</strong> war zur Zeit Ovids seit<br />

über 600 Jahren griechische Koloniestadt von Auswanderern aus der<br />

kleinasiatischen Küstenstadt Milet. Nach der Einverleibung dieser Regionen<br />

in das Römische Reich war Tomi Grenzstadt zu den von Thrakern <strong>und</strong><br />

Getenstämmen bewohnten Ländern nördlich der Donau. Die Bevölkerung<br />

muss ein buntes Gemisch von Griechen, Thrakern <strong>und</strong> Römern gewesen<br />

sein, letztere bestehend aus Verwaltungspersonal, Kauf- <strong>und</strong> Handelsleuten<br />

sowie römischem Militär; die Administration war typisch griechisch<br />

ausgerichtet, allerdings unter römischer Oberhoheit. Tomis war nach<br />

Ausweis der archäologischen Bef<strong>und</strong>e durchaus eine Stadt mittlerer Größe,<br />

die mit ihren Hafenanlagen <strong>und</strong> Verbindungsstraßen in das ausgesprochen<br />

fruchtbare <strong>und</strong> geradezu als Getreidelieferant geltende Hinterland, die<br />

heutige Dobrudscha, eine nicht unbedeutende Rolle in der Region spielte.<br />

Inschriften bezeugen große Reedereien <strong>und</strong> Hafenanlagen noch in der<br />

Spätantike, auch ist das Christentum bereits früh bezeugt. Vielleicht lag <strong>für</strong><br />

Augustus die relativ große Entfernung von Rom sowohl auf dem Seeweg<br />

(Brindisi – Aegaeis - Dardanellen – Bosporus - Schwarzmeerküste) als auch<br />

noch schwieriger auf dem Landweg der Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Wahl des Ortes. Ovid<br />

muss in Tomi gestorben sein, etwa acht bis neun Jahre nach dem Antritt der<br />

Verbannung. Weder der greise Kaiser noch sein Nachfolger (seit dem<br />

- 99 -


Todesjahr des Augustus 14 n. Chr.) Tiberius haben die Relegation<br />

aufgehoben.<br />

AM: Sowohl in den Tristia als auch in den Briefen vom Schwarzen Meer adressiert Ovid<br />

all die Klagen über seinen jetzigen Zustand an die zurückgebliebenen Fre<strong>und</strong>e in der<br />

Heimat. Wie kommentierten Ovids Zeitgenossen dessen Exilschriften?<br />

Petersmann: Ovid schrieb seit Antritt seiner Reise 8 n. Chr. an Gedichten,<br />

Elegien im Hexameter, die er auch als solche bezeichnet, <strong>und</strong> sendet sie in<br />

Bücherrollen (libelli) nach Rom. Auffällig ist, dass er in allen Gedichten der<br />

fünf Bücher Tristien Adressaten nicht bei Namen nennt. Dies tut er aber<br />

sehr wohl bei allen Gedichten der "Briefe vom Schwarzen Meer". Aus der<br />

dortigen Begründung leitet sich die Erklärung <strong>für</strong> die "Namenlosigkeit" der<br />

Lieder der Trauer her: In den Tristien hat der Dichter offenk<strong>und</strong>ig Rücksicht<br />

auf die Adressaten genommen oder nehmen müssen, die nicht gerne offen<br />

mit dem eben Verbannten in Verbindung gebracht werden wollten. Ovid<br />

wollte ja mit seinen Liedern ihre Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung im Bemühen um<br />

die Rücknahme oder Aufhebung des Ediktes erreichen. Zunehmend durch<br />

die ersten Jahre der Verbannung <strong>und</strong> durch die Erfolglosigkeit derartiger<br />

Interventionen gezeichnet, lässt er alle Rücksichten fahren <strong>und</strong> verlangt in<br />

oft sehr direkten Aussagen in den poetischen Briefen vom Schwarzen Meer<br />

von namentlich genannten ehemaligen Fre<strong>und</strong>en, Bekannten <strong>und</strong><br />

Verwandten Unterstützung.<br />

AM: "Dies Land", schreibt der Verfasser der Metamorphosen in scheinbarer Übertreibung<br />

über seinen Verbannungsort, "es liegt nahe dem eisigen Pol". Wie bestimmend war die<br />

psychologische Erfahrung des Ausgesetztseins <strong>für</strong> Ovids Wahrnehmung des Landes <strong>und</strong><br />

seiner Bewohner? Anders gefragt: Sah sich Ovid in den knapp zehn Jahren seiner<br />

Verbannung vornehmlich als ein von Barbarei bedrohter Fremdling oder mehr als Lehrer<br />

<strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>bringer?<br />

Petersmann: Ovid hat in seinen Exildichtungen alle Höhen <strong>und</strong> Tiefen der<br />

Heimatferne, des Heimatverlustes, der Andersartigkeit, der Fremde<br />

"besungen". Seine Dichtungen sind zum Archetyp von Exildichtung<br />

geworden: Er durchlebt die auch bei vielen späteren Exilierten sichtbar<br />

werdenden Stadien der psychischen Bewältigung, bzw. Nichtbewältigung der<br />

Exilsituation. Ist es zunächst die auf ihn stürzende Fremde der <strong>Kultur</strong> <strong>und</strong><br />

Landschaft, die bei ihm das bekannte "Chez nous" – Syndrom auslöst, den<br />

ständigen bitteren <strong>und</strong> schmerzenden Vergleich mit der fernen Heimat,<br />

beginnen allmählich die Realität der Landschaftserfahrung, die veränderten<br />

Abläufe des täglichen Lebens, die besondere geographische Situation des<br />

Exilortes – mit seinen <strong>für</strong> einen Menschen der mediterranen Welt oft sehr<br />

kalt empf<strong>und</strong>enen Wintern – <strong>und</strong> die sicherlich vorhandene Feindbedrohung<br />

durch die Barbarenstämme der nördlich der Donau wohnenden Völker eine<br />

<strong>für</strong> den Verbannten nicht mehr einfach zu bewältigende Größe <strong>und</strong><br />

Bedeutung anzunehmen. Sie verzerren – verständlicherweise – die realen<br />

Verhältnisse: Auch das ist typisch <strong>für</strong> Exilliteratur, die sich mit der<br />

persönlich erlebten Situation des Exils auseinandersetzt. Dazu kommt in<br />

einem immer größer werdenden Ausmaß die Angst der totalen Isolation bis<br />

hin zum drohenden Sprachverlust. Auch hier die Verzerrung, die durch<br />

diese Furcht ausgelöst wird: Natürlich gab es genügend lateinisch<br />

- 100 -


sprechende Menschen in der Stadt <strong>und</strong> in der Region, aber die Kultiviertheit,<br />

der Lebensstil, der persönliche Umgang mit Intellektuellen <strong>und</strong> Künstlern,<br />

die Feinheit einer Bildungsgesellschaft, der Ovid in der Hauptstadt des<br />

Imperium, in Rom angehörte, war hier nur eine ferne Erinnerung.<br />

Merkwürdig ist auch, dass weder von Besuchen noch von Fre<strong>und</strong>en oder<br />

Verwandten, auch nicht von seiner offenbar von ihm selbst sehr geliebten<br />

dritten Frau <strong>und</strong> seiner Tochter die Rede ist. Das Land, Tomis <strong>und</strong> seine<br />

Bewohner werden des öfteren sehr negativ dargestellt. Auch wenn der<br />

Dichter getisch lernt, ja sogar nach seinen eigenen Angaben getisch dichtet,<br />

sieht er sich nirgends als <strong>Kultur</strong>bringer in einem Barbarenland, erlebt er<br />

vielmehr das Phänomen der "verkehrten Welt", des M<strong>und</strong>us inversus, wo<br />

man über seine Dichtungen lacht <strong>und</strong> er selbst in den Augen der Ansässigen<br />

der "Barbar" ist.<br />

AM: Rumänische <strong>Wissen</strong>schaftler veranstalten noch heute regelmäßig Ovid-Kongresse,<br />

auf denen Lateinisch gesprochen wird. Wie wichtig ist den Rumänen die Pflege der<br />

eigenen Sprache?<br />

Petersmann: Die historische Entwicklung hat Tomi in konstantinischer Zeit<br />

zu Constantiana gemacht, von dem sich heute der Name Constanza<br />

herleitet. Durch die Eroberungen <strong>und</strong> Neuorganisation der damaligen<br />

Regionen Mösien <strong>und</strong> Dakien vor allem durch Kaiser Trajan an der Wende<br />

vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrh<strong>und</strong>ert ist die<br />

Romanisierung der Region nahezu total geworden. Rumänien begreift sich in<br />

Mentalität <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong> als romanisches, der westlichen lateinischen <strong>Kultur</strong><br />

Europas zugehörendes Land. Das kulturelle Erbe Roms ist allgegenwärtig<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> Rumänien identitätsstiftend. Das Schicksal Ovids wird von<br />

Rumänen entsprechend gewürdigt <strong>und</strong> ist immer Forschungsgegenstand<br />

geblieben – Ovids Exildichtungen sind der Beginn einer "rumänischen<br />

Literatur". – Ob man bei Kongressen wirklich lateinisch spricht, möchte ich<br />

dahingestellt lassen. Heute ist die Konferenzsprache in Rumänien vielfach<br />

Französisch <strong>und</strong> natürlich Englisch.<br />

AM: Schlägt man rumänische Telefonbücher auf, stößt man häufig auf den Namen<br />

"Ovidiu". Wie lebendig ist im heutigen Rumänien eigentlich das Andenken an den<br />

Verfasser der Briefe vom Schwarzen Meer?<br />

Petersmann: Das kann ich schwer beantworten, da ich wenig Kontakt zu<br />

rumänischen <strong>Wissen</strong>schaftlern habe. Ovid als verbannter Römer gehört zu<br />

den kulturellen Größen Rumäniens, ist Bestandteil des kulturellen Erbes der<br />

Nation, gehört in besonderem Maße zum Bildungskanon <strong>und</strong> wird – wie die<br />

Sprache, in der er dichtete – an allen höheren Bildungseinrichtungen<br />

gepflegt.<br />

AM: Welche Bedeutung hatten die in Tomi entstandenen Lieder Ovids <strong>für</strong> die spätere<br />

Exildichtung?<br />

Petersmann: Ovids Exildichtungen, die alle in Tomi entstanden sind, sind<br />

aus den oben genannten Gründen archetypisch <strong>für</strong> dieses Genre der<br />

Literatur geworden. Daran ändern auch jüngste Versuche von<br />

Literaturwissenschaftlern nichts, die Verbannung Ovids als ein in der<br />

- 101 -


Realität nie stattgef<strong>und</strong>enes Ereignis, als eine rein poetische, das heißt<br />

virtuelle Verbannung zu sehen. Den großen Dichter Roms, der traditionelle<br />

Literaturformen als Auslaufmodelle erkannt habe <strong>und</strong> in<br />

Gattungssynkretismen neue reizvolle Gattungen schuf, habe die Problematik<br />

<strong>und</strong> vor allem die Psychologie einer Exilsituation <strong>und</strong> eines Exilierten gereizt<br />

<strong>und</strong> er habe sein eigenes Exil erf<strong>und</strong>en. In der Tat gibt es nirgends, auch<br />

nicht fast ein Jahrh<strong>und</strong>ert später etwa in den Werken des Plinius <strong>und</strong><br />

Tacitus auch nur den geringsten Hinweis auf ein Exil des Ovid. Derartige<br />

Vorstellungen moderner Interpreten haben bislang keinen Glauben<br />

gef<strong>und</strong>en. Es steht zu be<strong>für</strong>chten, dass Ovid, hätte er tatsächlich den alten<br />

Kaiser mit immer neuen Gedichten aus einem angeblich von diesem selbst<br />

herbeigeführten Exil genervt, vom Kaiser eben deswegen verbannt worden<br />

wäre – vielleicht auch nach Tomis.<br />

AM: Herr Prof. Petersmann, vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch!<br />

O.Univ.-Prof. Dr. Gerhard Petersmann (Gerhard.Petersmann@sbg.ac.at) ist Fachbereichsleiter<br />

des Fachbereiches Altertumswissenschaften an der Universität Salzburg.<br />

- 102 -


Endlich daheim – in der Fremde<br />

...<br />

Als 18-Jährige verließ Paula Leichtweiß ihre Geburtsstadt Bukarest,<br />

um mit ihrer Familie nach Deutschland auszuwandern. Vom Ceauşescu-Regime<br />

als "Person ohne Staatszugehörigkeit" gebrandmarkt, war sie über lange Jahre<br />

auf der Suche nach dem Gefühl von "Heimat".<br />

Von Paula Leichtweiß<br />

(01. 02. 2007)<br />

Es sind etwa 25 Jahre vergangen, seit ich mein Heimatland verlassen habe.<br />

Seitdem habe ich nur ein Mal als Touristin <strong>für</strong> zwei Wochen Anfang der 80er<br />

Jahre die Schwarzmeerküste besucht. Aber sonst bin ich, außer kurz bei<br />

einem Klassentreffen, nie wieder da gewesen. Mit 18 Jahren habe ich<br />

zusammen mit meinen Eltern Rumänien verlassen, um nach Deutschland<br />

auszuwandern – zur Familienzusammenführung, hieß es.<br />

Das Ceauşescu-Regime hatten wir alle satt <strong>und</strong> waren letztendlich der<br />

Ansicht, dorthin auswandern zu müssen, wo die anderen Familienmitglieder<br />

seit zig Jahren lebten. Da meine Mutter in Siebenbürgen geboren ist <strong>und</strong><br />

einen deutschen Namen hat, wurden wir häufig als "Nazis" beschimpft. Ich<br />

besuchte in Bukarest die deutsche Schule. Es machte mir immer wieder<br />

Spaß, mit meiner besten Fre<strong>und</strong>in auf dem Schulweg ausschließlich<br />

Deutsch zu sprechen. Wir fühlten uns stark, unverletzbar, da keiner in<br />

unserer Umgebung unsere Sprache verstand. Wir haben uns sogar<br />

manchmal über Leute lustig gemacht, weil wir genau wussten, keiner würde<br />

uns verstehen – wie kindisch! Auch deshalb wurden wir ziemlich dämlich<br />

angestarrt. Wir waren Fremde im eigenen Land. Wir haben uns eigentlich nie<br />

so richtig heimisch gefühlt. Wir hatten das Gefühl, dahin ziehen zu müssen,<br />

wo wir hingehörten.<br />

Wir stellten schließlich den Antrag auf Ausreise nach Deutschland, <strong>und</strong><br />

dann war langes Warten angesagt. Ich durfte meine Freude mit keinem<br />

teilen. Niemand durfte davon Wind bekommen, denn unser Antrag hätte<br />

abgelehnt werden können. Die rumänischen Behörden machten es uns nicht<br />

allzu einfach, das Land zu verlassen. Man sagte uns, wir bekämen erst die<br />

"kleinen" Papiere – also einen Zwischenbescheid, der bestätigte, dass wir als<br />

künftige Auswanderer erfasst wurden – <strong>und</strong> danach die "großen" Papiere, die<br />

dann quasi ein Voranschreiten der weiteren bürokratischen Abläufe<br />

ermöglichten. Insgesamt hat dieser Vorgang etwa ein halbes Jahr gedauert.<br />

Das war verhältnismäßig kurz im Vergleich zu anderen Verfahren, von denen<br />

wir gehört hatten.<br />

Als 18-Jährige wurde ich schließlich vor eine Kommission geladen, die mich<br />

zu verschiedenen Themen ausfragte. Ich betrat mit meiner Mutter einen<br />

Raum, in dem hinter einem langen Tisch etliche dubiose Personen saßen.<br />

Allesamt stellten sie mir unangenehme Fragen. Ich fühlte mich wie vor<br />

- 103 -


einem Gericht, das mich in Kürze <strong>für</strong> schuldig erklären würde. Man<br />

versuchte mich zu bekehren: Ich solle das Land nicht verlassen. Mir wurde<br />

sogar eine Wohnung zugesichert <strong>und</strong> eine gute Ausbildung. Man versuchte<br />

mir klar zu machen, ich müsse dem Wunsch meiner Eltern zum<br />

Auswandern nicht nachgeben. Als wir den Raum verließen, fragte ich mich:<br />

Bin ich nun schuldig oder nicht schuldig?<br />

Einige Monate später bekamen wir den erlösenden Bescheid. Unserer<br />

Ausreise stand nun nichts mehr im Wege. Die Freude war groß. Wir fühlten<br />

uns, als dürften wir heimfahren. Wir bekamen unsere Reisepässe, darauf<br />

stand "Reisepass <strong>für</strong> Personen ohne Staatszugehörigkeit" – also fast so wie<br />

"herrenlos". Viele weitere Behördengänge waren dann angesagt, bis uns<br />

schließlich die Haushaltsauflösung bevorstand. Ich musste mich von all<br />

meinen Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> von meinem so vertrauten Jugendzimmer<br />

verabschieden. Es war schon ein seltsames Gefühl, sich von allem trennen<br />

zu müssen, denn wir durften nur zwei Holztruhen mitnehmen, die an alte<br />

Reisekoffer aus vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erten erinnerten. Jedes Einzelteil<br />

drängte mich, es noch einmal genau anzusehen: Gehst du nun mit, oder<br />

musst du da bleiben?<br />

Außer meiner Kleidung <strong>und</strong> einigen Puppen aus der Kindheit durfte nichts<br />

mit. Alles musste verkauft oder verschenkt werden. Auch meine geliebte<br />

schwarze Katze durfte nicht mit. Die wurde zu einer entfernten Verwandten<br />

meines Vaters gebracht, doch da blieb sie nicht. An unserem letzten Abend<br />

in unserer Wohnung miaute sie plötzlich vor der Haustür. Sie war<br />

zurückgekehrt, obwohl ich sie in einer Reisetasche mit der Straßenbahn<br />

weggebracht hatte. Der Abschied von all unseren Fre<strong>und</strong>en am Flughafen<br />

war herzzerreißend. Endlich wurde mir klar, es gab kein Zurück.<br />

In der neuen Heimat angekommen, wo wir uns eigentlich "daheim"<br />

fühlen sollten, wurden wir als Eindringlinge betrachtet. Die Behördengänge<br />

beim Erstellen der neuen Papiere machten uns klar, dass wir eigentlich<br />

nicht hierhin gehörten. Uns wurde das Gefühl vermittelt, unsere alte Heimat<br />

verraten zu haben. Irgendwie bekam ich dadurch ein schlechtes Gewissen.<br />

Beim ersten "Interview" in Deutschland erging es mir ähnlich wie vor der<br />

Kommission in Rumänien. Wohl wieder schuldig? Doch wir ließen uns die<br />

Euphorie nicht trüben, endlich dort angekommen zu sein, wo wir<br />

hingehörten. Zunächst war alles aufregend neu. Nach einem Vierteljahr<br />

wurde uns eine hübsche Mietwohnung angeboten. Wir sagten sofort zu. Zu<br />

diesem Zeitpunkt dachten wir: endlich daheim. Leider hielt diese Euphorie<br />

<strong>für</strong> mich nicht allzu lange an.<br />

Ich durfte nun die Schule besuchen. Ich verfügte ja über keinen Abschluss,<br />

weil ich wegen unserer Ausreise die Schule hatte abbrechen müssen. Das<br />

neue Schulsystem machte mir sehr zu schaffen. Ich war an meine<br />

Klassengemeinschaft gewöhnt. Hier hatte ich auf dem Gymnasium Kurse<br />

<strong>und</strong> die Klassenkameraden waren nie die gleichen. Wir waren zwar eine<br />

"Tutorengruppe", sahen uns aber nur in den Pausen zwischen den<br />

Unterrichtsst<strong>und</strong>en. Ich war eine Klassenlehrerin gewöhnt – jetzt hatte ich<br />

- 104 -


einen Tutor. Meine Mitschüler waren zwar alle nett, aber irgendwie sehr<br />

fremd. Ständig wurde ich auf meine Herkunft angesprochen. Das fanden<br />

viele zwar sehr interessant, aber ich fühlte mich sehr unwohl in meiner Haut<br />

– ich war die Neue aus Rumänien. Ich durfte viel über meine alte Heimat<br />

berichten, aber irgendwie konnte ich mich nie so richtig als Dazugehörige<br />

fühlen. Dieser Eindruck wurde mir mehr durch die Lehrer vermittelt als<br />

durch meine Mitschüler. Schließlich war ich dann der Meinung, ich müsse<br />

mich endlich zusammenreißen, mich auf meinen Hosenboden setzen, alles<br />

ignorieren <strong>und</strong> ernsthaft lernen, um bei den Lehrern einen besseren<br />

Eindruck zu hinterlassen. Das tat ich zwar, kam aber nie so richtig an. Ich<br />

konnte mich noch so anstrengen, doch leider führte dies zu keinem Erfolg.<br />

Auch meine Zensuren wurden dadurch nicht besser.<br />

In meiner damaligen Verzweiflung kam mir plötzlich eine Idee: Ich bat<br />

eine Mitschülerin (eigentlich die Klassenbeste), <strong>für</strong> mich ein Referat zu<br />

schreiben. Ich schrieb es auf ein neues Blatt Papier <strong>und</strong> <strong>und</strong> gab es unter<br />

meinem Namen ab. Das Resultat war wieder einmal niederschmetternd. Ich<br />

bekam da<strong>für</strong> nur vier von fünfzehn möglichen Punkten. Nun stand <strong>für</strong> mich<br />

endgültig fest: Es liegt nicht an meiner Anstrengung, sondern an meiner<br />

Person, an meiner Herkunft. Dasselbe Gefühl hatte ich, was die Mitarbeit im<br />

Unterricht betraf: Auch sie wurde nie so richtig anerkannt. Mit den<br />

wachsenden Misserfolgen schwand auch die dazugehörende Motivation <strong>und</strong><br />

irgendwann brach ich die Schule ab. Vielleicht hätte ich mich dagegen<br />

wehren sollen, vielleicht hätte ich es auf eine Konfrontation ankommen<br />

lassen sollen, aber im Ceauşescu-Regime wurde uns eingetrichtert, den<br />

M<strong>und</strong> zu halten <strong>und</strong> sich fügen. Ich fühlte mich zwar daheim, aber auch<br />

sehr fremd <strong>und</strong> abgestoßen. Nicht das geringste Zeichen von Anerkennung<br />

durfte ich hier erfahren. Ich konnte mich schließlich nicht mehr dagegen<br />

wehren: Ich hatte Heimweh.<br />

Mittlerweile bin ich glücklich verheiratet <strong>und</strong> Mutter zweier Kinder. Ich weiß:<br />

ich bin daheim. Da, wo meine Familie ist, da bin ich daheim. Auch viele<br />

Fre<strong>und</strong>e habe ich in den letzten 25 Jahren dazubekommen. Mittlerweile<br />

fühle ich mich, als gehörte ich endlich dazu. Ein schönes Gefühl!<br />

Vor einigen Jahren war ich der Meinung, ich müsse meiner Familie das<br />

Land zeigen, wo ich aufgewachsen bin. Auf diese glorreiche Idee kam ich<br />

durch ein vorangegangenes Klassentreffen, das in Bukarest stattfand. Leider<br />

hatte ich zu diesem Zweck nur drei Tage eingeplant – viel zu kurz. So musste<br />

ich feststellen, dass mir Rumänien doch sehr gefehlt hatte. Nach 20 Jahren<br />

waren mir viele Straßen <strong>und</strong> Gebäude auf einmal so vertraut, als wäre ich<br />

nie weg gewesen. Das Haus, in dem unsere Wohnung war, stand immer<br />

noch, <strong>und</strong> ich hatte das Gefühl, ich kehrte heim. Ja sogar unsere nette<br />

Nachbarin aus dem Erdgeschoss wohnte immer noch da. Viele<br />

Freudentränen flossen bei unserem Wiedersehen. Und das Klassentreffen ...<br />

überwältigend! Emotionsgeladen wie all die Male davor. Als hätte ich meine<br />

nie gehabten Geschwister wiedergef<strong>und</strong>en. Nur leider war alles viel zu kurz.<br />

- 105 -


In der ersten Woche unseres Urlaubs, den wir anschließend dort<br />

verbrachten, waren wir Gäste einer sehr lieben ehemaligen Schulkollegin.<br />

Ich bin so froh, dass wir uns wiedergef<strong>und</strong>en haben! Sie ist ein Teil meiner<br />

wiedergef<strong>und</strong>enen Kindheit <strong>und</strong> Jugend. Obwohl wir zu Schulzeiten nicht<br />

sehr viel miteinander zu tun gehabt hatten <strong>und</strong> auch jetzt nicht viele<br />

Gemeinsamkeiten haben, verstehen wir uns blendend. Die zweite Woche<br />

verbrachten wir am Schwarzen Meer. Auch das war schön <strong>und</strong> aufregend,<br />

aber als Tourist im eigenen Land zu sein? – sehr seltsam. Die dritte Woche<br />

fuhren wir in die Berge, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation. Auch dort<br />

wohnten wir bei Fre<strong>und</strong>en – allein die Reise dorthin war abenteuerlich. Im<br />

Zug wurden wir angestarrt, als kämen wir von einem anderen Stern, als<br />

würde uns auf der Stirn geschrieben stehen, dass wir hier fremd sind. Alles<br />

war wieder sehr vertraut, aber ich habe mich mal wieder sehr fremd gefühlt.<br />

Vergangenes Jahr war ein neuerliches Klassentreffen, wieder in<br />

Bukarest, 25 Jahre seit Schulschluss. Irgendwie habe ich den Drang<br />

verspürt, die Sache in die Hand zu nehmen, in den letzten Jahren Kontakte<br />

zu alten Schulkollegen wiederherzustellen <strong>und</strong> sie zu animieren, zu einem<br />

weiteren Klassentreffen zu kommen. Und es kamen viel mehr als ich<br />

erwartet hatte. Auch jetzt flossen Freudentränen, denn es war wieder<br />

überwältigend; wieder um Jahre zurückgeschmissen, wieder Kind zu sein,<br />

wieder daheim.<br />

Sie alle waren auf einmal wieder da: die ganzen Erinnerungen, der alte<br />

Schulhof, die alten Schulkollegen, meine hochgeschätzte ehemalige<br />

Klassenlehrerin. Gerne haben wir uns an die "guten alten Zeiten" erinnert.<br />

Gemeinsam waren wir stolze Pioniere gewesen – na ja, zumindest hatte man<br />

uns das eingetrichtert –, Mitglieder des VKJ (Verband der kommunistischen<br />

Jugend) <strong>und</strong> nicht zuletzt Schüler der deutschen Schule – damals eine ganz<br />

besondere Schule Bukarests. Seitdem haben wir wieder ständigen Kontakt<br />

zueinander, obwohl wir in aller Welt verstreut sind.<br />

Ich denke, das brauche ich: Immer wieder dorthin zurückzukehren, wo<br />

ich meine Kindheit <strong>und</strong> einen Teil meiner Jugend verbracht habe. Denn das<br />

tut immer gut – daheim zu sein, egal, wo das ist.<br />

Paula Leichtweiß (mp.leichtweiss@online.de), geboren 1963 in Bukarest. Arbeitete nach ihrem<br />

Schulabgang kurzfristig als Hamburger-Restaurant-Mitarbeiterin, schulte dann um zur Sekretärin.<br />

Zurzeit Hausfrau <strong>und</strong> freischaffend in der Foto- <strong>und</strong> Videobearbeitung tätig. Verheiratet, zwei Kinder.<br />

Lebt seit 1981 in Deutschland.<br />

- 106 -


Magabudu <strong>und</strong> sein Schwert<br />

Ein Integrationslied<br />

...<br />

"Sie wissen das vielleicht noch nicht: Ich bin nämlich kein eigentlicher<br />

Staatsmann. Ich bin freischaffender Diktator." (Magabudu,<br />

Staatspräsident von Magabudien)<br />

Von Vasile V. Poenaru<br />

(01. 02. 2007)<br />

Motto: Handle immer so, dass du wollen kannst, mit dabei sein zu dürfen.<br />

(Magabudus kategorisches Leitmotiv)<br />

VORSPIEL IN WIEN<br />

Ein zentraleuropäischer Justizminister (des weiteren VERMITTLER genannt)<br />

sitzt zusammen mit Herrn MAGABUDU, einem ausländischen<br />

Staatspräsidenten, <strong>und</strong> dessen schweigsamen, doch anmutigen<br />

Assistentinnen vor den Überbleibseln eines offensichtlich üppigen<br />

Abendbrots. Sie essen gerade Apfelstrudel <strong>und</strong> Mozartknödel <strong>und</strong> hören Die<br />

Zauberflöte. Getränke werden eingeschenkt.<br />

VERMITTLER Prost! (Sie stoßen an) Mir wurde gesagt, Sie wollen<br />

demnächst beitreten.<br />

MAGABUDU Zum Wohl! Sie haben recht. Die letzten paar Gläser m<strong>und</strong>en in<br />

der Tat am besten. Keine Frage, Wien ist immer wieder eine Reise wert ...<br />

Beitreten? Ja, freilich, das wollen wir. Warum auch nicht?<br />

VERMITTLER Prima! Jetzt wird bei uns nämlich sowieso mal gründlich<br />

erweitert. Und dann natürlich radikal ausgemistet. Frisches Blut aus<br />

unserem lieben Osten wird wohl kaum schaden.<br />

MAGABUDU Das erinnert mich an diesen Depp mit seinem blöden Horror:<br />

Dracula braucht frisches Blut.<br />

VERMITTLER Aber nicht doch! In der EU glaubt heutzutage niemand mehr<br />

an den Unsinn, ich meine, an Ihre Vampire <strong>und</strong> dergleichen.<br />

MAGABUDU Der ganze Kram gehört aber immer noch zu Ihrer<br />

Unterhaltungskultur.<br />

VERMITTLER Nur weil wir viel <strong>für</strong> Mythen übrig haben. Ansonsten ist alle<br />

Welt jetzt ganz aufgeschlossen. Blutsauger-Personen gibt’s bei Ihnen nicht,<br />

soviel steht fest. Und wir selber sind auf keinen Fall welche, wollte sagen,<br />

- 107 -


nicht in dem Sinne. Wir mögen Sie einfach als tüchtige Nation, ja sagen wir<br />

mal ruhig als europäische Nation.<br />

MAGABUDU Wir mögen Sie ebenfalls.<br />

VERMITTLER Und Ihre Vampire sind nun einmal Teil Ihres erweiterten<br />

osteuropäischen <strong>Kultur</strong>reichtums, selbst wenn es sie nicht als solche gibt.<br />

Außerdem wissen wir: Sie haben ein w<strong>und</strong>erschönes Land <strong>und</strong> fleißige<br />

Arbeiter.<br />

MAGABUDU Klar. Schnell. Billig. Pragmatisch. Romantisch. Was immer.<br />

Zweih<strong>und</strong>ert Tage Sonnenschein im Jahr. Delta. Meer. Berge … Hier, eine<br />

Ansichtskarte. Stimmt es denn nicht? So eine Natur sucht ihresgleichen –<br />

was jetzt aber nicht gegen die Alpen gemeint ist.<br />

VERMITTLER Da muss ich Ihnen einmal ganz aufrichtig beistimmen. Ihr<br />

Sonnenschein ist der beste Sonnenschein weit <strong>und</strong> breit! Prost!<br />

MAGABUDU Zum Wohl! Sehen Sie? All diese Gipfeln sind mindestens<br />

zweitausendfünfh<strong>und</strong>ert Meter hoch. Über all diesen Wipfeln spürt man<br />

kaum einen Hauch. Was kann ich schon hinzufügen? Mehr Licht. Reinere<br />

Luft. Frischeres Wasser. Edelweiß in großen Haufen.<br />

VERMITTLER Und ich rufe: Natur! Natur! Nichts so Natur als diese Berge!<br />

… Die würden ja wirklich überaus prächtig zu unserer erweiterten Landkarte<br />

passen. Gute Berge sind das! Hohe Berge! Super-Berge! Der Traum eines<br />

jeden Jodlers! Garantiert haltbar <strong>und</strong> dazu noch wenigstens zum Teil<br />

weitgehend bewäldert, um es so auszudrücken.<br />

MAGABUDU Wer keinen Wald hat, kann kein Holz hacken, sag ich immer.<br />

Was übrigens auch ökologisch betrachtet von überregionaler Bedeutung sein<br />

dürfte.<br />

VERMITTLER O ja, bestimmt. Und Holz brauchen wir im Herzen Europas,<br />

lassen Sie sich das gesagt sein. Gutes Holz ist das! Anständiges Holz! Super-<br />

Holz!<br />

MAGABUDU Beste Qualität! Gestatten Sie? Hier! Die Unterlagen: Bitte! Sie<br />

werden in diesem Dossier allgemein-europäische Elemente erkennen. Unsere<br />

Eichen zum Beispiel. Brennholz <strong>für</strong> drei Generationen. Maibäume bis in den<br />

Himmel. Weinfässer <strong>für</strong> den echten Trinker! Und wenn Sie wollen, liefern wir<br />

auch noch den Wein dazu. Wenden wir die Seite: Da! Edelholz <strong>für</strong> sämtliche<br />

Möbelstücke sämtlicher neueuropäischer Barone.<br />

VERMITTLER So viel haben Sie?<br />

MAGABUDU Und mehr. Wertvolles Holz <strong>für</strong> Ihre Wertpapiere! Daraus lassen<br />

sich übrigens auch Euroscheine drucken, die nie zerfallen.<br />

- 108 -


VERMITTLER Auch nicht, wenn man sie bewusst oder eben aus Versehen<br />

mit ein bisschen Schwefel anstreicht oder so ... ?<br />

MAGABUDU Nie <strong>und</strong> nimmer! Beständigkeit in jeder Hinsicht garantiere ich<br />

auf jeden Fall, denn ein Geldschein mit authentischer Kaufkraft sollte<br />

meiner Meinung nach kein Schweizer Käse sein. Nichts <strong>für</strong> ungut.<br />

VERMITTLER Ganz meine Ansicht. Und deswegen sind wir ja zur Zeit<br />

gerade dabei, proaktive Mittel ausfindig zu machen, damit das sozusagen ein<br />

<strong>für</strong> alle Mal im ureigentlichsten Sinne des Wortes ins Reine gebracht wird,<br />

<strong>und</strong> jetzt meine ich natürlich denjenigen Sinn des Wortes, der in der Tat<br />

schon allein aus kulturwissenschaftlichen Überlegungen heraus ...<br />

MAGABUDU Ja, ja ... Will ich Ihnen gerne glauben. Und wie gesagt: Holz!<br />

VERMITTLER Ein Begriff mit Tradition!<br />

MAGABUDU Die älteste Eiche Europas steht seit Jahrtausenden in meinem<br />

Weingarten, wie zahlreiche Augenzeugen bestätigen. Sehen Sie, diese<br />

vorchristlichen Berichte, Memoiren <strong>und</strong> Verzeichnisse aus meiner<br />

Privatbibliothek habe ich sogar mit dem Siegel der Akademie versehen<br />

lassen. Wenn Sie mich mal besuchen kommen, zeige ich Ihnen, wie das<br />

gemacht wird.<br />

VERMITTLER Wir haben auch eine Eiche, die schon vor r<strong>und</strong> tausend<br />

Jahren zum ersten Mal urk<strong>und</strong>lich erwähnt wurde. Knapp neun Meter im<br />

Umfang. Ich hatte immer gedacht, das sei die älteste in Europa.<br />

MAGABUDU Meine misst volle sechszehn Meter. Und nächstes Jahr wird sie<br />

noch wesentlich erweitert.<br />

VERMITTLER Ach so, Sie machen das künstlich!<br />

MAGABUDU Ja, freilich. Sonst dauert’s mir zu lange. Wer wird denn gleich<br />

fünfh<strong>und</strong>ert Jahre warten?<br />

VERMITTLER Na ja. Das ist nicht verkehrt. Beschleunigtes Wachstum<br />

fördert die Wirtschaft. Die Wirtschaft fördert den Wohlstand. Der Wohlstand<br />

fördert die Integration. Wir werden uns jedenfalls darauf freuen, Ihr Holz<br />

verbrennen zu dürfen. Oder eben hochwertiges Zeitungspapier bzw.<br />

stämmige Weinfässer <strong>und</strong> Möbelstücke oder eben beständigere Euroscheine<br />

daraus herzustellen.<br />

MAGABUDU Dann sind wir uns also einig.<br />

VERMITTLER Wären vielleicht zufälligerweise wöchentliche Lieferungen<br />

denkbar?<br />

MAGABUDU Wird gemacht! Und wenn ich den letzten Baum selber<br />

abhacken muss.<br />

- 109 -


VERMITTLER Ausgezeichnet! Fabelhaft! Gut so! Aber wie steht's mit Ihren<br />

Dings ... mit den verflixten <strong>und</strong> gottverdammten ... das heißt, mit Ihren<br />

herumvagab<strong>und</strong>ierenden Landstreichern ... wollte sagen, wie steht's mit<br />

Ihren sogenannten Staatenlosen?<br />

MAGABUDU Den? …<br />

VERMITTLER Sie haben bei uns h<strong>und</strong>ertfünf Staatenlose. Die möchten wir<br />

Ihnen sehr gerne zurückschicken, wenn es geht. Aber Sie wollen ja nicht …<br />

MAGABUDU Unsere Roma?<br />

VERMITTLER Ihre Zigeuner!<br />

MAGABUDU Das will ich mir jetzt einmal höflichst verbitten! Mein Land ist<br />

nicht bereit, staatenlose Personen gegen deren Willen hierher verfrachten zu<br />

lassen! Und übrigens: Solange sie noch unter unsereiner verweilten, hießen<br />

sie bei Ihnen immer Roma. Jetzt sind sie auf einmal Zigeuner. Jetzt, wo Sie<br />

endlich die Möglichkeit haben, diese Ihren Angaben gemäß ja so sehr<br />

verfolgte Minderheit zu achten, zu schätzen <strong>und</strong> zu schützen, hört man von<br />

nichts als Abschiebung.<br />

VERMITTLER Wir wollen Ihnen aber gern eine Kleinigkeit zukommen<br />

lassen.<br />

MAGABUDU Ja, das hört sich schon anders an.<br />

VERMITTLER (gibt) Bitte.<br />

MAGABUDU (nimmt) Danke.<br />

VERMITTLER Na sehen Sie? Problem gelöst. Es hat mich sehr gefreut. So ...<br />

Einen angenehmen Abend noch!<br />

MAGABUDU Ihnen auch. Morgen früh fliegt meine Maschine. Sie können<br />

mir dann immer noch sagen, ob Ihnen mein Staatsvertrag gefällt. Und<br />

wissen sie was? Wir brauchen eine Kopfprämie. Ich meine, <strong>für</strong> die<br />

Vagab<strong>und</strong>en.<br />

VERMITTLER Für die Schmarotzer? Koa’ Problem. Einen angenehmen<br />

Rückflug noch!<br />

ERSTE SZENE<br />

Am übernächsten Tag bei Magabudu zu Hause. Ein Hahn kräht. Hupen.<br />

Drei Salven. Trommeln. Die Neunte. Ein Botschafter aus Bruxelles, kurz EU-<br />

MANN genannt, steigt aus dem Wagen.<br />

- 110 -


DER EU-MANN Herr Magabudu, ich bin der Mann von der Europäischen<br />

Union.<br />

MAGABUDU Treten Sie näher. Ich habe Sie erwartet. Da: Erfrischungen.<br />

Bonbons. Kaugummi. Allerhand. Bedienen Sie sich nach Herzenslust. Und<br />

... ganz wichtig: Schuhe ausziehen.<br />

DER EU-MANN Wie bitte? Soll ich? ...<br />

MAGABUDU Die Schuhe ausziehen. Ich brauche hier keinen Dreck.<br />

DER EU-MANN Ach so ...<br />

MAGABUDU Ja. Dort ist das Gästezimmer ... Zigarette gefällig?<br />

DER EU-MANN Nein, danke. Ich rauche nicht. Bin ein ganz ges<strong>und</strong>er <strong>und</strong><br />

umweltfre<strong>und</strong>licher Kerl. Und machen Sie sich bitte keine Sorgen. Wir EU-<br />

Leute pflegen sehr sauber zu sein.<br />

MAGABUDU Keine Zigarette? Schade. Die Europäische Union kann ich<br />

leiden. So, ich werde mal kurz eine rauchen ... Und bevor ich's noch<br />

vergesse: Sie sind zur Jagd eingeladen. (Der Jägermarsch ertönt)<br />

DER EU-MANN Ich bin doch kein Jäger ... Darf man denn hier ... ?<br />

MAGABUDU Man darf. Schließlich sind Sie ja mein Gast.<br />

DER EU-MANN Das ist sehr nett von Ihnen. So ... Jetzt werde ich mal kurz<br />

... Moment! Ist das ein richtiges Schwert?<br />

MAGABUDU Will ich meinen!<br />

DER EU-MANN Was tun Sie denn damit?<br />

MAGABUDU Tja bis vor ein paar Jahren gab's bei uns noch die Todesstrafe.<br />

Und weil ich mich nicht nur geistig, sondern auch körperlich in Form halten<br />

will ...<br />

DER EU-MANN Sie werden doch nicht im Ernst behaupten, dass ...<br />

MAGABUDU Wir können das Schwert auch wegtun. Ganz wie Sie wünschen<br />

... Sehen Sie, dieses Foto wurde während der Revolution geschossen. Ich war<br />

unrasiert, hatte einen ganz gewöhnlichen Pullover an <strong>und</strong> ...<br />

DER EU-MANN Sie wollen also beitreten.<br />

MAGABUDU Ja, mein Land, Magabudien, wie ich es manchmal liebkose,<br />

würde sich mächtig freuen, wenn ... Wir würden uns wirklich alle riesig<br />

freuen.<br />

- 111 -


DER EU-MANN Warum haben Sie ihn umgebracht?<br />

MAGABUDU Den Alten? Erstens bin ich in keiner Weise da<strong>für</strong><br />

verantwortlich, <strong>und</strong> zweitens hatte mir damals alle Welt recht gegeben, ja,<br />

sogar Sie gaben mir, stillschweigend vielleicht, aber immerhin durchaus<br />

verständlich, recht, besser gesagt, alle freuten sich, <strong>und</strong> ich bin auch heute<br />

noch felsenfest davon überzeugt, dass ich damals das Richtige getan habe.<br />

Der Mann wollte einfach nicht kapieren, dass nun andere dran sind.<br />

DER EU-MANN Sie zum Beispiel.<br />

MAGABUDU Ich zum Beispiel. Und wohlgemerkt: Ich bin kein Mann, mit<br />

dem sich spaßen lässt. Dabei bin ich aber ein ganz anständiger Kerl. Hab ein<br />

Foto von Kohl, er nannte mich Bruderherz. Eins von Clinton, seine Frau<br />

lobte mein Englisch ... Das Lasso hier hab ich vom jungen Bush. Und da:<br />

immer nur reinschauen. Ein Autograph vom letzten Zar. Und so weiter.<br />

DER EU-MANN Mensch! Eine Menge Exponate!<br />

MAGABUDU Ja. Dort liegen meine Trophäen. Kühl aufbewahrt. Der letzte<br />

Großgr<strong>und</strong>besitzer ... seine Familie ... ferner Politiker der vorletzen<br />

Regierung samt deren Familien ... Politiker der letzten Regierung ... Politiker<br />

der allerletzten Regierung ...<br />

DER EU-MANN Und was steckt in dem Rahmen?<br />

MAGABUDU Mein kategorisches Leitmotiv: Handle immer so, dass du wollen<br />

kannst, mit dabei sein zu dürfen.<br />

DER EU-MANN Sie sind ein trefflicher Staatsmann, das steht fest.<br />

Pragmatisch. Integrationsk<strong>und</strong>ig. Unkompliziert.<br />

MAGABUDU Was wahr ist, darf man auch sagen. Kompliziert bin ich noch<br />

nie gewesen. Sie sagen mir, was Sie wollen, <strong>und</strong> ich sage Ihnen, was ich will.<br />

DER EU-MANN Und die Europäische Union weiß das durchaus zu schätzen.<br />

Besonders in diesen globalen Zeiten erweiterter Integration, wo ein jeder<br />

seinen beruflichen Werdegang vorzüglich überregional <strong>und</strong> multikulturell<br />

gestaltet, so dass ein neues Land selbst im engeren Sinne sozusagen ein<br />

neues Land im weitesten Sinne ist <strong>und</strong> bleibt, um es mal kurz zu halten ...<br />

MAGABUDU Das kann ich gut mitverfolgen. Weltoffener Stil. Aufklärend.<br />

Einleuchtend.<br />

DER EU-MANN Danke schön. Ihr Stil ist auch nicht zu verwerfen. Mich<br />

w<strong>und</strong>ert aber bloß, dass Sie nie einen anständigen Beruf erlernt haben,<br />

wollte sagen, dass Sie im wörtlichen Sinne per se nie was anderes ...<br />

MAGABUDU War schon immer Diktator, soweit ich mich besinnen kann. Ich<br />

meine, früher gab's so was natürlich nicht, da hatte ich meinen Job wie<br />

- 112 -


jedermann. Aber in jüngster Zeit, <strong>und</strong> auf die jüngste Zeit kommt es ja<br />

schließlich hauptsächlich an ...<br />

DER EU-MANN Was waren Sie denn früher?<br />

MAGABUDU Parteisekretär.<br />

DER EU-MANN Bei denen?<br />

MAGABUDU Bei denen. Hatte mein gesichertes Einkommen. Und in der<br />

Freizeit konnte man Pläne schmieden. Sie wissen das vielleicht noch nicht:<br />

Ich bin nämlich kein eigentlicher Staatsmann. Ich bin freischaffender<br />

Diktator.<br />

DER EU-MANN Sie sind ein origineller Typ. Heißen Präsident <strong>und</strong> dünken<br />

sich Diktator. Dazu noch freischaffend. Dabei meinen die Leute, so streng<br />

seien Sie auch wieder nicht.<br />

MAGABUDU O du liebe Güte! Keineswegs! Ich war immer ein ganz<br />

Aufgeklärter!<br />

DER EU-MANN Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst<br />

verschuldeten Unmündigkeit. Immanuel Kant.<br />

MAGABUDU Ganz derselben Meinung. Und da will ich nur noch ein ganz<br />

kleines Wort hinzufügen: Der Weltgeist ist stets unterwegs zu sich selbst.<br />

Hegel.<br />

DER EU-MANN Hegel? Das ist was <strong>für</strong> mich. Den hab ich nämlich auch<br />

gelesen. Stichwort Dialektik – wobei aber das Wort freilich gar nicht von ihm<br />

selber stammt, was Sie hier am Rande des Seins möglicherweise nicht<br />

wissen. Wie dem auch sei: Was wollen Sie mit der Hegelschen Dialektik<br />

anfangen?<br />

MAGABUDU Wir werden den europäischen Geist zurück nach Europa<br />

bringen. Und von wegen Rand des Seins!<br />

DER EU-MANN Tschuldigung, das war nur so ein blöder postkolonialer<br />

Ausrutscher angesichts der vielen Kongresse zum Thema Mittelpunkt des<br />

Seins, versteht sich. Es wird da einem so leicht übermäßig zentralistisch<br />

zumute. Zudem war ich in der letzten Woche ein bisschen erkältet. Also<br />

meinen Sie jetzt den ...<br />

MAGABUDU Ich meine den europäischen Geist.<br />

DER EU-MANN Den gibt’s ja gar nicht.<br />

MAGABUDU Wohl nicht bei Ihnen, aber bei uns!<br />

DER EU-MANN Schon gut, Sie werden's besser wissen.<br />

- 113 -


MAGABUDU Genau.<br />

DER EU-MANN Sie sind folglich ein milder Diktator.<br />

MAGABUDU Nennen wir es so.<br />

DER EU-MANN Das ist ungefähr die Linie, die zur Zeit auch bei uns<br />

angestrebt wird. Die Würde des Menschen ist unantastbar, aber jeder tut<br />

natürlich, was das Zentrum sagt. Denn ohne einheitliche Richtlinien geht<br />

das Ganze nicht.<br />

MAGABUDU Klingt durchaus demokratisch. Das war in Magabudien<br />

eigentlich nie radikal anders, wie Sie ja wissen. Richtlinien sind meines<br />

Erachtens sowieso gut <strong>für</strong> die Wirtschaft. Echt: Bin schon immer <strong>für</strong> solide<br />

Richtlinien gewesen. Wie sagten doch gleich die alten Römer? Nenn mir die<br />

Richtlinie, <strong>und</strong> ich sag dir, wo’s entlang geht. Oder war das ein Italiener? Die<br />

sehen immer so ähnlich aus. (Fängt an zu singen) Sempre sempre, sempre<br />

sempre tu! ...<br />

DER EU-MANN (Macht mit) Sempre sempre, insistentemente … (Hört auf zu<br />

singen) Man kann es aber auch mal mit Richtbildern versuchen.<br />

MAGABUDU Wie bitte? Richtbilder? Hm ... Das ist ein seltsames Wort. Dazu<br />

ließe sich ja unter Umständen eine treffliche Rede halten. (Grübelt)<br />

Richtbilder der demokratischen Weiterentwicklung ... Oder noch besser:<br />

Zukunft Europa. Ein Richtbild.<br />

DER EU-MANN Momentchen! Wo war denn gleich mein Kugelschreiber? Ich<br />

habe nämlich übermorgen wieder einen Kongress zum Thema Mittelpunkt<br />

der Marginalien. So ein Spruch kommt nicht alle Tage auf einen zu. Den will<br />

ich mir notiert haben. Also ... (Kritzelt) Zukunft Europa. Ein Richtbild ...<br />

(Zufrieden) Ja, das sitzt auf allen vier Buchstaben. Passt auch<br />

kulturpolitisch gut in unsere Kiste. Mehr noch: Sowas können wir unter<br />

Umständen sogar <strong>für</strong> unsere Parallelaktion brauchen!<br />

MAGABUDU Für was <strong>für</strong> eine Aktion? ...<br />

DER EU-MANN Für unsere Parallelaktion! Sie wissen doch, dass die<br />

Amerikaner in einem Jahr den totalen Übergang zur quasi-patriotischen<br />

Gesellschaftsform <strong>und</strong> zum neuen Völkerrecht feiern. Wir dürfen da nicht<br />

zurückbleiben. Das Geld ist vorhanden. Tinte <strong>und</strong> Mikrofone sind<br />

vorhanden. Dreih<strong>und</strong>ert aufklärungstüchtige Philosophen warten in<br />

wohldotierten akademischen Einrichtungen, gewappnet mit modernsten<br />

Einleuchtungstechnologien, auf den Marschbefehl. Der Ausschuss tagt<br />

schon seit Jahren. Alles, was noch fehlt, ist eine Idee.<br />

MAGABUDU Ja <strong>und</strong> denken Sie, dass ich auf so einem Richtbild gut<br />

aussehen werde?<br />

- 114 -


DER EU-MANN Was soll denn das heißen? Richtbilder sind ja gar keine<br />

Bilder! Richtbilder sind Wahrheiten, genauer gesagt, Richtbilder sind ewige<br />

Wahrheiten, die weder ewig noch wahr sind.<br />

MAGABUDU Weder ewig noch wahr ... Leicht zu übersetzen. Gut verdaubar.<br />

Sehr realpolitisch. Das mag ich. Klingt nach Erfolg.<br />

DER EU-MANN Hat sich ein schlafloser Österreicher vor h<strong>und</strong>ert Jahren<br />

ausgerechnet. Ein Mathematiker, der offensichtlich an starken<br />

Weltschmerzen litt.<br />

MAGABUDU Mathematik ist eine tolle Sache. Besonders der Teil mit der<br />

Differentialrechnung <strong>und</strong> so. Aber wenn der Mann schon tot ist, geht mich<br />

das Ganze natürlich wenig an. Also h<strong>und</strong>ert Jahre? ... Schnee von gestern.<br />

DER EU-MANN Vielleicht auch nicht. Derartige ewige Wahrheiten sind<br />

heutzutage jedenfalls wieder einmal r<strong>und</strong> um Bruxelles durchaus salonfähig.<br />

MAGABUDU Absolute Dinge mit begrenzter Haftung?<br />

DER EU-MANN Das trifft den Nerv der Zeit. Darauf komme ich noch zu<br />

sprechen. Aber nun einmal eine delikate Fragenserie zum Thema Beitreten,<br />

wenn’s recht ist.<br />

MAGABUDU Gleich eine Serie? Das will gefeiert sein. Warten Sie. Ich bestelle<br />

mal eine Kanonensalve <strong>und</strong> zwei exotische Tänzerinnen. Aber delikat<br />

müssen die sein, sonst wird hier nicht entsprechend integriert.<br />

(Kanonensalve. Exotische Tanzmusik. Kichern)<br />

(Eine halbe St<strong>und</strong>e später)<br />

ZWEITE SZENE<br />

MAGABUDU Nun gut. Ich bin bereit. Schießen Sie los. Serien gefallen mir<br />

sowieso am besten. Zum Beispiel die Riemann-Serie, die ja gerade beim<br />

Integrieren so wichtig ist. Und wir sind jetzt hoffentlich sozusagen mit Leib<br />

<strong>und</strong> Seele beim Integrieren.<br />

DER EU-MANN Na dann also. (Räuspert sich) Erst einmal eine ganz<br />

theoretische Sache, <strong>und</strong> bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich ein<br />

bisschen bürokratisch wirke. Wir fragen das jedes Mal, wenn ein neuer<br />

Kandidat dran ist. Sie müssen nicht antworten, falls Sie nicht wollen. Also<br />

(zuvorkommend): Könnten Sie den Minderheiten ihre Rechte garantieren?<br />

MAGABUDU Könnte ich.<br />

- 115 -


DER EU-MANN (erleichtert) Das ging schnell. Sie sind sehr gütig. So ...<br />

Weiter geht’s. Was haben wir denn da? Ah, ja! Könnten Sie Ihre<br />

Gesetzgebung bei Bedarf ein bisschen lockern?<br />

MAGABUDU Könnte ich.<br />

DER EU-MANN Sehr nett von Ihnen. Könnten Sie ein Buch über die<br />

Revolution schreiben?<br />

MAGABUDU Könnte ich.<br />

DER EU-MANN Könnten Sie aufhören zu rauchen?<br />

MAGABUDU Also vor r<strong>und</strong> zweitausend Jahren, als unsere<br />

zweitausendjährige Nation im Tumult der Geschichte ihre hervorragenden<br />

Kunstwerke <strong>und</strong> legendären Helden schuf ... inmitten all der Türken <strong>und</strong><br />

Tartaren, die es damals freilich noch gar nicht gab, ja streng genommen gar<br />

nicht geben konnte – schon aus rein geschichtlichen Gründen, wenn man’s<br />

recht bedenkt ... ich meine, als die alten Römer eine steinige Brücke über die<br />

Donau bauten <strong>und</strong> die alten Daker erst einmal aus diplomatischstrategischen<br />

Überlegungen heraus Frieden schlossen, es sich dann aber<br />

bald anders überlegten <strong>und</strong> schließlich doch nicht mehr beitreten wollten<br />

<strong>und</strong> so ...<br />

DER EU-MANN Herr Magabudu, könnten Sie aufhören zu rauchen?<br />

MAGABUDU Sie sind ein Trottel. (Nach einer Pause) Ich kann mich noch gut<br />

daran erinnern. Eine Kugel schoss ganz dicht an mir vorbei, auf'm Panzer<br />

droben. Sie sahen wohl fern, aber ich befand mich wohlgemerkt stets im<br />

Brennpunkt der Ereignisse, um einen metaphorischen Ausdruck zu<br />

verwenden, denn Metaphern sind ja bekanntlich sowas wie meine zweite<br />

Natur. Die erste Natur ist <strong>und</strong> bleibt das Vaterland.<br />

DER EU-MANN Und ich rufe: Natur! Natur! Nichts so Natur als ihr<br />

Vaterland!<br />

MAGABUDU Recht so. Das Vaterland ... das will schon was heißen ... Mann,<br />

waren das Zeiten! ... Ich schloss die Augen, <strong>und</strong> als ich sie wieder öffnete ...<br />

DER EU-MANN Wie kamen Sie an die Macht?<br />

MAGABUDU Ich habe Platon gelesen.<br />

DER EU-MANN Die Republik? Menon?<br />

MAGABUDU Phaidros. Man soll den lieben, der am wenigsten um Liebe<br />

wirbt.<br />

DER EU-MANN Das heißt, man soll denjenigen wählen, der nicht gewählt<br />

werden will.<br />

- 116 -


MAGABUDU Stimmt. Die Jungs vom PR-Department haben den Wählern<br />

immer wieder eingeschärft, dass mir eigentlich streng genommen herzlich<br />

wenig an einem Sieg liegt. Dieser Slogan wirkte W<strong>und</strong>er. Die Leute<br />

schenkten mir ohne jede Spur von Vorbehalt ihre Stimmen.<br />

DER EU-MANN Kompliment.<br />

MAGABUDU Danke, ebenfalls.<br />

DER EU-MANN Sie haben übrigens eine sehr nette Reform.<br />

MAGABUDU Alles hausgemacht.<br />

DER EU-MANN Und erst gar dieser prächtige Palast!<br />

MAGABUDU Originelle Renaissance. (Wichtig) Neudemokratische<br />

Kunstpolitik. Hab ich alles selbst bauen lassen.<br />

DER EU-MANN Jetzt flunkern Sie.<br />

MAGABUDU Aber nur ein bisschen.<br />

DER EU-MANN Bekennen Sie sich denn immer noch zur Partei?<br />

MAGABUDU Mein Schwert ist rot. Doch das spielt jetzt keine Rolle mehr,<br />

oder?<br />

DER EU-MANN Wie viele haben Sie getötet?<br />

MAGABUDU Den Mann will ich kennenlernen, der die zählt! Schauen Sie<br />

sich nur die Schneide an! Wie ein rasender Roland drang ich in die<br />

Geschichte des Christentums ein! Unser heiliger Fürst Stefan der Große, der<br />

mir gewissermaßen als Vorbild dient, hat vor gut fünfh<strong>und</strong>ert Jahren so<br />

viele Türken zerhauen, dass der Papst ihn Athlet der Christenheit nannte.<br />

Aber jetzt sollen die Türken ja ebenfalls bald aufgenommen werden.<br />

DER EU-MANN Nur wenn sie sich benehmen.<br />

MAGABUDU Was wohl kaum der Fall sein wird. Die wollen ja das ganze<br />

Erdteil in ein Paschalik umwandeln.<br />

DER EU-MANN Nicht, dass ich wüsste. Aber wenn ein Paschalik sich als<br />

Wirtschaftsmodell der Integration erweist, dann könnte es ja schließlich bei<br />

Gelegenheit durchaus als zulässige parellele ... Aha! Sieh einer an! Schon<br />

wieder ein Foto mit Ihnen als Fechtmeister! Über Ihre Fertigkeit im<br />

Nahkampf weiß wohl manch einer ein Lied zu singen.<br />

MAGABUDU Das will ich meinen! Kein Widersacher hielt mir je stand! Jeder<br />

Hieb ein Treffer! Ha! Ha! ... (Haut mit dem Schwert durch die Luft)<br />

- 117 -


DER EU-MANN Ist das ein gewöhnliches Schwert?<br />

MAGABUDU Was reden Sie denn da? Natürlich nicht. Die Vorfahren haben's<br />

überaus erfolgreich gegen die Türken geführt, um das ganze Abendland vor<br />

dem sicheren Untergang zu bewahren. Ferner standen wir hier in letzter Zeit<br />

als Vorposten gegen die russische ...<br />

DER EU-MANN Wir haben kein Geld.<br />

MAGABUDU Schade.<br />

DER EU-MANN Der rote Strich.<br />

MAGABUDU Ist schon klar. Gegen einen roten Strich lässt sich wenig tun,<br />

obwohl es nicht so sehr die Farbe an sich ist, die einem Unbehagen einflößt,<br />

sondern eben der Strich als übergeordnete Kategorie, wie ich bekanntlich<br />

einmal im Rahmen einer sehr wichtigen Konferenz gesagt habe. Doch wie<br />

steht’s um den Beitritt?<br />

DER EU-MANN Herr Magabudu, tja, nun, wie soll ich’s formulieren, das<br />

hängt sehr stark von Ihrer Argumentation ab.<br />

MAGABUDU Unsinn. Ein kräftiges Organ ist besser als tausend Argumente!<br />

Ha! ... Wird wo gesprochen? Rein ins Gespräch, mit voller Wucht! Nur das<br />

zählt: multikulturelle Integrationspolitik. Zwar bin ich schon lange Boss,<br />

doch will ich’s weiter bleiben. Meine Kollegen im Westen haben nicht mehr<br />

Grütz im Kopf als ich. Möchte meinen Lieblingsminister darauf wetten, dass<br />

es keiner so lange im Amt aushält. Ubi Bene Ibi Patria. Wer hier fest im<br />

Sattel sitzt, wird auch drüben nicht fallen. Manch einer unserer<br />

multikulturell erprobten Geschäftsleute hat sich ja schon längst auf eigene<br />

Faust bei Ihnen breitgemacht <strong>und</strong> dabei tonnenweise Euro angehäuft.<br />

DER EU-MANN Tja, ganz kann ich Ihnen da nicht widersprechen. Wobei<br />

wiederum freilich die meisten dieser vermeintlich multikulturell erprobten<br />

<strong>und</strong> in der Tat diesseits wie jenseits der Legalität bewanderten<br />

Geschäftsleute sich in Wirklichkeit mit allerhand Lumpenpack einlassen,<br />

was meiner Meinung nach unabdingbar mit Hinblick auf die gr<strong>und</strong>legenden<br />

Gesetzmäßigkeiten ...<br />

MAGABUDU Ich sag's doch. Überall dieselbe Mentalität, überall derselbe<br />

Schweinestall, überall eine Wirtschaft, um es mal spinozistisch<br />

auszudrücken. Diesseits wie jenseits der Trennlinien, was Sie ja auch gerade<br />

in Ihrer spezifischen Art <strong>und</strong> Weise hervorhoben …<br />

DER EU-MANN Nicht mit diesen Worten. Aber weil Sie Spinoza erwähnen,<br />

kann man Ihnen im Moment schlecht widersprechen, denn ohne Linsen<br />

gibt’s keine Brillen <strong>und</strong> ohne Brillen gibt’s keine Vision.<br />

MAGABUDU Ist schon gut. Sie müssen sich nicht entschuldigen ... Für mich<br />

ist die europäische Identität sowieso auf eine an sich einheitliche, breit<br />

- 118 -


angelegte Totalitätsfigur reduzierbar, die jeweils in Form bestimmter Quasi-<br />

Individuen in Erscheinung tritt.<br />

DER EU-MANN Quasi? Einer wie Sie <strong>und</strong> ich?<br />

MAGABUDU Kann sein. Und wenn jetzt einzelne Quasi-Individuen<br />

sozusagen als Weltknoten der Weltpolitik oder beispielsweise – warum nicht?<br />

– als Umweltknoten der Umweltpolitik im Euroland herumlaufen <strong>und</strong> dabei<br />

aktiv darauf hinwirken, dass die Lösung einer europäisch bedeutungsvollen<br />

Gleichung vermittels eines energischen, überregional patriotischen Hiebs<br />

gezeitigt wird, wie ich Ihnen jetzt gleich sozusagen als Demo vorführen werde<br />

...<br />

DER EU-MANN Lassen Sie das bleiben. Wirklich, ich bin schon felsenfest<br />

davon überzeugt. Irgendwann wird der Knoten der Integration bestimmt<br />

gelöst.<br />

MAGABUDU Und soweit Sie mich fragen ...<br />

DER EU-MANN Unbedingt. Denn Sie verstehen sich auf Ihren Job. Soviel ist<br />

gewiss.<br />

MAGABUDU In der Tat. Wenn ein Vergleich erlaubt ist: Alex der Große hat's<br />

ähnlich gehalten. Ich meine, wenn's um Knoten ging <strong>und</strong> so ...<br />

DER EU-MANN Mit dem sind Sie wohl auch verwandt?<br />

MAGABUDU Nicht unmittelbar.<br />

DER EU-MANN Immerhin: Sie scheinen aus guter Familie zu sein.<br />

MAGABUDU Ja merkt man das denn wirklich?<br />

DER EU-MANN Und ob! Ich frage mich aber, warum Sie das Volk andauernd<br />

Damokles nennt. Sie heißen doch Magabudu.<br />

MAGABUDU Keine Ahnung. Die Kerle sind einfach <strong>und</strong>ankbar.<br />

DER EU-MANN Haben Sie je an Harakiri gedacht?<br />

MAGABUDU Was <strong>für</strong> ein Schwachsinn! Ich kann gar nicht glauben, dass Sie<br />

mich so etwas fragen.<br />

DER EU-MANN Als Sie gewählt wurden, versprachen Sie doch, dass Sie,<br />

gesetzt, Ihr Regierungsprogramm versagt, abtreten <strong>und</strong> ...<br />

MAGABUDU Abtreten? Das war dumm. Das hätte ich nicht sagen sollen.<br />

DER EU-MANN Aber Sie sagten ja ...<br />

- 119 -


MAGABUDU Würden Sie denn an meiner Stelle abtreten?<br />

DER EU-MANN Nein.<br />

MAGABUDU Da haben Sie's.<br />

DER EU-MANN Herr Magabudu, im Vertrauen, es gibt da noch bestimmte<br />

weitere Aspekte, die sich Ihrem Anliegen in keiner Weise dienlich erweisen,<br />

um es gepflegt zu formulieren. Ihre Leute haben zum Beispiel unlängst einen<br />

jungen unbewaffneten Soldaten erschossen, der zum Zahnarzt ging.<br />

MAGABUDU Was Sie aber nicht wissen, ist, dass ein anderer Soldat kurz<br />

zuvor zwei meiner Männer erschossen hatte.<br />

DER EU-MANN Soldat heißt immerhin nicht gleich Soldat. Ich meine, wenn<br />

es ja ein anderer war, wie Sie gerade sagten ...<br />

MAGABUDU Wenn Sie wirklich aIle Einzelheiten wissen wollen, verbinde ich<br />

Sie mit dem Department. Ich verstehe mich nicht so recht auf diese Sachen.<br />

Aber wer zum Zahnarzt geht, soll stehen bleiben, wann immer ihm dies<br />

befohlen wird. Klar?<br />

DER EU-MANN Bei uns ist das nicht so.<br />

MAGABUDU Hierzulande hält man sich nach wie vor an die Tradition.<br />

DER EU-MANN Das klingt ganz patriotisch.<br />

MAGABUDU In der Tat. Mir wurde schon öfters gesagt, ich sei ein großer<br />

Patriot. Doch nur die Geschichte kann urteilen, inwiefern ...<br />

DER EU-MANN Wie steht’s mit Ihren Extremisten?<br />

MAGABUDU Wie steht's mit Ihren Extremisten?<br />

(Pause. Es wird Holz gehackt)<br />

MAGABUDU Keine Sorge, meine Jungs hab ich im Griff.<br />

DER EU-MANN Prima. Denn wenn auch in Zukunft Ihre fünftausend Räuber<br />

bei uns in schwarzen Wäldern ...<br />

MAGABUDU Das sind nicht meine Leute. Da kann ich Ihnen überhaupt<br />

nicht helfen.<br />

DER EU-MANN In unserem Fernsehen wurde gesagt ...<br />

MAGABUDU In unserem Fernsehen wurde was anderes gesagt.<br />

- 120 -


DER EU-MANN Na gut. (Pause) Aber sogar die Italiener wollen darauf<br />

schwören können, dass Ihre zerlumpten Gauner <strong>und</strong> gottverdammten<br />

Banditen ... wollte sagen: Ihre sozusagen eigentlich eher unbefugten<br />

Staatsbürger ...<br />

MAGABUDU Mascalzone! Wer sagt das? Die Italiener? Würden Sie einem<br />

Italiener glauben? Testis unus, testis nullus! Und überhaupt: Möchten Sie<br />

wissen, was ich über deren Gauner alles zu sagen habe?<br />

DER EU-MANN Lieber nicht.<br />

MAGABUDU Na dann.<br />

DER EU-MANN Und trotzdem: Auch die Engländer meinen ganz kategorisch,<br />

ja sogar im Klartext, <strong>und</strong> zwar schwarz auf weiß, dass wenigstens 80 Prozent<br />

aller Straftaten in allen Großstädten ...<br />

MAGABUDU Also hören Sie! Die englische Königin hat den Alten in Ihrem<br />

Luxuswagen durch London gefahren <strong>und</strong> dabei reichlich Zitronentee<br />

eingeschenkt. Keine Rede von Prozenten <strong>und</strong> Straftaten <strong>und</strong> Großstädten.<br />

DER EU-MANN Dazu war sich Ihre Majestät wohl zu schade.<br />

MAGABUDU Damit ich nicht lache! Und die Zeitungen? Und die Schwätzer<br />

bei Trafalgar Square? Waren sich die auch zu schade?<br />

DER EU-MANN Ich <strong>für</strong> mein Teil lese von den englischen Blättern ja ehrlich<br />

gesagt nur die Times. Und natürlich auch noch die New York Times. Es geht<br />

übrigens das Gerücht, Sie waren schon wieder in New York.<br />

MAGABUDU Ich war in vielen Städten. Und das schon lange vor der Sache<br />

mit der Mauer. Wer das Zeug dazu hatte, konnte sich nämlich auch damals<br />

leidlich bewegen.<br />

DER EU-MANN Ist mir bekannt.<br />

MAGABUDU Bei Ihnen war ich ja ebenfalls ziemlich oft, als ich den Alten<br />

begleitete. Der Alte klagte immer, wir stehen hier als Vorposten gegen die<br />

russische Übermacht, <strong>und</strong> Sie ließen sich dann jedes Mal anpumpen. Nur<br />

mir will das nicht gelingen. Ich brauche übrigens einen neuen Laptop.<br />

DER EU-MANN Das bringen wir schon in Ordnung. Aber ansonsten haben<br />

sich die Zeiten ziemlich geändert.<br />

MAGABUDU Da würde ich aber nicht ganz so sicher sein. Ich bin immer<br />

noch ein guter Fechter. Die NATO zum Beispiel wird mein Schwert schon<br />

brauchen können, vor allem, weil ich nie viel frage. Auf mich ist immer<br />

Verlass. Ob nun Mission, Koalition oder Demolition.<br />

- 121 -


DER EU-MANN Sehr geehrter Herr Präsident, regen Sie sich doch nicht auf!<br />

Allen Respekt <strong>für</strong> Ihre Armee, aber heutzutage verwendet man Tomahawk-<br />

Flieger. Oder man zerbombt einfach alles mit umweltfre<strong>und</strong>lichen Mini-<br />

Atombomben. Sehen Sie, es gibt auch ganz neue Knöpfe, auf die es sich ganz<br />

bequem drücken lässt. Hier, die jüngsten Satellitaufnahmen vom jüngsten<br />

Krieg. Fällt alles direkt aus dem Himmel. Ich sag’s Ihnen: Bodeneinsatz ist<br />

passé.<br />

MAGABUDU Abwarten <strong>und</strong> sehen.<br />

DER EU-MANN Das klingt in der Tat sehr vernünftig, denn eines meiner<br />

Lieblingssprichwörter ist bekanntlich „Eile mit Weile". Doch nur das reine<br />

Urteil der Zeitgeschichte vermag sich der reinen Kritik der Urteilskraft zu<br />

entziehen.<br />

MAGABUDU Was aber auch temporal gedeutet werden kann.<br />

DER EU-MANN Meinetwegen schon. Schließlich kann der Zeitgeist ebenfalls<br />

temporal gedeutet werden.<br />

MAGABUDU Tempus est ioc<strong>und</strong>um ...<br />

DER EU-MANN Tja, so ... (Räuspert sich) Und jetzt ... Noch eine Bitte, wenn<br />

Sie nichts dagegen haben. Liebster Herr Magabudu ... Ihr Kollege, der König,<br />

der sich zur Zeit ja bei uns aufhält ...<br />

MAGABUDU Der ist nicht mein Kollege.<br />

DER EU-MANN Nun, freilich nicht in dem Sinne ...<br />

MAGABUDU Den kenne ich ja überhaupt nur vom Hörensagen.<br />

DER EU-MANN Gewiss, doch ...<br />

MAGABUDU Da gibt's kein Doch. Der Mann will bloß mehr abzocken. Seine<br />

Gier kennt kein Ende!<br />

DER EU-MANN Wie dem auch sei, in Ihrem Geschichtslexikon hat er einen<br />

ganzen Absatz.<br />

MAGABUDU Der wird noch verkleinert.<br />

DER EU-MANN Und als er neulich wieder die Grabstätten seiner Vorfahren<br />

aufsuchen wollte, um ehrehrbietig der Vergangenheit zu gedenken ...<br />

MAGABUDU Von wegen ehrehrbietig! Mein Schwert will er klauen, um sich<br />

damit zu rühmen.<br />

DER EU-MANN Er behauptet, Sie hätten ihm die Krone ... wie sagt man<br />

denn gleich? ... irgendwie entwendet, als er gestürzt wurde.<br />

- 122 -


MAGABUDU Der wurde nicht gestürzt, er fiel selber um. Ja er stürzte sich<br />

geradezu kopfüber mitten rein in den Abgr<strong>und</strong> der Geschichte. Das Volk<br />

konnte ihn einfach nicht mehr ausstehn. So war das.<br />

DER EU-MANN Und die Krone?<br />

MAGABUDU Konfisziert, nicht entwendet.<br />

DER EU-MANN Er behauptet, er stand hier als Vorposten gegen die<br />

russische Übermacht, <strong>und</strong> als dann die Russen kamen, musste er weg.<br />

MAGABUDU Mir hat er gesagt, er will die Schweiz bereisen. Wahrscheinlich<br />

hat's ihm dort außerordentlich gut gefallen. Tatsache, er blieb.<br />

DER EU-MANN Sie wollten ihn doch nur vom Hörensagen kennen.<br />

MAGABUDU Wie bitte? Hab ich das gesagt? Sind Sie sicher?<br />

DER EU-MANN H<strong>und</strong>ertprozentig.<br />

MAGABUDU Na <strong>und</strong> wenn schon. Belästigen Sie mich nicht die ganze Zeit<br />

mit Einzelheiten! War ja nicht in dem Sinne gemeint ...<br />

DER EU-MANN Haben Sie ihn nun persönlich kennengelernt oder nicht?<br />

MAGABUDU (abwehrend) Diese ganze Geschichte geht mir jetzt aber doch<br />

ein bisschen zu weit. Glauben Sie mir: Ich hab's auch nicht leicht.<br />

DER EU-MANN Er behauptet, Sie hätten ihm das Schwert, mit dem seine<br />

Vorfahren voller Tapferkeit gegen die Türken <strong>und</strong> dann auch gegen die<br />

Russen ...<br />

MAGABUDU Das Schwert geb ich nicht her.<br />

DER EU-MANN Dann vielleicht die Krone? Überlegen Sie's sich doch mal in<br />

aller Ruhe. (Lässt Geldmünzen klirren)<br />

MAGABUDU Ah! ... Ihre Musik bezaubert mich! ... Ich merke schon, wir<br />

können unter Umständen prächtig zusammenarbeiten. Warten Sie mal, ich<br />

finde bestimmt einen Ausweg. Wie wär's denn, wenn wir die Krone<br />

abwechselnd tragen würden?<br />

DER EU-MANN Gute Idee.<br />

MAGABUDU Aber zurück darf er nicht.<br />

DER EU-MANN Und wenn er nur ganz bescheiden dann <strong>und</strong> wann mal die<br />

Grabstätten seiner ...<br />

MAGABUDU Ausgeschlossen!<br />

- 123 -


DER EU-MANN Das ist hart. Sie verweigern dem letzten König dieses Landes<br />

das Recht, die väterliche Luft des Vaterlandes einzuatmen.<br />

MAGABUDU Tu's ja nur um seinetwillen. Das letzte Mal hätte ihn die Menge<br />

beinahe gelyncht. Luft! ... Ha! ... Frische Luft war noch das Wenigste, nach<br />

dem ihm zumute war. Auf das Volkseigentum hatte er es abgesehen. Und<br />

saß dabei Tag <strong>und</strong> Nacht im Casino. Können Sie sich das vorstellen? Nichts<br />

wie pokern. Und zwar mit dem Geschick des Vaterlandes, worum er sich<br />

freilich in Wirklichkeit in keiner Weise schert.<br />

DER EU-MANN Ich höre, er soll aber recht beliebt sein.<br />

MAGABUDU Der <strong>und</strong> beliebt! Dass ich nicht lache! Denken Sie, die Leute<br />

lieben Spekulanten?<br />

DER EU-MANN Ich bitte Sie, Herr Magabudu! So weit wird er es wirklich<br />

nicht getrieben haben.<br />

MAGABUDU Und ob! Der will doch nur seine Siebensachen zurück. Wie<br />

kleinlich ... Uff! Ich hasse ihn!<br />

DER EU-MANN Aber nicht doch! ... Herr Magabudu, lassen Sie das Schwert.<br />

Bitte! Es hat ja keinen Sinn.<br />

MAGABUDU Autsch! ... (Eine Glasscheibe zerbricht) Wer ist da? Bin ich es?<br />

(Angeekelt) Pfutsch dich, du hässliches Spiegelbild! Ich kann dich nicht<br />

ausstehen! Schauen Sie weg! Das bin ganz bestimmt nicht ich! Nein! Jetzt<br />

hab ich mich schon wieder geritzt!<br />

DER EU-MANN Am Daumen?<br />

MAGABUDU Am Zeigefinger ... Und den Zeigefinger brauche ich, weil ... Aber<br />

... Halt! Mensch! Haben Sie das gesehen? Was <strong>für</strong> ein bezauberndes<br />

Geschöpf! Sie hätten mir sagen sollen, dass Sie so fesche Frauen mitbringen!<br />

Die Göttin Europa an meinem Fenster! Genauer gesagt, die Göttin der<br />

Europäischen Union.<br />

DER EU-MANN Ich darf Ihnen versichern: Die Europäische Union hat keine<br />

Göttin, wobei freilich die Frauenquote bei uns neulich sehr wichtig ist. Der<br />

Euro aber bleibt weiterhin männlich. Das sind wir unserem Haushaltsdefizit<br />

schuldig.<br />

MAGABUDU Ach Quatsch! Sie war ja eben da! Ich habe sie gesehen. Ein<br />

weiblicher Erdgeist! So durch <strong>und</strong> durch quasi-individuell mitteleuropäisch –<br />

genau wie ich es am liebsten mag. Hallo, meine Dame! He! Du! Mädchen!<br />

Verweile noch, du bist so schön! Ich bin’s! Bin Magabudu! Bin<br />

deinesgleichen!<br />

DER EU-MANN Das war meine Assistentin. Von der lassen sie bitte die<br />

Finger. Und jetzt sollten wir aber wirklich das Blut wegwischen. Lassen Sie<br />

- 124 -


mal sehen. So ... Zum Glück nichts Ernsthaftes. Das bringen wir schon in<br />

Ordnung.<br />

MAGABUDU Haben Sie denn Pflaster mit?<br />

DER EU-MANN Versteht sich.<br />

MAGABUDU Das find ich toll.<br />

DER EU-MANN Mit scharfen Dingen sollte man sacht umgehen.<br />

MAGABUDU Klasse, Mann! Sie sind gut im Verbinden.<br />

DER EU-MANN Freut mich, Ihnen behilflich zu sein. Jetzt geben Sie aber<br />

endlich das Schwert aus der Hand! Sie sehen ja aus wie ein Chirurg!<br />

MAGABUDU Wie sich das trifft! Mein Assistent, Herr Budu, sagt immer zu<br />

mir, ich sei der Chirurg der Reform. Was natürlich eine Metapher ist.<br />

DER EU-MANN Hab ich mir gedacht.<br />

MAGABUDU Ich bin nämlich sozusagen der Vater dieser vielumstrittenen,<br />

dabei aber doch so sinnvollen Übergangsperiode. Der geistige Vater, versteht<br />

sich.<br />

DER EU-MANN In den Zeitungen hab ich mal gelesen ...<br />

MAGABUDU Wobei allerdings letzten Endes allein die Geschichte<br />

entscheiden wird, inwiefern meine Bedeutung größer ist als diejenige der<br />

bisherigen Führer unseres Geschlechts ...<br />

DER EU-MANN Stecken Sie das Schwert in die Scheide.<br />

MAGABUDU Tschuldigung. (Tut es) Ich bin halt zu tatkräftig. Ja wenn ein x-<br />

Beliebiger meine politischen Reden hört, dann mag er wohl im Stillen<br />

denken, das sei alles bloß Papperlapapp, aber ...<br />

DER EU-MANN Keineswegs, Herr Magabudu. Wird alles in die Protokolle<br />

aufgenommen. Da<strong>für</strong> haben wir in Bruxelles eine ganz große Schublade.<br />

MAGABUDU Die Sache ist, mein System funktioniert. Darauf kommt es an.<br />

DER EU-MANN Allem Anschein nach krachen jedoch in letzter Zeit all Ihre<br />

bis vor Kurzem noch so sicher dünkenden Fonds zusammen.<br />

MAGABUDU Nicht der Rede wert. Mit einer kleinen Investitionsspritze ...<br />

DER EU-MANN Na ja, Sie kennen sich da bestimmt am besten aus.<br />

Schließlich sind Sie ja der Chirurg.<br />

- 125 -


MAGABUDU Beschleunigtes Privatisierungsprogramm nennt man das.<br />

DER EU-MANN Für Ihren Wortschatz kann ich Sie nur beglückwünschen.<br />

MAGABUDU Oh, ich hab viele Wörter gelernt. Manche hab ich sogar selbst<br />

erf<strong>und</strong>en. Besonders Rechtsbegriffe. In der Freizeit stilisiere ich oft das<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz.<br />

DER EU-MANN Darf man denn? ...<br />

MAGABUDU Im Vertrauen: Man darf. Bedenken Sie, dass das Ganze ohne<br />

mich nie stattgef<strong>und</strong>en hätte. Als ich damals im heldenhaften Wirrwarr der<br />

Revolution ... ich meine, auf dem Panzer droben ...<br />

DER EU-MANN Haben Sie denn keine Experten, die das tun? Ich meine,<br />

wirklich, also, das Gr<strong>und</strong>gesetz ...<br />

MAGABUDU Bin mir selber Experte genug. Die Freude können Sie mir doch<br />

gönnen. Und außerdem sind wir ja sowieso ziemlich schlecht bei Kasse. Da<br />

muss ein Mann zwei, drei oder mehrere Ämter bekleiden, um sich über<br />

Wasser zu halten.<br />

DER EU-MANN Das sind ja vollkommen verschiedene Gewaltsphären, die<br />

Sie da durcheinanderbringen.<br />

MAGABUDU Ich sag's Ihnen: Alles muss man selber tun.<br />

DER EU-MANN Unmöglich.<br />

MAGABUDU Ja, ja, so geht das. Bei uns wird eben viel gearbeitet.<br />

DER EU-MANN Bei uns auch. Nur sind die Voraussetzungen ...<br />

MAGABUDU Unsinn! Diesseits wie jenseits der Mauer wurden schon immer<br />

Geschäfte gemacht. Blicken wir doch in den Spiegel. Ich bin ein Mann mit<br />

Beziehungen. Und Sie auch. Deshalb stehen wir nun beide da.<br />

DER EU-MANN Schon gut, schon gut. Ich sag ja nicht nein. (Glockenton)<br />

Das Beitrittsgespräch ist schon fast vorbei. Nur noch eine letzte Frage,<br />

hochverehrter Herr Magabudu. Hand auf's Herz. Sie haben manches auf<br />

dem Gewissen. Stimmt’s?<br />

MAGABUDU Hab ich. (Murmelt) Hab ich? ...<br />

DER EU-MANN Wie schlafen Sie nachts?<br />

MAGABUDU Vortrefflich, besten Dank. Und tagsüber ebenfalls.<br />

DER EU-MANN Dann muss ich Ihnen eins sagen. Was Ihren Beitritt<br />

anbelangt ...<br />

- 126 -


MAGABUDU Ja? Bitte! Heraus mit der Sprache! Beitreten, trat bei,<br />

beigretreten. Ich mag das Wort. Einer soll mal "Vae victis" gebrüllt <strong>und</strong><br />

darauf sein Schwert in die Waage geschleudert haben. Keine Ahnung, was<br />

das bedeutet. Hat mir aber ebenfalls sehr gefallen.<br />

DER EU-MANN Freilich wiegt Ihr Schwert einiges auf. Aber ansonsten wollen<br />

wir noch sehen.<br />

MAGABUDU Steht mein Name nun auf der Liste oder nicht?<br />

DER EU-MANN Ihr Name steht auf der Liste.<br />

MAGABUDU Die Jagd beginnt morgen früh. Gute Beute.<br />

DER EU-MANN Gute Beute.<br />

MAGABUDU Und sollten Sie noch was auf dem Herzen haben ...<br />

DER EU-MANN Sie sind sehr gütig.<br />

MAGABUDU Was wahr ist, darf man auch sagen.<br />

DER EU-MANN Zuerst einmal, also, ganz aufrichtig gesagt: Herr Magabudu,<br />

wie bereits erwähnt, Sie nennen ein w<strong>und</strong>erschönes Land Ihr eigen.<br />

MAGABUDU (stolz) Na ja.<br />

DER EU-MANN Und das Volk ist wirklich kolossal.<br />

MAGABUDU Klar. Als unsere Leute im Tumult der Jahrh<strong>und</strong>erte, das blanke<br />

Schwert in der Hand, die Angriffe der ...<br />

DER EU-MANN Gute Leute sind das, ehrliche Leute, Super-Leute, fleißige<br />

Leute ...<br />

MAGABUDU Fleißig sind wir schon immer gewesen, denn Arbeit ist <strong>für</strong> die<br />

Menschen meines Vaterlandes die zweite Natur.<br />

DER EU-MANN Und ich rufe: Natur! Natur! Nichts so Natur als diese<br />

Menschen! ... Menschen mit Profil <strong>und</strong> Beständigkeit. Authentische<br />

Möglichkeitsmenschen. So durchaus neueuropäische Kraftkerle! Ganz<br />

Sturm <strong>und</strong> Drang! Dazu klassisch <strong>und</strong> romantisch zugleich ... Nur ...<br />

MAGABUDU Nur?<br />

DER EU-MANN Wie Ihre Nachbarn manchmal meinen, könnte es mitunter<br />

den Anschein erregen, Sie seien in mancher Hinsicht streng genommen <strong>und</strong><br />

de facto irgendwie so ein bisschen daneben, wollte sagen nicht sine qua non,<br />

sondern ...<br />

- 127 -


MAGABUDU Ich weiß schon, was Sie sagen wollten. Die haben mich also bei<br />

Ihnen schlechtgemacht! Schon wieder!<br />

DER EU-MANN Sie wollen gern eine autonome Region hier in Ihrem Land ...<br />

MAGABUDU Das glaube ich. Möchte selber gern ein Stückchen aus dem<br />

Nachbarland.<br />

DER EU-MANN Geht aber nicht.<br />

MAGABUDU Eben.<br />

DER EU-MANN Auf der anderen Seite: Was Ihren Schatz anbelangt ...<br />

MAGABUDU Ja?<br />

DER EU-MANN Ich denke offen gesagt nicht, dass Sie den zurückkriegen.<br />

MAGABUDU Was soll denn das wieder heißen? Sie sprachen ja vor Kurzem<br />

mit dem russischen ... wie war denn gleich der Name?<br />

DER EU-MANN Spielt keine Rolle. Er hat's sich inzwischen wieder anders<br />

überlegt. Beim diesjährigen Handelsdefizit kein W<strong>und</strong>er. Und das Gas<br />

brennt auch nicht so gut, wie es am Anfang schien ... Also lange Rede,<br />

kurzer Sinn: Er will nun das Gold doch noch lieber eine zeitlang bei sich<br />

aufbewahren.<br />

MAGABUDU Das ist blöd.<br />

DER EU-MANN Genau meine Meinung.<br />

MAGABUDU Aber wenn Sie vielleicht ein kleines Wort <strong>für</strong> uns einlegen ...<br />

DER EU-MANN Kann ich nicht. Der Mann steht da sozusagen als Vorposten<br />

gegen die nationalistischen ...<br />

MAGABUDU Ein ganz kleines Wort.<br />

DER EU-MANN Unmöglich.<br />

MAGABUDU Feigling!<br />

DER EU-MANN Ja wenn Sie mir so kommen ...<br />

MAGABUDU Nie haben Sie den Mut einzugreifen! Nie!<br />

DER EU-MANN Da würde ich an Ihrer Stelle vorsichtiger sein.<br />

MAGABUDU Was haben Sie getan, als 1991 der Putsch los war?<br />

- 128 -


DER EU-MANN Tja ... Zum Ersten verkündeten wir da nach reiflicher<br />

Überlegung <strong>und</strong> selbstredend unter Berücksichtigung einschlägiger<br />

internationaler Vereinbarungen <strong>und</strong> bilateraler sowie multilateraler<br />

Abkommen ... also wir verkündeten ... Moment, was verkündeten wir denn?<br />

MAGABUDU Sie verkündeten Ihre Charakterschwäche! Sie zeigten der Welt,<br />

dass Sie wirklich keine Eigenschaften haben. Quatschen <strong>und</strong> Fressen, das<br />

ist bei Ihnen alles. Nichts haben Sie getan! Gar nichts!<br />

DER EU-MANN Ja ganz so viel mag es wohl auch wieder nicht gewesen sein,<br />

nur, was heißt schon viel? Wir wollen jetzt doch nicht darüber streiten!<br />

(Beschwichtigend) Ist ja sowieso alles mittlerweile schon Schnee von gestern,<br />

wie Sie zu sagen belieben.<br />

MAGABUDU Hm ... Meinetwegen.<br />

DER EU-MANN Kommen Sie schon! Sie sind ja ganz außer sich geraten. So<br />

... einen kräftigen Handschlag drauf. Seien wir wieder gut.<br />

MAGABUDU He! Sie haben mir weh getan! Das war die w<strong>und</strong>e Hand.<br />

DER EU-MANN Tut mir leid. Ich schicke Ihnen einen Balsam, wenn ich<br />

wieder zu Hause bin.<br />

MAGABUDU Nett von Ihnen.<br />

DER EU-MANN Versteht sich ja von selbst. Eine Hand salbt die andere.<br />

Denn reibungslose Prinzipien gehen mir über alles. Das bedeutet: Wir helfen<br />

einander.<br />

MAGABUDU Wie gesagt, die EU kann ich leiden.<br />

DER EU-MANN Eins weiß ich schon jetzt ganz bestimmt: Ich werde an Sie<br />

denken.<br />

MAGABUDU Tun Sie das. Aber es ist nun wirklich höchste Zeit zum<br />

Schlafen. Morgen gehen wir nämlich auf Beutefang. Und zwar ganz im<br />

vorkapitalistischen Sinne. (Der Jägermarsch)<br />

DER EU-MANN Mir soll's recht sein. Schlafen Sie wohl. (Schnarcht schon)<br />

(Am nächsten Tag)<br />

DRITTE SZENE<br />

MAGABUDU Ta ta ta ta ta! Los Mann, drücken Sie ab! Das kann jeder.<br />

DER EU-MANN Kotz Bombenelement! Ein Hirsch!<br />

- 129 -


MAGABUDU Was dachten Sie denn? Dass wir Sie ohne Beute wegschicken?<br />

DER EU-MANN Der sieht ja ganz lebendig aus!<br />

MAGABUDU Ist er auch.<br />

DER EU-MANN Und den soll ich jetzt? ...<br />

MAGABUDU Immer nur anlegen ... Feuer!<br />

DER EU-MANN (schießt) Das gibt 'nen Braten.<br />

MAGABUDU Ich <strong>für</strong> meinen Teil will nur ein kleines Schnitzel.<br />

DER EU-MANN (lacht) Können Sie haben. Wir EU-Leute sind Meister in<br />

Sachen der Schnitzelei.<br />

MAGABUDU Weiß ich. Sie kriegen übrigens eine Kopie der Kassette. Junge<br />

Junge, haben Sie einen killer instinct! Das wird noch ein echter Horror!<br />

Besser als Dracula braucht frisches Blut.<br />

DER EU-MANN Ach nein doch! ... Haben Sie denn? ...<br />

MAGABUDU Alles auf Band.<br />

DER EU-MANN O du liebe Güte! Was kann einer sagen? Kolossal. Freut<br />

mich ... 'ne gute Leistung. Wirklich.<br />

MAGABUDU Die bestmögliche. (Beifall) Hören Sie? Unser Land gratuliert.<br />

Das war der letzte Hirsch.<br />

DER EU-MANN Den ich jetzt erlegt habe?<br />

MAGABUDU Den Sie jetzt erlegt haben.<br />

DER EU-MANN O je ...<br />

MAGABUDU Genau.<br />

DER EU-MANN Mein Gott. Das hätten Sie doch sagen sollen!<br />

MAGABUDU Ist ja sowieso egal. Hirsche konnte ich nie ausstehen.<br />

DER EU-MANN Aber laut der neulich aktualisierten Satzung des<br />

Allgemeinen Europäischen Försterverbands ...<br />

MAGABUDU Sehen Sie? Mein Assistent, Herr Budu. Wird jetzt den Bauch<br />

unserer überaus prächtigen Beute aufschlitzen. Und dann ...<br />

DER EU-MANN Warum tut er das mit ihrem Schwert?<br />

- 130 -


MAGABUDU Was <strong>für</strong> eine Frage! Sie sind ein sonderbarer Kauz ... Obst<br />

gefällig? Wein gibt' s natürlich auch.<br />

DER EU-MANN Danke, doch ...<br />

MAGABUDU Nichts zu danken. Nur der Tod ist umsonst.<br />

DER EU-MANN Das hab ich bemerkt.<br />

MAGABUDU Wer sich hier auskennt. der weiß, dass aIle Dinge ihren<br />

traditionellen Gang nehmen. Als zum Beispiel mein Vorgänger stürzte ...<br />

DER EU-MANN Man ist nie vorsichtig genug. Besonders als Staatschef. Wo<br />

befand er sich denn?<br />

MAGABUDU Auf dem Schafott.<br />

DER EU-MANN Ach so ...<br />

MAGABUDU Ja ... Warum fragen Sie?<br />

DER EU-MANN Nur aus Neugier. Ich meine, bei uns fällt man nämlich von<br />

oben.<br />

MAGABUDU Bei uns auch. Und nun: Meister! Es kann losgehn! (Der<br />

Todesmarsch ertönt).<br />

DER EU-MANN Halt! Was tun die Leute da? Sie sollen aufhören! Aufhören!<br />

MAGABUDU Sind Sie aber empfindlich! (Nach einer Weile) In Ordnung.<br />

Jungs, könnt euch davontraben. (Die Musik fällt weg) Das war aber eine<br />

ergiebige Erweiterungsjagd. Falls Sie noch Fragen haben, steht Ihnen unser<br />

Vaterland natürlich jederzeit zur Verfügung. Ansonsten wünsche ich jetzt<br />

bald guten Appetit.<br />

DER EU-MANN (gequält) Danke, ebenfalls.<br />

VIERTE SZENE<br />

Das Feuer lodert. Messer werden geschliffen. Hühner gackern. Wein strömt<br />

aus den Fässern<br />

MAGABUDU Und wie gesagt: So kämpfte ich. Jederzeit an der Spitze meiner<br />

Leute.<br />

DER EU-MANN (müde) Brav so ...<br />

- 131 -


MAGABUDU Und keinen gab's, der mir je widerstand.<br />

DER EU-MANN (halb schlafend) A-ha ... (schnarcht)<br />

MAGABUDU He!<br />

DER EU-MANN Ma ... Ga ...<br />

MAGABUDU Budu!<br />

DER EU-MANN Maga ... Magabudu.<br />

MAGABUDU Ja bitte? Das bin ich. Aber wo steckt denn bloß mein Assistent?<br />

Herr Budu! Hallo!<br />

DER EU-MANN (schnarcht) Budu.<br />

MAGABUDU Ja ... Toll war das, wie wir den Staat neu errichteten. Ich<br />

meine: Revolution <strong>und</strong> Reform ... Abschlachtung der Ausbeuter, Ausbeutung<br />

der Abgeschlachteten ... Enteignung ... Rückerstattung.<br />

Schuldenbegleichung. Neuverschuldung ... Ergo ... Alles picco bello.<br />

DER EU-MANN Bello ...<br />

MAGABUDU Angenommen, dass, ... Ich meine ... Also jetzt mal aufgepasst:<br />

Hier ist mein Staat, <strong>und</strong> hier ist mein Schwert. Verstehen Sie mich?<br />

DER EU-MANN Ja ja ja ja ...<br />

MAGABUDU Verdammt! Sie hören mir nicht zu!<br />

DER EU-MANN (wacht auf) O ja.<br />

MAGABUDU O nein. Sie hören mir nicht zu. Niemand hört mir zu. Ich will<br />

aber, dass man mir zuhört! Und wenn ich will, dann will ich! Kapiert?<br />

DER EU-MANN Na klar doch ... Ganz wie Sie wollen. (Nach einer Pause)<br />

<strong>Wissen</strong> Sie was? Das machen wir so: 'ne richtige Pressekonferenz<br />

organisieren ...<br />

MAGABUDU Eine internationale?<br />

DER EU-MANN Eine internationale.<br />

MAGABUDU Hm ... Das ist eine Idee.<br />

DER EU-MANN Stellen Sie sich doch bloß vor: Ringsherum lauter<br />

Mikrophone … die ganze Welt hört zu, <strong>und</strong> Sie können sich ihr Leid vom<br />

Herzen reden.<br />

- 132 -


MAGABUDU (aufjauchzend) Liebling! Wo bist du denn? (Atmet) Heo-he!<br />

Liebling! Komm doch endlich her! Ich darf! Ich darf! Ich darf!<br />

DER EU-MANN Wen rufen Sie denn? Ihre Frau?<br />

MAGABUDU Meinen Premierminister. Er ist wie ein Sohn <strong>für</strong> mich.<br />

DER EU-MANN Da liegt er ja.<br />

MAGABUDU Richtig. Er ist wohl noch ein bisschen müde.<br />

DER EU-MANN Sieht ganz so aus. Soll ich ihn wecken?<br />

MAGABUDU Nein, das schaffen Sie nie. Ich sag's ihm dann eben persönlich,<br />

wenn es soweit ist. Er muss ja auch mitlächeln. Vor der Kamera, meine ich.<br />

DER EU-MANN Sollte sich am besten erst die Zähne putzen.<br />

MAGABUDU Mir macht das nichts aus.<br />

DER EU-MANN Ich weiß, Sie sind sehr ... wie sagt man gleich?<br />

MAGABUDU Tolerant.<br />

DER EU-MANN Ach ja, tolerant.<br />

MAGABUDU Bin ich.<br />

DER EU-MANN Das kann man Ihnen kaum abstreiten. Sie können schon<br />

was über sich ergehen lassen. Mehrere Journalisten <strong>und</strong> drei<br />

Verfassungsrichter haben das bestätigt. Doch was tun Sie, wenn Ihnen<br />

jemand so richtig auf die Nerven geht?<br />

MAGABUDU Dann bleibe ich tolerant. Und hole meine quasi-zivilen<br />

Kommandos herbei. Die hauen den Kerl zusammen, während ich weiterhin<br />

tolerant bin. Eine schlichte, wirksame Politik. Dulce et decorum est ...<br />

DER EU-MANN Die wackeren Leute haben Ihnen gewiss sehr geholfen, Sie<br />

wissen schon, damals ...<br />

MAGABUDU Als wir das Richtbild der Wende neu definierten?<br />

DER EU-MANN Als Sie es sich, Ihren ursprünglichen Versicherungen zum<br />

Trotz, anders überlegten <strong>und</strong> den Kurs der Geschichte wieder ein bisschen<br />

nach links umlenkten. Wobei Sie freilich den Kurs der Donau, den<br />

Anrainerstaaten zuliebe <strong>und</strong> nicht zuletzt dank unserer massiven<br />

Geldzuwendungen, unverändert ließen. Wo<strong>für</strong> wir jetzt übrigens ein weiteres<br />

Mal recht schön danken ...<br />

- 133 -


MAGABUDU Gern geschehen. Also die Blaue Donau ist meiner Meinung<br />

nach die Königin unter Europas Flüssen. Reich an Geschichte <strong>und</strong> von<br />

Legenden umwoben. So ... Und Europas Legenden wollen wir auf jeden Fall<br />

aufrechterhalten.<br />

DER EU-MANN Bravo! Genau solche Leute brauchen wir. Sprachlich begabt<br />

<strong>und</strong> originell. Das Zeitalter der Epigonen ist nun endgültig vorbei!<br />

MAGABUDU Ohne Bezuschussung ginge das aber kaum. Sie wissen ja:<br />

Staatspolitik verlangt gute Buchhaltung. Darf ich bitten?<br />

DER EU-MANN (gibt) Bitte.<br />

MAGABUDU (nimmt) Danke. Sie bekommen da<strong>für</strong> eine Quittung. Ich bleibe<br />

niemandem etwas schuldig. Eine Hand wäscht die andere, wie einst ein<br />

bedeutender Philosoph meiner Jungendzeit zum Anlass der Gesamtausgabe<br />

seiner Alterswerke sagte ...<br />

DER EU-MANN Da haben Sie wieder mal recht. Besonders, wenn die<br />

persönliche Kasse ja so strikt von der Staatskasse getrennt ist.<br />

MAGABUDU Ja das nun auch wieder nicht, aber immerhin: Soweit es geht,<br />

halte ich die beiden selbst im realpolitischen Umgang natürlich im<br />

Mindesten prinzipiell kategorisch auseinander.<br />

DER EU-MANN Wir auch. Denn Geld will gezählt sein. (Ein bisschen<br />

verlegen) Darf ich mir jetzt die Hände waschen? Das Blut sieht irgendwie<br />

unanständig aus. Freilich ist es dabei ja auf der einen Seite nicht<br />

eigentliches Blut, sondern eben vielmehr, wie sagt man das ... hm, tja ... also<br />

als Dichotomie betrachtet ...<br />

MAGABUDU Klar. Handtuch <strong>und</strong> Seife bekommen Sie am Eingang.<br />

DER EU-MANN Sehr nett von Ihnen.<br />

MAGABUDU Machen Sie’s gut!<br />

DER EU-MANN Dann Auf Wiedersehen. (Angenehm überrascht) Mensch!<br />

Das Waschbecken finde ich aber absolut großartig!<br />

MAGABUDU Pures Gold. Vollkommen automatisiert. Mit Musik aus drei<br />

Kontinenten. Und das Geweih dort oben ist natürlich garantiert echt.<br />

Waschen Sie nur ruhig Ihre Hände in Unschuld. Das Wasser kommt aus<br />

unseren Bergen.<br />

DER EU-MANN Klasse! Es tut so wohl, mithilfe modernster Technik alles ins<br />

Reine zu bringen! Eine Erfahrung, die ich europaweit immer wieder machen<br />

darf. (Hupen) Zeit <strong>für</strong> den Rückflug: Mein Wagen ist schon da. Einen<br />

angenehmen Beitritt noch. Und ... Herr Magabudu!<br />

- 134 -


MAGABUDU Hm? ...<br />

DER EU-MANN Wir haben Sie doch schon immer geliebt!<br />

MAGAGBUDU Ich Sie auch. (Gelassen) Ich Sie auch. (Die Neunte ertönt)<br />

ENDE<br />

Vasile V. Poenaru (bardaspoe@rogers.com), Germanist <strong>und</strong> Autor (geb. 1969), mehrjährige<br />

Tätigkeit als Journalist <strong>für</strong> kanadische Zeitungen, derzeit Doktorand an der Universität<br />

Toronto. Erhielt 2006 den Social Sciences and Humanities Research Council of Canada<br />

(SSHRC) Award als Anerkennung seiner Forschungsarbeit an der Universität Toronto.<br />

- 135 -


Mündlich’n, so blau<br />

Sieben <strong>und</strong> skythische Syzygien<br />

zur Achilles-Insel Alba im Litoral der Donau<br />

Von Oswald Egger<br />

(01. 01. 2007)<br />

Dort, wo Böhmen am Meer liegt, legt die Donau ihren Namen im Meer<br />

ab – <strong>und</strong> heißt fortan Hister. Die seit Aristoteles vermutete (<strong>und</strong><br />

vehement diskutierte) Bifurkation der Donau geht mithin in Istrien vor<br />

sich: hier teilt sich der Strom <strong>und</strong> mündet zum einen (als kleinerer Arm)<br />

ins adriatische Mittelmeer (nahe der Achilles-Stadt Aquileia), <strong>und</strong> zum<br />

anderen (als verlängerter Ärmel) in das Schwarze Meer (nahe der Pappelweißen<br />

Insel des Achilles, Leuke oder Alba, wo Persephone bzw.<br />

Proserpina die gleichnamige Nymphe zum populus alba der<br />

Weißpappelnacht dämonisierte (die demotisch Weiße Frau am Baum),<br />

<strong>und</strong> sie gleichwohl um alles in der Welt verpflanzte (jenes Papperlapapp<br />

um Achilles Grab). – Die teils unterirdisch verlaufenden Karstflüsse<br />

Istriens haben diese Vorstellung beides, veranlaßt <strong>und</strong> unterlaufen: Der<br />

Rhein entspringt doppelzüngig (er entsteht am Ort, dem er im Wort steht,<br />

<strong>und</strong> entgeht beiden, seiner Schrift entziffert); die Donau mündet mit<br />

ihrem – Lied <strong>und</strong> Bahn – ›in‹ der Mündlichkeit, litoral (wie Augen im Fluß<br />

der Dauer, diese Jetztzeit-Werder des Diskreten im Stetigen), im Vorüber<br />

(»präter«) der Syzygien (Prater- oder Vorseh-Auen) einer fast schon<br />

skythischen Unvergangenheit <strong>und</strong> Geographie, worin Substrate – als<br />

deren Arme <strong>und</strong> Bilokation – Handlungen schon vor Verursachung<br />

ineinander übergingend <strong>und</strong> inseln (unvordenklich sich-in-sich), so blau,<br />

so – instantan: einem vorgehend (wie sonst niemand), indem sie das<br />

Andere ereignen, sobald sie das Nicht-Andere tun, genauer, da Achilles<br />

ruht, fließt alles.<br />

1<br />

Als ich über Tümpeln (vom zugeschirrten Paddel-Wald, Istern, so<br />

büschelig verzweigt) zu Kolkhorst kaum vordrang, mußte ich Wat-lang<br />

staks passierte Siele (<strong>und</strong>urch’-hiebtes Schilf) verqueren, Kälte <strong>und</strong><br />

Schatten; über Hüllen mündelte Gebirge wie Zellfaschinen (nicht, daß<br />

eine leere Welt in Wirklichkeit verschwimmt), Rollstaub-Hauben (<strong>und</strong> die<br />

glimm-Lichtschnur gedörrten Lohdern) zog ich <strong>und</strong> einen Fäd’selpelz,<br />

zwirnte die Quastenfrucht-Kapseln über die Zupfspur (Huzeln) <strong>und</strong> stieg<br />

auf den Ist-Schlitten (einer Sitzholzkiste, schließlich). Ich flößte verirrt, in<br />

meinem Fußsack besteckt, zu Sieben (diese kipp-Triebe trieb’-ten),<br />

ruderte (»verhexte« quasi) Trensen (<strong>und</strong> Ring-Ösen unbeweglich – ich)<br />

verbissen in die Riemen. Die Segel schnitten <strong>und</strong> verschlitzten wimperig<br />

den Himmel über Buchtsplitt, <strong>und</strong> die Fladen Ruder Spanten (rührten<br />

den) Graupelkoch zu Leck. Ich kenterte in Regen, verunsank’t am Glas-<br />

Wasser (plötzlich) schwimmb’lende Schlingalgen, fast golden schlüpft die<br />

- 136 -


Brut der Kugel falbmond in Morast <strong>und</strong> Fasern, Büffel’n, die<br />

Hufblatt’schten, Zirpdrüsen Tropf’ ten Sporen wie ob olivgrüne Lichter<br />

auf die Eßbux-Stämme, den Gräsersee allmende, sie (insick’ten), malten<br />

alle-balgten Schrittschatten stahlblau <strong>und</strong> keimgrün (dünn) über die<br />

Eishaut, mitten im fast Glutsee (auf flacher Inselhand, stimmen):<br />

Lehmflach h<strong>und</strong>erte Zwergwels-Stelzsäbelschnäpper <strong>und</strong> Saugflocken<br />

eingekauzt. Der ganze Frostwald (von vertrockneten Schlammfetzen<br />

verkleistert) war von der Traglast Sahlweide niedergedrückt, in Schichten<br />

auf übereinanderhängenden Borsten <strong>und</strong> Ästen (Haar-Garben)<br />

verbüschelt. Ich schritt (über Rain) die Unfelder ab <strong>und</strong> zog mit<br />

wringenden Händen den Sumpf- <strong>und</strong> Brutkahn zu erloschenden Ufern<br />

(mit unzählig kleinen Stichhalmkrustenkämmen im üppigten Stich. Kein<br />

Schnee lag über der Erde: Salzblumen überdeckten die<br />

Schlämmwannen; ihre Ähren blitzten mit sirrenden Perl-Kristallen, <strong>und</strong><br />

ich erinnere mich nicht mehr, wie sehr ich zurückgef<strong>und</strong>en habe.<br />

2<br />

Bis zur St<strong>und</strong>e ist die salzige Binnensee noch mit den falbglast-<br />

Wassermassen der Zuflüsse verunmengter Schmelz, dann klart sie (zu<br />

klammem Blau) jenem, in Pfriemform-Blüten welk (aus tümpfeligen<br />

Pfützchen), dem erst Steppland-lachen Bruchwald Röhrichte sich,<br />

allmählich zuvermeerte, so Schärwasserlieschflächen (Froschbiß’zien<br />

ganze Inseln verschwimmender Salvinien). Ich habe Dünglehm<br />

gestochen, eingefeuchtet <strong>und</strong> mit Stroh-Nachtschatten Halmgarb<br />

Flügelraup’ verrührt (<strong>und</strong> den aus Öltuch versiegelten Sack in die Barke<br />

geworfen). Die Sandbarre ist von randhohen Disteln <strong>und</strong> (»dornicht«)<br />

bezehrenden, losen Nestern der Wegwespen grauweißgeringelt <strong>und</strong><br />

verwabert, <strong>und</strong> Brutnattern (zitterten im Wind); aus Ziehbrei fertigte ich<br />

in Modelholzwannen Ziegel aus Eis‘ter Viskose (<strong>und</strong> Wolfsmilchlatwergen<br />

Schwärmern), die in der Sonne verborkten Boots-Schwämme (span’ten).<br />

Ohne Zweifel – ein Triel strich’t ab <strong>und</strong> verlandete (<strong>und</strong> t’sick‘t) mit<br />

Takterschrecktem Flatterruf, ich steuerte inzwischen Ton <strong>und</strong> Glocke<br />

(<strong>und</strong> Vertoonung) durchs verdammte Land, doch das Ausbooten deichte<br />

heftig dem umschlack’ten, von dichtestem Glasalgenflor<br />

r<strong>und</strong>ummuldeten Steilstrand das gestapfte Grab (verbrandet). Ich war in<br />

der Flut-Tat von Ungestaltfelsen um die wie Lagune begünstigt, ankerte<br />

in Lak’t-trüber Wässerung (T’ucht-Faschinen der Länd) <strong>und</strong> fuhr auf<br />

Frostjollen ans Watland. Das steinerne Meer war ungelände steinig <strong>und</strong><br />

kam karg: neben Untiefen toten Flüssen (in Erosionstälern<br />

unzerfurchten Hängen) stieg ich dem dichten Dürre-Berg entgegen (<strong>und</strong><br />

verdickte in Glutluft). Hoch hob sich der Horstbrocken vom Eiland, das<br />

wohl Inseln mit variskischem Untergr<strong>und</strong> versickert, aber ablag, daß das<br />

bloße Auge den facettierten Seehöhen-Horizont mit R<strong>und</strong>wimpern maß.<br />

Kalzedonischer Permquarz aus karmingrauer Rötelbreccie <strong>und</strong> klunc in<br />

Buchten rieseln fallendere Konglomerate. Die Steinschmätzer flögen vor<br />

mir auf, als Lebensraum.<br />

- 137 -


3<br />

Die Insel hieß Leukó <strong>und</strong> will ein Heiligtum (»Achilles«) überbergen.<br />

Das Eiland ist (»Istern«) mit Schwarzerde <strong>und</strong> Wäldern ockergelber Blaß-<br />

Pappeln bedeckt (<strong>und</strong> Ulmen), schroffste Klafter über’m Spiegelmeer<br />

erhaben unter zerklüftet felsigem Gestade (mit Böschungsschraffen),<br />

Anlandplätze ›gibt es‹ am Westufer (mit vier Fuß Tiefe), an der Ostseite<br />

(zwei Fuß Tiefe) <strong>und</strong> einen von Süden her (wo die Untiefe drei Fuß<br />

betrug). Zerspell’zt um die Insel schlangen Felszacken ein <strong>und</strong><br />

schnapp’ten ragte Rogelrollblöcke aus dem Brandmeer von Felsen, durch<br />

welche ich vom Landen (mit Ruderstaken), vorvorsichtig manövrieren<br />

mußte. Wie Augentiere – ihr Wort liegt in der Hand (<strong>und</strong> wiegt anders).<br />

Und der Meergr<strong>und</strong> istert mit Muscheln besetzt, die Schärwindwellen<br />

drüber kräuselten Chonchylien <strong>und</strong> -linien. So hohe Speltgräser<br />

bedeckten den Unteil der Insel; – da brannten weder Baum noch Busch<br />

die Augen: auf der Hutweide in Hängländern <strong>und</strong> Leiten flogen zu Glut<br />

Motten (die verpuppten Schwärmer) gegen Juni. Eine fast Gansgroß<br />

hornfüßige Silbermöve in oscillae, ein Wälzrädertier in Inseln<br />

vorüberstreichender Strömung – wie Schlitzinsekten sind-ist die Facetten<br />

(die veraschten) in Zufluren flugfähiger Trugsamen. Wie diese<br />

Korbdoldenblütler glandern, Karstgrashalme, so ruderal-tatarischen<br />

Melden, die Käspappel Hirtentäschelten Körr’bel <strong>und</strong> Hirsreisbinsen wie<br />

Kamillen (die einzig grünen)(<strong>und</strong> übrigen) Trespen der Achillea,<br />

Riedflechten <strong>und</strong> Ißkrautgräser <strong>und</strong> Treßpolstertrostkissen bötelten das<br />

Mooshorst dörr versengte, Ungespenstern der Sandgrassteppen. Aus<br />

Weide fast filpt das vereiste Nistgeäst mit Brutzurufen vom Wiedehopf.<br />

Fünf, sechs Dunen knäueln sich aus morschtem Olbholz, vergeblich<br />

flocht ich aus Ginster Schilf-Fischzäune <strong>und</strong> Fallen, die latz’ten Netze<br />

<strong>und</strong> Fell-Reussen Anlitz’en an langen <strong>und</strong> verspielt verdrehten, so<br />

Schritt-verliebten Schnüren.<br />

Vom Meer sprüht in schrägen Häng-Strähnen Wasser aus den Fog-<br />

Schwaden Wolken <strong>und</strong> über die Hügelbögen der Insel. Das Wasser der<br />

Siele übertritt die schilflosen Ufer, <strong>und</strong> die Marschwege mürbten<br />

gr<strong>und</strong>los, dann legte sich das Wetter. Infolge werde ich (nach Jahr <strong>und</strong><br />

Tagen) Trassengrasgarben beides, nennen, binden <strong>und</strong> erinnern, am<br />

kommenden dann (<strong>und</strong> nächsten) will ich diese Unzahl Stengel ihrer<br />

ährendürren Spatelkappen Blüten, wie ihre geschnäbelten Knötchen<br />

(pflücken <strong>und</strong> verdisteln). Ich scheuche Lichtfalter von Sträuchern <strong>und</strong><br />

klopfte sie zu Sporen, die Weiden Eichten (Rüsterbüschte) Einmauern,<br />

Blattpappeln <strong>und</strong> Planken, <strong>und</strong> Ast-quast Nessel-tausend<br />

Knollen(Schlehen) Wellen <strong>und</strong> Gehänge, auf Kapselschlitzschiffchen<br />

überwebend <strong>und</strong> Meersalbei (<strong>und</strong> Wermut) (mit schwimmenden wif’t-<br />

Puppen, Urnwannen <strong>und</strong> Dolden <strong>und</strong> Trüffelfrüchten) sickerte<br />

Gisch’schlick zwischen Solbruch <strong>und</strong> flak’gt Vertiefungen der Schollen.<br />

Das meiste Gestein ist von Fladenroter Farbe, an einzelnen Kieseln fand<br />

ich Falbkristalle mit wenigen, sehr feinen Kalk- <strong>und</strong> Marmoradern;<br />

4<br />

- 138 -


Hornmergelblende <strong>und</strong> Quarzgeschiebe (rostgrau). Am Brutplatz der<br />

Mantelmöven (ihr Gefieder ist blak’tweiß, mit Nacken in blaugrauen<br />

Farben) grimmelten Schlangen, eine Unmenge von gelackten Rußfuseln<br />

im Schiefer, diese (Würfelnattern zu gekielten Schuppen) unwegsamen<br />

Küstenschlucht-klammen Hänge mit abschlüpfrigen Klipptalgtälern<br />

inzwischen Schotterklüften grobrot gesprenkelter Salwandfelsen<br />

(erinnerten an Istrien) die Steineier der Möven austrinkt <strong>und</strong> Jagd auf<br />

deren Brut macht: ihr Geschrei glich schallendem Gelächter (mit jenen<br />

abgesetzten Tönen) der Kinder. Es hieß, daß Schlangen an der Küste ins<br />

Wasser gingen <strong>und</strong> fischfangend untertauchten. Ich habe die Insel in<br />

einem Tschaïken-Kahn umschifft <strong>und</strong> sah keine Wirbel nattern (aber<br />

diese Strudel zwischen Sand <strong>und</strong> Brack). Auch von Wasserfossilien war<br />

in dem Kalkschlick keine Spur.<br />

5<br />

F<strong>und</strong>e, Scherben von Vasen, Schalen etc. habe ich nicht gemacht;<br />

was da war, muß gescharrt (<strong>und</strong> verschafft) sein. Ich fand nur zwischen<br />

Felshängen im Geröll die Steinbrech-Draperien ihrer Weißpappelnacht<br />

(zu Schluch’z, mit Urnen, ungefüllt aus blanker Minze, Amaranth) mit<br />

Schmetterlingen kahler Hangalm <strong>und</strong> Distelfalter (Kohlweißlinge, einzwei<br />

Eulchen, geflogene Zünsler); emmern kleine Grasameisen <strong>und</strong><br />

flugunfähige Raupen-Fellwänste oder, Junigrün, wie Florgoldfliegen fast<br />

Fühlchen- <strong>und</strong> Rüsselfüßler verkümmerter Löcher in Asseln: eine biß<br />

mir (mit ihren Sichel-Kiefern) ihr Gift in den Finger, daß Arm <strong>und</strong><br />

Handrücken binnen einer St<strong>und</strong>e wulstdick aufschwollen blauen <strong>und</strong><br />

bald nachher diese Drüsen Hautkissen <strong>und</strong> Haare schmerzten; erst zwei<br />

Tage später ließen die Borsten Sporen. Ich baute die Treillage auf, <strong>und</strong>,<br />

sowie ich im Zelt sitzte, schwätzen die Geschwader (<strong>und</strong> waten). Ich<br />

verblüffe, <strong>und</strong> es singt <strong>und</strong> surrt in den Drähten der Festzeltplane, dann<br />

calmt die Schar <strong>und</strong> stelzt zu ihren Brutplätzen (<strong>und</strong> das Zelt interessiert<br />

sie nicht). Jetzt frischt Wind auf <strong>und</strong> rüttelt am Zeltgestell, die Uferläufer<br />

krallen sich geduckt auf ihre Nestmulden, die Kolonie verstummt. Es<br />

heißt, am 20. Jänner 1888 flockt eine Herde Trappen auf der Insel<br />

nieder, auf welche Jagd gemacht wird (mit der Flinte oder, wie<br />

Schlangen, mit Schlagstangen): die Trappen waren infolge heftiger Fröste<br />

am ganzen Gefieder mit Eisschichten bedeckt, die am Rumpf in<br />

förmlichen Zapfen herunterhingen. Sie sollen, heißt es, schreckhaft<br />

abgemagert gewesen sein <strong>und</strong> kaum mehr fähig zu fliegen. Und unter<br />

Eis-Steinen hausten sie als Gespinste in Firnhöhlen grauflaumhaariger<br />

Schneespinnen; davor Affodilllilien wachsen <strong>und</strong> wiegten sich zu<br />

Sommern, ein dichtes Flechtdach verlaubte, Schatten wie Kopftücher oft<br />

auf Kartoffeln, <strong>und</strong> die Fellmützen auf den Zaunhanghauben inzwischen<br />

Schilf <strong>und</strong> – Lieschgras – immer Wind.<br />

- 139 -


6<br />

Die Aussicht kilbt über – vorausgesetzt, das Wetter ist schön (<strong>und</strong> die<br />

Luft durchsichtig). Mein schwarzes ganzes Meer (ist zugefroren) – eine<br />

Dickeisdecke, die sich vom Tuffstrand in die See vorschob (<strong>und</strong> schiebt<br />

noch) – verbirgt sich unter dem Schneefilz. Weit hinter Riß-Barren<br />

Schollen, in die sich Eisvielflache gliedern (<strong>und</strong> lösten), liegt ungr<strong>und</strong><br />

verschimmert offener Grubenkies, <strong>und</strong> von unfern leuchten die so<br />

bauschten quasi, Steinweiß-Bögen überragender – Karpaten? Was dem<br />

Gesicht dort wie dort als verschwommene Linie tüchelt, ist<br />

Festlandküste, die Auge-an-Auge (»diese drei«) Münder der Ister zeigt,<br />

wodurch ihr Strom ins Vormeer brack’t. Ausgedehnte Ösen- <strong>und</strong><br />

Treibeisfelder tschupp’ten langsaum vor zu Böen nach Erstrecktem (sie<br />

sprudelten <strong>und</strong> rieseln). Und die Rauchlinien, die zerfärbten outremer<br />

(morbleu), auf hie <strong>und</strong> da voranstakende Ruck-Tucker überteilt, <strong>und</strong><br />

trudelten (von schmauchten Fährbooten) zu, oder es sind cabotage<br />

Tiefseeschiffe, die von den Flöß-Häfen holzten, so Segeljollen mit zagen<br />

Unseil-Masern ja, aber takelage befrachtet (<strong>und</strong> mit Früchten). Brrr, eisig<br />

fegten Kehrwinde (wie Wirbeltiere tromben) über See <strong>und</strong> Strand, ließen<br />

den Schnee stäuben <strong>und</strong> werften das Meer zu Bucht (<strong>und</strong> verpulverten<br />

Spülsaumlinien). An den Packeiskanten brandete das Wasser <strong>und</strong><br />

vermochte doch nicht, dessen Decke aufzubrechen. Nach Weile stöbern<br />

blinde (<strong>und</strong> glimmende) Schwebschneebienen (<strong>und</strong> versteinerten) in<br />

Schwärmen, schmolzen <strong>und</strong> vertropften zu Schotter (bleiern grauer<br />

Schatten). Nur Lößschollen so Blöcke, die verbrockten untertunkt, sie<br />

Feldern. Dort hokken ungeheure Mantelmöven mit schiefendem Gefieder<br />

<strong>und</strong> Kopfmasken <strong>und</strong> lachen (die Kapuz’ten) Kobolde über alle Molen<br />

<strong>und</strong> verkrallten sich massiv zu Fratzen (mit Händchen <strong>und</strong><br />

Fühlrüsselfüßchen, wie Virgeln). – Ich verrindete in birkweißen Pappeln,<br />

stand mit Achilles (<strong>und</strong> vor allem) Alberbrossen am Ufer des – es heißt so<br />

– Ungewässer des Vergessens (<strong>und</strong> die Erinnerung isterte den Teich).<br />

7<br />

So Unrat-bunt die Conchylie zwischen den Kieseln auch aussieht, den<br />

Fersen behagen die Spitz-Kalksplitter nicht. Ich zähle fünfzehn<br />

zertretenste Schlangengelege, Eier von Ringel-, Sprenkel- <strong>und</strong><br />

Würfelnattern, die Schalen lagen verwüstet (umverstreut) im Areal. Von<br />

der einen Seite der Insel bis gegen deren Mitte (<strong>und</strong> zur Bucht hin),<br />

Bausch <strong>und</strong> Bogen zueinander, Mauerreste, Schutthaufen. Aber mein<br />

Interesse galt besonders den Bienenfresservögeln <strong>und</strong> Blauracken<br />

– <strong>und</strong> den Speiballen der Nestlinge <strong>und</strong> Biester: sie brüten am Nord-<strong>und</strong><br />

Südufer in Steilwänden schroffer Lehmtäler, in Erosionskolkinseln (der<br />

Ister). Auch erste Streifzüge am kommenden Tag enttäuschten: so schön,<br />

wie ich das Elysium in Erinnerung hatte, ist es nicht, es ist – Istrien –<br />

auf dem Karstkalk völlig ausgedörrt. Und Trugspiele <strong>und</strong> Windhimmel<br />

klafften mir aus dem Meer entgegen, dessen Leuchtfläche ich Flutdurchquerte<br />

(schon seit Tagen stand ich am Bug). Mein Atem (ist die<br />

Erinnerung istern, ihr Traum?) bewegte die Seeoberfläche in rieselnden<br />

- 140 -


Kräuseln, wodurch der schlanke Wellenkahn zu Schwank <strong>und</strong> Küste rief,<br />

er führt Bleiweiß Wasser, <strong>und</strong>urchfurcht von Menning-<br />

Schwimmbänderfarben, rote Flammenmeerlinien schnürend, mehr <strong>und</strong><br />

zitternd facettierte Fäden, verharkten sich die Zwirnwerg-Tricotagen<br />

Goldflossen (verflüssigt massivster Wasser). Und dort, wo Himmel <strong>und</strong><br />

Spiegel verklammerten im Litoral, strudeln Fogstriemen, Nebel-blank, so<br />

Wolken-gleich vorauf, dem nahbaren Morgen ein Land (mit Sicht in sich)<br />

zu schwadronieren. Die kleine, kleine Überfahrt gab dem Toben<br />

Fischgründen Boden, worüber lebhaft trollende Seeschwalben scharten,<br />

Wat-Tiere schilpten, … <strong>und</strong> mit kirr’ner, mit Schnabulier-Gier alle Vögel,<br />

alle, auf Flutsch-Fische (die flögen jetzt), tropften, <strong>und</strong> loderten nach<br />

Haus (»zutage«) <strong>und</strong> – zu Talg.<br />

Oswald Egger, geboren 1963 in Lana/Südtirol. Lebt in Wien <strong>und</strong> Hombroich. 1992 Abschluss an der<br />

Universität Wien mit einer Poetik des Hermetischen ("Wort <strong>für</strong> Wort"). 1988-1998 war er Herausgeber<br />

der Zeitschrift Der Prokurist sowie der edition per procura, 1986-1995, <strong>und</strong> Das böhmische Dorf (seit<br />

2003). Früher Veranstalter der "<strong>Kultur</strong>tage Lana", jetzt Koordinator <strong>für</strong> Literatur der Museumsinsel<br />

Hombroich. Eggers Gedichte wurden u.a. ins Französische <strong>und</strong> Amerikanische übersetzt.<br />

Auszeichnungen (Auswahl):<br />

Mondseer Lyrikpreis (1999). Georg-Saiko-Preis (2000). Clemens-Brentano-Preis (2000). Christine-<br />

Lavant-Förderpreis (2001). Förderpreis der Stadt Wien (2001). Fellowship Literatur der Stiftung Insel<br />

Hombroich (2002). Meraner Lyrikpreis (2002 - gemeinsam mit Sylvia Geist). Stipendium des<br />

Deutschen Literaturfonds (2003). Karl-Scuzka-Förderpreis des Südwestfunk, Baden-Baden (2004).<br />

Christian-Wagner-Preis (2006).<br />

Veröffentlichungen (Auswahl):<br />

Die Erde der Rede, Gedicht (1993, Kleinheinrich). Gleich <strong>und</strong> Gleich (1995, Edition Howeg). Blaubarts<br />

Treue (1997, Edition Howeg). Juli, September, August (1997, Edition Solitude). Herde der Rede,<br />

Gedicht (1999, Suhrkamp). Nichts, das ist, Gedichte (2001, Suhrkamp). -broich, Homotopien eines<br />

Gedichts (2003, Edition Korrespondenzen). Room of Rumor, Tunings (2004). Prosa, Proserpina,<br />

Prosa (2005, Suhrkamp).<br />

...<br />

- 141 -


Rumänien im World Wide Web<br />

Einen Adressüberblick, nach Ländern geordnet,<br />

finden Sie auf unserer Website: www.aurora-magazin.at<br />

Außerdem: eine kommentierte Linkliste zu<br />

...<br />

Investieren in Rumänien<br />

(Investitionsführer <strong>und</strong> Portale, Firmendatenbanken, Reiseinfos, Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Ländernachrichten, Institutionen, Verbände, Messen)<br />

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