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Aurora – <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> <strong>Kultur</strong>, <strong>Wissen</strong> <strong>und</strong> Gesellschaft<br />
www.aurora-magazin.at<br />
Rumänien<br />
...<br />
...<br />
Januar bis April 2007<br />
Themenschwerpunkt<br />
Hg. von Franz Wagner <strong>und</strong> Kristina Werndl<br />
http://www.aurora-magazin.at/gesellschaft/rum_inhalt.htm
Newslet ter<br />
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Aurora-<strong>Magazin</strong><br />
z. H. Franz Wagner<br />
Mayerlehen 13a<br />
5201 Seekirchen<br />
Österreich<br />
redakt.aurora@utanet.at<br />
- 2 -
Inhaltsverzeichnis<br />
Editorial ............................................................................................................................. - 4 -<br />
Die Dracula-Legende......................................................................................................... - 9 -<br />
Bräuche zum Frühlingsbeginn......................................................................................... - 20 -<br />
Die andere Hauptstadt..................................................................................................... - 22 -<br />
Timişoara ........................................................................................................................ - 26 -<br />
Annäherung an die Wirklichkeit ....................................................................................... - 28 -<br />
Ole, Ole – Ceauşescu ade!.............................................................................................. - 33 -<br />
Das Johannis-Prinzip....................................................................................................... - 35 -<br />
Kopf, Herz <strong>und</strong> Rückgrat ................................................................................................. - 38 -<br />
Zu Mircea Eliade – aus der Sicht eines Zaungasts .......................................................... - 40 -<br />
Richtige Antworten, falsche Fragen................................................................................. - 46 -<br />
Westöstliche Stärken....................................................................................................... - 49 -<br />
Zur rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur................................................................... - 53 -<br />
Alles wahr <strong>und</strong> alles nur geträumt.................................................................................... - 56 -<br />
Reise ohne Wiederkehr................................................................................................... - 57 -<br />
Held <strong>und</strong> Unbekannter..................................................................................................... - 60 -<br />
Bucureşti / Bukarest ........................................................................................................ - 64 -<br />
Wie man schwarze Augen trägt....................................................................................... - 69 -<br />
Drei Gedichte .................................................................................................................. - 74 -<br />
Neue Reiselust gen Osten............................................................................................... - 75 -<br />
Siebenbürgens Wehrkirchen trutzen bis heute ................................................................ - 85 -<br />
Meerträubchen <strong>und</strong> Wüstenrenner .................................................................................. - 89 -<br />
Rumäniens Wirtschaft <strong>und</strong> Politik .................................................................................... - 96 -<br />
Ovids Exildichtungen als Beginn einer rumänischen Literatur.......................................... - 98 -<br />
Endlich daheim – in der Fremde.................................................................................... - 103 -<br />
Magabudu <strong>und</strong> sein Schwert ......................................................................................... - 107 -<br />
Mündlich’n, so blau........................................................................................................ - 136 -<br />
Rumänien im World Wide Web...................................................................................... - 142 -<br />
- 3 -
Editorial<br />
Dracula war gestern!<br />
Der Rumänien-Schwerpunkt im Aurora-<strong>Magazin</strong><br />
Von Kristina Werndl<br />
Transsylvanien – der Name klingt wie Musik. Es ist wie Serbien ein Land,<br />
wo die Heldinnen der B-Movies zuhause sind, die schönen <strong>und</strong> gefährlichen<br />
Frauen, die man sich im Amerika der 40er <strong>und</strong> 50er Jahre nicht vor der<br />
eigenen Haustür denken wollte <strong>und</strong> als Immigrantinnen ins Filmgeschehen<br />
importierte.<br />
Seit der Wende zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert ist Rumänien im Westen vorrangig<br />
imaginär präsent – in Form von Bildern/images, die diesem Land<br />
vorauseilen: In erster Linie denkt man da an jene Blutsauger, die Bram<br />
Stoker in die Welt setzte <strong>und</strong> die sich seither in die weltweite Wahrnehmung<br />
dieses Flecken Lands verbissen haben.<br />
Diese Dominanz des Imaginären über das Reale, der mythischen Vampir-<br />
über die Wirklichkeitswelt in Rumänien ist auf den ersten Blick<br />
unproblematisch. Denn Mythen bieten den Menschen seit jeher die<br />
Gelegenheit, Probleme ihrer Zeit an archetypischen Formen des (Zusammen-<br />
)Lebens <strong>und</strong> Handelns zu reflektieren.<br />
Arbeit am Mythos<br />
Mit Rumänien verschwistert wie Adam mit Eva ist der Vampir-Mythos.<br />
Dieser ist Moden unterworfen <strong>und</strong> hat in seiner konkreten Ausgestaltung<br />
mitunter gehörig Patina angesetzt, wie an Roman Polanskis "Tanz der<br />
Vampire" (1967) gut zu bemerken ist. Dessen Ober-Blutsauger, Graf Krolock,<br />
mutet in seinem majestätischen Habitus, seinem Starrblick <strong>und</strong><br />
Zähnefletschen nicht im mindesten mehr erschreckend an – eher als<br />
augenzwinkerndes Zitat auf einen immerdurstigen Widerling. (Erotisch)<br />
schaudern lässt einen da, wenn überhaupt, nur die schöne Wirtstochter<br />
Sharon Tate, die <strong>für</strong> ihre Badelust mit zwei brunnentiefen Löchern im Hals<br />
bezahlt.<br />
Polanskis Film war freilich immer schon als Komödie gedacht, <strong>und</strong> die<br />
karikierende Typenhaftigkeit ist hier Programm. (Unfreiwillig) komisch –<br />
nicht zuletzt ob der irren Sprüche – ist Stephen Sommers Horror-Action-<br />
Fantasy-Movie „Van Helsing“ (2004). Ein synkretistischer Mythen-Cocktail:<br />
„Nichts ist schneller als die Pferde Transsylvaniens“, heißt es darin. Und als<br />
die Welt den Atem anhält <strong>und</strong> schweigt, wie die Natur vor Ausbruch des<br />
Sturmes – in den Sek<strong>und</strong>en bevor Graf Dracula dem Vampirjäger Van<br />
Helsing den Garaus machen will –, äußert dieser im obligatorischen Wort-<br />
- 4 -
Duell den denkwürdigen Satz: „Ich erkenne den Charakter eines Mannes an<br />
seinem schlagenden Herzen”.<br />
Herz, Blut <strong>und</strong> W<strong>und</strong>en<br />
Freilich muss man sich auf anderer Ebene schon fragen, wie es um den<br />
imaginären Charakter des Mythischen bestellt ist. Zumindest in<br />
übertragener Bedeutung ist die vampirische Aneignung von Lebenssaft ja<br />
allgegenwärtig: Tag <strong>für</strong> Tag reißen wir die Energien <strong>und</strong> Ressourcen anderer<br />
Länder an uns, halten wir uns an fremdes Leben, um unseren eigenen<br />
Lebensstandard zu bewahren. Beim Live-8-Konzert sind wir dann mit Bob<br />
Geldof solidarisch <strong>und</strong> machen einige Euros locker ...<br />
Einen ganz üblen Vertreter einer solchen Haltung hat der Schriftsteller Josef<br />
Winkler in seinem jüngsten Prosaband gestaltet: den chauvinistischen, aus<br />
der Familie "Francula" stammenden Kärntner Dorfgendarmen Pelé. Dieser<br />
hält sich durch die Energiezufuhr anderer Menschen fit, lässt sich seine<br />
Zähne in Slowenien richten <strong>und</strong> das Frauchen daham sein Ego umsorgen.<br />
Dracula lebt – so gesehen. Die Arbeit am Mythos (Hans Blumenberg) ist ohne<br />
Telos.<br />
Branding als Vampir-Eldorado<br />
Die Dominanz des Imaginären über das Reale wird da zum Problem, wo sie<br />
die Sicht auf die Zustände verstellt, wo Stereotype in der medialen<br />
Aufmerksamkeitsökonomie die Wahrnehmung von Neuerungen<br />
unterdrücken. Das gilt <strong>für</strong> Rumänien zweifellos. Real ist das Land<br />
weitgehend unbekannt. Medial begegnet es auch nach dem EU-Beitritt meist<br />
nur in Form von Zahlenkolonnen zum BIP-Wachstum <strong>und</strong> Auslands-<br />
Investitionsvolumen. Das Bildgedächtnis aber ist bunter. Was assoziieren<br />
wir im Westen spontan mit Rumänien?<br />
Rurales im Wesentlichen, schlechte Straßen, Pferdefuhrwerke, eine veraltete<br />
Landwirtschaft; Straßenkinder, Menschenhandel <strong>und</strong> Zwangsarbeit,<br />
Korruption; Ceauşescu natürlich; kleinwüchsige Turnerinnen mit traurigen<br />
Augen, die, nachdem sie alle Medaillen abgeräumt haben, in der Umarmung<br />
ihres Trainers verschwinden. Die Fußball-WM 1990 in Italien knapp nach<br />
der Revolution, wo die Rumänen als einzige Mannschaft des Turniers ohne<br />
Nationalwappen auf der linken Brust mit "nackten" Leibchen spielten.<br />
Mit der Revolution – der "revoluţia": nach gängiger Meinung eine<br />
Kombination aus spontaner Volkserhebung <strong>und</strong> geplantem Staatsstreich –<br />
ist ein Schlüsseldatum der jüngeren rumänischen Geschichte genannt, von<br />
dem aus das Land neu besichtigt werden muss. Was hat sich seit dem<br />
gewaltsamen Tod Ceauşescus getan? Wohin hat sich Rumänien entwickelt?<br />
Wirtschaftsmigration<br />
Das Land ist UN-, OSZE-, seit 2004 NATO- <strong>und</strong> seit diesem Jahr EU-<br />
Mitglied. Sibiu/Hermannstadt ist 2007 (zusammen mit Luxemburg)<br />
- 5 -
Gastland der europäischen <strong>Kultur</strong>hauptstadt – eine große Chance <strong>für</strong> die<br />
Region. Rumänien insgesamt ist allerdings ein Land, dem viele junge, gut<br />
qualifizierte Städter in den Westen abhanden kommen, wobei das Gros – wie<br />
so oft – schlechter qualifizierte Arbeiter sind. Diese Arbeits- <strong>und</strong><br />
Wirtschaftsmigranten kontinuieren ein trauriges Kapitel des vergangenen<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts: die Erfahrung des Exils <strong>und</strong> der Fremde. Unter dem<br />
Antonescu-Regime, unter sowjetischer Besatzung, unter KP-Führer<br />
Gheorghe Gheorghiu-Dej <strong>und</strong> später unter Ceauşescu waren viele<br />
Intellektuelle zur Emigration gezwungen <strong>und</strong> fanden etwa in Frankreich,<br />
Israel <strong>und</strong> den USA eine Bleibe; andere wurden ermordet. Auch heute leben,<br />
arbeiten <strong>und</strong> studieren viele RumänInnen fern ihrer Heimat im vermeintlich<br />
goldenen Westen.<br />
Denkt man sich Europa als einen Umschlagplatz von Kunst <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>,<br />
erscheint das postrevolutionäre Rumänien als kulturell verödeter<br />
Landstrich. Stimmt dieser Eindruck, fragt man sich, leuchten auf einer<br />
gegenwartskulturellen Landkarte wirklich nur wenige Lichtlein? Hat<br />
Ceauşescu nur verbrannte Erde hinterlassen? Weit gefehlt. Rumänien mit<br />
seinen knapp 22 Millionen Einwohnern birgt ein großes kreatives Potential,<br />
etwa eine bunte Schar von SchriftstellerInnen, deren Werke bei uns nur<br />
deshalb nicht wahrgenommen werden, weil die Übersetzungslage so prekär<br />
ist. Gegenmaßnahmen, die implementiert wurden, brauchen noch Jahre, um<br />
zu greifen. Rumänien verfügt auch über eine florierende Filmszene, die<br />
besonders im Bereich des politischen Films hervortritt <strong>und</strong> bei diversen<br />
internationalen Festivals punkten kann. Kürzlich war in einigen<br />
österreichischen Programm-Kinos Corneliu Porumboius preisgekrönte<br />
Filmsatire "12:08 östlich von Bukarest" zu sehen. Darin zeichnet der<br />
Regisseur ein Bild der gegenwärtigen rumänischen Gesellschaft, die sich an<br />
einem heißen Eisen der aktuellen politischen Diskussion aufreibt: der Frage<br />
um den Charakter der „Revolution“.<br />
Positive Diskriminierung<br />
Rumänien bemüht sich, den Nimbus als korrupte Nation abzulegen, <strong>und</strong><br />
kann dank der parteilosen Justizministerin Monica Macovei beachtliche<br />
Erfolge bei der Korruptionsbekämpfung aufweisen: Sie anonymisierte die<br />
Zuweisung von Fällen an die Gerichte, setzte eine Antikorruptionsagentur<br />
mit weit reichenden Kompetenzen <strong>und</strong> einem unabhängigen Chef durch <strong>und</strong><br />
machte der Allgemeinheit via Internet die Besitzverhältnisse der öffentlichen<br />
Angestellten <strong>und</strong> Beamten einsichtig. Als landesweiter Vorzeigefall von<br />
Finanzdisziplin <strong>und</strong> gelungener Revitalisierung gilt das von Bürgermeister<br />
Klaus Johannis regierte Sibiu/Hermannstadt.<br />
Ende 1999 wurde ein Gesetz zur Öffnung der Securitate-Akten<br />
verabschiedet, das unter dem gegenwärtigen Staatspräsidenten Traian<br />
Băsescu im Vorfeld des EU-Beitritts in einem "plötzlichen Säuberungsfieber"<br />
(so eine große Bukarester Tageszeitung) kulminierte. Die längst nötige<br />
Aufarbeitung der Securitate-Vergangenheit <strong>und</strong> damit die<br />
Auseinandersetzung mit der jüngeren rumänischen Geschichte gewinnt an<br />
Fahrt; sie lässt <strong>für</strong> die Zukunft einiges erhoffen. Erwähnenswert trotz aller<br />
- 6 -
Unzulänglichkeiten ist das in der Verfassung von 1991 verankerte Prinzip<br />
der positiven Diskriminierung zur parlamentarischen Repräsentation von<br />
ethnischen Minderheiten.<br />
Versunkene Worte<br />
Für Misstöne sorgt international die extremistische PRM (Partidul România<br />
Mare, zu Deutsch: Großrumänienpartei), deren ultranationalistische Stimme<br />
einem aus dem M<strong>und</strong> ihres Führers Vadim Tudor entgegenpöbelt. Der<br />
antidemokratische, durch seine negationistischen Äußerungen zum<br />
Holocaust berüchtigte Ceauşescu-Dichter hat sich kürzlich mit anderen<br />
rechtsextremen, nationalpopulistischen <strong>und</strong> sezessionistischen Parteien zu<br />
einem EU-Parlamentsklub zusammengeschlossen. Mit dabei sein<br />
Parteikollege, der künftige EU-Parlamentarier Dumitru Dragomir, der "Juden<br />
zu Seife" verarbeiten will. Er ist als <strong>Magazin</strong>herausgeber Autor einer Rubrik<br />
mit dem Titel "Zvastika" (Hakenkreuz). Bei solch offenem Antisemitismus<br />
hält sich selbst einer der Väter der europäischen Rechtsfraktion, Andreas<br />
Mölzer, bedeckt.<br />
Glücklicherweise werden im Transformationsprozess seit den 90er Jahren<br />
auch Zeitzeugnisse vergessener bzw. vergessen gemachter Schriftsteller<br />
publik, etwa die Tagebücher Michail Sebastians, der im Vorkriegsrumänien<br />
die Stimmung antijüdischer Ressentiments eingefangen hat. Seine<br />
Tagebücher sind nach Meinungen einiger Rezensenten ein reiferes <strong>und</strong><br />
ebenso dramatisches Zeugnis der Barbarei wie das Tagebuch von Anne<br />
Frank. Etablierte Persönlichkeiten wie der Religionshistoriker Mircea Eliade<br />
<strong>und</strong> der Philosoph E. M. Cioran müssen sich einen kritischen Blick auf ihre<br />
Verstrickungen in den rumänischen Faschismus gefallen lassen.<br />
<strong>Kultur</strong>elle Gegenwartsbestimmung<br />
Es ist hier nicht Raum, die einzelnen Texte <strong>und</strong> ihre VerfasserInnen<br />
vorzustellen, die sich am Rumänien-Schwerpunkt in der Aurora beteiligt<br />
haben. Ziel war es, Rumänien in Europa zu verorten: Wo steht dieses Land<br />
heute, <strong>und</strong> wie stehen "wir" im Westen zu ihm? Versammelt sind Beiträge<br />
verschiedenster AutorInnen: über die rumänische Literatur-, Theater- <strong>und</strong><br />
Filmszene, über rumänische Städte, Politik <strong>und</strong> Wirtschaft, Geschichte <strong>und</strong><br />
Landesnatur, Exil <strong>und</strong> Heimat, Mythen <strong>und</strong> Legenden. Künstlerische<br />
Graphiken <strong>und</strong> belletristische Text sowie eine umfangreiche Linkliste<br />
komplettieren den Schwerpunkt.<br />
Freilich ist das Präsentierte nur eine winzige Auswahl aus einem weiten<br />
Feld, das beackert werden sollte. Deshalb ist der Schwerpunkt strukturell<br />
offen <strong>und</strong> kann noch bis inklusive Juni (Redaktionsschluss: 20. Mai 2007)<br />
durch Text- <strong>und</strong> Bildbeiträge ergänzt werden. Diese nehmen wir gerne unter<br />
den im Impressum verzeichneten E-Mail-Adressen entgegen.<br />
- 7 -
Gen-Auberginen<br />
Das Aurora-<strong>Magazin</strong> sieht seinen Rumänien-Schwerpunkt als Beitrag zur<br />
Behebung einer journalistischen Lücke. Denn Österreichs Breitenmedien<br />
haben, anders als bei der vorletzten EU-Erweiterung, im Vorfeld der neuen<br />
Erweiterungsr<strong>und</strong>e eine umfassende Berichterstattung vermissen lassen.<br />
Wir hoffen, dass wir unser Schäuflein dazu beitragen können, dass man<br />
Rumänien nicht mehr nur historisch bzw. mythisch-legendarisch<br />
wahrnimmt. Wenn man mit diesem Land neben Dracula einen Präsidenten<br />
Băsescu verbindet, wenn man weiß, dass es neben Wäldern, Wehrkirchen<br />
<strong>und</strong> einem artenreichen Donaudelta auch über Ackerflächen verfügt, in<br />
denen US-Konzerne großflächig gentechnisch veränderte Lebensmittel<br />
anbauen – <strong>und</strong> nicht nur Pferdefuhrwerke mit besoffenen Bauern ihre<br />
R<strong>und</strong>en drehen –, ist schon einiges gewonnen. Es ist in der Tat<br />
bemerkenswert, dass Rumänien mittlerweile zu den am stärksten<br />
deregulierten <strong>und</strong> privatisierten Volkswirtschaften der Welt zählt <strong>und</strong> als ein<br />
lange von der Kommunistischen Partei regiertes Land mit 0,2% nur einen<br />
verschwindend kleinen Anteil an formalen Atheisten <strong>und</strong> Konfessionslosen<br />
aufweist.<br />
Wir hoffen, dass sich im wechselseitigen Umgang der alten <strong>und</strong> neuen EU-<br />
Staaten ein vampiristischer Austausch kultureller Lebenssäfte <strong>und</strong><br />
Blutkreisläufe ergeben möge. Wir wünschen: Guten Appetit!<br />
www.aurora-magazin.at<br />
Kristina Werndl (kristina.werndl@gmail.com) ist Redakteurin des Aurora-<strong>Magazin</strong>s.<br />
- 8 -
Die Dracula-Legende<br />
...<br />
Der im siebenbürgischen Sighişoara / Schäßburg geborene Schriftsteller Dieter<br />
Schlesak beleuchtet als intimer Kenner der Orte in Siebenbürgen <strong>und</strong> der Geschichte<br />
Siebenbürgens die wahren Hintergründe, die Fälschungen, aber auch den tieferen<br />
Sinn des Dracula-Mythos. Er berichtet über viele interessante Details, die von<br />
anderen Berichten zum Thema "Dracula" gerne ignoriert werden <strong>und</strong> damit zu einem<br />
falschen Siebenbürgen-Bild in der Welt beitragen.<br />
Von Dieter Schlesak<br />
(01. 01. 2007)<br />
In Berlin erzählte mir noch zu Ceauşescus Zeiten eine befre<strong>und</strong>ete<br />
Kollegin, sie sei oft nach Transsylvanien gefahren, in das sie sich verliebt<br />
hatte. Es sei richtig "draculös" gewesen! Dort im fernen Transsylvanien habe<br />
sie endlich auch das "Schloss Draculas" besuchen können. Jede andere<br />
Legendenbildung hätte die scharfzüngige Berlinerin mit Hohn <strong>und</strong> Spott<br />
bedacht. Als ich diese Anekdote Revue passieren ließ, lag die Schwarze<br />
Kirche in Kronstadt (mit Orgelmusik) bereits hinter uns, das Mittagessen im<br />
"Karpatenhirsch" hatten wir eingenommen, die Tartlauer Burg (die<br />
Kreuzkirche mit doppelseitig bemaltem Flügelaltar aus dem Jahre 1450), wo<br />
Ingmar Bergman mit Liv Ullman die "Päpstin" gedreht hatte, war besichtigt.<br />
Und nun: Das Dracula-Schloss, mit wild fotografierenden Touristen;<br />
enormer Andrang, alle suchten Dracula. Einige Jugendliche trugen zum<br />
Spektakel stilechte T-Shirts, von denen Blutstropfen rannen, andere Pullover<br />
mit Vampirzähnen oder bizarren Aufschriften. Jemand hatte ein Tonband<br />
laufen lassen.<br />
In Wirklichkeit gibt es Draculas Schloss gar nicht; das Schloss des Vampirs<br />
wurde vom englischen Romancier Bram Stoker erf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> nicht in den<br />
Südkarpaten, sondern 200 Kilometer nördlich, in der Nähe der Stadt Bistritz<br />
am Borgo-Pass mit Romanmitteln aufgebaut; das war 1897. Bram Stoker,<br />
der schon 1912 an Syphilis starb, ist nie dort gewesen. Doch der Wunsch,<br />
Dracula wirklich kennen zu lernen, scheint unermesslich zu sein. Es muss<br />
dieses Schloss also unbedingt geben! Ersatzweise wurde den Fans der<br />
einträgliche Gefallen erwiesen: Ceauşescus <strong>Kultur</strong>funktionäre ließen die auf<br />
einem Felsen gelegene Burg Bran (Törzburg) einfach zum Dracula-Domizil<br />
erklären.<br />
Es ist ein stolzes Gemäuer, <strong>und</strong> die Burg ähnelt tatsächlich dem<br />
Klischee des Geisterschlosses. "Denn das Schloss ist auf dem Ende eines<br />
Felsmassivs errichtet, so dass es von drei Seiten aus unzugänglich bleibt.<br />
Hier sind auch ganz große Fenster eingelassen...", so Bram Stoker, der<br />
Erfinder. Von den Dracula-Touristen wird dankbar registriert, dass sogar ein<br />
großes Rokoko-Himmelbett, natürlich in "Draculas Schlafzimmer", besichtigt<br />
werden kann. Und man spielt Film: "Ich habe Draculas Bett gesehen!" Auch<br />
liegt die Burg – ähnlich wie in Stokers Beschreibung – in einer wild<br />
- 9 -
zerklüfteten <strong>und</strong> nachts unheimlichen Gegend.<br />
Nicht nur Touristen, auch Autoren <strong>und</strong> Filmer treten mit Vorliebe zum<br />
schönen Gruselspiel an, ohne je hier gewesen zu sein. So heißt es schon in<br />
Jules Vernes kleinem Roman "Das Karpathenschloss":<br />
"Einzig in Transsylvanien (Siebenbürgen), einer Landschaft, wie geschaffen <strong>für</strong><br />
Geisterbeschwörungen <strong>und</strong> Geistererscheinungen, blüht noch der Aberglaube frührer<br />
Zeiten ... So wurde der bärtige Rübezahl Frick als ein solcher Hexenbruder, der Geister<br />
hervorzaubern kann, betrachtet ... ihm gehorchten die Vampire <strong>und</strong> Feen..."<br />
Als der künstlerisch hervorragende Francis-Ford-Coppola-Film "Bram<br />
Stoker’s Dracula" (1992), der auch "historisch" authentisch sein will, im<br />
Fernsehen gezeigt wurde, kam im Vorspann Transsylvanien / Siebenbürgen<br />
als zeitloses Geisterland daher. Diese alte mitteleuropäische<br />
<strong>Kultur</strong>landschaft, die ich seit meiner Kindheit kenne, wurde nicht nur durch<br />
Filmausschnitte, sondern auch durch andere Bild-Montagen <strong>für</strong> die Masse<br />
der Fernsehzuschauer ganz im Ernst als ein Gnomen- <strong>und</strong> Magierland<br />
vorgestellt: mit primitiven Schafhirten <strong>und</strong> zerklüfteten Felslandschaften,<br />
merkwürdigen Dörfern aus einer archaischen Zeit <strong>und</strong> abenteuerlich<br />
gekleideten Menschen, unheimlich von Lager- oder Kaminfeuern beleuchtet;<br />
eine pittoreske, geschäftstüchtig zurechtgemachte Grusel-Unheimlichkeit,<br />
die wohl vom Zuschauer als Realität, nicht etwa als Fiktion angesehen<br />
werden sollte! Als wäre Siebenbürgen eine Erfindung kranker Hirne.<br />
Als ich mich entschloss, auf Bram Stokers Spuren in meine ehemalige<br />
Heimat zu fahren <strong>und</strong> zuerst nach Bistritz, in die Geburtsstadt meines<br />
Großvaters, kam, war ich dem Gruseln nah: In Bistritz – genauer gesagt: in<br />
der "Goldenen Krone" – übernachtet ja Jonathan Harker, der junge<br />
Rechtsanwaltsgehilfe, der im Roman von London aus zum Vampir geschickt<br />
wird, um harmlose Maklergeschäfte abzuschließen. Die "Goldene Krone" hat<br />
es zu Stokers Zeiten hier allerdings nie gegeben.<br />
Den Weg, den Harper genommen hatte, fuhr ich mit meinem Auto nach.<br />
Meine Frau war dabei. Und sie war erstaunt, eine liebliche Landschaft<br />
vorzufinden: sanfte Hügel, Almen, Schafe, verstreute Gehöfte am angeblich<br />
wilden Borgo-Pass. Ich war zuvor noch nie am Borgo-Pass gewesen, da ich<br />
mich, ebenso wie alle Einheimischen, überhaupt nicht <strong>für</strong> das Gespenst<br />
interessiert hatte. Hier an diesem Pass, den es – oh W<strong>und</strong>er – auch wirklich<br />
gibt, wird Harker von einem geheimnisvollen Kutscher mit großem<br />
schwarzem Hut, der sein Gesicht verdeckt, abgeholt. Der hartgeschnittene<br />
M<strong>und</strong> mit den überroten Lippen <strong>und</strong> den scharfen elfenbeinweißen Zähnen<br />
des angeblichen Kutschers ist noch erkennbar: Es ist in Wahrheit der<br />
Vampir selbst, der Harker vom Borgo-Pass abholt.<br />
Im realen Rumänien kannten die Einheimischen nie einen "Dracula",<br />
auch Vampire wurden bisher keine gesichtet. Selbst der Nationalheld Vlad<br />
Ţepeş Drăculea (sprich: Wlad Tsepesch Dröculea), genannt "der Pfähler" <strong>und</strong><br />
Stokers Dracula-Vorbild, hat sich hier in den letzten Jahren nicht die Ehre<br />
gegeben; schließlich ist er schon seit 500 Jahren tot. Für Stoker <strong>und</strong> die<br />
- 10 -
Filmwirtschaft bleibt er jedoch stets der transsylvanische Ahasverus, der<br />
nicht sterben kann.<br />
Überhaupt sind die Dracula-Filme Legion. Es gibt über 200 davon, manche<br />
behaupten, es wären sogar 400. Filme von Murnau, Herzog, Polanski,<br />
Warhol, Coppola gehören dazu. Und eine Literaturtradition wie keine zweite,<br />
auch in Deutschland: Von Goethes "Braut von Korinth" über Novalis, Heine<br />
bis zu Stefan George <strong>und</strong> Johannes Bobrowski; vom Griechen Phlegon bis zu<br />
Gogol oder Tolstoj, von Byron bis Ingeborg Bachmann. Nachhaltig hat der<br />
Vampirismus in der Kunst, in Kirche <strong>und</strong> <strong>Wissen</strong>schaft mit "vitalen<br />
Menschenleichen" <strong>und</strong> "aufhockenden Toten" die Gemüter beschäftigt. Von<br />
den vielen Gespenstergeschichten, die oft "jenseitige" Liebesgeschichten sind,<br />
ganz zu schweigen. Und die Touristen suchen den Nichtexistenten als gäbe<br />
es ihn wirklich, als wäre er ein echtes Phantom. Sie suchen in der ganzen<br />
Gegend das Schloss oder zumindest eine Ruine, samt Wolfsgeheul.<br />
Vergeblich.<br />
Das Einzige, was die meisten Westeuropäer <strong>und</strong> Amerikaner von<br />
Transsylvanien wissen, ist, dass es die Heimat Draculas ist.<br />
Schauergeschichten werden zu Fertigteilen der <strong>Kultur</strong>industrie <strong>und</strong> der<br />
Werbung: Stereotypen, die an alte Ahnungen appellieren, um neue Lüste zu<br />
verkaufen. Kleine Plastikdraculas im Kaufhaus <strong>für</strong> Kinder. Es gibt sogar<br />
ganz reale Reiseführer, die den Wahnsinn mit Methode <strong>und</strong> harter Währung<br />
betreiben. Ein englischer, reich illustrierter Reiseführer (gedruckt in<br />
Hongkong), ein wahres Kunstwerk, sei hier hervorgehoben: "The Tourist´s<br />
guide to TRANSSYLVANIA" – Transsylvania in Blockschrift! Eine<br />
mittelalterliche Karte im Hintergr<strong>und</strong>, darüber die Maske mit dem<br />
Draculadarsteller Christopher Lee, aufgerissene Augen, Wildschweinzähne,<br />
Blut. Auf dem Titelblatt das Gleiche, dazu noch vier weiße H<strong>und</strong>e, die im<br />
fahlen Licht des Mondes aus der Erde steigen. In der Einleitung heißt es, die<br />
Bewohner des Landes seien Nachkommen der Ostgoten, Petschinegen,<br />
Gepiden, Magyaren, ihr Aussehen erinnere an Tiere <strong>und</strong> Figuren von Bosch.<br />
In den Karpaten hausen noch Harpyien <strong>und</strong> Wolfsmenschen. In der<br />
Ortschaft Vatra-Jiu steigen Strigoi (Gespenster) aus den Gräbern, mit<br />
Grabsteinen auf den Köpfen. Das "Orakel vom Berg Albac": Hier reden <strong>und</strong><br />
prophezeien noch die Waldgeister dem geneigten Besucher. Ein<br />
spektakulärer Kitsch, wie man ihn billiger <strong>und</strong> geschmackloser nicht<br />
erfinden kann; aber, wie gesagt, ganz real: ein Reiseführer.<br />
Wer aber ist Dracula wirklich, wenn er nicht nur eine Romanfigur sein soll?<br />
"Er war nicht sehr groß, aber untersetzt <strong>und</strong> muskulös. Sein Auftreten wirkt kalt <strong>und</strong><br />
hatte etwas Erschreckendes. Er hatte eine Adlernase, geblähte Nasenflügel, ein rötliches,<br />
mageres Gesicht, in dem die sehr langen Wimpern große, weit-offene, grüne Augen<br />
umschatteten; schwarze buschige Brauen gaben ihnen einen drohenden Ausdruck. Er<br />
trug einen Schnurrbart. Breit ausladende Schläfen ließen seinen Kopf noch wuchtiger<br />
erscheinen. Ein Stiernacken verband seinen Kopf, von dem schwarze gekräuselte Locken<br />
hingen, mit seinem breitschultrigen Körper."<br />
So beschreibt ihn Nikolaus Modrussa, der im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert Legat des<br />
Papstes am ungarischen Hof war <strong>und</strong> Vlad Ţepeş (der rumänische Iwan der<br />
- 11 -
Schreckliche) gut kannte. Stoker hat diese Beschreibung in seinen Roman<br />
übernommen. Jener grausame walachische Fürst Vlad Ţepeş diente ihm als<br />
Vorlage <strong>für</strong> seinen "Dracula". Das historische Vorbild wird im Roman jedoch<br />
weniger deutlich als in den Filmen: Vor allem in Francis Ford Coppolas<br />
"Dracula", aber auch bei Dan Curtis oder schon bei Tod Browning – mit dem<br />
berühmten Bela Lugosi als Vampir – agiert auch der echte Vlad. Und es gibt<br />
sogar Dokumentarfilme, die diesen Hintergr<strong>und</strong> ausleuchten wollen, etwa<br />
"Die blutig ernste Geschichte des Grafen Dracula, erzählt von Vincent Price"<br />
(Canada 1984). Hier werden auch Schlacht-Sequenzen des historischen<br />
Schinkens "Vlad Ţepeş" (The True Life of Dracula, 1978) eingeblendet, den<br />
Ceauşescu bestellt hatte: Ţepeş sozusagen als getürkter Ceauşescu-<br />
Vorgänger, grausamer Patriot <strong>und</strong> Volksheld. Bei Coppola wiederum stellt<br />
sich der Vampir der Mina tatsächlich als "Prinz Vlad" vor. Sogar Vlads<br />
bekanntes Porträt eines anonymen Malers blendet Coppola einmal ein. Meist<br />
aber ergeben sich heillose Vermischungen <strong>und</strong> Verwechslungen.<br />
Ein gutes Beispiel da<strong>für</strong> liefert Bram Stoker selbst. Schon bei ihm<br />
finden wir eine irre Mixtur aus geografischen <strong>und</strong> historischen Berichten,<br />
verknüpft mit einer Vampirsage aus Siebenbürgen. Vieles hat der Autor aus<br />
anderen Büchern plagiiert. Seit der Entdeckung eines Stoker-Archivs in<br />
Philadelphia weiß man es: Es gibt die Reisebeschreibungen des britischen<br />
Gesandten in den rumänischen Fürstentümern aus dem Jahre 1822, ein<br />
Transsylvanienbuch der Emily Gerard, die Vampir-Erzählung "Carmilla" des<br />
Sheridan Le Fanu, <strong>und</strong> ein Buch der Sabine Gould "Cartea pricolici", wo<br />
auch die Geschichte der Mädchenmörderin Elisabeth Báthory vorkommt. Die<br />
Blutgräfin, die zur Verjüngung in Blut badete, diente Stoker mit als<br />
Blutmonster-Modell. Eine Reihe dieser <strong>und</strong> anderer Plagiate nutzte später<br />
auch Coppola <strong>und</strong> montierte sie <strong>für</strong> "Bram Stoker’s Dracula" so, dass es am<br />
Ende wieder ein heilloses Durcheinander gab.<br />
Noch komplizierter wird die Sache übrigens durch die Vermischung aus<br />
Fiktion <strong>und</strong> realer Geschichte des walachischen Fürsten Vlad Drăculea: Im<br />
Jahr 1963 deckte der rumänische Gelehrte Grigore Nandriş (sprich:<br />
Nandrisch) auf einem Kongress in New York den "historischen Dracula" <strong>und</strong><br />
dessen Identität auf. Im Anschluss daran kam es zwar zu einer<br />
Demythisierung, so etwa durch die Professoren McNally <strong>und</strong> Radu Florescu<br />
1972 in ihrer Untersuchung "Search of Dracula". Doch insgesamt fehlte eine<br />
faire Auseinandersetzung, <strong>und</strong> Konzessionen an Publikumsgeschmack <strong>und</strong><br />
Sensationsgier blieben bestehen.<br />
Und die Fälschungen nehmen kein Ende. In einem Buch über Dracula-Filme<br />
wird Siebenbürgen-Transsylvanien als "rumänisches Land jenseits der<br />
Berge" beschrieben, <strong>und</strong> so heißt es zum Beispiel: In Sighişoara / Schäßburg<br />
"lebte Dracula in einem Haus mit massiven Mauern, das heute noch steht".<br />
In Wirklichkeit war Schäßburg eine siebenbürgisch-sächsische Stadt, die<br />
damals zu Ungarn, später zu Österreich-Ungarn gehörte; erst seit 1918 ist<br />
sie rumänisch! Zu Vlads Zeiten war sie eine freie Stadt, lag im sogenannten<br />
"Königsboden" im Fürstentum Siebenbürgen <strong>und</strong> war nicht rumänisches<br />
Land, gehörte nie zur Walachei.<br />
- 12 -
Während unseres Besuchs in Schäßburg aßen wir mittags im Dracula-<br />
Restaurant, das touristisch günstig im Paulinus-Haus, dem angeblichen<br />
Geburtshaus Vlads, eingerichtet worden war. Vorher bestaunten wir noch<br />
den Schwibbogen über dem Pfarrgässchen <strong>und</strong> den Blick auf die schiefen,<br />
alten Häuser, den Pfarrhof <strong>und</strong> – oben, wie eine Steinglucke thronend – die<br />
alte Bergkirche, die es schon zu Vlads Zeiten gegeben hat. Geboren ist er mit<br />
ziemlicher Sicherheit hier; sein Vater Vlad Dracul hatte nach der Rückkehr<br />
von Nürnberg von 1431 bis 1435 in der Stadt Asyl gef<strong>und</strong>en, bevor er 1436<br />
auf den Thron der Walachei kam.<br />
Rückblende: Vlads Vater, Vlad II. Dracul, auf dem Reichstag zu Nürnberg.<br />
Irgendwo brannte rot die Jahreszahl 1431, er kniete vor Sigism<strong>und</strong> von<br />
Luxemburg, König von Gottes Gnaden der deutschen, böhmischen <strong>und</strong><br />
ungarischen Lande. Vater Vlad wurde gerade zum Fürsten der Walachei<br />
erhoben <strong>und</strong> zum Ritter des Drachenordens geschlagen. Von jetzt an, kam<br />
die tiefe Stimme des Königs, trägst du den Namen Dracul. Dracul – <strong>und</strong> man<br />
sah aus dem Wort einen Teufel auffliegen, alle bekreuzigten sich. Denn<br />
"Dracul", das heißt auf Rumänisch: Der Teufel! Aus dem Ehrennamen also<br />
wurde aus Unkenntnis ein Höllenname. Auch hier eine Verballhornung!<br />
Drăculéa, wie der Sohn genannt wurde, Vlad III. Ţepeş der Pfähler erbte von<br />
seinem Vater Vlad II. Dracul den Namen, aber dieser Name geht zurück auf<br />
den Drachenorden "Societas Draconis", einen Kampfb<strong>und</strong> gegen die Türken.<br />
Der in Nürnberg so hoch geehrte Vater kehrte dann 1431 nach Schäßburg<br />
zurück, wo er sein Hauptquartier hatte <strong>und</strong> auch das Recht zur<br />
Münzprägung besaß (es gibt noch heute solche Münzen mit dem Drachen in<br />
Ringform, dem Uroborus, der ein Kreuz hält).<br />
Wir aßen. Wir schwiegen. Ich erinnerte mich, dass die Ungarn meine<br />
Geburtsstadt an der Wende zum 17. Jahrh<strong>und</strong>ert nach einer schrecklichen<br />
Kriegsverwüstung Nemesvár genannt hatten. Das ganze Land nun ein<br />
Niemandsland? Ich erinnerte mich: Bukarest, Snagovsee <strong>und</strong> das<br />
Inselkloster, wo uns früher einmal, als ich noch hier lebte, ein schmuddliger<br />
Mönch das Grab des Vlad Ţepeş gezeigt hatte ... das freilich verschlossen<br />
war: 1931, zum 500. Geburtstag von Vlad, war es geöffnet worden, <strong>und</strong> – es<br />
war leer!<br />
Vlad ist tatsächlich verschollen, verschw<strong>und</strong>en. Woher die Historiker heute<br />
den wirklichen Toten, also die Knochen, nehmen wollen, ist schleierhaft. Er<br />
kam in einer Schlacht gegen die Türken ums Leben. Und es heißt, sein Kopf<br />
sei nach Istanbul, sein zerstückelter Körper aber nach Snagov gebracht<br />
worden. Doch beides hat sich wie bei einem Phantom in Nichts aufgelöst, ist<br />
nirgends zu finden. Und die Geburtslegende des Vlad Ţepeş hier in<br />
Sighişoara / Schäßburg ist Legende geblieben.<br />
Vlads gewaltsame Lebensgeschichte<br />
Vater Vlad, Ritter des Drachenordens <strong>und</strong> gewählter Fürst, fand Hilfe<br />
bei König Sigism<strong>und</strong> <strong>und</strong> beim Vetter am moldauischen Hof. Er zog von<br />
Schäßburg aus 1436 in die Hauptstadt Tîrgoviste in der Walachei ein. Schon<br />
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als Kind, nach der ersten Thronbesteigung seines Vaters, begleitete Vlad, der<br />
Sohn, seinen Vater auch in den Krieg. 1444 etwa an die türkische Pforte, wo<br />
der Alte seine beiden Söhne, Vlad <strong>und</strong> Radu (den Schönen) als Geiseln<br />
zurücklassen musste. Hier erlebte der halbwüchsige Vlad Grauenhaftes im<br />
Kerker Egrigötz in den anatolischen Bergen. Dort folterte ihn der<br />
Gefängniswärter Gugusyoglu, ließ ihn hungern, gab ihm Menschenfleisch zu<br />
essen <strong>und</strong> Kot, dann Tierhoden, sodass er gequält wurde von Begierden.<br />
Und der Aufseher zwang den damals erst 14-jährigen Jungen ihm zu Willen<br />
zu sein. Fader Gestank in der Zelle nach dieser schweißigen Gewalt. Der<br />
junge Vlad sann auf Rache. Gugusyoglu sollte ein spitzer Holzpfahl<br />
vorbehalten sein.<br />
Vlad Dracul, der Vater, wurde dann vom ungarischen König Johann<br />
Hunyadi geschlagen, der älteste Sohn, Vlads Bruder Mircea, getötet. Vater<br />
Vlad floh. Der Geisel, dem Sohn Vlad, erzählte man Gräuelgeschichten über<br />
den Tod seines Bruders <strong>und</strong> Vaters: Diese seien von Vladislaws Henkern<br />
gezwungen worden, ihr eigenes Grab zu schaufeln, <strong>und</strong> sie seien in Stücke<br />
geschnitten worden. Was nicht stimmte. Es war Rache, die Vlad zum<br />
Blut<strong>für</strong>sten werden ließ.<br />
Der Vater entkam. Damals machten Gräuelnachrichten die R<strong>und</strong>e. Es gab ja<br />
kaum Zeitungen. Und so waren es auch Chroniken <strong>und</strong> tendenziöse<br />
Flugblätter, die Vlad zum "argen Wüterich" <strong>und</strong> Vampir machten, der er<br />
nicht war. Der Vater also entkam. Mircea allerdings wurde tatsächlich<br />
lebendig begraben.<br />
Acht Jahre lang war Vlad auf Wanderschaft, Reisender in Sachen Macht,<br />
Versprechungen, Taktik, Lügen. Er war gleich alt wie der Sultan Mehmed, er<br />
kannte den Hof, die türkischen Wesire. Er sah viele Städte <strong>und</strong> Höfe, Rom,<br />
Stambul, Nürnberg, das Prag des Alchemistenkaisers Rudolf II. Er konnte<br />
viele Sprachen, hatte ein solides <strong>Wissen</strong>. Hunyadi söhnte sich mit Vlad aus,<br />
die Sachsenstädte sprachen <strong>für</strong> ihn. Vlad hatte den Rücken frei, <strong>und</strong> er<br />
marschierte in der Walachei ein.<br />
Aber was hat all das mit dem Film- <strong>und</strong> Romanhelden Dracula zu tun?<br />
Es ist die Idee, die immer wiederkehrt, schon in Stokers Roman, aber auch<br />
in vielen Filmen, bei Curtis, Corman, Polanski, Herzog oder Coppola:<br />
nämlich dass es sich bei Dracula um eine wirkliche Fürstengestalt handelt,<br />
die 500 Jahre überlebt; um einen historischen Wiedergänger also, einen Un-<br />
Toten, der weder leben noch sterben kann, doch ausgestattet ist mit einem<br />
ungeheueren Lebensdurst aus ungestillter Liebe eines ungelebten,<br />
unfertigen Lebens. In Coppolas Film wird Vlad durch die Liebe von Harkers<br />
Verlobter Mina erlöst. Sie tötet ihn <strong>und</strong> er darf endlich zu Staub zerfallen.<br />
In Stokers Roman wird es betont: Dem pedantischen Rechtsanwaltsgehilfen<br />
Jonathan Harker wird im verfallenen Schloss des Vampirs eine<br />
Geschichtslektion in Form einer falschen Familiengeschichte der Drăculeas<br />
zuteil:<br />
"Wir Szekeler sind mit recht stolz, denn in unseren Adern fließt das Blut manchen<br />
tapferen Volkes, das kämpfte, wie es der Löwe tut – um die Herrschaft nämlich. Hierher<br />
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... brachten die ukrainischen Stämme von Island herunter den Kampfgeist, den Thor <strong>und</strong><br />
Wotan ihnen verliehen hatten <strong>und</strong> den ihre Krieger an den Küsten von Europa, ja, an<br />
denen von Asien <strong>und</strong> Afrika so wütend austobten, dass schließlich die Leute glaubten, es<br />
seien keine Menschen, sondern Werwölfe."<br />
Die Verballhornung ist verwirrender gar nicht möglich, ein grausiges<br />
Gemisch. So kommen später etwa die Hunnen vor, auf die diese "Werwölfe"<br />
stießen, auf Attila. Wahr ist, dass die Székler, nicht Szekeler wie im Roman,<br />
ein ganz normaler madjarischer Stamm <strong>und</strong> dass die Dráculesti Walachen<br />
sind, nicht Székler. Vlad Ţepeş gehört in die Walachei <strong>und</strong> nicht nach<br />
Transsylvanien, wo er nur zufällig geboren wurde, weil sein Vater zeitweilig<br />
dort im Exil lebte. Aber alle Filme plappern diese Fälschung nach. So wird<br />
etwa in John Badhams Film "Dracula" (1979) Vlad vom Irrenarzt Dr. Seward<br />
in London gebeten, ein Buch in ungarischer Sprache zu übersetzen. Das<br />
könne er nicht, meint er, da er Székler sei <strong>und</strong> kein Madjar. Ein Blick ins<br />
Lexikon hätte genügt: Székler sind ein madjarischer Volksstamm, die<br />
natürlich Madjarisch sprechen. Coppola wiederum lässt Dracula mit<br />
starkem ungarischen Akzent sprechen, was völlig falsch ist. Im "Spiegel"<br />
wurde sogar von einem "unverkennbaren transsylvanischen Akzent"<br />
gesprochen.<br />
Stokers Ignoranz wird auch heute noch weitergetrieben. Sein<br />
Gewährsmann in Sachen Transsylvanien, der Budapester Orientalist<br />
Arminius Wanderbey, der auch als Figur im Roman auftaucht, hatte Stoker<br />
sicher richtig informiert. Stoker lernte Wanderbey, der ihm Erstaunliches<br />
aus Transsylvanien berichtete, an einem Abend des Jahres 1890 kennen.<br />
Transsylvanien war schon damals ein Zauberwort. Jules Verne, aber auch<br />
James Frazer in "The Golden Bough" (1890) hatten behauptet, dass in<br />
Transsylvanien / Siebenbürgen wie in keinem anderen Land Material <strong>für</strong><br />
Vampire zu finden sei.<br />
Warum haben Stoker <strong>und</strong> Jules Verne Transsylvanien zum Handlungsort<br />
gewählt? Vermutlich weil sich da ohne Realitätskontrolle wild drauflos<br />
phantasieren lässt. Doch Harker wie auch der mit hineingezogene Leser<br />
haben im Buch selbst keine Chance, die Wahrheit zu erfahren. Stoker hetzt<br />
sie von einem Schrecken zum andern, keine Realität darf die hysterische<br />
Geschichte stören, die Märchen-Spannung mindern. Alles muss aus der<br />
Welt fallen, Aufklärung soll nicht sein. Harker entdeckt den Vampir <strong>und</strong><br />
Wiedergänger als tagschlafenden Untoten im Sarg, also bleibt die<br />
reichhaltige Schlossbibliothek unkonsultiert; in Budapest ist´s das<br />
Nervenfieber, das den Besuch der Nationalbibliothek verhindert; in London<br />
die Blässe der ihm nahestehenden, nun mit dem Vampirvirus infizierten<br />
Frauen Mina <strong>und</strong> Lucy. Und in der Mythenherstellung sind die Geübtesten<br />
Dracula selbst <strong>und</strong> der Irrenarzt Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Van Helsing,<br />
Gegenspieler des Vampirs <strong>und</strong> Vampirbekämpfer.<br />
Dracula zeigt etwas von der Irrengeschichte unserer Zivilisation. So ist ein<br />
Teil des Schlosses mit den vergitterten Fenstern tatsächlich ein privates<br />
Irrenhaus. Und bei Professor Van Helsing, Vampirologe <strong>und</strong> Irrenarzt in<br />
Amsterdam, ist der Vampir (oder der Irre) schon im Psychiater selbst<br />
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angelegt, beim Essen eines Roastbeefs leckt er sich genüsslich die blutigen<br />
Finger ab. Diese Metapher der Heilanstalt – die übrigens viele Vampir-Filme<br />
durchzieht – ist voll auf unsere Zivilisation übertragbar. In Tod Brownings<br />
"Dracula" aus den dreißiger Jahren mit dem berühmten Vampir-Darsteller<br />
Bela Lugosi, einem Ungarn aus Siebenbürgen, der in einem schwarz-roten<br />
Umhang als Dracula beerdigt werden wollte, ist ein Großteil der Handlung<br />
sogar in eine englische Schloss-Klinik verlegt.<br />
Aber auch die blutige Geschichte Vlad Drăculeas des Pfählers spiegelt im<br />
Kleinen den Kern der gesamten Historie: ihren Blutfaden. Krieg.<br />
Grausamkeit. Kannibalismus. Mehr noch: Vlad ist unser Zeitbild: Die<br />
Zivilisation hält sich rückblickend als blutiges historisches Verbrechen nur<br />
durch Gewalt, durch Grausamkeiten, Raubbau, Blutsaugen an der Natur<br />
<strong>und</strong> dem Menschen am Leben.<br />
Aber Stokers Buch ist ungewollt auch Spiegel des Spiegels. Der<br />
geschichtliche Betrug <strong>und</strong> die Verfälschungen beginnen schon bei der<br />
historischen Darstellung des Stoker-Vorbildes Vlad Drăculea, dem Todes-<br />
<strong>und</strong> Blut<strong>für</strong>sten der Chroniken – die eigentlich tendenziöse Flugschriften<br />
meiner Vorfahren, der Siebenbürger Sachsen, sind. Ihre hasserfüllten<br />
Berichte an den ungarischen <strong>und</strong> deutschen Hof bildeten die Gr<strong>und</strong>lage <strong>für</strong><br />
die Dracula-Legende. Vlad war besser als sein Ruf. In rumänischen <strong>und</strong><br />
russischen Chroniken ist er Patriot <strong>und</strong> Held. Die deutschen Chroniken sind<br />
Tendenzschriften, <strong>und</strong> es ist anzunehmen, dass sie auch Inspirationsquelle<br />
Stokers waren, als er sie im Britischen Museum las.<br />
Kehren wir zurück zur Realität. Am Anfang stand der Handelskrieg. Vlads<br />
Land war unvorstellbar arm, Staat <strong>und</strong> Gesellschaft korrupt. Und abhängig.<br />
Der rabiate <strong>und</strong> intelligente Mann brauchte Geld, Waffen, Söldner. Sein<br />
sogenanntes Stapelrecht schröpfte den Transithandel der Sachsenstädte in<br />
den Fernen Osten, der über seine Donauhäfen lief. Die Krämerseelen<br />
versuchten deshalb, Vlad zu stürzen: sie unterstützten je einen feindlichen<br />
Thronprätendenten. Vlad rächte sich. Er verwüstete ihr Land. Frauen <strong>und</strong><br />
Kinder wurden getötet, die Männer gepfählt. Ein Kaufmannszug, der das<br />
Stapelrecht nicht beachtete, wurde aufgespießt, ein anderer in einen Saal<br />
gesperrt <strong>und</strong> lebend verbrannt.<br />
"Es war sein Lust <strong>und</strong> gab ihm Mut,<br />
wenn er sah fließen Menschenblut."<br />
So Martin Beheim, der ein großes Epos über den Blut<strong>für</strong>sten Vlad<br />
geschrieben hat. Geschichtsschreibung beruht recht oft auf Phantasie, auf<br />
nicht nachprüfbaren Berichten von längst Toten, oft auf Fälschung.<br />
Ereignisse werden durch Sprache gelenkt, ja schließlich postum erf<strong>und</strong>en.<br />
Wie etwa Vlads Geschichte in dem berühmten Straßburger Druck von 1500:<br />
Vlad der Pfähler speist unter den Gepfählten, vor ihm ein Henkersknecht,<br />
der Leiber zerstückelt <strong>und</strong> siedet, als äße Vlad dann diese Gekochten.<br />
Darüber die Schrift:<br />
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"Hie facht sich an gar graussamliche erschröckenliche hystorien von dem wilden Wütrich<br />
Dracole wayde. Wie er die leut gespiesst hat. vnd gepraten. <strong>und</strong> mit den häuptern in<br />
einem kessel gesoten."<br />
Auf diesem Druck ist ein Wald von Gepfählten zu sehen, die in den<br />
unmöglichsten Körperhaltungen aufgespießt sind. Im Hintergr<strong>und</strong> wohl das<br />
siebenbürgisch-sächsische Kronstadt. Der Überlieferung nach geschah dies<br />
einsame Mahl des Grauens bei einem erneuten Einfall des Pfählers in<br />
Siebenbürgen, einer Strafaktion.<br />
Man muss sich vorstellen, was Pfählen heißt – Stephanus Gerlach, ein<br />
Zeitgenosse Vlads, schildert diese Folterart in seinem Türkischen Tagebuch.<br />
"... die Spieße von Holtz mit Unschlitt oder Talk ... man bindt solchen Übeltätern Sailer<br />
an die Füße, stößt ihnen den Spieß zu dem hinteren Leib hinein... Zuerst aber kniet der<br />
Delinquent mit in den Staub gedrücktem Haupte nieder, die angezogenen Oberschenkel<br />
gekreuzt; ... <strong>und</strong> die Bahn hinreichend eingefettet, der Pfahl, aber nicht angespitzt,<br />
sondern abgestumpft, ... die Organe beiseiteschiebt, <strong>und</strong> wird fünfzig bis sechzig<br />
Zentimeter in den Mastdarm eingeführt, dann mit dem Delinquenten senkrecht<br />
aufgerichtet. Und der Körper mit seiner Schwere drückt Mann oder Weib hinab, <strong>und</strong><br />
langsam dringt der Pfahl durch den Körper, sucht den tödlichen Weg."<br />
Erst seit einigen Jahren ist erforscht, dass die Dracula-Legende auch<br />
zur deutschen spätmittelalterlichen Literatur gehörte. Sie beruht auf den<br />
Pamphletschriften "Die histori von dem posen Dracol". Es gibt zwölf Drucke,<br />
der früheste stammt von 1488, er wurde bei Marcus Ayrer in Nürnberg<br />
hergestellt. Außerdem existieren Drucke in Colmar, Lambach, St. Gallen,<br />
Augsburg, Bamberg <strong>und</strong> Nürnberg. Die überlieferten Anekdoten in den<br />
deutschen Tendenzschriften widersprechen anderen historischen Berichten<br />
über Vlad, sie sind bunt <strong>und</strong> voller Grausamkeiten: Behinderte <strong>und</strong> Arme<br />
werden von ihm zum Gastmahl eingeladen. Wieder wird der Saal mit den<br />
vielen Männern, Frauen <strong>und</strong> Kindern niedergebrannt. Dem entsetzten<br />
Gefolge erklärte Vlad, er wolle nicht, dass in seinem Land jemand arm <strong>und</strong><br />
krank sei. Den Zigeunern erging es noch schlimmer:<br />
"Item es komment in sin land by drie huntert Ziginer, da nahm er die besten ... <strong>und</strong> ließ<br />
sy braten, die mußten die ander Ziginer essen ..."<br />
Geschichte war <strong>und</strong> ist blutig. Aber die (meist erf<strong>und</strong>enen) Scheußlichkeiten<br />
des Vlad Drăculea sind grausame Fiktion. Dazu kam das tierische,<br />
pathologische Ergötzen des Volkes an Hinrichtungen <strong>und</strong> Folter in Buden-<br />
<strong>und</strong> Jahrmarktsatmosphäre. Es war die sadistische Phantasie nicht nur<br />
jener Zeit!<br />
In den russischen <strong>und</strong> rumänischen Chroniken hat Vlad wohl gepfählt,<br />
jedoch nur als strenger, aber gerechter Richter wider Reiche <strong>und</strong> Korrupte<br />
zur Abschreckung. Und gegen die Türken als Kampfmittel. Mittels seiner<br />
"Methoden" wird die Walachei ein starker <strong>und</strong> organisierter Staat. Es gibt ein<br />
gut instruiertes Heer, das er selbst unterweist. Weil die Macht eines Fürsten<br />
im Inland schwach ist, liquidiert er Ostern 1459 den Kronrat. Etwa 500<br />
Großbojaren <strong>und</strong> Kleriker lässt er mitsamt ihren Frauen durch den Spieß<br />
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ziehen. Ihre Ländereien verteilt er an Kleinadlige <strong>und</strong> freie Bauern, die ihm<br />
da<strong>für</strong> gewogen sind, doch müssen sie auch Kriegsdienste leisten.<br />
Jetzt erst ist Vlad zu seinen großen Heldentaten fähig. 1458 schlägt er<br />
ein türkisches Heer, 10.000 werden gepfählt. 1459 wird eine Gesandtschaft,<br />
die Tribut fordert, gepfählt. Eine Aktion unter der Führung des Beg von<br />
Nicopolis Hamza, die Vlad mit List gefangennehmen soll, misslingt. 4.000<br />
Türken werden rings um Tîrgoviste aufgespießt. Doch ist sein Land zu klein,<br />
um der Großmacht Paroli zu bieten. So schreibt er an mehrere Fürsten <strong>und</strong><br />
Könige, auch an Matthias Corvin, den ungarischen König, um Verbündete zu<br />
gewinnen. Sie lassen ihn allein. Mohammed II, der Eroberer von Byzanz,<br />
greift ihn mit einem Heer von 150.000 Soldaten <strong>und</strong> vielen Schiffen auf der<br />
Donau an. Vlad hat 30.000 Mann. Er führt den ersten Guerillakrieg der<br />
Welt. Er legt Hinterhalte <strong>und</strong> attackiert bei Nacht. Die Osmanen ziehen<br />
erschöpft ab. Doch auch seine Kräfte sind aufgebraucht; er muss wieder<br />
nach Transsylvanien fliehen. Bruder Radu verrät ihn, er wird Fürst. Sein<br />
Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Vetter aus der Moldau, Stefan, verrät ihn, greift ihn sogar an.<br />
König Matthias Corvin verrät ihn, schickt das versprochene Heer nicht,<br />
nimmt ihn auf dem Höhepunkt seiner heroischen Karriere des<br />
Abwehrkampfes gefangen <strong>und</strong> sperrt ihn jahrelang in die finsteren Verliese<br />
der Festung Visegrád unter der Donau bei Budapest. Der Gr<strong>und</strong> sind drei<br />
gefälschte Briefe, in denen Vlad dem Sultan angeblich Verhandlungen anbot<br />
<strong>und</strong> sich ihm unterwerfen wollte, also ein Verräter war; sie wurden dem<br />
ungarischen König (möglicherweise) von den Sachsenstädten zugespielt.<br />
Corvin schickt dem Papst über den Legaten Modrussa eine Kopie der<br />
gefälschten Briefe <strong>und</strong> eine Reihe der kursierenden verleumderischen<br />
Gerüchte über den "Wütrich". Denn der Ungar muss sich sowohl dem Papst<br />
als auch den Venezianern gegenüber rechtfertigen, warum er den großen<br />
Türkenkämpfer ausgerechnet jetzt gefangen nimmt, obwohl er Geld <strong>für</strong> den<br />
Türkenfeldzug erhalten hat: Diese Flugschriften sind der Beginn der<br />
schriftlichen Dracula-Legende. Pius II publiziert sie in seinen "Comentarii".<br />
Hier sind alle Motive der deutschen Chroniken über den "Wütrich" Vlad<br />
aufgeführt:<br />
"Ein w<strong>und</strong>erliche vnd erschröckliche History von einem grossen wüterich genannt Dracol<br />
Wayda. Der do so gar unchristeliche marter hat angelegt de meschen als mit spissen.<br />
auch die leute zu tod geschliffen."<br />
Einige Jahre später lebt Vlad wieder frei in Buda. Dann folgen neue<br />
Schlachten, um den Thron wiederzugewinnen. Doch er ist zu Tode erschöpft<br />
<strong>und</strong> fällt im Kampf. Sein Kopf kommt nach Tzarigrad, der arg zugerichtete<br />
<strong>und</strong> zerstückelte Körper angeblich nach Snagov, in ein Grabmal ohne<br />
Namen. Ist Vlad wirklich ein Untoter, ein Phantom? Sein Grab war, wie wir<br />
sahen, als es geöffnet wurde, leer ...?<br />
Stoker <strong>und</strong> die vielen Filme stellen ihn mit Recht als Wiedergänger <strong>und</strong><br />
Hasser dar. Ein außerweltliches unheimliches Porträt des Rächers, ein<br />
ressentimentgeladenes Ungeheuer der Geschichte, das jede Nacht ein<br />
anderes menschliches Wesen anfällt <strong>und</strong> es infiziert, sodass es auch zum<br />
Vampir wird <strong>und</strong> die tödliche Blutsauger-Krankheit fortschreitet. Was ist<br />
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Geschichte anderes als Revanche, Rache, Ressentiment, Gemetzel um<br />
Gemetzel? Ob nun 1914, 1933 oder als Rachephänomen im Kommunismus,<br />
wo die ehemaligen Widerständler ihre früheren Peiniger übertrafen?<br />
Leider bleibt in den Dracula-Filmen die wesentliche historische Tragödie<br />
Vlads ausgeklammert. Sie dient nur als pittoresker Hintergr<strong>und</strong>. Keiner der<br />
vielen Filme hat den grausamen Wahnsinn der Geschichte als Irrenstück,<br />
als Verrat an der Wahrheit <strong>und</strong> am einzelnen Menschen in Schreckensbilder<br />
übersetzt.<br />
...<br />
Dieser stark gekürzte Beitrag wurde in voller Länge am 12. März 1997 im Süddeutschen<br />
R<strong>und</strong>funk in S2 <strong>Kultur</strong> ausgestrahlt <strong>und</strong> vom Mitteldeutschen R<strong>und</strong>funk Leipzig am 22.<br />
September wiederholt. Er wurde abgedruckt in "Halbjahresschrift <strong>für</strong> südosteuropäische<br />
Geschichte, Literatur <strong>und</strong> Politik", Heft Nr. 1/ 1997. Siehe dazu:<br />
www.halbjahresschrift.homepage.t-online.de<br />
Dr. Dieter Schlesak (schlesak@tiscalinet.it), geb. 1934 in Schäßburg (Siebenbürgen), Schriftsteller.<br />
Nach einem Studium der Germanistik arbeitete der Autor als Volksschullehrer <strong>und</strong> dann als Redakteur<br />
bei der Zeitschrift "Neue Literatur" in Bukarest. Er debütierte als Lyriker noch in seiner Heimat. 1969<br />
folgt die Übersiedlung in die BRD. Seitdem erschienen zahlreiche Gedichtbücher <strong>und</strong> Romane.<br />
Schlesak schrieb Hörspiele <strong>und</strong> Arbeiten <strong>für</strong> Radio <strong>und</strong> Fernsehen. Übersetzer- <strong>und</strong><br />
Herausgebertätigkeit. Essays über rumänische Literatur <strong>und</strong> Philosophie; zuletzt Nichita Stãnescu: Elf<br />
Elegien, Übersetzung <strong>und</strong> Nachwort: Metapoesie der roten Zeit (2005).<br />
Der Autor erhielt mehrere Preise, u.a. den Gryphius-Förderpreis, Schubart-Preis, Lenau-Preis, <strong>und</strong><br />
Stipendien (Deutscher Literaturfonds, Akademie Schloss Solitude); zuletzt <strong>für</strong> das Gesamtwerk die<br />
Ehrengabe der Schillerstiftung / Weimar, 2001. 2005 Ehrendoktor der Universität Bukarest. Schlesak<br />
ist Mitglied des Deutschen P.E.N. Zentrums.<br />
Veröffentlichungen u.a.<br />
Grenzstreifen (1968, Lyrik).<br />
Visa. Ost West Lektionen (1970, Essays). Briefe über die Grenze (1978, Lyrik). Vaterlandstage <strong>und</strong><br />
die Kunst des Verschwindens (1986, Roman). Aufbäumen (1990, Lyrik). Stehendes Ich in laufender<br />
Zeit. (1994, Essays). Landsehn (1997, Lyrik). Tunneleffekt (2000, Lyrik). Weiße Gegend. Gedichte<br />
(2000). Die Dracula-Korrektur (Roman, im August 2000 im Internet veröffentlicht). Der Verweser.<br />
Geisterroman(2001). LOS. Reisegedichte (2002). Romans Netz. Ein Liebesroman (2004). Zeuge an<br />
der Grenze unserer Vorstellung. Porträts, Studien <strong>und</strong> Essays (2005).<br />
Homepage<br />
www.dieterschlesak.de<br />
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Bräuche zum Frühlingsbeginn<br />
März – der erste Frühlingsmonat umfasst viele Bräuche in Rumänien.<br />
Das Märzchen<br />
Von Irina Wolf<br />
(01. 02. 2007)<br />
Der Monat beginnt mit einer malerischen Traditionsfeier des<br />
Frühlingsanfanges, dem "Märzchen". Der Name ist im Rumänischen ein<br />
Diminutiv <strong>für</strong> März. Seit vielen Jahrh<strong>und</strong>erten gilt dieser Brauch als ein Fest<br />
der Freude <strong>und</strong> ist ein Symbol des Sieges des Guten über das Böse. Man<br />
vermutet, dass die Ursprünge des Festes aus Rom stammen, als das Neujahr<br />
am ersten März, am Geburtstag des Gottes Martius, des<br />
Landwirtschaftsgottes <strong>und</strong> Symbols der Wiedergeburt der Natur, gefeiert<br />
wurde.<br />
Im Mittelalter feierten die Menschen den Frühlingsbeginn durch rot-weißes<br />
Anmalen von Steinchen, die als Glücksbringer galten. Rot bedeutete das<br />
Blut, die Sonne <strong>und</strong> das Feuer, den Krieg, aber auch das Leben, die Frau.<br />
Hingegen war weiß die Farbe des sauberen Wassers <strong>und</strong> des Himmels, des<br />
Friedens, des Mannes. Sie gehörten zusammen <strong>und</strong> konnten als Symbole<br />
des Lebens <strong>und</strong> der Unsterblichkeit der Natur nicht getrennt werden.<br />
In manchen Gegenden (Moldau <strong>und</strong> Bukowina) verwendete man als<br />
Talisman auch eine Gold- oder Silbermünze. Nachdem die Steinchen oder<br />
Münzen zwölf Tage lang um den Hals getragen worden waren, kaufte man<br />
süßen Käse, in der Hoffnung, dass das Gesicht das ganze Jahr über schön<br />
<strong>und</strong> weiß bliebe.<br />
Heute schenken Männer Frauen <strong>und</strong> Kindern als Glücksbringer Blumen<br />
oder kleine Plastikfiguren (Blumen, Kleeblätter, Vögel, Tiere), die mit einer<br />
rot-weißen Schnur versehen sind. Eine ähnliche Tradition, "Marteniza"<br />
genannt, gibt es zum ersten März auch in Bulgarien.<br />
Die Alte Dochia<br />
Der Name scheint aus dem byzantinischen Kalender zu stammen. Am<br />
ersten März wird der Namenstag der Heiligen Evdokia gefeiert. In den<br />
rumänischen Sagen heißt es, dass vor langer Zeit der Sohn eines bösen,<br />
alten Weibes namens Dochia lebte, der gegen den Willen seiner Mutter<br />
heiratete. Um ihre Schwiegertochter zu quälen, beschloss Dochia, diese am<br />
ersten März einer Reihe von Prüfungen zu unterziehen: Sie sollte zum Fluss<br />
gehen <strong>und</strong> schwarze Wolle so lange waschen, bis diese weiß würde, <strong>und</strong> in<br />
der noch kalten Jahreszeit reife Beeren suchen. Gott erbarmte sich der<br />
- 20 -
Schwiegertochter <strong>und</strong> half ihr, beide Aufgaben zu erledigen. Als Dochia die<br />
Beeren sah, glaubte sie, der Frühling sei gekommen, <strong>und</strong> brach mit ihren<br />
Ziegen zur Weide ins Gebirge auf. Vorsichtshalber hatte sie sich neun<br />
Schafspelze angezogen. Gott aber schickte Regen, <strong>und</strong> die Alte zog eine<br />
Jacke nach der anderen aus. Da verwandelte sich der Regen in Schnee, <strong>und</strong><br />
der Frost ließ sie <strong>und</strong> ihre Ziegen zu Eis erstarren <strong>und</strong> verwandelte sie<br />
schließlich zu Stein. Diesen versteinerten Gestalten kann der Wanderer noch<br />
heute im Bucegi-Gebirge begegnen.<br />
Die rumänische Tradition besagt, dass die ersten neun Märztage deshalb<br />
von abwechselndem Wetter geprägt sind, weil Dochia jeweils einen<br />
Schafspelz auszieht <strong>und</strong> den Regen oder Schnee abschüttelt. Heute wählt<br />
jeder Rumäne einen der ersten neun Märztage als "Alte", <strong>und</strong> man sagt, dass<br />
sein Glück im restlichen Kalenderjahr vom Wetter dieses Tages abhängt: Ist<br />
der gewählte Tag schön, bedeutet dies das Gleiche <strong>für</strong> das gesamte Jahr, ist<br />
der Tag trüb, wird auch das ganze Jahr nicht so gut sein.<br />
Sind die Tage der "Alten Frauen", des Überganges des Winters zum Frühling,<br />
beendet, beginnen mit dem 10. März die Tage der "Alten Männer", der<br />
Wärme.<br />
Die 40 Mucenici<br />
Zum Frühlingsanfang gehören noch die traditionellen "Mucenici". Die<br />
Hausfrauen backen am neunten März Kuchen in Form einer Acht zur<br />
Erinnerung an die 40 heiligen Mucenici aus Sevastia. Diese waren nach<br />
orthodoxem Glauben christliche Soldaten in der Armee des römischen<br />
Kaisers Licinius <strong>und</strong> wurden wegen ihres Glauben an Jesus circa im Jahr<br />
320 von Agricolae, dem Gouverneur Armeniens, gefangen genommen <strong>und</strong><br />
schließlich umgebracht; ihre Asche wurde in einen See in Sevastia in<br />
Armenien geworfen.<br />
Als Erinnerung kochen in der Walachei die Frauen kleine Teigkringel oder<br />
Teigachter in Zuckerwasser, um sie dann mit gemahlenen Nüssen bestreut<br />
aufzutischen. Das Wasser stellt den See dar, in dem die 40 heiligen Mucenici<br />
ihr Grab fanden. In der Moldau dagegen sind es größere Teiggebilde in<br />
Achterform, die man im Ofen bäckt, mit Honig überzieht <strong>und</strong> mit Nüssen<br />
bestreut.<br />
Irina Wolf (wolfirina@yahoo.com) wurde in Bukarest geboren. Nach Abschluss ihres<br />
Informatikstudiums kam sie 1988 durch ein Herder-Stipendium nach Wien. Nach mehreren Jobs im<br />
Telekommunikations- <strong>und</strong> Forschungsbereich wechselte sie 1993 in den Handelsbereich. Seitdem<br />
arbeit sie bei der Friedrich Wilhelm GmbH & Co.KG <strong>und</strong> hält weiterhin engen Kontakt mit Rumänien.<br />
- 21 -
Die andere Hauptstadt<br />
...<br />
Obwohl in Hermannstadt nur noch 2.000 Deutsche wohnen, ist Sibiu bis heute<br />
das inoffizielle Zentrum der deutschen Sprache <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong> geblieben.<br />
Udo-Peter Wagner <strong>und</strong> Tilman O. Wagner<br />
(01. 01. 2007)<br />
Um die Mitte des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts rief der ungarische König Geisa deutsche<br />
SiedlerInnen nach "Transsylvanien" (in das Land "jenseits der Wälder"), das<br />
spärlich besiedelt <strong>und</strong> den Angriffen der Wandervölker (Kumanen,<br />
Petschenegen, Tataren) ausgesetzt war ("ad retinendam coronam"). Die<br />
SiedlerInnen stammten vom Niederrhein, aus dem Gebiet zwischen Trier <strong>und</strong><br />
Luxemburg. Die Siebenbürger Sachsen, wie sie später genannt wurden (im<br />
Mittelalter wurden die Deutschen als "saxones" bezeichnet), sprachen <strong>und</strong><br />
sprechen moselfränkische M<strong>und</strong>arten, die <strong>für</strong> Sprachforscher interessant sind,<br />
weil sie den Sprachstand des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts widerspiegeln. Die SiedlerInnen<br />
erhielten von der ungarischen Krone als Gegenleistung <strong>für</strong> die Verteidigung der<br />
Südgrenze entlang der Karpaten <strong>und</strong> <strong>für</strong> die Kolonisation des Landes<br />
verschiedene Vorrechte (Erhebung von Steuern <strong>für</strong> eine bestimmte Zeit,<br />
rechtliche <strong>und</strong> kirchliche Selbstverwaltung), die in dem "Goldenen Freibrief" von<br />
1222 festgehalten <strong>und</strong> später immer wieder bestätigt wurden.<br />
Die deutschen SiedlerInnen waren mehrheitlich Ackerbauern <strong>und</strong> Handwerker,<br />
die eine überlegene Produktionsform aus Mitteleuropa in diesen Raum brachten.<br />
Sie legten in etwa 250 Dörfern befestigte Wehrburgen, sogenannte<br />
"Kirchenburgen" an <strong>und</strong> bauten befestigte Städte, an denen sich die Landesfeinde<br />
(ab dem 15. Jahrh<strong>und</strong>ert waren es die Türken) oft genug die Zähne ausbissen.<br />
Die Siebenbürger Sachsen organisierten sich in sieben Stühlen (daher der Name<br />
"Siebenbürgen" <strong>für</strong> den von ihnen besiedelten Teil Transsylvaniens), deren<br />
Vorort die "Haupt- <strong>und</strong> Hermannstadt" wurde, wo der "Sachsencomes" als oberste<br />
Verwaltungsinstanz residierte. Im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert schloss man sich zur<br />
sogenannten "Nationsuniversität" zusammen, die ihren Sitz ebenfalls in<br />
Hermannstadt hatte. Andere bedeutende Städte der Sachsen in Siebenbürgen<br />
waren Kronstadt, Mediasch <strong>und</strong> Schäßburg, im Westen Broos <strong>und</strong> Mühlbach, <strong>und</strong><br />
im Norden Bistritz. Bis zur Reformation gehörte das Sachsengebiet zum Erzbischof<br />
von Graan, ab 1541 setzte sich die Reformation in Hermannstadt <strong>und</strong> dann im<br />
gesamten Sachsengebiet durch. Der evangelische Bischof hatte seinen Sitz in<br />
Birthälm <strong>und</strong> ab 1867 in Hermannstadt.<br />
Nach der <strong>für</strong> die ungarische Krone verlustreichen Schlacht von Mohács (1526)<br />
wurde Siebenbürgen ein unabhängiges Fürstentum, das bloß der Türkei<br />
tributpflichtig war. Als Folge der Friedensschlüsse von Karlowitz (1699) <strong>und</strong><br />
Passarowitz (1718) kam Transsylvanien zur Habsburger Monarchie <strong>und</strong><br />
Hermannstadt wurde Verwaltungssitz der österreichischen Administration. Für<br />
die <strong>Kultur</strong> wichtig wurde in jener Zeit der gebürtige Siebenbürger Sachse Baron<br />
- 22 -
von Brukenthal, der zeitweilig Gubernator von Siebenbürgen war. Nach seinem<br />
Tod wurden dessen Sammlungen (Gemälde, Münzen, Bücher usw.) der<br />
sächsischen Nation zur Verfügung gestellt. Das "Brukenthalmuseum" wurde<br />
mithin zum ersten Museum auf dem Gebiet des heutigen Rumänien.<br />
1867 wurde durch den österreichisch-ungarischen Ausgleich die<br />
Eigenverwaltung ("Königsboden") der Siebenbürger Sachsen zerschlagen <strong>und</strong><br />
die "Nationsuniversität" einige Jahre später aufgelöst. 1918 kam Siebenbürgen als<br />
Folge der verlorenen Kriege zu Rumänien. In Hermannstadt tagte der<br />
Provisorische Verwaltungsrat ("consiliul dirigent"), der den Anschluss an das<br />
Königreich Rumänien dekretierte. Die Siebenbürger Sachsen hatten die Zeichen<br />
der Zeit verstanden <strong>und</strong> schon im Januar 1919 ein Loyalitätsbekenntnis<br />
abgegeben. In der NS-Zeit war Hermannstadt zeitweilig Sitz der sogenannten<br />
"Deutschen Volksgruppe". Nach dem II. Weltkrieg wurde es verwaltungsmäßig<br />
dem Bezirk Kronstadt eingegliedert <strong>und</strong> 1968 als eigenständiger Kreis<br />
organisiert, was es bis heute geblieben ist. Es gehört nach Ausdehnung <strong>und</strong><br />
Bevölkerungszahl zu den mittelgroßen Kreisen Rumäniens. Wo vor der Wende<br />
noch etwa 100.000 Deutsche lebten (in Hermannstadt zählte man 1940 noch 30.000<br />
Siebenbürger Sachsen, also 50 % der Bevölkerung), wohnen heute nur noch r<strong>und</strong><br />
2.000 Deutsche in der Stadt; das entspricht etwa 1,6 % der Stadtbevölkerung.<br />
In Hermannstadt gibt es ein deutsches Gymnasium ("Brukenthalgymnasium"),<br />
eine deutsche Lehrerbildungsanstalt (die einzige in Rumänien), ein halbes<br />
Dutzend Untergymnasien mit deutschen Abteilungen, desgleichen mehrere<br />
deutschsprachige Kindergärten. Seit über 50 Jahren werden evangelische Pfarrer<br />
am "Protestantischen Theologischen Institut" ausgebildet. 1969 wurde <strong>für</strong> die<br />
deutsche Minderheit eine Germanistikabteilung innerhalb der neu gegründeten<br />
philologischen Fakultät ins Leben gerufen, die heute über 400 Studierende<br />
beherbergt, Deutsch sprechende LehrerInnen, JournalistInnen <strong>und</strong><br />
ÜbersetzerInnen ausbildet <strong>und</strong> zahlreiche internationale Kontakte pflegt.<br />
Das deutsche geistige Leben wird auch von der Presse getragen: in Hermannstadt<br />
erscheint die Wochenschrift "Hermannstädter Zeitung", das Theologische Institut<br />
ediert die "Kirchlichen Blätter", die Hermannstädter Zweigstelle der "Akademie<br />
<strong>für</strong> Gesellschaftswissenschaften" gibt die "Forschungen zur Volks- <strong>und</strong><br />
Landesk<strong>und</strong>e" heraus. Unregelmäßig erscheinen die "Germanistischen Beiträge"<br />
des Germanistik-Lehrstuhls.<br />
In Hermannstadt wurde bereits gegen Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts ein<br />
deutsches Theater gegründet. Die damit in Verbindung stehende Zeitschrift war<br />
die erste Publikation auf dem Boden des heutigen Rumänien. In der Zeit zwischen<br />
den beiden Weltkriegen setzte dann das Hermannstädter "Deutsche<br />
Landestheater aus Rumänien" die sprachliche Traditionslinie fort. Daran<br />
anschließend wurde schließlich 1956 eine deutsche Abteilung am städtischen<br />
rumänischen Theater ins Leben gerufen, die auch heute noch besteht. In<br />
Hermannstadt gibt es zudem ein deutschsprachiges Puppentheater.<br />
Das kirchliche Leben der Deutschen beiderlei Konfessionen (evangelisch <strong>und</strong><br />
katholisch) geht sozusagen normal weiter: der Evangelischen Kirche stehen zwei<br />
- 23 -
Kirchhäuser zur Verfügung, in denen auf Deutsch gepredigt wird. Es gibt<br />
Jugendarbeit <strong>und</strong> Altenbetreuung. Deutsche Predigten finden auch einmal pro<br />
Monat in der Katholischen Kirche statt. Die reiche musikalische Tradition der Stadt<br />
(bis ins 18. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückreichend) wird mit Erfolg fortgesetzt. Es gibt einen<br />
"Bach-Chor", der in Jahreskonzerten große deutsche, aber auch einheimische<br />
Komponisten aufführt.<br />
Durch den Exodus der deutschen Bevölkerung hat auch das deutschsprachige<br />
literarische Leben abgenommen. Der Literaturkreis der Stadt besteht seit 1991<br />
nicht mehr, doch gab es punktuell bescheidene Fortsetzungen im Literaturkreis<br />
des "Pädagogischen Lyzeums" <strong>und</strong> in jenem der GermanistikstudentInnen, der in<br />
letzter Zeit als "Lesekreis" reaktiviert wurde. Die in Hermannstadt oder, wenn<br />
man den Raum etwas ausdehnt, in Südsiebenbürgen verbliebenen<br />
SchriftstellerInnen haben zum Beispiel die Gelegenheit, sich einmal jährlich bei<br />
den "Deutschen Literaturtagen" in Reschitz zu treffen. In Hermannstadt steht ihnen<br />
der hora- <strong>und</strong> der Honterus-Verlag zur Verfügung, in Kronstadt der Aldus-Verlag,<br />
es gibt auch den staatlichen Kriterion-Verlag. Namen wie Joachim Wittstock,<br />
Eginald Schlattner, Ursula Bedners oder Carmen Pucheanu haben auch im<br />
Ausland einen guten Klang, hinzu kommen noch solche wie E. G. Seidner oder<br />
Wilhelm Meitert, die sich vor allem im sächsischen Dialekt artikulieren. Nicht<br />
unerwähnt, weil fördernd soll die "Blutzufuhr" aus Deutschland bleiben: Das<br />
Generalkonsulat der BRD <strong>und</strong> der "IFA" initiieren <strong>und</strong> finanzieren zahlreiche<br />
<strong>Kultur</strong>austausche. Im Jahr 2003 wurde an der Lucian-Blaga-Universität ein<br />
österreichisches <strong>Kultur</strong>institut eingerichtet.<br />
Im Jahr 2007 wartet Hermannstadt in einer gemeinsamen organisatorischen<br />
Anstrengung mit Luxemburg als <strong>Kultur</strong>hauptstadt Europas mit einer zahlreichen<br />
Vielfalt an kulturellen Veranstaltungen auf. 54 verschiedene Festivals verwöhnen<br />
die neugierigen Augen <strong>und</strong> Ohren der BesucherInnen mit internationalem<br />
Programm. So eröffnet das Sibiu-Jazz-Festival zwischen dem 8. <strong>und</strong> 15. Mai mit<br />
einer musikalischen Darbietung das Jahreskulturprogramm. Am 11. Mai treffen<br />
Interessierte an der Philologischen Fakultät zusammen, um über den rumänischen<br />
Philosophen Emil Cioran (1911-1995) im Rahmen des Internationalen<br />
Kolloquiums, welches seinen Namen trägt, zu sprechen. Während das<br />
Internationale Theaterfestival zwischen dem 26. Mai <strong>und</strong> 5. Juni zum XIII. Mal mit<br />
Schauspielkunst aus der ganzen Welt locken wird, kommen Kinder <strong>und</strong><br />
Jugendliche zur zehnten Ausgabe des Festivals <strong>für</strong> unkonventionelle Kunst "La<br />
strada" zusammen. Weitere musikalische Präsentationen sollen zwischen dem 1.<br />
Juni <strong>und</strong> 1. September unter dem Motto "Halte den Rhythmus" <strong>für</strong> Abwechslung<br />
sorgen. Im August werden zwei traditionelle folkloristische<br />
Kunsthandwerkfestivals zu Töpferwerkstätten <strong>und</strong> Keramikausstellungen<br />
einladen. Am 25. August soll das mittelalterliche Festival "Siebenbürgische<br />
Burgen" einen mediävalen Flair verbreiten, abschließend lädt die europäische<br />
<strong>Kultur</strong>hauptstadt zum Internationalen Astra Dokumentarfilmfest zwischen dem 23.<br />
<strong>und</strong> 28. Oktober ein. (Programm im Internet: www.sibiu.ro/ro/cultura2005.htm)<br />
Im September 2007 werden unter der Schirmherrschaft der Konferenz<br />
Europäischer Kirchen (KEK) <strong>und</strong> dem Rat Europäischer Bischofskonferenzen der<br />
römisch-katholischen Kirche (CCEE) alle christlichen Kirchen Europas zur Dritten<br />
- 24 -
Ökumenischen Versammlung (nach Basel, 1989, <strong>und</strong> Graz, 1997) zwischen dem 4.<br />
<strong>und</strong> 8. September in Hermannstadt erwartet. Nicht zuletzt der angekündigte<br />
Besuch des Papstes wird Hermannstadt dazu verhelfen, in altem neuen Glanz zu<br />
erstrahlen.<br />
Tilman Otto Wagner (t.wagner@novumverlag.com) wurde 1977 in Hermannstadt / Sibiu geboren <strong>und</strong><br />
studierte an der dortigen Universität Anglistik <strong>und</strong> Germanistik. Ab 2000 Studium der Anglistik <strong>und</strong><br />
Germanistik an der Universität Klagenfurt. Nach einem Semester als Lehrer an einer High School in<br />
Mexiko (Tecnologico de Monterrey, Chihuahua) Doktoratsstudium der Germanistik an der Universität<br />
Wien sowie Studium an der Akademie der Bildenden Künste in der Klasse <strong>für</strong> Post Conceptual Art<br />
Practices.<br />
- 25 -
Timişoara<br />
Der Reichtum an <strong>Kultur</strong>schätzen, den Temeswar bietet, ist bemerkenswert<br />
<strong>und</strong> vergleichbar mit rumänischen "<strong>Kultur</strong>hauptstädten" wie Sibiu oder Bukarest.<br />
Doch was den Besucher erwartet, ist mehr als ein "barockes Freilichtmuseum".<br />
Timişoara ist eine pulsierende, moderne Universitätsstadt mit großer wirtschaftlicher<br />
Zukunft.<br />
Von Klemens Jäger<br />
(01. 03. 2007)<br />
Wird im Moment über Rumänien berichtet, so geht es – neben dem<br />
bevorstehenden EU-Beitritt – fast immer über den Bauboom in Bukarest, die<br />
Europäische <strong>Kultur</strong>hauptstadt Sibiu/Hermannstadt oder das UNESCO<br />
Weltkulturerbe, die Klöster in der Moldau. Timişoara ist viel weniger in den<br />
Medien präsent <strong>und</strong> darf sich nicht mit Titeln wie "<strong>Kultur</strong>hauptstadt" oder<br />
"Weltkulturerbe" schmücken – zu Unrecht!<br />
Denn auch diese Großstadt im Westen Rumäniens blickt auf eine reiche<br />
kulturelle Geschichte zurück. Über lange Zeit hinweg lebten in Timişoara<br />
Menschen vieler Nationalitäten <strong>und</strong> Religionen friedlich nebeneinander:<br />
Rumänen, Serben, Ungarn, Juden <strong>und</strong> vor allem Deutsche (Alt-Österreicher)<br />
haben hier ihre Spuren hinterlassen. Früher wurde Temeswar sogar Klein-<br />
Wien genannt.<br />
In der Tat wurde die Stadt Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wie Budapest <strong>und</strong><br />
Wien ringstraßenförmig ausgebaut. Die Stadtmauer musste der Ringstraße<br />
weichen, es ist nur mehr eine Bastion im Westen der Stadt übriggeblieben.<br />
Diese alten Gemäuer beherbergen heute Restaurants, Bars <strong>und</strong> Clubs.<br />
Westlich dieser Bastion liegt einer der schönsten Plätze der Stadt, der<br />
Domplatz (Piaţa Unirii/Einheitsplatz). Hier fühlt man sich wie in einem<br />
barocken Freilichtmuseum, von allen Seiten wird man von prachtvoll<br />
geschmückten Fassaden in allen Farben angelacht. Die wichtigsten Gebäude<br />
sind der römisch-katholische Dom von Joseph Emanuel Fischer von Erlach,<br />
das Komitatshaus (Prefectura Veche) <strong>und</strong> die serbisch-orthodoxe<br />
Bischofskirche. In der Mitte des Platzes befindet sich die Dreifaltigkeitssäule<br />
(Monumentul Sfântei Treimi) <strong>und</strong> ein Brunnen (Fântâna din Piaţa Unirii),<br />
aus dem schwefelhaltiges Thermalwasser sprudelt. In den letzten Jahren<br />
haben an der Piaţa Unirii zahlreiche Kaffeehäuser <strong>und</strong> Restaurants eröffnet,<br />
die diesen Ort vor allem im Sommer (Schanigärten) zu einem beliebten<br />
Flanier- <strong>und</strong> Ausgehplatz machen. Hier treffen sich auch viele junge Leute,<br />
Schüler aus dem nahe gelegenen Nikolaus-Lenau-Lyzeum, wo noch in<br />
deutscher Sprache unterrichtet wird.<br />
- 26 -
Südlich der Piaţa Unirii befinden sich zwei weitere wichtige Plätze, der<br />
Freiheitsplatz (Piaţa Libertaţii) <strong>und</strong> der Siegesplatz (Piaţa Victoriei). Letzterer<br />
wird von zwei imposanten Bauten flankiert, im Süden die rumänischorthodoxe<br />
Kathedrale <strong>und</strong> im Norden die Oper. Vor der Oper befindet sich<br />
ein schlichtes Holzkreuz, das an den Aufstand gegen Ceauşescu im Jahr<br />
1989 erinnert. Dieser Platz war eines der Hauptkampfgebiete der in<br />
Timişoara ausgebrochenen Revolte, die sich schließlich auf das ganze Land<br />
ausbreitete <strong>und</strong> zum Sturz des Diktators führte. In der Mitte des Platzes<br />
thront eine Statue der Apostolischen Wölfin, die auf die romanische<br />
Abstammung der Rumänen hinweist.<br />
Neben der Piaţa Victoriei steht das Hunyaden-Schloss (Castelul Huniazilor),<br />
welches heute das Banater Museum beherbergt. Um das Zentrum herum<br />
fließt – wie in Wien der Donaukanal – die Bega, an deren Ufern sich<br />
großzügig angelegte Parks befinden. Sie bilden die grüne Lunge der Stadt.<br />
Viele Restaurantschiffe <strong>und</strong> Bäder entlang des Kanals laden zum Verweilen<br />
ein.<br />
Stadtauswärts der Bega liegen die historischen Vorstädte Josefstadt<br />
(Iosefin), Elisabethstadt (Elisabetin) <strong>und</strong> Fabrikstadt (Fabric); aber auch<br />
moderne Stadtviertel wie der Uni-Campus, den die Einheimischen Complex<br />
nennen. Zwischen den zahlreichen Universitäten tummeln sich viele<br />
Studierende. Auch im größten <strong>und</strong> modernsten Einkaufszentrum der Stadt –<br />
Iulius-Mall – trifft man viele juge Leute.<br />
Abschließend kann man sagen, dass Temeschwar heute eine moderne Stadt<br />
mit vielen historischen Spuren ist, die vor allem wirtschaftlich eine große<br />
Zukunft hat. Ein Besuch in Klein-Wien ist definitiv zu empfehlen!<br />
Klemens Jäger (klemens.jaeger@studentintelligence.eu) ist Student an der Wirtschaftsuniversität<br />
Wien.<br />
- 27 -
Annäherung an die Wirklichkeit<br />
Ein Überblick über die zeitgenössische rumänische Prosa<br />
Die rumänische Literatur befindet sich in Aufbruchstimmung. Vor allem die jungen<br />
AutorInnen zeigen durch ihren dynamischen Umgang mit Sprache <strong>und</strong> Form,<br />
welches Potential in ihnen steckt. Vielfältig <strong>und</strong> komplex sind aber auch ihre Themen.<br />
Wiederholt kommen hier die Probleme, Obsessionen <strong>und</strong> Ideen, aber auch die<br />
Träume <strong>und</strong> Hoffnungen der zeitgenössischen Europäer zum Ausdruck. So kann<br />
man ihre Literatur als rumänisch <strong>und</strong> europäisch zugleich betrachten, als ein anderes<br />
Gesicht unseres Europas <strong>und</strong> unseres Selbst.<br />
Von Iulia Dondorici<br />
(01. 01. 2007)<br />
Im deutschsprachigen Raum weiß man sehr wenig über die<br />
zeitgenössische rumänische Literatur. Zum Teil liegt es an mangelnden<br />
Übersetzungen – spontan fällt mir ein einziges Buch eines rumänischen<br />
zeitgenössischen Autors ein, das in den letzten Jahren in Deutschand<br />
erschienen ist. In Wahrheit sind es einige mehr, auf die ich noch zu<br />
sprechen kommen werde. Bis jetzt schien es auch keinen besonderen Gr<strong>und</strong><br />
zu geben, sich mit dem Thema in einer breiteren Öffentlichkeit auseinander<br />
zu setzen. Ob sich dies mit dem EU-Beitritt Rumäniens ändern wird, ist<br />
schwer abzuschätzen. Die Situation ist nicht vergleichbar mit der des jungen<br />
rumänischen Films, dessen aktuelle Präsenz auf den großen europäischen<br />
Filmfestivals beispielgebend ist. So sehr sich die künstlerischen Mittel aber<br />
auch unterscheiden: die Themen, die im Film <strong>und</strong> in der zeitgenössischen<br />
Literatur Rumäniens zur Sprache kommen, sind sehr ähnlich. Ob das auch<br />
ein Versprechen <strong>für</strong> einen künftigen Erfolg der rumänischen Literatur ist?<br />
Kurzes historisches Intermezzo<br />
Nachdem es die rumänische Literatur in der kurzen Zwischenkriegszeit<br />
geschafft hatte, sich auf die Ebene ihrer westeuropäischen Schwestern<br />
emporzuschwingen <strong>und</strong> eine im weitesten Sinne moderne Literatur zu<br />
werden – auch wenn sie traditionsgemäß hauptsächlich an Frankreich <strong>und</strong><br />
an den literarischen Strömungen, die dort stattfanden, orientiert war –,<br />
bedeuteten der Zweite Weltkrieg <strong>und</strong> die anschließende russische Besatzung<br />
eine Katastrophe <strong>für</strong> das kulturelle, gesellschaftliche <strong>und</strong> politische Leben.<br />
Die meisten rumänischen <strong>Kultur</strong>schaffenden fanden sich entweder in<br />
kommunistischen Gefängnissen wieder, gingen ins Exil oder stellten sich<br />
sogar auf die Seite der Kommunistischen Partei <strong>und</strong> ihrer Ideologie, um<br />
diese mit Wort <strong>und</strong> Tat zu unterstützen. Mircea Eliade, Emil Cioran oder<br />
Eugène Ionesco emigrierten beispielsweise nach Frankreich, um dort weiter<br />
in Freiheit literarisch tätig bleiben zu können.<br />
Nach der politischen Brutalität der 50er Jahre kam es Ende der 60er <strong>und</strong><br />
Anfang der 70er Jahre zur sogenannten "Liberalisierung", während derer es<br />
- 28 -
zum ersten Mal erlaubt war, überhaupt etwas anderes als sozialistischrealistische<br />
Literatur (zu propagandistischen Zwecken) zu schreiben <strong>und</strong> zu<br />
veröffentlichen. Bedeutende Prosa-AutorInnen der 60er <strong>und</strong> 70er Jahre<br />
waren Ştefan Bănulescu, Gabriela Adameşteanu, Ana Blandiana, Nora Iuga<br />
(1), Dumitru Radu Popescu oder Marin Preda.<br />
Ende der 70er Jahre war diese Liberalisierung schon wieder vorbei.<br />
Nach einigen Staatsbesuchen in den kommunistischen Ländern Asiens hatte<br />
Ceauşescu sich vorgenommen, eine Diktatur nach dem Beispiel Maos in<br />
Rumänien aufzubauen, was verschärfte ideologische Zensur in allen<br />
kulturellen Bereichen nach sich zog. Erschwernisse beim Druck sowohl von<br />
Büchern als auch von Zeitungen kündigten bereits an, dass sich die 80er<br />
Jahre bald schon zu einem der dunkelsten Jahrzehnte in der Geschichte<br />
Rumäniens entwickeln sollten.<br />
Es waren aber auch die Jahre einer bedeutsamen Erneuerung der<br />
rumänischen Literatur. Viele junge AutorInnen debütierten – wenn auch<br />
unter sehr ungünstigen Bedingungen. Sie brachten neuen Wind in die<br />
rumänische Literaturszene. Gemeint sind die AutorInnen der sogenannten<br />
"Generation der 80er Jahre", die als erste VertreterInnen eines rumänischen<br />
Postmodernismus gelten. Sie traten als Gruppe auf <strong>und</strong> begannen<br />
gemeinsame literarische Experimente. Einer der interessantesten <strong>und</strong> bis<br />
heute sehr aktiven <strong>und</strong> beliebten Schriftsteller dieser Generation ist Mircea<br />
Cărtărescu. Auch im deutschsprachigen Raum präsent (2), schrieb er sowohl<br />
Gedichte (der schönste Band ist "Levantul" aus dem Jahr 1990) wie auch<br />
Erzählungen <strong>und</strong> Romane, unter anderem "Nostalgia" (1993) <strong>und</strong> den Zyklus<br />
"Orbitor" (zwei Bände, 1996 bzw. 2002 erschienen).<br />
Als weitere wichtige SchriftstellerInnen der "Achtziger-Generation"<br />
könnte man Mircea Nedelciu, Adriana Babeţi, Adriana Bittel, Răzvan<br />
Petrescu <strong>und</strong> Gheorghe Crăciun nennen. Und, last but not least, entwickelte<br />
sich in dieser Zeit die Literatur der deutschen Minderheit weiter. Deren<br />
Mitglieder schrieben <strong>und</strong> veröffentlichten in deutscher Sprache. Es geht um<br />
die heute auch außerhalb Rumäniens bekannte "Aktionsgruppe Banat"<br />
(1972-75), zu der u. a. Herta Müller, Ernst Wichert, Richard Wagner <strong>und</strong><br />
William Totok gehörten. Aufgr<strong>und</strong> kritischer Äußerungen gegenüber dem<br />
kommunistischen Regime erhielten sie Publikationsverbot <strong>und</strong> emigrierten<br />
in der zweiten Häfte der 80er Jahre nach Deutschland. Hier konnten sie ihre<br />
literarischen Projekte weiter verfolgen. So zählen heute Herta Müller <strong>und</strong><br />
Richard Wagner zu den bekanntesten, sowohl von LeserInnen wie auch von<br />
KritikerInnen stark rezipierten deutschsprachigen SchriftstellerInnen. Ihre<br />
Bücher beschäftigen sich wiederholt mit "rumänischen" Themen, die<br />
gleichzeitig höchst relevant <strong>für</strong> die globalisierten, in heutigen westlichen<br />
Gesellschaften lebenden multikulturellen Menschen sind: die Rückkehr des<br />
Exilanten, die Möglichkeiten der Integration des Individuums in einer<br />
fremden Welt, das Verhältnis des Ich zum Fremden, menschliche<br />
Beziehungen <strong>und</strong> das Gefühl von Heimat.<br />
Junge rumänische Literatur<br />
- 29 -
Der Schritt der "jungen Literatur" in die Öffentlichkeit hat in Rumänien<br />
erst durch das groß angelegte Projekt eines bedeutenden Verlages – Polirom<br />
aus Iaşi – stattgef<strong>und</strong>en. Vor einigen Jahren setzte sich der Verlag zum Ziel,<br />
junge SchriftstellerInnen zu entdecken, zu fördern <strong>und</strong> zu veröffentlichen.<br />
Das Projekt wurde sowohl von der Leserschaft als auch von der Kritik<br />
begrüßt <strong>und</strong> erstaunlich gut aufgenommen, wahrscheinlich auch deshalb,<br />
weil man eine Krise der literarischen Szene spürte, in der bisher<br />
überwiegend die SchriftstellerInnen der älteren Generation agiert hatten. Wo<br />
viele der etablierten AutorInnen heute noch immer literarisch-ästhetisch die<br />
Vergangenheit aufarbeiten <strong>und</strong> problematisieren, zeichnet sich unter den<br />
jungen LiteratInnen der Zug ab, sich eher mit der unmittelbaren Gegenwart<br />
auseinander zu setzen. AutorInnen wie Sorin Stoica, Dan Lungu, T.O. Bobe<br />
(3) <strong>und</strong> Florina Iliş greifen in ihren Erzählbänden <strong>und</strong> Romanen allgemeine<br />
soziale Entwicklungen auf, konzentrieren sich aber auch auf typische<br />
Situationen <strong>und</strong> Probleme, mit denen sich junge Leute in der heutigen Welt<br />
konfrontiert sehen. So entsteht in dieser Literatur das oft ironische <strong>und</strong> mit<br />
viel Humor betrachtete bunte Bild der rumänischen postkommunistischen<br />
Gesellschaft bzw. von postkommunistischen Gesellschaftssegmenten mit<br />
ihren (Generations-) Konflikten <strong>und</strong> Abgründen, ihrem Chaos, ihrer<br />
materiellen Unsicherheit, aber auch Hoffnung <strong>und</strong> Vielfältigkeit, Abenteuer<br />
<strong>und</strong> einem unglaublichen Spaß am Leben.<br />
Die Sprache dieser AutorInnen ist absichtlich kolloquial <strong>und</strong> leicht zu<br />
verstehen, weil sie <strong>für</strong> ein breites Publikum schreiben. In den Büchern<br />
schleichen sich nicht selten Figuren wie Straßenkinder, Lumpen, Verrückte,<br />
oder aber normale, einfache Leute ein. Ihre Ästhetik ist die eines<br />
inszenierten Realismus, dargestellt etwa am Geständnis des Ich-Erzählers in<br />
Sorin Stoicas Roman "O limbă comună" (Editura Polirom, 2005):<br />
"Viele haben mich gefragt – zum Beispiel meine Kollegen – wo ich das, worüber ich<br />
schreibe, herhabe. Ich denke mir nichts aus, ich reproduziere nur. Ich möchte nichts<br />
erfinden. Wenn Leute sich im Text wiedererkennen, lachen sie sich tot. (…) Sich der<br />
Wirklichkeit durch Lachen annähern zu können! …". (4)<br />
Eine Richtung die der obigen entgegengesetzt ist könnte man "Literatur<br />
der Ich-Zentrierung" nennen. Als Tendenz taucht sie in allen europäischen<br />
Literaturen der Gegenwart auf. So schreiben viele AutorInnen der jungen<br />
Generation fiktionale Autobiografien, literarische Inszenierungen des eigenen<br />
Lebens. Dabei liegt der Schwerpunkt oft auf der Kindheit, auf Bildern <strong>und</strong> –<br />
gattungsbedingt – auf der Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit. Diese<br />
Tendenz war schon in den 80er Jahren mit dem Roman "Bietele corpuri"<br />
(1988) von Sonia Larian, einer der besten rumänischen Schriftstellerinnen<br />
der Gegenwart, zu bemerken. Mit ästhetischen Konstruktionen des eigenen<br />
Lebens beschäftigen sich junge Autoren wie Filip Florian, Ana Maria Sandu,<br />
Simona Popescu <strong>und</strong> Cezar Paul Bădescu. Diese Liste könnte fortgeführt<br />
werden, gehört doch die Beschäftigung mit dem eigenen Ich zu den<br />
produktivsten Strömungen der rumänischen zeitgenössischen Literatur. Die<br />
Sprache dieser AutorInnen ist bewusst kompliziert, selbstreflexiv, oft<br />
metaphorisch. Zudem verwenden sie zahlreiche Techniken des<br />
- 30 -
postmodernen Romans <strong>und</strong> kreieren sprachlich-literarische Bilder <strong>und</strong><br />
Collagen.<br />
Irgendwo dazwischen lässt sich beispielsweise ein Autor wie Daniel<br />
Bănulescu positionieren, der auch ins Deutsche übersetzt (5) <strong>und</strong> erfolgreich<br />
rezipiert wurde.(6) Er ist Verfasser eines Romanzyklus über die<br />
kommunistische Vergangenheit Rumäniens. Frei von Klischees, mit<br />
erstaunlichem Humor, aber auch mit Selbstironie <strong>und</strong> scharfer Kritik an der<br />
rumänischen Gesellschaft <strong>und</strong> Mentalität, die großen nationalen (<strong>und</strong><br />
nationalistischen) Mythen der rumänischen Geschichte dekonstruierend, ist<br />
Bănulescu – in Form einer postmodernistischen Parabel – eine komplexe<br />
Darstellung der rumänischen kommunistischen Gesellschaft gelungen.<br />
Die rumänische Literatur ist gegenwärtig sehr dynamisch <strong>und</strong><br />
entwicklungsfähig, <strong>und</strong> auch vielfältiger <strong>und</strong> komplexer als in diesem<br />
knappen Überblick zum Ausdruck gebracht werden kann. Vor allem die<br />
jungen AutorInnen sind vielversprechend. Ihre Themen sind letztlich die<br />
Probleme, Obsessionen, Ideen, aber auch die Träume <strong>und</strong> Hoffnungen der<br />
zeitgenössischen EuropäerInnen. Ihre Literatur kann man als rumänisch<br />
<strong>und</strong> europäisch zugleich betrachten, als ein anderes Gesicht unseres<br />
Europas <strong>und</strong> unseres Selbst.<br />
...<br />
Anmerkungen<br />
(1) Ins Deutsche wurden die folgende zwei Gedichtbände von Nora Iuga übersetzt: "Der<br />
Autobus mit dem Buckligen. Gedichtroman", Akademie Schloss Solitude, Stuttgart 2003<br />
<strong>und</strong> "Gefährliche Launen". Ausgewählte Gedichte, aus dem Rumänischen von Ernst<br />
Wichert mit einem Nachwort von Mircea Cărtărescu, Klett Verlag, Stuttgart, 2007. Sie ist<br />
auch durch zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften <strong>und</strong> Lesungen dem deutschen<br />
Publikum bekannt. Zur Zeit gilt sie als die beste Übersetzerin aus dem Deutschen ins<br />
Rumänische.<br />
(2) Auch von Mircea Cărtărescu wurden ins Deutsche zwei Bücher übersetzt:<br />
"Selbstporträt in einer Streichholzflamme. Gedichte", von Gerhard Csejka, Mircea<br />
Cătrărescu <strong>und</strong> Barbara Richter, DAAD, 2001 <strong>und</strong> "Nostalgia", Volk <strong>und</strong> Welt, 1997. Er<br />
wurde in Deutschland <strong>und</strong> Österreich zu zahlreichen Lesungen <strong>und</strong> Gesprächen<br />
eingeladen.<br />
(3) Auf Deutsch erschien der Erzählband "Zentrifuge", Akademie Schloss Solitude,<br />
Stuttgart, 2004.<br />
(4) Zitat aus der Erzählung "Rugina" , in "O limbă comună", Polirom Verlag, Iaşi, 2005.<br />
(5) Daniel Bănulescu, "Ich küsse dir den Hintern, Geliebter Führer!", Roman, aus dem<br />
Rumänischen von Aranca Munteanu, Edition per procura, Wien, 2005. Zudem erschien<br />
auf Deutsch auch der Gedichtband Bănulescus "Schrumpeln wirst du wirst eine exotische<br />
Frucht sein", Gva-Vertriebsgemeinschaft, 2003.<br />
(6) Rezensionen <strong>und</strong> Artikel über "Ich küsse dir den Hintern..." wurden in großen<br />
Tageszeitungen wie z. B. der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht.<br />
- 31 -
Iulia Dondorici (IuliaCornelia.Dondorici@gmx.de), geboren 1979 in Tirgoviste (Rumänien). Studium<br />
der Anglistik <strong>und</strong> Rumänistik an der Universität Bukarest <strong>und</strong> der Humboldt-Universität zu Berlin.<br />
Gegenwärtig: Arbeit an einer Promotion in Rumänischer Literaturwissenschaft an der Humboldt-<br />
Universität zu Berlin (Thema: "Körperbilder in der rumänischen Literatur der Moderne")<br />
Veröffentlichung zahlreicher Rezensionen <strong>und</strong> Berichte zu aktuellen Ereignissen des literarischen<br />
Lebens in "Observator cultural" (Bukarest) <strong>und</strong> "Literaturkritik.de".<br />
Übersetzungstätigkeit:<br />
(Deutsch-Rumänisch): Hans-Dieter Otto: "Militärische Irrtümer" (erschienen 2005 bei "Paralela 45"<br />
Verlag).<br />
Homepage<br />
...<br />
www.dondorici.de<br />
- 32 -
Ole, Ole – Ceauşescu ade!<br />
Ein kleiner, feiner rumänischer Film fühlt der (post)revolutionären<br />
Befindlichkeit der Rumänen auf den Zahn.<br />
Von Kristina Werndl<br />
(01. 01. 2007)<br />
Wenn man weltweit alle Splitter, die vom Kreuz Christi als Reliquien<br />
verwahrt werden, zusammenzählt, ergibt des mehrere Kreuze. Wenn man all<br />
die Widerstandskämpfer in Deutschland <strong>und</strong> Österreich während des<br />
zweiten Weltkriegs addiert, w<strong>und</strong>ert man sich, wie sich Hitler so lange an der<br />
Macht halten konnte. Wenn man vor 89 die Intensität des Wunsches nach<br />
einem Ende der Ceauşescu-Herrschaft (1965–89) berücksichtigt, verw<strong>und</strong>ert<br />
es nicht, dass sich viele an seinem Fall beteiligt haben wollen. Jeder will an<br />
großen Ereignissen mitnaschen, Held sein, <strong>und</strong> da<strong>für</strong> verdreht man schon<br />
einmal die Geschichte zu seinen Gunsten, schreibt sie im Erzählvorgang<br />
neu, verwandelt sie in Geschichten, die nicht mehr der historischen<br />
Wahrheit, sondern dem eigenen Ego <strong>und</strong> einem ruhigen Gewissen<br />
verpflichtet sind. Von diesem Phänomen handelt Corneliu Porumboius (Jg.<br />
1975) Spielfilm "12:08 östlich von Bukarest (A fost sau n-a fost?)".<br />
Mit wenig Personal <strong>und</strong> kaum Plot zeichnet der Regisseur ein Bild der<br />
gegenwärtigen rumänischen Gesellschaft: Ein Talk-Show-Moderator lädt sich<br />
zwei Gäste in seinen privaten TV-Sender, um 16 Jahre nach der Flucht<br />
Ceauşescus mit dem Hubschrauber vom Dach des Präsidentenpalastes zu<br />
klären, ob es in seinem Städtchen eine Revolution gegeben habe. Haben die<br />
Stadtbewohner schon vor 12:08, vor der Flucht Ceauşescus also, am<br />
Hauptplatz demonstriert? Dann könnte man erst von einer Revolution<br />
sprechen ...<br />
Der Sendeverlauf macht deutlich, dass die Stadtbewohner die in Temesvar<br />
entsprungene Revolution nur von ihren Fernsehsesseln aus verfolgten. Allein<br />
einer der Sendegäste, der dem Alkohol zugeneigte Manescu – ironischerweise<br />
ein Geschichtslehrer! –, hält an seiner fragwürdigen Version der Ereignisse<br />
fest: Er habe mit einer eingeschworenen Truppe schon vor 12:08 die<br />
Revolution in seiner Stadt losgetreten.<br />
Mit skurrilem Witz, der auch in der musikalischen Gestaltung des<br />
Films seinen Niederschlag findet, erzählt Porumboiu eine Geschichte, in der<br />
er geschickt die großen gesellschaftlichen Probleme <strong>und</strong> die große Politik im<br />
Privaten bricht: In der Erinnerung des Sendegastes Piscoci ist der Tag der<br />
Revolution, der 22. Dezember 1989, jenes Datum, an dem er <strong>für</strong> seine Frau<br />
Versöhnungsblumen aus dem botanischen Garten klaute. Nach der<br />
Fernsehübertragung sei er auf den Platz gegangen, um Maria zu zeigen,<br />
"dass ich ein Held bin" – "Wir haben Revolution gemacht, wie wir konnten,<br />
wir haben sie auf unsere Art gemacht."<br />
- 33 -
Schon die Figur des Moderators sagt viel über Übergangsphänomene aus:<br />
Vor der Revolution Textilingenieur, hat er sich danach wie viele andere (mehr<br />
oder weniger sauber) neu orientiert <strong>und</strong> sich eine berufliche Identität als<br />
Fernsehboss verpasst. Während der Talk-Sendung trumpft er mit vorab<br />
angelesenen klassischen Zitaten auf – ein kritischer, zugleich aber auch<br />
liebenswürdiger Blick auf Menschen, die improvisierend <strong>und</strong> dilettantisch<br />
das Neuerworbene ausstellen. Wenn er sich vor der Sendung bekreuzigt, von<br />
der Provinz aus Bukarest beschimpft, sich mit revolutionsmüden <strong>und</strong><br />
reaktionären Anrufern konfrontiert sieht, wenn sich seine latente<br />
Fremdenfeindlichkeit Bahn bricht, sein Nationalismus das Weihnachtsfest<br />
von Latino-Klängen bedroht sieht – dann hat das alles jenseits des<br />
szenischen Witzes Aussagewert über die rumänische Gesellschaft. In dieser<br />
wird seit dem Umsturz darüber diskutiert, um was es sich bei der "revoluţia"<br />
genau gehandelt habe. Meist wird von einer Kombination aus spontaner<br />
Volkserhebung <strong>und</strong> geplantem Staatsstreich gesprochen; eine ausländische<br />
Beteiligung wird als drittes Element ebenfalls ins Spiel gebracht.<br />
Kaum ein osteuropäisches Land hat sich in den letzten Jahren – mit<br />
bedingt durch die Öffnung des Securitate-Archivs – auf so ernsthafte <strong>und</strong><br />
zugleich originelle Weise wie Rumänien im Kino mit der eigenen Geschichte<br />
konfrontiert; als Beispiele seien Catalin Mitulescus Film "Wie ich das Ende<br />
der Welt erlebte (Cum mi-am petrecut sfarsitul lumii") <strong>und</strong> Radu Munteanus<br />
"Hartia va fi albastra (Das Papier wird blau sein") genannt. Porumboius<br />
Filmsatire ist ein weiteres gelungenes Beispiel da<strong>für</strong>. Sie sei jedem nicht<br />
zuletzt <strong>für</strong> eine Hinterfragung seines Geschichtsverständnisses <strong>und</strong> der<br />
Winkelzüge seiner Erinnerung empfohlen. Bei den Filmfestspielen von<br />
Cannes 2006 erhielt "12:08 östlich von Bukarest" die Caméra d'Or <strong>für</strong> den<br />
besten Erstlingsfilm.<br />
Kristina Werndl (kristina.werndl@gmail.com) ist Redakteurin des Aurora-<strong>Magazin</strong>s.<br />
- 34 -
Das Johannis-Prinzip<br />
...Wie der Deutsche Klaus Johannis das rumänische Hermannstadt rettet<br />
Schulen mit funktionierenden Heizungen. Beamte, die nicht brüllen <strong>und</strong> fast so<br />
etwas wie Kompetenz vermuten lassen. Ges<strong>und</strong>e Stadtfinanzen <strong>und</strong> eine<br />
Arbeitslosenrate, die gegen null tendiert: Hermannstadts Renaissance ist mit Händen<br />
zu greifen. Es herrscht eine Atmosphäre des Aufbruchs.<br />
Von Boris Kalnoky<br />
(01. 01. 2007)<br />
Gemächlich windet sich der Zug durch die grünen Hügel<br />
Siebenbürgens. Wer auf Schienen nach Hermannstadt will, der muss sich<br />
von der Haupttrasse <strong>und</strong> von Expresszügen verabschieden, um im<br />
Bummeltempo durch malerische Natur in eine andere Welt zu gelangen –<br />
eine Welt, die zu verschwinden drohte.<br />
Die historische Metropole der Siebenbürger Sachsen – von den meisten<br />
dieser Rumäniendeutschen nach der Wende verlassen <strong>und</strong> von der<br />
Regierung vernachlässigt – war klinisch tot. Baufällig, bankrott,<br />
buchstäblich im Zerfall. Binnen weniger Jahre hat sie sich jedoch wie Phönix<br />
aus der Asche erhoben. So eindrucksvoll, dass Hermannstadt 2007 die<br />
<strong>Kultur</strong>hauptstadt Europas sein darf – zusammen mit Luxemburg. Ein<br />
wahres W<strong>und</strong>er, <strong>und</strong> doch nur das Werk eines Mannes.<br />
Der heißt Klaus Johannis, ist Physiklehrer <strong>und</strong> seit vier Jahren<br />
Bürgermeister <strong>und</strong> tut eigentlich nur ganz einfache, vernünftige Dinge. Das<br />
W<strong>und</strong>er besteht eher darin, dass ausgerechnet er Bürgermeister in<br />
Rumänien werden konnte. Kaum vier Prozent der Bevölkerung sind noch<br />
deutsch, der Rest, bis auf einige Prozent Ungarn, sind Rumänen. Dennoch<br />
war es der Deutsche Johannis, der bei den Kommunalwahlen im Jahre 2000<br />
siegte, noch dazu deutlich. "Die erste Wahl 2000, das war eine typische<br />
Protestwahl", erinnert sich Johannis. "Die Leute hatten nach der Wende alle<br />
anderen Parteien ausprobiert, waren jedes Mal enttäuscht <strong>und</strong> stimmten<br />
nun eben <strong>für</strong> den Außenseiter."<br />
Bei der letzten Wahl Anfang Juni konnte jedoch von Protestwahl keine<br />
Rede mehr sein. Da stimmten 90 Prozent der Hermannstädter <strong>für</strong> den<br />
Deutschen, weil er ihre Heimatstadt wieder lebenswert gemacht hat.<br />
Johannis erscheint vielen wie ein Schutzengel in letzter Not, der gottgesandt<br />
vom Himmel fiel. Das jüngste Wahlergebnis, sagt Johannis, "war <strong>für</strong> die<br />
anderen Parteien ein echter Schock. 90 Prozent, das gibt es bei<br />
demokratischen Wahlen eigentlich gar nicht."<br />
Was ist es, das man tun muss, um in Rumänien solche Begeisterung zu<br />
entfachen? "Ganz einfache Sachen", sagt Johannis. Schulen mit<br />
- 35 -
funktionierenden Heizungen. Beamte, die nicht brüllen <strong>und</strong> fast so etwas wie<br />
Kompetenz vermuten lassen. Wenn ihnen der Herr Bürgermeister einfach<br />
bloß auf die Finger schaut, dann verdreifacht sich sogar unversehens der<br />
Finanzhaushalt. Vor allem aber zählt die Liebe dieses Mannes zu seiner<br />
Heimatstadt. Ihn habe deren Verfall derart erschüttert; da habe er<br />
kandidiert: "Ich wollte, dass ich selbst <strong>und</strong> alle Hermannstädter wieder<br />
sagen können, wie schön es ist, hier zu leben."<br />
Drei Beispiele nennt er <strong>für</strong> den Johannis-Stil. Das erste betrifft die<br />
Verwaltung. Vor vier Jahren musste der Bürger, wenn er etwas wollte, bei<br />
einer von zahllosen Dienststellen einen Antrag einreichen, wurde dann von<br />
Amtsstube zu Amtsstube gejagt <strong>und</strong> musste endlich, wenn alles erduldet<br />
<strong>und</strong> erlitten war, Ewigkeiten auf eine Antwort warten. Jetzt gibt es nur noch<br />
eine Anlaufstelle, das Bürgerzentrum. "Dort warten fünf Kollegen mit<br />
Computern. Was immer man will, ob Information, Beschwerde,<br />
Steuererklärung, Baugenehmigung - im Bürgerzentrum bekommt man den<br />
nötigen Rat, das passende Formular, kann jeden Antrag einreichen. Und<br />
egal, worum es geht, nach zwei bis drei Wochen ist die Antwort da." Das ist<br />
nicht nur <strong>für</strong> Rumänien unerhört, so manche b<strong>und</strong>esdeutsche Behörde<br />
könnte einen Johannis gebrauchen.<br />
Das zweite Beispiel betrifft die Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Immobiliensteuer. Daraus<br />
finanziert sich die Stadt, <strong>und</strong> bislang musste der Bürger bei der Behörde<br />
Schlange stehen, um einzuzahlen. "Bis zu zehn St<strong>und</strong>en", sagt Johannis.<br />
Das hat er abgeschafft. Nun kann bei jedem Postamt eingezahlt werden.<br />
Das dritte Beispiel: nette Beamte. Unerhört in weiten Teilen Rumäniens,<br />
aber Hermannstadts Beamte sind fre<strong>und</strong>lich, hilfsbereit <strong>und</strong> bemühen sich<br />
um Kompetenz. Die meisten Bürger hätten das nie <strong>für</strong> möglich gehalten. Wie<br />
hat er es geschafft? "Ich habe ein paar Exempel statuiert. Vor allem im<br />
Führungsstab. Das sickert dann rasch nach unten durch, wenn die Chefs<br />
wissen, dass ein neuer Stil gefragt ist."<br />
Hermannstadts Renaissance ist allenthalben mit Händen zu greifen. Es<br />
herrscht eine Atmosphäre des Aufbruchs, überall wird an den Gebäuden der<br />
mittelalterlichen Altstadt renoviert, die einst einsturzgefährdete oder bereits<br />
eingestürzte Stadtmauer wird erneuert. All das kostet Geld, Rumänien ist<br />
ein armes Land, <strong>und</strong> Hermannstadt in dieser Hinsicht durchaus eine<br />
rumänische Stadt. Aber Johannis hat Geld aus dem Nichts gezaubert. "Es<br />
ist eigentlich nur eine Frage der Finanzdisziplin", sagt er bescheiden auf die<br />
Frage, wie er denn den Haushalt innerhalb von vier Jahren verfünffacht hat.<br />
Und unterstreicht, dass minus Inflation höchstens von einer Verdreifachung<br />
die Rede sein könne – auf gegenwärtig 40 Millionen Euro.<br />
Wie aber hat Johannis bei seinen Beamten Finanzdisziplin durchgesetzt?<br />
Seine Antwort klingt wie eine höfliche Umschreibung <strong>für</strong> das Zunähen<br />
löchriger Beamtentaschen. "Ich bin halt persönlich jeden Tag überall<br />
gewesen <strong>und</strong> habe mir die Dinge angesehen." Solcherlei spricht sich herum,<br />
<strong>und</strong> dies mag erklären, wieso Hermannstadt inzwischen bei Investoren so<br />
- 36 -
einen guten Ruf hat. In den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit ist er durch<br />
Deutschland gereist <strong>und</strong> hat viel geredet, um Investoren zu gewinnen. "Das<br />
hat überhaupt nichts gebracht." Also blieb er fortan daheim <strong>und</strong> kümmerte<br />
sich um investitionsfre<strong>und</strong>liche Rahmenbedingungen. Die Stadt erschloss<br />
Brachland <strong>für</strong> ein fünftes Industriegebiet <strong>und</strong> berechnete Investoren nur die<br />
Selbstkosten. Bot eine funktionierende, transparente Verwaltung – in<br />
Rumänien ein geschätzter Vorteil.<br />
Die wichtigste Rahmenbedingung ist allerdings Johannis selbst.<br />
Inbegriff ernsten Understatements <strong>und</strong> siebenbürgisch-sächsischer<br />
Unaufdringlichkeit, würde er selbst das natürlich nie so sagen. Er sagt<br />
vielmehr: "Die Investoren schätzen, dass ihr Ansprechpartner die Stadt ist."<br />
Und nicht etwa der rumänische Staat. Die Stadt als Partner schätzen<br />
Investoren freilich deswegen, weil sie in der Person von Johannis auftritt.<br />
Und so blüht der Arbeitsmarkt auf. Arbeitsplätze werden geschaffen, bis<br />
nächstes Jahr 3000, bis 2006 bis zu 6000. In Hermannstadt herrscht jetzt<br />
bereits mehr oder minder Vollbeschäftigung (vor vier Jahren gab es noch 20<br />
Prozent Arbeitslose) – die Stadt wird zum Magneten <strong>für</strong>s Umland. Das wird<br />
die Einwohnerzahl anschwellen lassen, <strong>und</strong> das wiederum könnte eigene<br />
Probleme schaffen. Aber, sagt Johannis, "solche Probleme, die durch einen<br />
Überfluss an Chancen entstehen, löse ich gern."<br />
Bleibt die Frage, wie Hermannstadt zur <strong>Kultur</strong>hauptstadt 2007 erkoren<br />
wurde. Bei diesem Thema löst sich der ernste Siebenbürger <strong>und</strong> beginnt, von<br />
der Geschichte der Deutschen hier zu erzählen. Viele der ersten Zuwanderer<br />
vor 800 Jahren kamen offenbar aus dem Raum des heutigen Luxemburg.<br />
Das ist die Basis einer heute sehr engen Beziehung zwischen dem<br />
Großherzogtum <strong>und</strong> Hermannstadt. Der reiche Kleinstaat unterhält ein<br />
eigenes Konsulat in der kulturell reichen Kleinstadt. Als dann Luxemburg –<br />
erneut – <strong>Kultur</strong>hauptstadt werden sollte, schlug man dort vor, sich diese<br />
Würde mit Hermannstadt zu teilen. Allerdings wäre es vermutlich kaum<br />
dazu gekommen, hätte Johannis die Stadt nicht bereits wettbewerbstauglich<br />
gemacht.<br />
Hermannstadt ist dabei, zu einer echten Erfolgsgeschichte zu werden. Es<br />
ist erstaunlich, wie viel ein einziger Mann manchmal bewegen kann. Wenn<br />
er kann. Und wenn man ihn lässt.<br />
Dieser Artikel wurde uns fre<strong>und</strong>licherweise von www.welt.de zur Verfügung gestellt.<br />
Boris Kalnoky (Bild: Morgenpost). Der 1961 geborene Journalist studierte Politik <strong>und</strong> Geschichte in<br />
Hamburg <strong>und</strong> ist als Südosteuropa-Korrespondent (derzeit in Istanbul) <strong>für</strong> die WELT <strong>und</strong> die Berliner<br />
Morgenpost tätig.<br />
- 37 -
Kopf, Herz <strong>und</strong> Rückgrat<br />
......<br />
Die Tagebücher des rumänischen Schriftstellers Mihail Sebastian<br />
Von Catalin Dorian Florescu<br />
(01. 01. 2007)<br />
So wie es nicht einerlei war, ob man in Ost- oder Westeuropa lebte, war es<br />
auch nicht egal, wo man starb. Als Künstler erst recht nicht. Nicht einmal der Tod<br />
macht uns gleich. Nachdem zuerst die Nazis vorgeführt hatten, wie wenig der<br />
Mensch sich auf das Gute in ihm verlassen kann, erledigten im Osten die<br />
Kommunisten das Übrige. So viele Denunzianten, Kollaborateure, Täter, dazu die<br />
Wendehälse <strong>und</strong> die schweigende Mehrheit.<br />
Während Anne Franks erstmals 1947 publizierte Tagebücher im "freien" Westen<br />
weltberühmt wurden, musste ein reiferes <strong>und</strong> ebenso dramatisches Zeugnis der<br />
Barbarei bis in die Neunzigerjahre warten, um entdeckt zu werden. Dann aber<br />
schlugen Mihail Sebastians Tagebücher aus den Jahren 1935 bis 1944 in Rumänien<br />
ein <strong>und</strong> wurden bald auch in Frankreich <strong>und</strong> Amerika gelesen. Das muss erwähnt<br />
werden, sind rumänische Künstler im Ausland doch meist unbekannt. Zu oft weiß<br />
man nur über Kriminelle, Armut <strong>und</strong> Dracula Bescheid. Sebastian wurde die<br />
Bekanntheit 50 Jahre nach seinem mysteriösen Unfalltod in dem von den Russen<br />
besetzten Bukarest vergönnt. Er hatte gerade die perfideste Zeit überlebt, in der<br />
weite Teile der rumänischen Gesellschaft offen antisemitisch wurden <strong>und</strong> der<br />
"Eisernen Garde" huldigten – der rumänischen, mystisch angehauchten Variante<br />
deutscher Schlächterkunst.<br />
Das fällt mir schwer zu sagen, denn mein Herz schlägt durch meine Geburt <strong>und</strong><br />
Kindheit <strong>für</strong> dieses Land. Ich entdeckte durch Sebastian – so sehr man bei<br />
Tagebüchern achten muss, nicht in den Sog des Weltgefühls des Autors zu<br />
geraten – die verborgenste Seite meiner ersten Heimat: die Täterseite. In der<br />
Schule wurde mir nur der glorreiche Kampf der Kommunisten beigebracht. Auf<br />
die rechte Gehirnwäsche folgte die linke.<br />
Mihail Sebastian ist ein bekannter Autor, als er Tagebuch zu schreiben<br />
beginnt. Er kennt sie alle, die Reichen <strong>und</strong> die Künstler, er verkehrt in den besten<br />
Kreisen. Man weiß um seine jüdische Abstammung. Er weiß, wie sehr er als<br />
Vorzeigejude dient. Sebastians Luzidität, seine Fähigkeit, sich nichts<br />
vorzumachen, sind bemerkenswert. Es gibt im Vorkriegsrumänien eine<br />
Stimmung, welche eine gewisse deutsche Überlegenheit <strong>und</strong> antijüdische<br />
Ressentiments gutheißt. Journalisten <strong>und</strong> Schriftsteller werden zu geistigen<br />
Brandstiftern.<br />
Wie sanft geht der feine Beobachter Sebastian mit denen um, die nicht nur den<br />
Kopf, sondern auch das Herz <strong>und</strong> das Rückgrat verlieren. Wir tauchen mit ihm ein<br />
in jene Atmosphäre, die uns zeigt, wie wenig es braucht, bis die dünne<br />
Zivilisationsschicht zerbröckelt. Für ihn hingegen bedeutet diese Entwicklung<br />
- 38 -
den Verlust seiner engsten Fre<strong>und</strong>e. Einer davon ist der Religionswissenschaftler<br />
Mircea Eliade. Mit unendlicher Geduld <strong>und</strong> Traurigkeit beobachtet Sebastian<br />
seine eigene Vereinsamung. Immer in Sorge um die Fre<strong>und</strong>schaft mit Eliade, hält<br />
er ihn höchstens <strong>für</strong> naiv <strong>und</strong> verblendet. Er hat fast schmerzhaft Anstand. Eliade<br />
hingegen begibt sich bedrohlich nah zum Schreibtischtätertum, als er seine<br />
dummen Visionen vom großen, von Verjudung bedrohten rumänischen Volk<br />
veröffentlicht.<br />
Man kann diese Tagebücher wie ein Zeitdokument lesen, man wird viel<br />
Stimmungsvolles über eine untergegangene Welt erfahren, mit den<br />
Theaterbesuchen, den Kaffeehäusern, den Liebesaffären. Sebastian ist Teil davon,<br />
aber sein wesentliches Lebensgefühl ist jenes eines Versagers. Diese Thematik<br />
wiederholt sich bis zum Überdruss: "Wenn ich nur ein Haus, eine Frau, eine<br />
gesicherte Existenz hätte", so ähnlich klingt es an vielen Stellen. Er ist wie viele<br />
Künstler von Selbstzweifeln geplagt <strong>und</strong> niemals seiner selbst <strong>und</strong> seiner<br />
Fähigkeiten sicher.<br />
Nach 200 Seiten wird der Text atemberaubend dicht <strong>und</strong> von großer<br />
erzählerischer Qualität. Wir erleben den Ausbruch des Krieges, die fiebrige<br />
Beschäftigung der ganzen Stadt mit Gerüchten über dessen Verlauf, wir erfahren,<br />
wie die antijüdischen Gesetze das Leben erschweren, es gibt Pogrome <strong>und</strong><br />
Deportationen. Bukarest wird von den Alliierten zerbombt, Rauch steigt aus den<br />
Trümmern, Feuer lodert in den Vierteln.<br />
Mittendrin steht ein Mensch, verarmt, gealtert <strong>und</strong> müde, dessen Stücke<br />
niemand aufführen will. Einer aber, der den Kopf, das Herz <strong>und</strong> das Rückgrat<br />
nicht verliert. Das ist die größte Leistung dieses Autors. Er setzt dem Wahnsinn<br />
seine Person entgegen. Er hört klassische Musik sogar am deutschen Radio,<br />
notiert alles ganz genau, er liest Balzac <strong>und</strong> Shakespeare, wenn er abends<br />
erschöpft von der Zwangsarbeit nach Hause kommt. Er schreibt Theaterstücke<br />
<strong>und</strong> Romane. Das alles hat <strong>für</strong> ihn Sinn <strong>und</strong> Wert, während draußen die Hölle auf<br />
Erden herrscht.<br />
Mihail Sebastian befindet sich im Widerstand nicht dank der Waffen, sondern<br />
dank des Wortes. Er bleibt sich nah, lässt sich nicht entmenschlichen. Der Raum<br />
seiner Empfindungen <strong>und</strong> Erlebnisse ist der Raum, in dem die Welt gerettet wird.<br />
Als die Welt gerettet wurde, starb Sebastian, ohne sich darüber freuen zu können.<br />
Jetzt wird er auch <strong>für</strong> deutschsprachige Leser entdeckt. Einer aber hätte noch<br />
größeren Gr<strong>und</strong> zur Freude. Francis Ford Coppola will eine Erzählung von Eliade<br />
verfilmen. Sebastian hätte das seinem Fre<strong>und</strong> bestimmt gegönnt.<br />
....PreDieser Artikel wurde uns fre<strong>und</strong>licherweise von www.diepresse.at<br />
zur Verfügung gestellt. Er erschien am 28. 01. 2006 in Spectrum.<br />
Catalin Dorian Florescu (www.florescu.ch). Geboren am 27. 8. 1967 in Timisoara, Rumänien. Im Sommer<br />
1982 Flucht mit den Eltern in den Westen. Seit August 1982 wohnhaft in Zürich. Mittlerweile Schweizer<br />
Bürger. Hochschulstudium der Psychologie <strong>und</strong> Psychopathologie an der Universität Zürich. Abschluss 1995.<br />
Von 1995 bis 2001 als Psychotherapeut in einem Rehabilitationszentrum <strong>für</strong> Drogenabhängige tätig. Fünfjährige<br />
Weiterbildung in Gestalttherapie. Seit Dezember 2001 freier Schriftsteller in Zürich.<br />
- 39 -
Zu Mircea Eliade –<br />
aus der Sicht eines Zaungasts<br />
Die Debatte um die Verstrickung der führenden Köpfe des Landes in den<br />
Nationalsozialismus kam in Rumänien erst nach 1989 zustande: Die Säulenheiligen<br />
des nach der Wende tief verunsicherten Staates gerieten ins Schussfeld der Kritik im<br />
In-<strong>und</strong> Ausland, darunter auch Mircea Eliade. Er starb 1986, ohne sich je öffentlich<br />
mit den Schattenseiten seiner Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben. Am<br />
Beispiel Eliades lassen sich heute die Zusammenhänge zwischen bestimmten<br />
Formen von Religiosität <strong>und</strong> politischem Extremismus studieren.<br />
..<br />
Von Herwig Gottwald<br />
(01. 01. 2007)<br />
Seit geraumer Zeit hat die Erforschung der dunklen Seiten der europäischen<br />
Nationen, ihrer unterschiedlichen Verstrickungen in den Faschismus bzw.<br />
Nationalsozialismus auch Rumänien erreicht <strong>und</strong> nicht zuletzt die Verbindungen<br />
zahlreicher Intellektueller zum faschistischen Regime bloßgelegt. Während in<br />
manchen europäischen Ländern dieser Prozess der 'Vergangenheitsbewältigung'<br />
bereits vor der 'Wende' einsetzte, etwa in Österreich nach der Wahl Kurt<br />
Waldheims zum B<strong>und</strong>espräsidenten (in der BRD als einzigem 'Nachfolgestaat' NS-<br />
Deutschlands wesentlich früher, mit deutlichen Schüben anlässlich des Eichmann-<br />
<strong>und</strong> des Auschwitz-Prozesses Anfang der 1960er Jahre), kam es in anderen erst<br />
nach 1989 zu diesem meist schmerzhaften, <strong>für</strong> viele aber befreienden Aufarbeiten<br />
der Schattenseiten ihrer jüngeren Geschichte. In Staaten wie Frankreich<br />
(Kollaboration unter dem Vichy-Regime), Polen (Pogrome gegen Reste der<br />
jüdischen Bevölkerung nach 1945), Schweiz (indirekte Verstrickung einzelner<br />
Banken <strong>und</strong> Politiker in den Holocaust), die bisher erfolgreich entweder als Opfer<br />
oder als unbeteiligt auftreten konnten, setzte diese Auseinandersetzung ebenso<br />
ein wie in jenen Ländern, deren damalige Regierungen direkte Verbündete<br />
Hitler-Deutschlands waren: Italien, Ungarn, die Slowakei, Kroatien, Bulgarien <strong>und</strong><br />
eben Rumänien. Eine Sonderstellung nahm in den neunziger Jahren die<br />
ehemalige DDR ein, deren kommunistische Regierungen lange jeden Verdacht<br />
auf Mittäterschaft von vornherein abgewehrt hatten. Die DDR galt als<br />
sozialistisches Land ohne jede nationalsozialistische Kontinuität; der Lyriker Kurt<br />
Drawert spricht in seinem Monolog Spiegelland (1992) von der "braunen<br />
Unterwäsche", "auf der die rote Kleidung getragen wurde"(1), <strong>und</strong> charakterisiert<br />
damit einen von oben gesteuerten Verdrängungs- <strong>und</strong> Verleugnungsprozess, der<br />
in unterschiedlichem Ausmaß <strong>und</strong> in verschiedenen Ausformungen auch den<br />
Umgang anderer Gesellschaften mit der Gewaltvergangenheit der Jahrzehnte bis<br />
1945 bzw. darüber hinaus prägte. In den baltischen Ländern etwa ist der<br />
Aufarbeitungs- <strong>und</strong> Bewältigungsprozess erst kurz vor bzw. nach dem EU-Beitritt<br />
allmählich in Gang gekommen, in anderen lässt er weiterhin auf sich warten.<br />
In besonderem Maße waren die Intellektuellen, Künstler, Philosophen von diesen<br />
gesamtgesellschaftlichen Vorgängen betroffen. Der "Verrat der Intellektuellen"<br />
(wie Julien Benda die Anfälligkeit großer Teile dieser gesellschaftlichen Gruppen<br />
- 40 -
gegenüber politischem Extremismus bezeichnete)(2) hatte in zahlreichen<br />
europäischen Ländern verheerende Wirkungen, die in manchen erst allmählich<br />
zutage traten: Während der norwegische Nobelpreisträger Knut Hamsun bereits<br />
unmittelbar nach Kriegsende öffentlich zur Verantwortung gezogen, vor Gericht<br />
gestellt, mit einer hohen, ihn wirtschaftlich ruinierenden Geldstrafe belegt wurde<br />
(erst in jüngster Zeit kam es zu einer langsamen Rehabilitierung in seinem<br />
Heimatland)(3), während auch der französische Romancier <strong>und</strong> Kollaborateur<br />
Louis-Ferdinand Céline erst nach Jahren in seine Heimat zurückkehren konnte,<br />
gelang es anderen politisch belasteten Intellektuellen, sich einer Konfrontation<br />
mit ihrer Vergangenheit weitgehend zu entziehen: Martin Heidegger ist der<br />
prominenteste deutsche Philosoph mit eindeutig nationalsozialistischer<br />
Vergangenheit, dem sein politisches Engagement 1933 nicht geschadet hat, der<br />
im Gegenteil nach 1945 einen zweiten Aufstieg erlebte <strong>und</strong> dessen Werk bis<br />
heute, im Zeichen der Postmoderne, nahezu ungebrochen positiv rezipiert wird<br />
(etwa in germanistischen Lehrbüchern ebenso zur Gr<strong>und</strong>lektüre empfohlen wird<br />
wie in einschlägigen kulturwissenschaftlichen Handbüchern). Ein extremes<br />
Beispiel ist der Fall Paul de Man. Der belgische Literaturtheoretiker, längst zur<br />
Ikone der internationalen Postmoderne avanciert <strong>und</strong> als Kanonautor des<br />
Poststrukturalismus in die Lehrbücher <strong>für</strong> die akademische Jugend eingegangen,<br />
war während des Zweiten Weltkrieges Mitarbeiter der belgischen<br />
Kollaborationszeitung "Le Soir" <strong>und</strong> schrieb in den Jahren 1940 bis 1941 mehrere<br />
antisemitische Artikel, in denen er sich u.a. "<strong>für</strong> eine von Europa isolierte jüdische<br />
Kolonie" aussprach (4), was nach seiner 'Emigration' in die USA (nach 1945!) bis<br />
nach seinem Tod vertuscht wurde, seiner Beliebtheit in den postmodernen<br />
Literaturtheorien aber keinen Abbruch tat.(5) Weitere Fälle sind Julius Evola <strong>für</strong><br />
Italien, Enrico Marco <strong>für</strong> Spanien <strong>und</strong> eben Cioran <strong>und</strong> Eliade <strong>für</strong> Rumänien.<br />
Natürlich sind nicht alle auf der gleichen Ebene angesiedelt <strong>und</strong> müssen daher<br />
entsprechend differenziert behandelt werden.<br />
Die Debatte um die Verstrickung der führenden Köpfe des Landes in dessen<br />
unheilvollste historische Epoche kam in Rumänien erst nach 1989 zustande: Die<br />
Säulenheiligen des nach der Wende tief verunsicherten Staates, vom neuen<br />
Präsidenten Nastase als "kultureller Mehrwert" bezeichnet (6), gerieten nunmehr<br />
ins Schussfeld der öffentlichen Kritik im In- <strong>und</strong> Ausland. Man konnte etwa dem<br />
bis heute mit guten Gründen weltweit gelesenen <strong>und</strong> auch bew<strong>und</strong>erten<br />
philosophischen Essayisten <strong>und</strong> Dichter E.M. Cioran seine Bew<strong>und</strong>erung <strong>für</strong><br />
Hitler <strong>und</strong> den rumänischen Faschistenführer Codreanu ebenso nachweisen wie<br />
seinen Antisemitismus <strong>und</strong> seine Ablehnung der Demokratie.(7) Im Fall Eliade<br />
waren die Dinge ähnlich kompliziert:(8) Als führender Intellektueller der<br />
rechtsgerichteten "Jungen Generation" nähert er sich Ende der dreißiger Jahre<br />
der faschistischen "Eisernen Garde", gerät als junger Assistent unter den Einfluss<br />
des dieser nahestehenden Philosophen Nae Ionescu(9) <strong>und</strong> wird schließlich<br />
<strong>Kultur</strong>attaché an der rumänischen Botschaft in London. Nach dem Kriegseintritt<br />
Rumäniens arbeitet er als Diplomat in Lissabon, wo er die Salazar-Diktatur als<br />
Bollwerk gegen die "anglo-bolschewistische Allianz" feiert.(10) Er bleibt bis 1945<br />
Sympathisant Hitler-Deutschlands <strong>und</strong> ist von dessen Niederlage politisch schwer<br />
enttäuscht. Er verliert alle politischen Funktionen <strong>und</strong> emigriert nach Paris, da<br />
ihm eine Rückkehr nach Rumänien versagt bleibt, wendet sich von der Politik ab<br />
<strong>und</strong> seinen religionswissenschaftlichen Studien zu, die ihm schließlich einen<br />
Lehrstuhl <strong>für</strong> Religionsgeschichte an der Universität Chicago einbringen. In den<br />
- 41 -
folgenden Jahren erscheinen seine bedeutendsten wissenschaftlichen <strong>und</strong><br />
literarischen Texte, die ihn weltweit bekannt machen <strong>und</strong> an denen bis heute<br />
niemand vorbeikommt, der sich mit den Themen Religionsgeschichte oder<br />
Mythos bzw. Mythologie befasst. Eliade stirbt 1986, ohne sich öffentlich mit den<br />
Schattenseiten seiner Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben (im<br />
Unterschied etwa zu Knut Hamsun, vergleichbar aber mit Heidegger). Inzwischen<br />
sind weitere Quellen aus der Zeit vor 1945 bekannt geworden, die Eliades<br />
Verstrickung in den rumänischen Faschismus deutlich machen: Der rumänische<br />
Holocaust-Überlebende Norman Manea stellte 1992 die Schattenseiten des<br />
berühmten Schriftstellers anhand von dessen profaschistischen Artikeln einem<br />
breiteren Publikum vor, diese selbst wurden neuerlich publiziert,(11) <strong>und</strong> 1997<br />
erschienen die Tagebücher des jüdisch-rumänischen Fre<strong>und</strong>es Eliades Mihail<br />
Sebastian, in denen die Verstrickungen Ciorans, Eliades u.a., der um sich<br />
greifende Antisemitismus aus erster Hand dokumentiert waren. Sebastian konnte<br />
"die Verwandlung seiner Fre<strong>und</strong>e, die Brutalisierung ihrer ideologischen<br />
Physiognomie beobachten. Ihre 'Rhinozerisierung', wie Eugène Ionesco, ein<br />
weiterer Zeitzeuge, der sich allerdings nach Paris retten konnte, es später<br />
formulieren sollte."(12)<br />
Diese noch keineswegs beendete Debatte um Eliade <strong>und</strong> Cioran, die u.a. im<br />
Bukarester Goethe-Institut wissenschaftlich weitergeführt wurde,(13) berührt<br />
neben dem politischen bzw. gesellschaftspolitischen Bereich auch den der<br />
Religionswissenschaft bzw. Mythosforschung: Es geht um den Zusammenhang<br />
zwischen dem religionsgeschichtlichen Schwerpunkt Eliades, seinen<br />
religionswissenschaftlichen Thesen <strong>und</strong> seiner politischen Vergangenheit, damit<br />
aber letztlich um die "Frage nach dem Zusammenhang von Religion <strong>und</strong><br />
Faschismus",(14) die Stiehler wie folgt zuspitzt:<br />
"Die Verbindung von Ethnokratie <strong>und</strong> Orthodoxie, von 'Rumänität' […] <strong>und</strong> Spiritualität,<br />
kurz: von 'völkischem' Terror im Namen Gottes, stellt die spezifisch rumänische Variante<br />
des europäischen Faschismus dar. Hier liegt der Kern von Eliades<br />
religionsgeschichtlichem Interesse. Hier wurzelt seine Unterscheidung eines 'kosmischen'<br />
(primitiv-agrarischen) Christentums von einem 'jüdisch-historischen', seine von Nae<br />
Ionescu übernommene Identifizierung des Organischen mit dem Orthodoxen, die Affinität<br />
zur 'Rassenlehre' wie die Mystifikation der auf Seiten Francos im Spanischen Bürgerkrieg<br />
gefallenen rumänischen Nationalisten oder der auf Seiten Hitlers im 'Heiligen Krieg'<br />
gegen die Sowjetunion."(15)<br />
Diese pronociert formulierte These begründet Stiehler in seinem wichtigen, aber<br />
knappen Artikel nicht, sie enthält aber genug Sprengstoff, um nicht einfach<br />
übergangen werden zu können. Auch in den Diskussionen des Bukarester<br />
Goethe-Instituts spielten "religiöse Einflüsse auf die politische Implementierung<br />
faschistischer Ideen" eine zentrale Rolle:<br />
"Was <strong>für</strong> den Nationalismus im Allgemeinen gilt, gilt noch mehr <strong>für</strong> den faschistischen<br />
Hypernationalismus: er bedarf der Rückversicherung bei den übernatürlichen Mächten<br />
des Schicksals <strong>und</strong> der Vorsehung, also einer neuen Politik aus dem Glauben."(16)<br />
Ohne diese vertrackte Verbindung zwischen Eliades Religionstheorien <strong>und</strong><br />
seinem politischen Engagement in Abrede stellen zu wollen, wäre es dennoch<br />
unangemessen, das wissenschaftliche Werk des bedeutenden Forschers vor<br />
- 42 -
allem darauf zu reduzieren. Eliades Hauptwerke sind in mehrfacher Hinsicht bis<br />
heute in der Religionswissenschaft <strong>und</strong> in der Mythosforschung nicht zu<br />
übergehen. Neben seiner mehrbändigen "Geschichte der religiösen Ideen",(17)<br />
einem weiterhin maßgeblichen Nachschlagewerk <strong>für</strong> die einschlägige Forschung<br />
bzw. deren Nachbardisziplinen, aber auch <strong>für</strong> interessierte Laien, sind vor allem<br />
seine bahnbrechenden Arbeiten zur Mythosforschung zu nennen: "Kosmos <strong>und</strong><br />
Geschichte", "Mythos <strong>und</strong> Wirklichkeit", "Das Heilige <strong>und</strong> das Profane", "Die<br />
Religionen <strong>und</strong> das Heilige",(18) aber auch "Schamanismus <strong>und</strong> archaische<br />
Ekstasetechnik"(19) oder "Mythen, Träume <strong>und</strong> Mysterien".(20) Diese Bücher sind<br />
eine F<strong>und</strong>grube <strong>für</strong> alle, die sich <strong>für</strong> vormoderne Gesellschaften, deren<br />
Glaubens- <strong>und</strong> Lebensformen, <strong>für</strong> Mythen europäischer <strong>und</strong> außereuropäischer<br />
Völker interessieren oder sogar darüber arbeiten. Im Bereich der<br />
Mythosforschung sind sie schlechterdings unverzichtbar, vor allem dort, wo sie<br />
über Ernst Cassirers epochale Rekonstruktion des mythischen Denkens in dessen<br />
Entwicklungsgeschichte(21) hinausgreifen <strong>und</strong> auch Quellen bzw.<br />
Forschungsergebnisse berücksichtigen, die Cassirer nicht kennen konnte.<br />
Gr<strong>und</strong>legend bis heute sind etwa seine Beschreibungen <strong>und</strong> Interpretationen<br />
mythischer Raum- <strong>und</strong> Zeitvorstellungen, mythischer Geschichtsauffassungen,<br />
damit des gesamten mentalen Gefüges vormoderner Gesellschaften. Ebenso<br />
wichtig sind seine Interpretationen einzelner Mythen-Systeme <strong>und</strong> Rituale in<br />
deren institutionellen Verankerungen <strong>und</strong> mentalen Gr<strong>und</strong>lagen.<br />
Dass Eliade dabei selbst des Öfteren eigene religiöse Auffassungen in die<br />
Interpretation einfließen lässt, ist nicht nur methodisch problematisch, sondern<br />
auch unter den oben angesprochenen Aspekten bedeutsam. Seine religiösen<br />
Bekenntnisse etwa im Schlussteil von "Kosmos <strong>und</strong> Geschichte" (1949, deutsche<br />
Übersetzung 1952) sind auffallend <strong>und</strong> werfen im Lichte der neueren Erkenntnisse<br />
über seine politische Vergangenheit neue Fragen auf. Man könnte diese<br />
Passagen auch als Belege <strong>für</strong> Stiehlers Thesen heranzuziehen versuchen.<br />
Damit ist aber ein Bereich berührt, der über den individuellen Fall Mircea<br />
Eliade hinausweist <strong>und</strong> die Notwendigkeit anzeigt, "eine vergleichende<br />
Geschichte der Intellektuellen diesseits <strong>und</strong> jenseits des ehemaligen eisernen<br />
Vorhangs"(22) in Angriff zu nehmen, wobei zweifellos die kryptischen<br />
Zusammenhänge zwischen bestimmten Formen von Religiosität <strong>und</strong> politischem<br />
Extremismus besondere Aufmerksamkeit erfahren müssten. Autoren wie Julius<br />
Evola(23) oder Vertreter der sogenannten 'Konservativen Revolution' wie Ernst<br />
Jünger sowie deren Vorläufer (von Spengler bis Klages bzw. in Italien von<br />
Marinetti bis d’Annunzio) müssten dabei berücksichtigt werden, gerade auch<br />
unter den Aspekten jener meist gegenaufklärerischen Formen von (Neo-<br />
)Religiosität, die manchmal stärker (Eliade, Evola), manchmal schwächer zum<br />
Ausdruck kommt, ohne dass dabei alle genannten Schriftsteller <strong>und</strong> Forscher<br />
'unter einen Kamm geschoren' werden dürfen.<br />
...<br />
Anmerkungen:<br />
(1) Kurt Drawert: Spiegelland. Ein deutscher Monolog. Frankfurt a.M. 1992, S. 69.<br />
- 43 -
(2) Julien Benda: Der Verrat der Intellektuellen (1927). Neuauflage München / Wien<br />
(Hanser) 1978.<br />
(3) Vgl. dazu: Walter Baumgartner: Knut Hamsun. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997<br />
(=rowohlts monographien 543); sowie Robert Ferguson: Knut Hamsun : Leben gegen<br />
den Strom. Biografie. München 1990.<br />
(4) Vgl. dazu Brian Vickers: Nietzsche im Zerrspiegel de Mans: Rhetorik gegen die<br />
Rhetorik. In: Nietzsche oder "Die Sprache ist Rhetorik". München 1994, S. 219-240;<br />
Vickers bezieht sich nicht nur auf die Verstrickungen des berühmten Literaturtheoretikers<br />
der sog. "Dekonstruktion" in den Nationalsozialismus, sondern hebt auch dessen<br />
Verleugnungs- <strong>und</strong> Verdrängungsstrategien nach 1945 hervor <strong>und</strong> interpretiert diese als<br />
Signale <strong>für</strong> eine "Kontinuität zwischen de Mans Leben <strong>und</strong> seiner Literaturkritik: In<br />
beiden stellt er sich als jemand dar, der bereit ist, Ereignisse zu verdrehen oder 'Realität'<br />
wie auch Motive <strong>und</strong> Texte 'neu zu gestalten', wenn der Erfolg einer Strategie oder eines<br />
Argumentes davon abhängt, die Dinge in einem <strong>für</strong> ihn günstigen Licht zu zeigen." S.<br />
221; vgl. dazu den satirischen Schlüsselroman von Gilbert Adair: Der Tod des Autors.<br />
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002 (Neuauflage).<br />
(5) Dass ausgerechnet postmoderne Theoretiker sich auf Heidegger oder Paul de Man<br />
berufen (auch auf Nietzsche), dürfte kein Zufall sein <strong>und</strong> bedarf einer näheren Analyse;<br />
zu Heideggers NS-Verstrickung <strong>und</strong> deren Einfluss auf seine Philosophie vgl. Pierre<br />
Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers (1975). Frankfurt a.M. 1988; dazu<br />
auch kritisch Jean Améry: Werke, Band 6. Aufsätze zur Philosophie. Herausgegeben von<br />
Gerhard Scheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2004.<br />
(6) Vgl. Heinrich Stiehler: Gedanken zu Cioran, Eliade, Ionesco <strong>und</strong> dem Vergessen des<br />
Faschismus. In: Zwischenwelt. Literatur. Widerstand. Exil 19 (Febr. 2003), Nr. 4, S. 8-<br />
10.<br />
(7) Vgl. Alexandra Laignel-Lavastine: Cioran, Eliade, Ionescu: l’oubli du fascisme. Paris<br />
2002; zu Cioran: Patrice Bollon: Cioran. Der Ketzer (frz. Original 1997). Frankfurt a.M.<br />
2006. Bollon ist im Gegensatz zu Lavastine um eine stärkere Differenzierung <strong>und</strong><br />
Berücksichtigung historischer Kontexte bemüht; vgl. S. 20-24; die Diskussion ist noch<br />
mitten im Gange <strong>und</strong> wird von interessierten Cioran-Lesern bzw. Leserinnen mit<br />
Interesse verfolgt.<br />
(8) Die kürzlich erschienene Eliade-Biografie von Florin Turcanu, die eben ins Deutsche<br />
übersetzt wurde, konnte ich noch nicht einsehen: Mircea Eliade: Der Philosoph des<br />
Heiligen oder Im Gefängnis der Geschichte. Eine Biografie. Aus d. Franz. übers. von Silke<br />
Lührmann. Albersroda : Edition Antaios, 2006.<br />
(9) Vgl. Hannah Müller: Mircea Eliade <strong>und</strong> Nae Ionescu. Der Schüler <strong>und</strong> sein Meister. In:<br />
Zeitschrift <strong>für</strong> Religionswissenschaft 12 (2004), S. 79-98.<br />
(10) Zit. nach Stiehler, S. 9; Bezug auf Eliades vor kurzem in Spanien publiziertes<br />
Tagebuch aus seiner portugiesischen Zeit: Mircea Eliade: Diario Portugès. Barcelona<br />
2001.<br />
(11) Vgl. Edward Kanterian: Die Zeit der Rhinozerosse. Eliade, Cioran <strong>und</strong> Ionescu in der<br />
Faschismus-Diskussion. In: Neue Zürcher Zeitung, 11.11.2002, S. 21.<br />
(12) Richard Wagner: Das Zeitalter der Rhinozerosse. Ein überwältigendes Dokument –<br />
Mihail Sebastians rumänische Tagebücher 1935-1944. In: NZZ, 19.2.2005; zu Ionescos<br />
Rolle vgl. Stiehler, S. 9.<br />
- 44 -
(13) Vgl. den Bericht zu einer einschlägigen Tagung im November 2005 von Horst<br />
Junginger: Die Intellektuellen <strong>und</strong> der Faschismus in Mittel- <strong>und</strong> Südosteuropa.<br />
Geschichte <strong>und</strong> Erinnerung. Tagungsbericht vom 15.1.2006 (Internet:<br />
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/<br />
tagungsberichte/id=1030).<br />
(14) Ebd.<br />
(15) Stiehler, S. 9.<br />
(16) Junginger 2006.<br />
(17) In fünf Bänden bei Herder erschienen (Taschenbuchausgabe).<br />
(18) Alle im Insel-Verlag veröffentlicht.<br />
(19) Frankfurt a.M. 1999 (stw 126).<br />
(20) Otto Müller Verlag Salzburg 1961.<br />
(21) Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bd. II: Das mythische<br />
Denken (1924). Darmstadt 1994; vgl. dazu mein eben erschienenes Buch: Spuren des<br />
Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle <strong>und</strong> Fallstudien.<br />
Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, bes. S. 116ff; zu Eliade in<br />
mythostheoretischer Sicht S. 62f., 156ff., 328f.<br />
(22) Stiehler, S. 8.<br />
(23) Vor allem in seinem Hauptwerk "Revolte gegen die moderne Welt" (1935,<br />
wiederaufgelegt in dt. Übersetzung 1982, derzeit im Arun Verlag erhältlich).<br />
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Herwig Gottwald (herwig.gottwald@sbg.ac.at), geb. 1957 in Bad Ischl (Oö.),<br />
Matura 1976, danach Soldat des B<strong>und</strong>esheeres, Studium der Germanistik <strong>und</strong> Geschichte in Salzburg<br />
(Doktorat 1984), AHS-Lehrer von 1981 bis Okt. 1994, dann Assistent am Institut <strong>für</strong> Germanistik in<br />
Salzburg. Mitglied des Adalbert-Stifter-Instituts Linz, der Elias-Canetti-Gesellschaft Rousse <strong>und</strong> der<br />
Erika-Mitterer-Gesellschaft Wien.<br />
<strong>Wissen</strong>schaftliche Schwerpunkte<br />
Editionsphilologie (Mitarbeit an der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke Adalbert Stifters,<br />
Edition der dritten <strong>und</strong> vierten Fassung der "Mappe meines Urgroßvaters"). Mythos, Mythologie <strong>und</strong><br />
moderne Literatur; Gegenwartsliteratur.<br />
- 45 -
Richtige Antworten, falsche Fragen<br />
...<br />
Rumänien wird von einer Drift in die Rechtsradikalität bedroht, aber auch von der<br />
mafiosen Unterminierung. Wie gut diese beiden Entwicklungen miteinander<br />
konvergieren, nämlich die Sündenböcke benennende Ideologie der roßrumänischen<br />
Partei <strong>und</strong> die darob ungestört fortschreitende Verluderung, das zeigt sich<br />
allenthalben.<br />
Von Martin A. Hainz<br />
(01. 02. 2007)<br />
"Dass das Richtige nicht doch fehl am Platz ist"<br />
(Karl Rahner)<br />
Gegenwärtig wird in Rumänien etwas diskutiert, das offensichtlich ist:<br />
die Fragwürdigkeit der Revolution von 1989. Anstoß dieser nach den<br />
Ereignissen nur zögerlich diskutierten Frage ist ein Film Corneliu<br />
Porumboius. In den deutschsprachigen Kinos 12:08 östlich von Bukarest<br />
betitelt, fragt er in rumänischen Lichtspielhäusern noch deutlicher: A fost<br />
sau n-a fost? Also: Gab es eine oder gab es keine?<br />
Es ist naheliegend, welche Antwort der Film gibt. Und diese Antwort ist<br />
wohlbegründet zu geben, alles spricht <strong>für</strong> lokale Unruhen, die Putschisten<br />
zu einem exakt choreographierten Aufstand nutzten. Kaum anders waren die<br />
perfekten Fernsehdirektübertragungen aus einem maroden Land im Moment<br />
des Aufstandes zu erklären, auch war bezeichnend, welcher Stil hernach die<br />
Regierung prägte – <strong>und</strong> wer dieser angehörte. Damals wäre darum auch die<br />
nun endlich beim Volk angelangte Frage breit in Rumänien zu diskutieren<br />
gewesen; ehe das Staatskapital in abenteuerlicher Weise zum Privatkapital<br />
hoher Parteibonzen wurde, ehe die junge Demokratie so mit dem mafiosen<br />
Gebaren der ehemals Herrschenden jedenfalls kontaminiert wurde ...<br />
Heute dagegen ist die Frage letztlich nicht nur sinnlos, sie ist auch<br />
gefährlich. Denn die Wahrheit, die dann zutage tritt, ist die falsche. Darum<br />
das Motto des Textes, wonach Rahner als Exempel ein Haus imaginiert, das<br />
"in 12 St<strong>und</strong>en [...] mitten in einer Hochwasserflut stehen wird" – was<br />
dessen Bewohnern mitzuteilen aber falsch wäre, wenn man zugleich weiß,<br />
"dass der Dachstuhl ihres Hauses brennt <strong>und</strong> es geraten ist, sich aus dem<br />
Haus zu entfernen."<br />
Durchaus analog stimmt gewiss der Bef<strong>und</strong>, dass es die Revolution in<br />
Rumänien allenfalls in Ansätzen gegeben habe, aber auch diese Ansätze<br />
schließlich in einem taktischen Manöver der Putschisten aufgingen. Aber<br />
dringlicher ist es, nach den Versäumnissen der Gegenwart zu fragen, wobei<br />
man sich auf etwas stützen wird müssen, was die sozusagen falsche<br />
Wahrheit untergräbt: nämlich so etwas wie einen Verfassungspatriotismus.<br />
Denn Rumänien wird von einer Drift in die Rechtsradikalität bedroht, aber<br />
- 46 -
auch von der mafiosen Unterminierung, die sich nun, da die Geburtsst<strong>und</strong>e<br />
der Republik ja schon mafios gewesen sei, fast schon im Recht wähnt. Und<br />
wie gut diese beiden Entwicklungen miteinander konvergieren, nämlich die<br />
Sündenböcke benennende Ideologie der Großrumänischen Partei <strong>und</strong> die<br />
darob ungestört fortschreitende Verluderung, das zeigt sich allenthalben.<br />
Wer nun vom Putsch von 1989 spricht, der bekommt beides zur<br />
Antwort: Dass also das gar nicht das eigentliche Rumänien sei, weshalb man<br />
mit "Maschinenpistolen Ordnung schaffen" müsse, wie es Vadim Tudor<br />
formulierte, aber auch, dass man es sich ob dieser Umstände eben richten<br />
müsse. Beides schwächt die Öffentlichkeit, es bedeutet, Partikularinteressen<br />
hemmungslos durchzusetzen; <strong>und</strong> dort, wo das nicht geht, das Recht zwar<br />
nicht zu beugen, aber immerhin ad absurdum zu führen – indem enteignete<br />
Häuser vor der Rückgabe von den einstmals darin billig wohnenden<br />
Parteigetreuen in Mitleidenschaft gezogen werden, Badewannen <strong>und</strong> Fenster<br />
zerschlagen ...<br />
Rumänische Hochhäuser verrotten oft von oben: Die Bewohner der tieferen<br />
Stockwerke finanzieren die Dachreparaturen nicht mit, deren Kosten die<br />
Bewohner unterm Dach aber nicht tragen können, weshalb erst das oberste<br />
Geschoß unbewohnbar wird, dann aber das Haus sukzessive insgesamt. Die<br />
Gesetze, die hier Abhilfe schaffen sollen, greifen darum nicht, weil das Sich-<br />
Arrangieren mit der Justiz in der Regel <strong>für</strong> die zunächst nicht betroffenen<br />
Bewohner billiger als ein neues Dach ist. So wie der Mangel an Solidarität<br />
hier das Haus von oben zerfrisst, zerfrisst er die Gesellschaft von unten.<br />
Sozialverträglichkeit von Investitionen? – ein Fremdwort. Minderheiten sind<br />
exponiert, vor allem werden selbst die löchrigen Gesetze wider<br />
Diskriminierungen nicht durchgesetzt. Unternehmen, die "zigeunerisch"<br />
("tiganesti") sind, werden kaum beauftragt, <strong>und</strong> damit die Roma teils<br />
tatsächlich in jene Kriminalität gedrängt, die man ihnen hier nachsagt: Das<br />
Klischee leistet seiner Erfüllung Vorschub. Auch ökologische Nachhaltigkeit<br />
gibt es in Rumänien nur theoretisch. Öl, das aufs Nachbargr<strong>und</strong>stück fließt,<br />
ist hier des Nachbars Problem.<br />
Da<strong>für</strong>, dass all das so bleibt, sorgt die zynische Intelligenz, die die Frage<br />
A fost sau n-a fost? nicht stellt, sondern gebraucht. Diese Intelligenz zerfrisst<br />
gerade auch den Bildungs- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>sektor, wo theoretisch wie praktisch<br />
die behutsam negative Utopie etwa der gesellschaftskritischen Literatur<br />
ausgemerzt wird. So formuliert die Temesvarer Germanistik zu Herta Müller,<br />
deren Bilder stünden bloß in der Tradition der Antiheimatliteratur, womit die<br />
Schilderungen der Autorin eigentlich schon entwirklicht wären;<br />
sicherheitshalber heißt es dann aber noch, die Bilder Herta Müllers zeigten<br />
einen "aus der Zeit gefallenen Raum" – diese Ansicht teilt mittlerweile die<br />
nächste Generation von Germanisten dieser Universität, namentlich Bogdan<br />
Dascalu. Als völlig unbedenklichen Philosophen rezipiert man da<strong>für</strong> Otto<br />
Weininger, wo nun das, was wirklich allegorisch gedacht sein mag, plötzlich<br />
keinesfalls entwirklicht zu denken sein soll, Weiningers Ressentiments wider<br />
die Frau <strong>und</strong> vor allem den Juden werden solcherart schließlich überboten.<br />
- 47 -
Neben dieser sozusagen theoretischen Abwehr der Kritik besteht aber auch<br />
die handfestere, dass all die Positionen in <strong>Wissen</strong>schaft <strong>und</strong> Lehre auf der<br />
Basis von Schmiergeld <strong>und</strong> gegebenenfalls Unterwürfigkeit, die das Mafiose<br />
des Systems jedenfalls nicht gefährdet, vergeben werden. Insofern<br />
Universitäten in Rumänien zugleich die Aufgaben des Landesschulrates<br />
wahrnehmen, reichen die Tentakel dieses Systems bis zur definitiven<br />
Anstellung von Lehrern in entlegensten Kleinstädten ... So wird Korruption<br />
zur Erbkrankheit.<br />
Dies höhlt die Zivilgesellschaft Rumäniens aus, was von jenen, die diese<br />
Unterhöhlung betreiben, zugleich als Empfehlung eines Totalitarismus (des,<br />
d.h. ihres Kapitals) dargestellt wird. Dem lässt sich nur entgegentreten, wo<br />
Demokratie als ständiger Prozess begriffen wird, als etwas, das keiner<br />
Historie bedarf, sich also auch durch jenes A fost sau n-a fost? nicht<br />
widerlegen lässt, weder im Sinne der einen noch in jenem der anderen, die in<br />
ihrer scheinbaren Antithetik doch beide eines nur wollen: dass die Wahrheit<br />
die Verlogenheit propagiere.<br />
Mag. Dr. Martin A. Hainz (martin.hainz@univie.ac.at), geboren 1974, arbeitet am Institut <strong>für</strong><br />
Germanistik der Universität Wien.<br />
- 48 -
Westöstliche Stärken<br />
...<br />
Aurora-Interview mit Christian Rosner, Geschäftsführer von S&T AG<br />
...<br />
"Es gibt keine spezifische Mentalität oder Geschäftskultur in Rumänien verglichen mit<br />
anderen Ländern in Osteuropa, aber auch vielen westeuropäischen Ländern. Das Land<br />
entwickelt sich rasend schnell, die Unterschiede werden nivelliert. Für seriöse Geschäfte<br />
gelten in Rumänien fast dieselben Regeln wie in Österreich."<br />
Das Interview führte Franz Wagner<br />
(01. 04. 2007)<br />
AM: Die österreichische Wirtschaft hat seit 1990 über 8 Mrd. Euro in Rumänien investiert<br />
<strong>und</strong> nimmt damit im Ranking der Direktinvestitionen den ersten Platz ein; mehr als 3.500<br />
Firmen mit österreichischer Kapitalbeteiligung sind in Rumänien registriert. Was macht<br />
dieses Land <strong>für</strong> Österreichs Unternehmen so interessant?<br />
Rosner: Rumänien ist ein Land mit sehr großem Potential <strong>und</strong> hohen<br />
Wachstumsraten. Die österreichischen Unternehmen haben dieses Potential<br />
frühzeitig erkannt <strong>und</strong> genutzt. Der IT-Markt in Rumänien etwa verzeichnet<br />
jährlich zweistellige Wachstumsraten. Mehrere Faktoren treiben die rasante<br />
Entwicklung der rumänischen Wirtschaft an: Zum einen setzt Rumänien die<br />
Privatisierung der staatlichen Betriebe unvermindert fort. R<strong>und</strong> um den EU-<br />
Beitritt sind außerdem hohe Investitionen getätigt worden, <strong>und</strong> auch<br />
weiterhin wird viel investiert, um die Wirtschaft <strong>und</strong> die öffentliche<br />
Verwaltung EU-konform <strong>und</strong> global wettbewerbsfähig zu machen. Darüber<br />
hinaus bietet Rumänien Personal zu niedrigen Kosten <strong>und</strong> vor allem in den<br />
Universitätsstädten hervorragend ausgebildete Fachkräfte. Nicht zuletzt sind<br />
die kulturellen Unterschiede zwischen Rumänien <strong>und</strong> westeuropäischen<br />
Ländern gering, was das Verständnis <strong>und</strong> die Zusammenarbeit erleichtert.<br />
Das ist auch einer der wesentlichen Gründe neben den guten<br />
Sprachkenntnissen, warum Nearshoring-Projekte in Rumänien erfolgreich<br />
funktionieren.<br />
AM: Wie hat S&T es eigentlich geschafft, zum Marktführer in Rumänien aufzusteigen,<br />
noch vor Schwergewichten wie IBM oder HP?<br />
Rosner: S&T Rumänien wurde 1994 gegründet, ist also bereits lange Jahre<br />
erfolgreich am Markt. 2001 haben wir unsere Aktivitäten in Rumänien durch<br />
die Übernahme der Netway Computer Systems verstärkt <strong>und</strong> das Geschäft<br />
auch in den Folgejahren konsequent weiter ausgebaut. 2006 erfolgte eine<br />
weitere Verstärkung durch die Eröffnung unseres Nearshoring Software<br />
Centers in Bukarest sowie durch den Start des ersten S&T Competence<br />
Centers. Im Mai 2007 wird ein weiteres Competence Center in Rumänien<br />
eröffnet. Das Erfolgskriterium in Rumänien ist, wie in anderen S&T Ländern<br />
auch, die starke lokale Präsenz gekoppelt mit der internationalen<br />
Ausrichtung der Gruppe. Unsere Mitarbeiter <strong>und</strong> ein ausgezeichnetes<br />
Managementteam vor Ort verfügen über ausgezeichnete Kontakte zu lokalen<br />
K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Behörden <strong>und</strong> können auf eine Vielzahl von erfolgreichen<br />
- 49 -
Projekten verweisen. Westeuropäische bzw. österreichische K<strong>und</strong>en, die S&T<br />
bei ihrer Expansion nach Rumänien unterstützt, werden in Österreich <strong>und</strong><br />
Rumänien auf höchstem Niveau betreut.<br />
AM: "<strong>Kultur</strong>schock Rumänien" ist der Titel eines populären Reiseführers von Joscha<br />
Remus. Auf welche Besonderheiten sollte jemand achten, der ein unternehmerisches<br />
Engagement in diesem Land plant. Gibt es eine spezifisch rumänische Mentalität resp.<br />
"Geschäftskultur"?<br />
Rosner: Meines Erachtens gibt es keine spezifische Mentalität oder<br />
Geschäftskultur in Rumänien verglichen mit anderen Ländern in Osteuropa,<br />
aber auch vielen westeuropäischen. Das Land entwickelt sich rasend<br />
schnell, die Unterschiede werden nivelliert. Für seriöse Geschäfte gelten in<br />
Rumänien fast dieselben Regeln wie in Österreich. S&T setzt bewusst auf<br />
eine starke lokale Niederlassung mit heimischen Mitarbeitern, die das<br />
Geschäft vor Ort bestens kennen <strong>und</strong> daher auch am besten entwickeln<br />
können.<br />
AM: S&T beschäftigt weltweit r<strong>und</strong> 3.000 Mitarbeiter, darunter 200 in Rumänien. Wie<br />
zufrieden sind Sie mit dem Ausbildungsstand der einheimischen Fachkräfte? Entsprechen<br />
Forschung <strong>und</strong> Lehre an den rumänischen Hochschulen den westeuropäischen<br />
Standards? Wo sehen Sie noch Defizite?<br />
Rosner: Wir sind sehr zufrieden mit den rumänischen Fachkräften. Sie<br />
verfügen über eine ausgezeichnete Ausbildung <strong>und</strong> was wohl noch wichtiger<br />
ist, über sehr hohe Motivation. Die Aufbruchstimmung, die das Land erfasst<br />
hat, zeigt sich am Engagement der Mitarbeiter, die etwas bewegen <strong>und</strong><br />
erreichen wollen. Speziell die Universitätsstädte bieten, im Vergleich zu<br />
westlichen Ländern, auch genügend Fachkräfte, auf die die Unternehmen<br />
zugreifen können. Das ist vor allem <strong>für</strong> international agierende<br />
Unternehmen, die im Westen den Fachkräftemangel spüren, von großem<br />
Vorteil. Von Vorteil sind selbstverständlich auch die niedrigen<br />
Personalkosten, auch wenn sich Bulgarien oder die Ukraine in diesem<br />
Bereich bereits zur Konkurrenz entwickeln.<br />
AM: Gerhard Glanz, Geschäftsführer des Maschinenbauers Emco, ließ jüngst mit der<br />
Bemerkung aufhorchen, dass Produktionen, die ein hohes Maß an Handarbeit erfordern,<br />
in den osteuropäischen Billiglohnländern gerade richtig seien; der hochkomplexe<br />
Maschinenbau habe dort aber nichts verloren. Auf Gr<strong>und</strong> von Qualitäts- <strong>und</strong><br />
Imagemängeln sowie Reklamationen <strong>und</strong> kostenintensiven Nacharbeiten könne ein<br />
Technologieunternehmen trotz der geringen Arbeitskosten in den neuen EU-<br />
Mitgliedsstaaten langfristig nicht überleben. Legt man diese Aussagen auf S&T um – der<br />
IT-Bereich ist dem Maschinenbau an Komplexität ja mindestens ebenbürtig – denken Sie<br />
selbst manchmal daran, dem Osten Europas den Rücken zu kehren <strong>und</strong> wieder an die<br />
alten "Hochleistungsstandorte" in Österreich oder Deutschland zurückzukehren?<br />
Rosner: Nein, dies trifft keineswegs im IT Geschäft zu. Im Gegenteil, wir<br />
verstärken unsere Aktivitäten in Osteuropa mit den Kompetenz- <strong>und</strong><br />
Entwicklungszentren als auch verstärktem „lokalen Go-to-Market". Ich<br />
denke, erfolgreich ist, wer die Stärken des Westens mit denen des Ostens<br />
ideal kombiniert.<br />
- 50 -
AM: Was tun Sie selbst, um das Qualitätsniveau in Ihren osteuropäischen<br />
Niederlassungen konstant zu halten bzw. zu verbessern? Gibt es betriebliche Aus- <strong>und</strong><br />
Weiterbildungsmöglichkeiten?<br />
Rosner: Die S&T Unternehmensgruppe investiert jährlich r<strong>und</strong> 3% der<br />
Gesamtlohnsumme bzw. zwei Millionen Euro in die betriebliche Aus- <strong>und</strong><br />
Weiterbildung. Die Niederlassungen in den Ländern organisieren<br />
Weiterbildungsmaßnahmen, außerdem gibt es zahlreiche<br />
länderübergreifende Initiativen. Besonders wichtig sind uns dabei<br />
Technologie-Zertifizierungen, Sprachtrainings, aber auch Talent-<br />
Förderungsprogramme, die lokale Zusammenarbeit mit Universitäten <strong>und</strong><br />
länderübergreifender Know-How-Transfer.<br />
AM: Welche Erfahrungen haben Sie mit der Korruption in Rumänien gemacht? Erwarten<br />
Sie in nächster Zeit Verbesserungen in dieser Hinsicht? Gibt es – Stichwort<br />
"Antikorruptionsagentur" u.a. – bereits sichtbare Erfolge?<br />
Rosner: Der EU-Beitritt <strong>und</strong> die sukzessive Ausrichtung des Landes auf den<br />
globalen Wettbewerb fördern die positive Entwicklung auch in diesem<br />
Bereich.<br />
AM: Was halten Sie von der oft geäußerten Be<strong>für</strong>chtung, wonach der Westen nach dem<br />
Auslaufen der Zugangsbeschränkungen mit billigen Arbeitskräften aus den neuen EU-<br />
Ländern überschwemmt werden könnte? Sind diese Ängste berechtigt?<br />
Rosner: Ich denke, je schneller sich der Lebensstandard in den östlichen<br />
Ländern westlichem Niveau annähert, desto weniger besteht die Gefahr einer<br />
Überschwemmung mit billigen Arbeitskräften. Menschen, die in ihrer Heimat<br />
Arbeit finden, die ihnen das Leben sichert, haben normalerweise wenig<br />
Interesse daran, ins Ausland zu gehen. Es geht aber auch darum, im Westen<br />
einen Schwerpunkt auf die Qualifikation der Arbeitskräfte zu legen <strong>und</strong><br />
gezielt in die Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung zu investieren.<br />
AM: Umgekehrt gefragt: Kommen Ihnen – Stichwort Arbeitsmigration – in Rumänien die<br />
gut ausgebildeten, jungen Fachkräfte abhanden? Es gibt ja Berichte, wonach vor allem<br />
im Westen Rumäniens bereits akuter Arbeitskräftemangel herrschen soll.<br />
Rosner: Nein, uns kommen sie nicht abhanden. Wir bieten unseren<br />
rumänischen Mitarbeitern ja herausfordernde Positionen <strong>und</strong> interessante<br />
Entwicklungswege im Land an. Hier muss man wohl unterscheiden<br />
zwischen Fachkräften <strong>und</strong> geringer ausgebildetem Personal.<br />
AM: Könnten Sie abschließend einen kurzen Einblick in die zentralen Aktivitäten von S&T<br />
in Rumänien geben? Welche größeren Vorhaben wollen Sie in nächster Zeit dort<br />
realisieren? Wie sieht ganz allgemein die Zukunft von S&T in Rumänien aus?<br />
Rosner: S&T Rumänien ist der führende IT-Dienstleister am Markt <strong>und</strong><br />
zählt die namhaften rumänischen Unternehmen, z.B. Petrom, Romgaz,<br />
National Bank of Romania, Romtelecom, zu seinen K<strong>und</strong>en. Diese starke<br />
Marktposition wollen wir weiter ausbauen. Gleichzeitig bringt sich Rumänien<br />
intensiv in unser internationales Netzwerk ein. In Rumänien betreiben wir<br />
zwei unserer fünf Kompetenzzentren <strong>und</strong> das <strong>für</strong> die gesamte Gruppe<br />
- 51 -
arbeitende Nearshoring Center ist in Rumänien beheimatet. S&T Rumänien<br />
gehört also zu unseren erfolgreichsten Niederlassungen, auf die wir auch in<br />
Zukunft setzen.<br />
AM: Herr Rosner, vielen Dank <strong>für</strong> das Interview!<br />
Christian Rosner snt@snt-world.com leitet seit Jänner 2006 als Chief Executive Officer die S&T AG-<br />
Unternehmensgruppe. Davor fungierte er seit Jänner 2004 als Chief Operating Officer der S&T. Der<br />
IT- <strong>und</strong> Telekommunikationsexperte startete seine Karriere 1977 bei Philips Data <strong>und</strong> hatte leitende<br />
Positionen bei Nixdorf Computer, Digital Equipment <strong>und</strong> Hewlett Packard inne. In der Funktion des<br />
CEO verantwortete er unter anderem die Führung der Unternehmen EMTS Technologie AG, der<br />
eTel Austria AG <strong>und</strong> als Geschäftsführer <strong>für</strong> Österreich <strong>und</strong> Zentral- <strong>und</strong> Osteuropa der CWS sowie<br />
Commodore Computer.<br />
Homepage<br />
www.snt-world.com<br />
- 52 -
Zur rumäniendeutschen Gegenwartsliteratur<br />
...<br />
Viele rumänische Schriftsteller waren in den 80er Jahren Ziel von Verhaftungen<br />
<strong>und</strong> Verfolgungen, was die meisten zu einer Auswanderung bewegte.<br />
Ihre damaligen traumatischen Erfahrungen spiegeln sich teilweise<br />
noch in ihren heute erscheinenden Werken.<br />
Von Tanja Becker<br />
(01. 01. 2007)<br />
Wer Rumänien von seiner literarischen Seite kennen lernen möchte, hat<br />
keine andere Wahl als sich hauptsächlich an die rumäniendeutschen Schriftsteller<br />
zu halten, weil immer noch sehr wenig rumänische Gegenwartsliteratur ins<br />
Deutsche übersetzt ist. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der rumäniendeutschen<br />
Autoren lebt mittlerweile in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, beschäftigt sich<br />
aber immer noch mit der alten Heimat. Der Sprachduktus dieser Werke ist häufig<br />
von der in Rumänien gelebten Vielsprachigkeit <strong>und</strong> dem etwas altertümlich<br />
anmutenden Deutsch der dortigen Minderheit geprägt.<br />
Relativ bekannt sind die Mitglieder der sogenannten Aktionsgruppe Banat, jenes<br />
1972 in Temeswar entstandenen Literaturkreises junger deutschsprachiger<br />
Autoren, die gegen die Einengung ihres freien Schaffens durch den<br />
Provinzialismus in der eigenen <strong>Kultur</strong>tradition wie auch durch die Verbote eines<br />
sozialistischen Staates ankämpften. Sie gehörten der deutschen Minderheit aus<br />
dem Banat in der Grenzregion zu Ungarn <strong>und</strong> Serbien an, die vor etwa 250 Jahren<br />
unter Maria Theresia dorthin ausgewandert sind, um das Land urbar zu machen.<br />
Durch ihre zunächst reformkommunistischen politischen Ansichten <strong>und</strong> ihre<br />
Ablehnung des häufig noch vom Nationalsozialismus überschatteten<br />
Schwabentums wurden sie rasch zur Minderheit innerhalb der Minderheit. In den<br />
80er Jahren, als sich die wirtschaftliche <strong>und</strong> politische Situation in Rumänien<br />
immer mehr zuspitzte, waren auch sie Verhaftungen <strong>und</strong> Verfolgungen<br />
ausgesetzt, was die meisten zu einer Auswanderung bewegte. Ihre damaligen<br />
traumatischen Erfahrungen spiegeln sich teilweise noch in ihren heute<br />
entstehenden Werken.<br />
Erwähnt sei zunächst Herta Müller, die 1953 in Nitzkydorf, einem von Banater<br />
Schwaben bewohnten deutschsprachigen Dorf in Rumänien, geboren wurde. Sie<br />
studierte Germanistik <strong>und</strong> Rumänistik in Temeswar <strong>und</strong> arbeitete zunächst als<br />
Deutschlehrerin <strong>und</strong> Übersetzerin, verlor jedoch ihren Arbeitsplatz, weil sie nicht<br />
mit dem rumänischen Geheimdienst zusammenarbeiten wollte. Danach war sie<br />
Kindergärtnerin. 1987 durfte sie ausreisen <strong>und</strong> lebt heute in Berlin. Sie erhielt<br />
zahlreiche Preise, darunter den Kleistpreis.<br />
Lektüreempfehlungen:<br />
"Herztier" (1994)<br />
- 53 -
Lola kam aus dem armen Süden Rumäniens, wollte dem Elend mit Hilfe des<br />
erfolgreichen Mannes entfliehen <strong>und</strong> hing eines Tages am Strick. Die Fre<strong>und</strong>e<br />
glauben nicht an Selbstmord <strong>und</strong> versuchen Widerstand zu leisten. Sie<br />
zerbrechen daran. "Herztier" erzählt von Bestechungs- <strong>und</strong><br />
Anpassungsversuchen, den Gesten des Widerstands <strong>und</strong> den Verstößen gegen<br />
die Norm, vom Nicht-leben-Können <strong>und</strong> davon, wie "Menschen sich selbst zu<br />
einem Fehler werden".<br />
"Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" (1999)<br />
Dieses Buch erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die regelmäßig zum<br />
Verhör beim Geheimdienst bestellt wird. Auf dem Weg dorthin, während der<br />
Fahrt mit der Straßenbahn, lässt sie ihr Leben an sich vorüberziehen. Sie denkt<br />
zurück an ihre Kindheit auf dem Dorf, an ihre Beziehung zum Vater <strong>und</strong> an die Ehe<br />
mit dem Sohn jenes Mannes, der <strong>für</strong> die Deportation ihrer Großeltern<br />
verantwortlich war. An diesem Tag hält der Fahrer an der Haltestelle, an der sie<br />
aussteigen muss nicht an. Und so geht sie zum ersten Mal nicht zum Verhör.<br />
"Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt" (l995)<br />
So lautet ein rumänisches Sprichwort, das die Unbeholfenheit des flügellahmen<br />
Wildvogels auf menschliches Ungeschick <strong>und</strong> Unheil überträgt. Das Buch ist die<br />
Ballade der Auswanderung. Die Nähe zerbröckelt, aus Fre<strong>und</strong>en werden<br />
misstrauische Feinde. Es geht nicht mit rechten Dingen zu, sondern alles auf<br />
krummen Wegen. Was hier, von der Oberfläche der Zeit in mythische Tiefen<br />
reichend, mitgeteilt wird, ist ein in seiner dichterischen Knappheit großer Beitrag<br />
zum Thema der Emigration.<br />
Weiter sei hingewiesen auf den ebenfalls relativ bekannten Richard Wagner, der<br />
1952 in Lovrin, im rumänischen Teil des Banats, geboren wurde. Er arbeitete als<br />
Deutschlehrer <strong>und</strong> Journalist <strong>und</strong> veröffentlichte Lyrik <strong>und</strong> Prosa in deutscher<br />
Sprache. Nach einem Arbeits- <strong>und</strong> Publikationsverbot verließ er Rumänien<br />
gemeinsam mit seiner damaligen Frau Herta Müller im Jahre 1987. Seitdem lebt<br />
er als freier Schriftsteller in Berlin. Er erhielt zahlreiche Preise <strong>und</strong> Stipendien.<br />
Lektüreempfehlungen:<br />
"Der leere Himmel" (2003)<br />
Der Balkan liegt weit hinten, wo Europas Wirklichkeit sich krümmt. Schon<br />
Goethes Faust sah staunend auf das Gebiet, wo "die Völker aufeinanderschlagen",<br />
<strong>und</strong> Bismark war das Land zwischen Ägäis <strong>und</strong> Donau, Bosporus <strong>und</strong> Adria nicht<br />
die ges<strong>und</strong>en Knochen eines pommerschen Musketiers wert. Gerne hat Europa<br />
weggesehen, doch das sprichwörtliche "Pulverfass" hat immer wieder Feuer<br />
gefangen, <strong>und</strong> seine Flammen schlugen dem Kontinent entgegen. Ein Bindeglied<br />
zwischen Okzident <strong>und</strong> Orient könnte der Balkan sein, doch die jahrh<strong>und</strong>ertealten<br />
Brücken liegen heute in den Flüssen Donau, Drina oder Nereta – zertrümmert von<br />
Serben, Kroaten, Moslems, von der Nato. Hinter einem Schleier aus Mythen <strong>und</strong><br />
Folklore sucht Richard Wagner nach Gründen <strong>für</strong> die jugoslawische Katastrophe<br />
<strong>und</strong> geht dabei immer wieder auf sein Geburtsland Rumänien ein.<br />
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"Miss Bukarest" (2001)<br />
Dinu Schullerus, der aus Rumänien stammende Detektiv hieß früher Matache. Vor<br />
zehn Jahren ist er mit seiner Frau Lotte, einer Siebenbürger Sächsin, nach West-<br />
Berlin ausgereist, weil beide Dinus Arbeit bei der Securitate nicht mehr ertragen<br />
konnten. Als Geheimdienstoffizier hat Dinu Dissidenten bespitzelt, Künstler <strong>und</strong><br />
Akademiker. Unter anderem auch die attraktive Erika Binder, die ehemals beste<br />
Fre<strong>und</strong>in seiner Frau, mit der er überdies noch ein Verhältnis hatte. Genau diese<br />
Erika Binder wird nun in Berlin tot aufgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Dinu macht sich auf, die<br />
Mörder seiner Ex-Geliebten zu finden.<br />
"Habseligkeiten" (2004)<br />
Die Beerdigung des Vaters ist der Anlass <strong>für</strong> Werner Zillich, sich die Geschichte<br />
seiner Familie, einer schwäbischen Handwerkerfamilie im Banat, vor Augen zu<br />
führen. Die Müller, Pferdehändler oder Näherinnen hatten keinerlei Einfluss auf<br />
das Weltgeschehen, dennoch hat es ihr Leben beeinflusst. So berichtet Zillich<br />
vom Abenteuer einer Amerika-Auswanderung im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> von einer<br />
heimlichen Liebe im Arbeitslager der Nachkriegszeit, ebenso von der käuflichen<br />
Liebe junger ungarischer Prostituierter unserer Tage. Sein eigenes Leben<br />
spiegelt die Krisen <strong>und</strong> Absurditäten der europäischen Epoche wider, <strong>und</strong> bevor<br />
das Rad der Geschichte <strong>für</strong> immer stehen bleibt, nimmt es eine letzte,<br />
w<strong>und</strong>erbare Wendung.<br />
Tanja Becker (tanja_ursula_becker@yahoo.de) studierte Deutsch <strong>und</strong> Französich <strong>für</strong> das Lehramt an<br />
Gymnasien in Erlangen <strong>und</strong> Augsburg, DEA in Lettres Modernes an der Sorbonne (Paris IV),<br />
zweijährige Tätigkeit als Deutschassistentin in Frankreich, 1997-2003 DAAD-Lektorin an der<br />
Politehnica-Universität Temeswar, ab 2003 Privatdozentin, Übersetzerin. Forschungen im Bereich<br />
Komparatistik, Aufsätze zur germanistischen Forschung <strong>und</strong> Lehre.<br />
- 55 -
Alles wahr <strong>und</strong> alles nur geträumt<br />
...<br />
Mircea Cartarescus kunstvolle Prosa lädt uns zum Traumwandeln ins Bukarest der<br />
geheimnisvollen Villen, der verräucherten Keller <strong>und</strong> verwahrlosten Neubauviertel.<br />
Von Tanja Becker<br />
(01. 01. 2007)<br />
Rumänische Gegenwartsliteratur ist kaum in deutscher Übersetzung<br />
vorhanden. Um so interessanter ist der 1997 in deutscher Sprache erschienene<br />
Roman "Nostalgia" von dem in Rumänien gefeierten Mircea Cartarescu.<br />
Cartarescu wurde 1956 in Bukarest geboren, studierte rumänische Sprache <strong>und</strong><br />
Literatur an der Bukarester Universität <strong>und</strong> arbeitete danach als Lehrer.<br />
Inzwischen ist er Universitätsdozent. Zwischen 1978 <strong>und</strong> 1985 veröffentlichte er<br />
mehrere Gedichtbände. 1989 erschien sein Prosaband "Visul" (Der Traum), der<br />
allerdings von der Zensur um wesentliche Passagen gekürzt worden war. Unter<br />
dem Titel "Nostalgia" legte er das Buch 1993 noch einmal in vollständiger Fassung<br />
vor. Es wurde ebenso wie der 1994 entstanden Roman "Travestie" in Rumänien<br />
preisgekrönt <strong>und</strong> in mehrere Sprachen übersetzt.<br />
In "Nostalgia" ist alles wahr <strong>und</strong> alles nur geträumt – Cartarescus kunstvolle Prosa<br />
lädt uns ein zum Traumwandeln ins Bukarest der geheimnisvollen Villen, der<br />
verräucherten Keller, der verwahrlosten Neubauviertel. Dort begegnen wir<br />
einem Spielsüchtigen, der wieder <strong>und</strong> wieder das Schicksal im russischen<br />
Roulette herausfordert – schließlich hat er sechs Patronen im Revolver. Die<br />
beiden ebenso verklemmten wie narzisstischen Gymnasiasten Andrei <strong>und</strong> Gina<br />
verwandeln sich irgendwann in den jeweils anderen. Ihre erste Liebesnacht<br />
haben sie ausgerechnet ins Naturk<strong>und</strong>emuseum verlegt. Ein geheimnisvoller<br />
Knabe, Mendelibus genannt, wird Anführer einer Kindergang <strong>und</strong> entwickelt<br />
w<strong>und</strong>ersame Einsichten: "Es gibt vier Arten von Menschen. Die Ungeborenen, die<br />
Lebenden, die Gestorbenen <strong>und</strong> diejenigen, die weder geboren, noch am Leben<br />
noch gestorben sind – das sind die Sterne."<br />
Cartarescu, der sich selbst einmal ironisch den Nationalpreis "<strong>für</strong> die<br />
vollendete Beherrschung einer ausdrucksreichen Sprache" zuerkannt hat, lässt<br />
uns immer wieder die Spur eines Schriftstellers kreuzen, der listig sein Spiel mit<br />
Tanz <strong>und</strong> Statik, Licht <strong>und</strong> Schatten, Transparenz <strong>und</strong> Verhüllung treibt: "Soll sich<br />
jeder vorstellen, was er will. Finde jeder <strong>für</strong> diesen spiegelverhüllenden Text,<br />
diese Textur, Textile, diese Plane, die nur dann gelungen ist, wenn man nicht<br />
durch sie hindurch sehen kann, die Begründungen, die Deutungen, die ihm<br />
passen."<br />
Tanja Becker (tanja_ursula_becker@yahoo.de) studierte Deutsch <strong>und</strong> Französich <strong>für</strong> das Lehramt an<br />
Gymnasien in Erlangen <strong>und</strong> Augsburg, DEA in Lettres Modernes an der Sorbonne (Paris IV),<br />
zweijährige Tätigkeit als Deutschassistentin in Frankreich, 1997-2003 DAAD-Lektorin an der<br />
Politehnica-Universität Temeswar, ab 2003 Privatdozentin, Übersetzerin. Forschungen im Bereich<br />
Komparatistik, Aufsätze zur germanistischen Forschung <strong>und</strong> Lehre.<br />
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Reise ohne Wiederkehr<br />
Dass man sich dem Holocaust auch auf humorvolle Weise nähern kann, bewiesen in<br />
den 1990er Jahren gleich zwei Spielfilme: Roberto Benignis "Das Leben ist schön"<br />
<strong>und</strong> Radu Mihaileanus "Zug des Lebens".<br />
...<br />
Von Franz Wagner<br />
(01. 01. 2007)<br />
Wie lässt sich die unfassbare Brutalität, mit der die Nationalsozialisten<br />
jüdische Männer, Frauen <strong>und</strong> Kinder abschlachteten, auf erzählerische Weise<br />
rekonstruieren? Wie kann man die ausweglose Angst der Millionen Deportierten<br />
begreiflich machen, ihren Kampf ums Überleben, ihr schreckliches Martyrium in<br />
Lagern wie Auschwitz oder Mauthausen?<br />
Dass eine Annäherung an das Grauen der industriell betriebenen<br />
Menschenvernichtung jedenfalls nicht automatisch zum Scheitern verurteilt sein<br />
muss, wurde spätestens mit Filmen wie "Schindlers Liste" klar. Steven Spielbergs<br />
1993 erschienener Film über den Unternehmer Oskar Schindler, der während des<br />
Zweiten Weltkrieges über 1.000 bei ihm angestellte jüdische Zwangsarbeiter vor<br />
dem Tod in den Gaskammern der Nazis rettete, ergab ein psychologisch<br />
differenzierteres Bild des Dritten Reichs als viele Vorgängerfilme. Darüber hinaus<br />
entwickelte er sich gegen Ende der 1990er Jahre zum Initialzünder <strong>für</strong> eine Reihe<br />
weiterer Produktionen, die sich mit der Shoah, dem Völkermord an r<strong>und</strong> sechs<br />
Millionen europäischer Juden, auseinander setzten.<br />
Dass man sich diesem Thema auch auf humorvolle Weise nähern kann,<br />
bewiesen 1998 gleich zwei Spielfilme: Roberto Benignis "Das Leben ist schön"<br />
<strong>und</strong> Radu Mihaileanus "Zug des Lebens". Obwohl sich der Plot nicht recht<br />
vergleichen lässt, verfügen die Figuren beider Produktionen über eine<br />
bemerkenswerte Gemeinsamkeit: Um den Krieg zu überstehen, entwerfen sie<br />
Masken <strong>und</strong> Verkleidungen, gaukeln sich <strong>und</strong> ihren Angehörigen etwas vor, das<br />
es gar nicht gibt, <strong>und</strong> denken sich Geschichten aus, die noch im tiefsten Unglück<br />
ein klein wenig Hoffnung schenken. Benignis Hauptfigur ist der in ein deutsches<br />
KZ verschleppte Vater Guido, der seinen kleinen Jungen dort vor den Nazis<br />
verbirgt <strong>und</strong> diesem das Leben im Lager als aufregendes Abenteuer vorstellt; bis<br />
zuletzt glaubt der Sohn an das Märchen von den guten Deutschen, die nur auf<br />
böse tun. In "Zug des Lebens" verlangt der Rabbi (Clément Harari) eines im<br />
europäischen Osten angesiedelten jüdischen Stetls von seiner Gemeinde eine<br />
noch weit drastischere inszenatorische Leistung: "Wer will Nazi sein?", fragt der<br />
Rabbiner das versammelte Dorf. Er meint die Frage durchaus ernst – hier kann<br />
man sich als Zuseher das Lachen nicht verkneifen. Das ist nicht weiter<br />
verw<strong>und</strong>erlich, immerhin ist der Film nicht als Drama, sondern als reichlich<br />
überdrehte Groteske angelegt, die Anleihen bei Charlie Chaplins "Der große<br />
Diktator" (1940) oder Ernst Lubitschs "Sein oder Nichtsein" (1942) nimmt.<br />
- 57 -
Die Idee, sich als Nazis zu verkleiden, stammt vom Dorfnarren Schlomo (Lionel<br />
Abelanski), der gerüchteweise von sich nähernden deutschen Truppen gehört hat<br />
<strong>und</strong> das Stetl mit einem wahnwitzigen Plan vor der Deportation retten will:<br />
Ausgestattet mit genügend Proviant, selbst genähten Wehrmachtsuniformen,<br />
gefälschten Papieren <strong>und</strong> einem gehörigen Maß an Unverfrorenheit will man in<br />
einem mit Hakenkreuzen getarnten Zug an den deutschen Besatzern vorbei bis<br />
über die rettende Grenze nach Russland vordringen, das selbst bloß<br />
Zwischenstation <strong>für</strong> das eigentliche Reiseziel ist: Eretz Israel – Palästina.<br />
Gesagt, getan. Das Dorf teilt sich in zwei Gruppen: Diejenigen, die am besten<br />
Deutsch sprechen, stellen die Nazis. Sie werden von Israel Schmecht (Johan<br />
Leysen), einem eilends aus Österreich herbeigerufenen jiddischen Schriftsteller,<br />
auf ihre zukünftige Rolle als Deutsche vorbereitet <strong>und</strong> erhalten Lehrst<strong>und</strong>en in der<br />
"Theologie der Soldaten des Dritten Reichs". Auch die Aussprache wird<br />
verbessert: Aus "Mein Fihrer!" etwa wird "Mein Führer!". Der Holzhändler<br />
Mordechai Schwarz (Rufus), der vom Dorfrat gegen seinen Willen zum deutschen<br />
Kommandanten <strong>und</strong> künftigen Leiter des Zugs bestimmt wird, erhält von<br />
Schmecht Sonderlektionen: "Das Deutsche ist sehr hart, präzise <strong>und</strong> traurig,<br />
Jiddisch ist eine Parodie des Deutschen, hat jedoch Humor". Darauf erk<strong>und</strong>igt sich<br />
Mordechai bei dem Österreicher: "<strong>Wissen</strong> die Deutschen, dass wir ihre Sprache<br />
parodieren? Vielleicht ist das der Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> den Krieg?"<br />
Die andere Hälfte des Stetls verkörpert die zu deportierenden Juden. Im<br />
Gegensatz zu "Major" Mordechai, <strong>für</strong> den ein eigener Salonwagen gezimmert<br />
wurde, müssen sie sich – so realitätsnah wie möglich – dicht an dicht in die<br />
Viehwaggons am Ende des Zuges drängen. Als Lokführer wird kurzerhand ein<br />
entfernter jüdischer Verwandter, Archivar im Eisenbahnministerium, installiert,<br />
dessen einzige Qualifikation <strong>für</strong> diesen Job ein Buch mit dem Titel: "Wie bediene<br />
ich eine Dampflokomotive?" ist. Immerhin: Nach einigen Fehlgriffen nimmt die<br />
Zugmaschine schnaubend Fahrt auf. In den Mienen der Passagiere macht sich<br />
Bedrückung breit; jeder weiß, dass es von jetzt an kein Zurück mehr gibt – so<br />
oder so.<br />
In "Zug des Lebens" lässt Regisseur Mihaileanu, dessen eigener Vater der<br />
Vernichtung durch die Nazis nur knapp entging, in warmen, lebensfrohen Bildern<br />
den heute längst vergessenen Alltag eines jiddischen Stetls im Osten Europas<br />
wieder auferstehen. Dass es dabei allzu idyllisch zugeht <strong>und</strong> das Dorf anfangs in<br />
einem geradezu vorbiblischen Zustand jenseits von Gut <strong>und</strong> Böse gezeigt wird,<br />
verleiht dem Film eine surreale Note, die, als sich der Zug mit den "Deportierten"<br />
nach Russland aufmacht, noch bestärkt wird durch poetische Bilder von im Wind<br />
flutenden Kornfeldern, sattgrünen Wiesen <strong>und</strong> Sonnenuntergängen, die direkt aus<br />
der rumänischen Fremdenverkehrswerbung stammen könnten. Die Traum-hafte<br />
Schönheit dieser jiddischen Lebenswelt, die der Regisseur hier zu vermitteln<br />
sucht, ist als Liebeserklärung an eine untergegangene <strong>Kultur</strong> zu verstehen, deren<br />
Teil einst auch Mihaileanus Vater war.<br />
Doch all die Schönheit des Films ist, angesichts des hehren Themas, zugleich<br />
dessen größte Schwäche. Mihaileanu findet kein rechtes Mittel, um die Angst der<br />
Dorfbewohner vor ihrer Enttarnung durch die "echten" Nazis zu vermitteln. Nie<br />
- 58 -
kommt – angesichts des möglichen Endpunkts der Reise – ein Gefühl von Enge,<br />
Dunkelheit oder Verzweiflung auf. Die ständig näher rückende Gefahr bleibt bis<br />
zum Ende fern wie am Anfang. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass Mihaileanu<br />
das Grauen der Shoah nur an der Peripherie zeigt. Auch fern von Auschwitz ließe<br />
sich gewiss ein authentischeres Bild des Schreckens zeichnen. Doch darum geht<br />
es dem Regisseur, der auch das Drehbuch verfasst hat, gar nicht. Im Zentrum<br />
seines Films steht das Leben im Dorf, das zum Leben im Zug wird, mit all jenen<br />
Verwicklungen <strong>und</strong> kleinen Streitereien, Liebesgeschichten <strong>und</strong> Anekdoten, die<br />
der Alltag bietet. Dass man sich gerade auf der Fahrt zu seinen möglichen<br />
Henkern befindet, bleibt eine ferne Ahnung am Horizont. Stattdessen reiht sich<br />
Witz an Witz <strong>und</strong> dominiert Situationskomik von immerhin beachtlicher Finesse.<br />
Bei all dem zeichnet Mihaileanu aber keine Personen, sondern Typen <strong>und</strong><br />
bleibt dabei allzu oft im Klischee stecken. Man sieht einige "echte" Nazis <strong>und</strong><br />
auch, wie Menschen verhaftet <strong>und</strong> Dörfer niedergebrannt werden. Doch dies<br />
alles bleibt seltsam blass, wirkt wie ein bemühter moralischer Fingerzeig,<br />
vermag nicht zu schockieren. Abschließende Erkenntnis: Selten so gelacht!<br />
Dennoch: Das Lachen bleibt einem – im Unterschied zu Benignis "Das Leben ist<br />
schön" – hier nie im Halse stecken.<br />
Franz Wagner (wagn@utanet.at) ist Redakteur des Aurora-<strong>Magazin</strong>s.<br />
- 59 -
Held <strong>und</strong> Unbekannter<br />
...<br />
George Enescu erfreute sich schon zu Lebzeiten größerer Beliebtheit als<br />
jeder andere rumänische Komponist: dank seiner Werke, die "national" <strong>und</strong><br />
"universal" zugleich waren, dank seines grandiosen Geigenspiels <strong>und</strong><br />
charismatischen Dirigats <strong>und</strong> dank der unschätzbaren musikalischen Aufbauhilfe <strong>für</strong><br />
sein Land, in dem ein Konzertleben sich erst Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu<br />
entwickeln begann.<br />
Von Johannes Killyen<br />
(01. 02. 2007)<br />
In Mitteleuropa, vor allem in Deutschland, wissen selbst Musikexperten<br />
wenig mit dem Namen Enescu anzufangen. Zwei Rhapsodien hat er<br />
geschrieben, zwei Reißer, die ins Blut gehen. Ein großer Geiger war er. Das<br />
fällt vielen noch ein. Und sonst? Sicher: Alle wichtigen Werke Enescus sind<br />
auf Tonträger gebannt <strong>und</strong> auch greifbar. Bekanntheit garantiert das jedoch<br />
nicht, in Zeiten einer schier grenzenlosen Verfügbarkeit von Musik. Wer sich<br />
dagegen über Enescu belesen will, wird auch nach längerer Recherche kaum<br />
eine handvoll Bücher finden, es sei denn, er (oder sie) ist des Rumänischen<br />
mächtig.<br />
In Rumänien war George Enescu zu Lebzeiten ein Held, obwohl oder gerade<br />
weil er die rumänische <strong>Kultur</strong> <strong>und</strong> Musik in seine Wahlheimat Paris <strong>und</strong> die<br />
großen Konzertsäle der Welt trug. Er galt als "nationaler" ebenso wie<br />
"universaler" Komponist, eine Verbindung, aus der in Rumänien gerne<br />
Denkmäler gemeißelt werden. Solch ein Denkmal ist Enescu spätestens<br />
nach seinem Tod vor 52 Jahren geworden: Geehrt durch ein gigantisches<br />
Festival, das ebenso seinen Namen trägt wie sein Geburtsort im Nordosten<br />
des Landes. Unangreifbar <strong>für</strong> die große Mehrheit der rumänischen<br />
Musikwissenschaftler ist er geblieben, <strong>und</strong> wohl auch ein wenig geliebt in<br />
der Bevölkerung – vor allem <strong>für</strong> seine Rhapsodien.<br />
Auf posthume Beliebtheit aber kam es Enescu, der 1888-1895 am<br />
Wiener Konservatorium Violine <strong>und</strong> Komposition (bei Joseph Hellmesberger<br />
junior <strong>und</strong> Robert Fuchs) studierte <strong>und</strong> schnell als W<strong>und</strong>erkind galt, gewiss<br />
nicht an. Er konnte zu Lebzeiten wie kaum ein Anderer über diese<br />
Beliebtheit verfügen, dank seines grandiosen Geigenspiels <strong>und</strong><br />
charismatischen Dirigats, dank der unschätzbaren musikalischen<br />
Aufbauhilfe <strong>für</strong> sein Land, in dem ein Konzertleben sich erst Ende des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts zu entwickeln begann. Als Komponist dagegen agierte er –<br />
abgesehen von weniger bedeutenden Gefälligkeitswerken – weitgehend<br />
unabhängig. Um Aufführungen seiner Werke musste der Sohn eines<br />
orthodoxen Priesters, der ab 1895 in Paris studierte (bei Marsick, Massenet,<br />
Fauré <strong>und</strong> Gédalge), selten betteln. Denn wo immer er auftrat, konnte<br />
Enescu eigene Kompositionen aufs Programm setzen.<br />
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Ein eigener Weg in die Moderne<br />
Die Eigenständigkeit seines kompositorischen Weges ist bemerkenswert:<br />
Ausgehend von Brahms (den er in Wien persönlich kennenlernte) <strong>und</strong><br />
Wagner, beeinflusst auch von der französischen Musik, fand Enescu einen<br />
spezifisch rumänischen Weg in die Moderne. Hatte er zu Beginn, unter<br />
anderem in den Rhapsodien op. 11, die Volksmusik auf geschickte, aber<br />
doch konventionelle Weise eingeb<strong>und</strong>en, gewann diese – meist gesungene –<br />
Volksmusik <strong>für</strong> seine Werke bald strukturelle Bedeutung. Béla Bartóks<br />
Aussage, "dass es nicht genügt, lediglich Motive der Bauernmusik oder<br />
Nachahmungen solcher Motive der Kunst einzuverleiben, (weil) das nur<br />
einen äußerlichen Aufputz bedeuten würde", gilt auch <strong>für</strong> Enescu.<br />
Es ist nicht nur die Exotik der Volksmusik, die er sich zunutze macht, es<br />
sind ihre Prinzipien – zum Beispiel das Primat der Melodie: In Enescus<br />
einziger Oper "Oedipe", aber auch in vielen anderen Werken, findet sich<br />
tonale neben bitonaler, modale neben vollkommen atonaler Harmonik, die<br />
nie Selbstzweck ist, sondern einem einzigen Ziel dient – den Charakter der<br />
Melodie zu wahren <strong>und</strong> zu betonen.<br />
Scheint es ihm anders nicht möglich, lässt Enescu das gesamte<br />
Orchester unisono aufspielen (in der ersten Orchestersuite op. 9 einen<br />
ganzen Satz lang), oft unterlegt er der Melodie nur Orgelpunkte oder<br />
Bordunquinten oder fächert sie in polyphoner Engführung auf in die<br />
Mehrstimmigkeit – das Prinzip der Heterophonie. All das hat der <strong>für</strong> seine<br />
Höflichkeit <strong>und</strong> lichte Fre<strong>und</strong>lichkeit bekannte Komponist der rumänischen<br />
Bauernmusik abgehorcht. All das <strong>und</strong> noch mehr: Den chromatischen<br />
Aufbau der zugr<strong>und</strong>e liegenden Tonleitern, den ungemein lyrischen<br />
Ausdruck <strong>und</strong> den rezitativartigen "langen" Gesang (cântec lung), der nie<br />
stagniert <strong>und</strong> voll Schmerz <strong>und</strong> Sehnsucht sein Ziel sucht.<br />
Dass die genannten Kompositionsprinzipien rumänischer Provenienz sind,<br />
ist Enescus Werken manchmal anzuhören – oft jedoch auch nicht. Den<br />
Schritt vom nationalen zum universalen Komponisten hat er souverän<br />
vollzogen.<br />
Symphoniker im Herzen<br />
Auch Lieder hat Enescu komponiert <strong>und</strong> Chorwerke, daneben große,<br />
hervorragende Kammermusik <strong>und</strong> eine Oper, "Ödipus", von erschlagender<br />
Wucht. Doch im Gr<strong>und</strong>e seines Herzens war der Lehrer Yehudi Menuhins<br />
Symphoniker: "Symphonisch ... ist die Bezeichnung, die ich <strong>für</strong> mein<br />
Lebenswerk beanspruche, in das ich meine ganze Seele gelegt habe. Aber<br />
wenn ich Symphoniker bin, dann heißt das, dass ich mich (nur) so<br />
ausdrücken kann, ohne Absicht." Mit "symphonisch" dürfte Enescu, der<br />
gerne blumig formulierte <strong>und</strong> ganz in romantischer Tradition davor<br />
zurückscheute, seine künstlerischen Mittel offen zu legen, wohl Folgendes<br />
gemeint haben: Den Umgang mit großen Formen <strong>und</strong> Klangkörpern, die<br />
Entwicklung aus autonomer musikalischer Motivation eher als die<br />
- 61 -
Orientierung an außermusikalischen Programmen oder dramatischen<br />
Vorlagen.<br />
Enescus offizieller Werkkatalog – mit den seiner Ansicht nach "gültigen"<br />
Kompositionen – enthält r<strong>und</strong> 40 Kompositionen, denen die Opuszahlen 1-<br />
33 zugeordnet sind. Viele sind <strong>für</strong> Orchester geschrieben: Eine konzertante<br />
Symphonie <strong>für</strong> Cello <strong>und</strong> Orchester (op. 8), zwei Rumänische Rhapsodien<br />
(op. 11), drei Orchestersuiten (op. 9, op. 20, op. 27), zwei Intermezzi <strong>für</strong><br />
Streicher (op. 12), das symphonische Poem "Vox Maris" (op. 31), eine<br />
Konzertouvertüre über Themen im rumänischen Volkscharakter (op. 32),<br />
eine Kammersinfonie <strong>für</strong> zwölf Instrumente als letztes Werk (op. 33),<br />
schließlich drei vollendete (op. 13, op. 17, op. 21) Sinfonien <strong>und</strong> zwei<br />
unvollendete (ohne Opuszahl), die der Komponist <strong>und</strong> Musikwissenschaftler<br />
Pascal Bentoiu vor einigen Jahren komplettiert hat.<br />
George Enescus populärste Werke sind zweifellos die erwähnten<br />
Rumänischen Rhapsodien op. 11 (1901/1902), zwei eingängige Reißer, die<br />
zwar hervorragend instrumentiert <strong>und</strong> dramaturgisch geschickt aufgebaut<br />
sind, aber doch arg das Klischee vom "Nationalkomponisten" bedienen. Nicht<br />
von ungefähr war Enescu unglücklich darüber, dass er stets <strong>und</strong> vor allem<br />
diese beiden Frühwerke mit ihren relativ oberflächlichen Folklorismen<br />
dirigieren sollte.<br />
Ende des Lebens<br />
George Enescu <strong>und</strong> Rumänien – sie sollten am Ende nicht mehr<br />
zusammenkommen. 1946 hatte der Meister sein Heimatland verlassen,<br />
offiziell, um nach langer Kriegszeit wieder einmal im Ausland zu<br />
konzertieren. Es wurde ein Abschied <strong>für</strong> immer <strong>und</strong> der einzige Weg, um der<br />
Vereinnahmung durch die neuen kommunistischen Machthaber zu<br />
entgehen. Diese ächteten wenig später den größten rumänischen<br />
Komponisten. Der Kritik von drittklassigen Tonsetzern im<br />
Komponistenverband folgte am Ende der Ausschluss: Werke Enescus<br />
wurden aus den Konzertprogrammen gestrichen.<br />
Schließlich aber die Versöhnung auf Distanz: Höfliche Einladungen aus<br />
Rumänien, Rehabilitation <strong>und</strong> öffentliche Verlautbarungen. Enescu, so hieß<br />
es, wünsche nichts sehnlicher, als noch einmal zurückzukehren ins Land<br />
hinter den Karpaten, auf den "Boden voller Sagen <strong>und</strong> Legenden", in dem er<br />
so tief verwurzelt war. "Ihr Herz bedarf in erster Linie der Wärme, mit der Sie<br />
das Volk erwartet, dem Sie Ihr ganzes Leben so ergeben gedient", schrieb<br />
Staatschef Petru Groza. Schließlich die Botschaft, die offiziell Gültigkeit bis<br />
1989 hatte: Die Krankheit lasse eine Heimkehr nicht zu.<br />
Nun war Enescu Anfang der 50er Jahre zwar körperlich mehr als<br />
angeschlagen, doch <strong>für</strong> Konzerte in New York <strong>und</strong> London reichte die Kraft<br />
allemal. Dennoch war eine Reise nach Rumänien <strong>für</strong> ihn nicht mehr<br />
denkbar. Er litt mit "seinem" Land, von dem er lange profitiert <strong>und</strong> dem er<br />
- 62 -
dann alles doppelt <strong>und</strong> dreifach zurückgegeben hatte. Doch sehen wollte er<br />
es nicht mehr. Am 4. Mai 1955 starb er im Vier-Sterne-Hotel Atala in Paris.<br />
Johannes Killyen (killyen@gmx.de), geboren 1971 in Kronstadt/Brasov als angehöriger der<br />
Siebenbürger Sachsen in Rumänien, mit den Eltern 1980 ausgewandert, in Baden-Württemberg<br />
aufgewachsen. Studierte ab 1993 in Münster, Cluj (Klausenburg) <strong>und</strong> Halle/Saale Musikwissenschaft,<br />
Französisch <strong>und</strong> Kunstgeschichte. Magisterarbeit über Enescus Oper "Oedipe" (Ödipus). Tätigkeit als<br />
Musikrezensent <strong>für</strong> Tages- <strong>und</strong> Fachpresse, im Jahr 2000 Volontariat bei der Mitteldeutschen Zeitung<br />
Halle, danach freier <strong>Kultur</strong>journalist. 2003 Pressesprecher der Evangelischen Landeskirche Anhalts in<br />
Dessau.<br />
Homepage<br />
www.suedost-musik.de<br />
- 63 -
Bucureşti / Bukarest<br />
Stadt der Kontraste<br />
Zwischen meinem ersten <strong>und</strong> letzten Spaziergang durch diese Stadt, in der ich<br />
aufgewachsen bin, liegen vierzig Jahre. Vieles hat sich nach der Revolution<br />
verändert,<br />
zum Guten <strong>und</strong> zum weniger Schönen. Doch die Calea Victoriei ist geblieben, das<br />
Athenäum, das Naturgeschichtliche Museum, das Kunstmuseum, der Königliche<br />
Palast, der Triumphbogen, der Herastrau-See, der Unirii-Platz, der<br />
Universitätsplatz, der Romana-Platz <strong>und</strong> vieles andere.<br />
Von Irina Wolf<br />
(01. 01. 2007)<br />
"Manchmal erinnere ich mich an die Zeiten <strong>und</strong> Menschen, die es in unserer<br />
Gegend gab, als ich mein Leben begann." Ungefähr so beginnt eines der<br />
schönsten Bücher des rumänischen Autors Ion Creanga: "Erinnerungen aus der<br />
Kindheit". So wie er blickt jeder von uns ab <strong>und</strong> zu auf seine Kindheit zurück.<br />
Meine spielte sich in der Hauptstadt Rumäniens, im Bukarest der 70er <strong>und</strong> 80er<br />
Jahre ab. Trotz des Kommunismus war es eine w<strong>und</strong>erschöne Zeit.<br />
Was wäre eine Stadt ohne Altstadtkern?! Ich kann mich sehr gut an das<br />
geheimnisvolle Viertel r<strong>und</strong> um die Ruine des alten Fürstenhofs des Vlad Tepes<br />
<strong>und</strong> die Lipscani Straße erinnern. Als Kind begleitete ich wöchentlich meine sehr<br />
elegante Mutter in diese Gegend zum Frisör. Anschließend landeten wir direkt<br />
auf der Lipscani Straße (benannt nach Händlern aus Leipzig), wo ich die Freude<br />
hatte, Salz- <strong>und</strong> Mohnbrezen zu essen. Da die Händler ihre Ware auf der Straße<br />
verkauften <strong>und</strong> mit lauter Stimme die K<strong>und</strong>en anzulocken versuchten, fühlte ich<br />
mich in dieser Gegend oft wie auf einem orientalischen Basar.<br />
Obwohl ich nicht glaube, dass meine Mutter ahnte, wo ich als Erwachsene<br />
leben würde, hatte sie die Inspiration, mich in die deutsche Schule zu schicken;<br />
eine ganz spezielle Schule im damaligen Bukarest: Eine Schule, in der Rumänisch<br />
Fremdsprache, von Russischlernen keine Rede war, wo Ordnung, Disziplin <strong>und</strong><br />
Gemeinschaftszugehörigkeit als Hauptmerkmale der Erziehung galten. Die<br />
Lehrer waren meistens Schwaben <strong>und</strong> Sachsen aus Rumänien. Heute leben wir<br />
alle, ehemalige Schüler <strong>und</strong> Lehrer, auf vielen Erdteilen verstreut, <strong>und</strong> trotzdem<br />
gibt es jährlich ein großes Treffen, sei es in Bukarest oder in Deutschland.<br />
Wie alle braven Eltern haben auch meine sich sehr um meine Freizeitaktivitäten<br />
gekümmert. So folgten der Reihe nach Ballett-, Tennis-, Schwimm-, Klavier- <strong>und</strong><br />
Malkurse. Die meisten davon fanden im Cotroceni Palast, dem heutigen<br />
Präsidentensitz, statt. Der Palast wurde 1888 vom Fürsten Carol I. im<br />
venezianischen Stil erbaut. Während meiner Kindheit war er der Palast der<br />
Pioniere, eine Kinder- <strong>und</strong> Jugendorganisation im Kommunismus. In Gedanken<br />
spaziere ich noch heute auf den Promenadenwegen durch den großen Garten<br />
zum Malkurs im Tal oder zum Klavierkurs den Hügel hinauf zum Palastgebäude.<br />
- 64 -
Wie viele andere Gebäude wurde leider auch der Cotroceni Palast beim<br />
großen Erdbeben 1977 zerstört. Damals war ich 14 Jahre alt <strong>und</strong> kann mich noch<br />
an die Nacht mit Vollmond erinnern. Mit einer Klassenkollegin fuhren wir nach<br />
der Schule nach Hause <strong>und</strong> bereiteten uns vor, noch <strong>für</strong> eine Prüfung zu lernen. Es<br />
kam aber nicht mehr dazu, zumindest nicht an diesem Abend. Das Wackeln des<br />
Lusters <strong>und</strong> das Krachen der Wände unserer Wohnung, in denen sich immer<br />
größere Risse zeigten, erschien mir endlos. Als endlich alles aufgehört hatte,<br />
waren auf dem Luster nur mehr drei von fünf Leuchten, der Strom war ausgefallen<br />
<strong>und</strong> das Telefon funktionierte nicht. Aber wir hatten überlebt. Viele hatten nicht<br />
so viel Glück. Es gab zahlreiche Tote <strong>und</strong> die Innenstadt war tagelang gesperrt.<br />
Zu Fuß schauten wir uns die Ruinen bekannter Hotels an <strong>und</strong> fuhren noch<br />
monatelang auf unserem Schulweg an Gebäuden vorbei, die saniert wurden.<br />
Zehn Jahre brauchte man, um den Cotroceni Palast zu renovieren. Leider wurde<br />
die von Stefan Cantacuzino 1679 errichtete Kirche, um die herum nachträglich der<br />
Palast gebaut wurde, 1985 vom Diktator Nicolae Ceausescu niedergerissen. 1995<br />
habe ich den Palast – inzwischen zu einem Museum umgewidmet – besichtigt. Der<br />
Gang durch den Eingangssaal, die prachtvolle Ehrenstiege hinauf <strong>und</strong> durch die<br />
Räumlichkeiten, wo die ehemalige königliche Familie gewohnt hatte, war<br />
beeindruckend.<br />
Es gibt zahlreiche Paläste in Bukarest, elegante Bauten der ehemaligen<br />
Bojaren. Die meisten wurden während der Herrschaft von Carol I. (1866-1914)<br />
errichtet <strong>und</strong> liegen an einer der wichtigsten Straßen Bukarests, der Calea<br />
Victoriei. Es sind das: der Cantacuzino Palast (heute das Museum des<br />
Komponisten George Enescu, ein w<strong>und</strong>erschönes Gebäude mit einem von<br />
Löwenstatuen bewachten Eingang), das Athenäum, der Königliche Palast<br />
(Wohnort des Königs Mihai bis 1947 <strong>und</strong> anschließend der kommunistischen<br />
Herrscher), das Senatsgebäude, der Palast der Post, der Militär-Club <strong>und</strong><br />
schließlich der monumentale CEC-Palast (Sparkassenzentrale).<br />
Von allen Kursen während meiner Kindheit haben die Malkurse den größten<br />
Eindruck hinterlassen, sodass ich das Bukarester Kunstmuseum, das in einem Teil<br />
des königlichen Palastes untergebracht ist, oft besuchte. Eine reiche<br />
Bildersammlung rumänischer Maler ist zu sehen, einige wenige seien hier<br />
erwähnt: Nicolae Grigorescu, Ion Andreescu, Stefan Luchian <strong>und</strong> Camil Ressu<br />
erwähnt, daneben Meisterwerke italienischer, holländischer <strong>und</strong> spanischer<br />
Künstler sowie spätbyzantinische Ikonen.<br />
Das Athenäum, ein beeindruckender Musiktempel mit klassizistischem<br />
ionischen Säulenportal, wurde 1885 vom Architekten Albert Galleron entworfen.<br />
Hinter der mit einem Dreiecksgiebel abgeschlossenen Vorhalle erhebt sich das<br />
eigentliche Konzerthaus, ein kuppelgedeckter R<strong>und</strong>bau. Vor dem Gebäude<br />
befindet sich die Statue des bekanntesten Dichters Rumäniens, Mihai Eminescu.<br />
Ich hörte in meiner Jugend im Athenäum, dem Sitz der Staatsphilharmonie<br />
George Enescu, viele Konzerte.<br />
Vor vielen Jahren hatte ich auch die Freude, anlässlich der Hochzeit meines<br />
Cousins den Militär-Club von innen zu erleben. In seiner Nähe, am<br />
- 65 -
Universitätsplatz, befinden sich ältere, beeindruckende Gebäude. Dieser galt in<br />
meiner Jugend als klassischer Treffpunkt, man traf sich entweder bei der Uhr<br />
oder beim "Pferdeschwanz". Mit Letzterem ist die Reiterstatue von Mihai Viteazul<br />
vor dem Universitätsgebäude gemeint. Die Universität, errichtet 1864, <strong>und</strong> der<br />
Platz r<strong>und</strong>herum mit dem 1895 gebauten Justizpalast, dem alten Rathaus <strong>und</strong> dem<br />
alten Parlamentsgebäude sind das Zentrum Bukarests.<br />
Heute ist jedoch das bekannteste Gebäude Bukarests das neue<br />
Parlamentsgebäude, eine Mega-Konstruktion auf 330.000 m 2 Fläche, die an die<br />
Vorstellungen des ehemaligen Diktators erinnert. Errichtet zwischen 1985 <strong>und</strong><br />
1989, ist es nach dem Pentagon das zweitgrößte Gebäude der Welt. Als ich 1991,<br />
nach drei Jahren Auslandsaufenthalt, nach Bukarest zurückkehrte, war dieser<br />
gigantische Bau <strong>und</strong> davor der endlos lange, mit Springbrunnen gestaltete<br />
Boulevard bis zum Unirii Platz einer der stärksten, nicht unbedingt positiven<br />
Eindrücke im neuen Bukarest. Erst fünfzehn Jahre später besuchte ich ihn bei<br />
einem R<strong>und</strong>gang. Die Geschichte (während der Baumaßnahmen waren 400<br />
Architekten <strong>und</strong> 20.000 Arbeiter beschäftigt) <strong>und</strong> die Ausstattung (Räume mit bis<br />
zu 2000 m 2 , Hallen <strong>und</strong> Galerien aus Marmor, Tausende Tonnen von Lustern,<br />
H<strong>und</strong>erttausende Tonnen von Bronze <strong>und</strong> Holz <strong>für</strong> monumentale Türen sowie<br />
Tausende Quadratmeter gold- <strong>und</strong> silberbestickter Samt- <strong>und</strong> Brokatvorhänge)<br />
sind beeindruckend. Daneben sind es immer auch die Kleinigkeiten, die einem<br />
auffallen, wie zum Beispiel die Schwierigkeit beziehungsweise Unmöglichkeit,<br />
das Gebäude insgesamt sauber zu halten, die Vorhänge zu säubern, die Türen<br />
neu zu streichen <strong>und</strong> die Luftballons, aus denen schon längst die Luft entwichen<br />
ist, von den hohen Lustern herunter zu holen. An diese Kleinigkeiten hat der<br />
ehemalige Diktator keinen Gedanken verschwendet.<br />
Wie in jeder Großstadt gibt es auch in Bukarest nicht nur Gebäude, sondern auch<br />
schöne Gärten <strong>und</strong> Parks, obwohl Bukarest heute weit entfernt ist von einer<br />
umweltfre<strong>und</strong>lichen, "grünen" Stadt. Gegenüber dem Cotroceni Palast befindet<br />
sich der Botanische Garten, durch den ich mit meinen Eltern oft spazieren<br />
gegangen bin. Sicherlich kennen manche von Euch das eigenartige Gefühl, nach<br />
vielen, vielen Jahren mit dem eigenen Kind die gleichen Wege zu gehen, den<br />
kleinen See mit den schönen Fischen <strong>und</strong> die vielen Blumen wiederzusehen.<br />
Ein w<strong>und</strong>erschöner Garten ist der Cismigiu, fast im Zentrum der Stadt,<br />
gegenüber dem Rathaus. Er wurde 1843 von Carl Meyer entworfen <strong>und</strong> grenzt an<br />
ein bekanntes Lyzeum, die Schule Gheorghe Lazar. Darin verbrachte ich meine<br />
letzten vier Jahre als Schülerin; durch den Garten liefen wir im Sportunterricht.<br />
Heute ist Cismigiu ein Schmuckstück Bukarests mit sehr gepflegten<br />
Blumenrabatten, alten Bäumen <strong>und</strong> einem See, auf dem man Ruderboot fahren<br />
kann. Die in der Schule am Cismigiu Park verbrachten Jahre erinnern mich auch<br />
an einen Novemberabend 1979, als ich eine Premiere erlebte: die Fahrt mit der<br />
ersten Bukarester U-Bahn. Obwohl ich mit meinen Schulkollegen damals nur eine<br />
Station gefahren bin, waren wir sehr stolz auf das neue öffentliche Verkehrsmittel.<br />
Der größte Park Bukarests ist Herastrau. Er befindet sich im nördlichen Teil der<br />
Stadt <strong>und</strong> umfasst circa 110 ha. Die Architekten Pinard <strong>und</strong> Rebhun haben die<br />
Pflanzen ausgewählt (zum Beispiel die Roseninsel sowie zahlreiche Büsche <strong>und</strong><br />
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Bäume); der Einfluss der Gründer ist heute noch spürbar. Durch seine Größe<br />
bietet der Park sowohl Erholungsmöglichkeiten <strong>für</strong> Großeltern, die mit ihren<br />
Enkeln spazieren gehen oder eine Bootsfahrt auf dem Herastrau-See machen, als<br />
auch Sportmöglichkeiten <strong>für</strong> Tennisspieler <strong>und</strong> Inlineskater. In den zahlreichen<br />
Restaurants kann man lustige Abende verbringen; das älteste <strong>und</strong> größte ist "Die<br />
Möwe" am Seeufer.<br />
Diese grünen Flächen sind <strong>für</strong> mich im heutigen dynamischen, aber sehr<br />
hektischen Bukarest, das ein Ort des täglichen Verkehrschaos <strong>und</strong> der<br />
durchgängig geöffneten Geschäfte ist, wahre Oasen.<br />
Die Gegend r<strong>und</strong> um den Herastrau Park ist eine der schönsten <strong>und</strong><br />
wohlhabendsten Bukarests. Einer der Eingänge im Herastrau Park ist bekannt<br />
durch den Triumphbogen, der 1922 als Denkmal des Sieges rumänischer<br />
Truppen im Ersten Weltkrieg errichtet wurde. Ganz wie in Paris strömt auch hier<br />
der Verkehr von einer Reihe großer Straßen sternförmig auf den monumentalen<br />
Bogen zu.<br />
Ein paar sehenswürdige Museen grenzen an den Herastrau Park oder sind in<br />
der Nähe gelegen. Das Dorfmuseum ist eine besondere Attraktion. Es ist ein<br />
Freilichtmuseum, das Bauernhöfe aus allen Teilen Rumäniens vereint. In der Nähe<br />
befindet sich ein weiteres empfehlenswertes Museum, das naturgeschichtliche<br />
Museum "Antipa". Mein Sohn, der als Kind davon träumte, Paläontologe zu<br />
werden, hatte viel Freude bei der Entdeckung der Weichtiersammlung, die mehr<br />
als 110.000 Exemplare enthält, der Krebstiere mit 40.000 Exemplaren, oder der<br />
Fischsammlung mit 10.000 Exemplaren (Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere<br />
<strong>und</strong> Insekten).<br />
Trotz des Kommunismus war die Kunst in Bukarest sehr hoch geschätzt. Obwohl<br />
wir in den Theatern ziemlich froren (die Garderobe war leer, da nicht geheizt<br />
wurde, man empfahl uns, mit den Mänteln in den Saal zu gehen), war der Großteil<br />
der Theaterstücke <strong>und</strong> Konzerte ausverkauft. Bukarest besaß damals schon viele<br />
<strong>und</strong> sehr gute Theater mit hervorragenden Schauspielern. Für mich, wie auch <strong>für</strong><br />
mehrere meiner damaligen Schulkollegen, die heute im Ausland leben, ist ein<br />
Theaterbesuch in Bukarest bei einem "Heimbesuch" ein Muss. Und vielleicht wird<br />
gerade ein Stück gegeben, in dem ich einen meiner Lieblingsschauspieler aus<br />
meiner Jugend wieder sehen werde.<br />
Das wohl bekannteste <strong>und</strong> größte Theater ist das Nationaltheater, das sich am<br />
Universitätsplatz befindet <strong>und</strong> an das Hotel Intercontinental grenzt. In meiner<br />
Kindheit sah das Gebäude anders aus, es hatte einen "Hut" als Dach - "Caragiale’s<br />
Hut", benannt nach dem bekanntesten rumänischen Theaterschriftsteller Ion Luca<br />
Caragiale. 1973 wurde es renoviert <strong>und</strong> blieb ohne "Hut". Die Säle, Theaterstücke<br />
<strong>und</strong> selbstverständlich auch die Schauspieler glänzen aber im Nationaltheater<br />
noch immer.<br />
Eine Metropole wie Bukarest bietet eine große Auswahl an kulturellen <strong>und</strong><br />
kirchlichen Angeboten. Jedes Jahr werden neue Kirchen gebaut. Obwohl es<br />
während des Kommunismus nicht ratsam war, in der Nähe der Kirchen Bukarests<br />
- 67 -
gesehen zu werden, erinnere ich mich an die Osterzeit, zu der die<br />
Menschenmassen auf die Straßen strömten. Die Polizisten sicherten sogar die<br />
Gegend r<strong>und</strong> um die Kirchen zum Schutz der Menschen vor den Autos ab. Es ist<br />
Brauch im rumänisch-orthodoxen Glauben, in der Osternacht zur Messe zu gehen<br />
<strong>und</strong> um Mitternacht "Licht zu holen". Um diese Uhrzeit kommt der Priester aus der<br />
Kirche heraus, <strong>und</strong> jeder der Anwesenden nimmt Licht von einem Nachbarn <strong>und</strong><br />
gibt das Licht an den Nächsten weiter. Mit Staunen sah ich im Kommunismus zu,<br />
wie die Menschen dies taten <strong>und</strong> anschließend mit den brennenden Kerzen in<br />
Busse sowie die eigenen Autos stiegen oder zu Fuß nach Hause gingen. Diese<br />
scheinbare Religionsfreiheit konnte nicht verhindern, dass 1987 eine der<br />
bekanntesten Kirchen Bukarests niedergerissen wurde.<br />
Die "Heilige Freitag", die Kirche der Auferstehung, die Beschützerin<br />
Bukarests, war eine schöne Kirche. Ich bekam sie während meiner Kindheit oft<br />
von Außen zu sehen, da sie sich in der Nähe der Wohnung meiner Paten befand,<br />
zu denen wir oft auf Besuch gingen. Das Ceausescu-Paar war bekannt da<strong>für</strong>, dass<br />
es auf seinen Fahrten durch Bukarest keine Kirchen sehen wollte. Daher<br />
versuchten die Architekten zuerst, alle Kirchen "nach innen", das heißt von der<br />
Straßenseite weg zwischen die Wohnhäuser zu versetzen. Bei manchen<br />
funktionierte das aber nicht. So auch bei der "Heiligen Freitag"-Kirche, die<br />
niedergerissen wurde. 2000 Leute waren anwesend <strong>und</strong> schleuderten dabei ihren<br />
Fluch gegen die damalige Regierung. Gott sei Dank ist der historische Bau der<br />
Erzbischofskathedrale erhalten geblieben.<br />
Das war nur ein kurzer Bericht, ein paar wenige Gedanken. Vierzig Jahre sind<br />
vergangen <strong>und</strong> nur drei Monate seit meinem ersten <strong>und</strong> bisher letzten<br />
Spaziergang durch Bukarest. Nach der Revolution hat sich vieles verändert, zum<br />
Guten <strong>und</strong> zum weniger Schönen. Doch die Calea Victoriei ist geblieben, das<br />
Athenäum, das Naturgeschichtliche Museum, das Kunstmuseum, der Königliche<br />
Palast, der Triumphbogen, der Herastrau-See, der Unirii-Platz, der<br />
Universitätsplatz, der Romana-Platz usw. Alle Erinnerungen können aufgefrischt<br />
werden <strong>und</strong> darüber hinaus ist noch viel Neues zu entdecken.<br />
Auch gute Architekturmodelle (z.B. das neue Novotel, World Trade Plaza) sind zu<br />
sehen. Doch der Parlamentspalast sprengt alle Grenzen. Schade, dass viele<br />
schöne Bauten der Belle Epoche zerfallen, da die Mittel zur Restaurierung fehlen.<br />
Irina Wolf (wolfirina@yahoo.com) wurde in Bukarest geboren. Nach Abschluss ihres<br />
Informatikstudiums kam sie 1988 durch ein Herder-Stipendium nach Wien. Nach mehreren Jobs im<br />
Telekommunikations- <strong>und</strong> Forschungsbereich wechselte sie 1993 in den Handelsbereich. Seitdem<br />
arbeit sie bei der Friedrich Wilhelm GmbH & Co.KG <strong>und</strong> hält weiterhin engen Kontakt mit Rumänien.<br />
- 68 -
...<br />
Wie man schwarze Augen trägt<br />
Wenn die Klischees zu Bildern werden<br />
.<br />
Von Teresa Präauer<br />
(01. 01. 2007)<br />
...<br />
Teresa Präauer: Aus: Drei "Kopftuchköpfe". 40 x 40. Buntstift, Tusche, Aquarell/Papier. 2006<br />
Wie man schwarze Augen trägt<br />
wenn die Klischees zu Bildern werden<br />
Beim Blättern durch alt gewordene rumänische Reiseliteratur entdecke<br />
ich sie immer <strong>und</strong> immer wieder: beispielsweise die rosenrankenden<br />
Tuchmuster, die die Frauenköpfe ummanteln. Die einen Rahmen bilden<br />
um ein Augenpaar, das sich entdeckt fühlt, im Vorüberfahren noch<br />
einmal skeptisch blinzelt oder aber bereitwillig grinst, sich zeigt <strong>und</strong><br />
- 69 -
ausstellt: den Frauenkörper, in Pose geworfen <strong>und</strong> ausgestattet mit<br />
einem Kopftuch als stereotyp gewordenes Accessoire des<br />
Rückständigen, als unmodisches Attribut unserem Blick längst lästig.<br />
Das Kopftuch steht nicht immer oder schon lang nicht mehr <strong>für</strong><br />
Schmuck, sondern <strong>für</strong> Arbeit <strong>und</strong> Zweckmäßigkeit, <strong>für</strong> unschicken<br />
Schutz vor Wind <strong>und</strong> Wetter, auch: <strong>für</strong> das weibliche Sich-Verstecken,<br />
Sich-Anschmiegen, Sich-Einpassen in eine Gesellschaft, in der der<br />
Mann das Lenkrad von Fortschrittlichkeit <strong>und</strong> Mobilität in seiner Hand<br />
hält. Und hier fällt mir eine zweite Abbildung ein, die <strong>für</strong> das Rumänien<br />
der Reiseführer als Metapher gelten könnte: ein Pferdefuhrwerk, dessen<br />
klobige Räder das Gehäuse, die Blech-Ummantelung eines Autos ohne<br />
Fahrgestell tragen. Am Lenkrad sitzt ein frecher Kerl, der, von seinen<br />
Kumpanen flankiert, die Straße einer Ortschaft entlang rattert, wie um<br />
sein Besitztum öffentlich zu machen. Diese neue Hülle über altem<br />
Werkel könnte aber nicht nur dazu dienen, politisch-wirtschaftlichgesellschaftliche<br />
Bedingungen von Fortschritt <strong>und</strong> Fortschreiten zu<br />
illustrieren, sondern ihre Frage an die Bildhaftigkeit selbst zu stellen:<br />
Das Klischee hat als Werkzeug des mechanischen<br />
Vervielfältigungsprozesses die Vormachtstellung über die Form des<br />
gedruckten Abbilds. Es fragt, so scheint es mir in der beschriebenen<br />
Abbildung, <strong>für</strong> welche neuen Bildvorlagen wir unsere alten entsorgen.<br />
- 70 -
...<br />
Teresa Präauer: Aus: Drei "Kopftuchköpfe". 40 x 40. Buntstift, Tusche, Aquarell/Papier. 2006<br />
.....<br />
Sodann: In dem entsorgten Material der aus der Mode gekommenen<br />
Bilder kann nun die mit einem Pinsel bewaffnete Hand fischen <strong>und</strong><br />
finden. Dort, wo die Klischees entsorgt sind, befriedet sind, sich nicht<br />
mehr als Hingucker andienen. – Aber hier ist noch etwas aufgeladen!<br />
Und da schlägt die fette Farbspur der Erinnerung durch, <strong>und</strong><br />
manchmal bemerkt man, dass das entsorgte Bild, wo es als Paus-<br />
Papier über dem aktuellen, zeitgemäßen zu liegen kommt, noch<br />
gemeinsame Konturen findet.<br />
Einen Dienst an der Erinnerungsarbeit, die Denken ist, scheint auch<br />
die Mode, prêt à porter et traduire, zu leisten, wenngleich sie sich <strong>für</strong><br />
den kuscheligen Teil der Arbeit entscheiden darf: sie nimmt sich die<br />
Zeichen ohne Rücksicht auf deren Bedeutung. Im Winter 2006/07<br />
führen bestickte Felljacken <strong>und</strong> Reiterstiefel vorindustriell anmutenden<br />
Osteuropa-Schick in der Wiener Innenstadt spazieren.<br />
Das Schönste bei der Weihnachtsmesse im ländlichen Oberösterreich<br />
der 50er <strong>und</strong> 60er Jahre sei es gewesen, nach der Bescherung alle<br />
- 71 -
Köpfchen durchzuzählen <strong>und</strong> dabei zu prüfen <strong>und</strong> zu entdecken, wie<br />
denn das jeweils neue Tüchel der Fre<strong>und</strong>in oder Nachbarin aussähe,<br />
erzählt mir meine Mutter schmunzelnd. Ich stelle mir das als großes<br />
buntes Ornament der floral-geometrischen Neuigkeiten vor, von oben<br />
gesehen ein Teppich aus Locken, Tüchern, Mustern, Bändern über den<br />
kalten, steinernen Boden der Landkirche gestreut.<br />
Dort entsteht – bei mir, in meiner Arbeit –, ganz nostalgiefrei, eine Lust,<br />
alles, was es gibt <strong>und</strong> was geboten wird, als Bild aus Struktur <strong>und</strong><br />
Form zu betrachten. Im neuen <strong>und</strong> alten Abbilder-Müll zu stöbern <strong>und</strong><br />
herauszuziehen, was noch leuchtet. Und dort hinzuhören, wo Sprache<br />
zischt <strong>und</strong> Rhythmus hat <strong>und</strong> sich die Bilder zu den Worten gesellen<br />
<strong>und</strong> umgekehrt. Wo sie in der Vorstellung tief farbig werden, satt an<br />
Farbe. Dort hinzuhören, wo das Bild zu sprechen beginnt <strong>und</strong><br />
beispielsweise etwas beschreibt vom Ausstaffieren der menschlichen<br />
Figur, sodass der Körper wieder seinen Weg heraussuchen muss aus<br />
dem Stoff <strong>und</strong> überall hervorbricht, wo eine Öffnung vom Spitzensaum<br />
vorgegeben <strong>und</strong> eingefasst worden ist.<br />
...<br />
- 72 -
Teresa Präauer: Aus: Drei "Kopftuchköpfe". 40 x 40. Buntstift, Tusche, Aquarell/Papier. 2006<br />
...<br />
Dass die Menschen auf diesen Bildern wie Berge sind, Tuchhügel mit<br />
Gesichtswald voller Lebensbäume <strong>und</strong> Lippen-Wall, rot gekennzeichnet.<br />
Hier ist es vielleicht, das Gesicht, ganz "Wüstenhochebene, sehr<br />
bewegt, pathetische schr<strong>und</strong>ige Wirbel, Flammen, drinnen, vertufft",<br />
wie der rumänische Dichter Caius Dobrescu schreibt. Es sind<br />
Skulpturengesichter mit Turmfrisuren, von Blumentüchern umknotet,<br />
mit Spangen am Haar gehalten. Es ist schwarzer Rock- <strong>und</strong><br />
Kopftuchstoff mit leuchtend pinken Rosen, die aus Frauen Kegelfiguren<br />
<strong>und</strong> aus ihren umrissenen Köpfen Trapezformen machen, ein ganzes<br />
Schlemmer-Ballett der Bindebänder <strong>und</strong> Wickelschürzen um<br />
Menschenmitten mit kostbaren Seidenquasten. Auftritt der Filzhut als<br />
Kopfputz mit Pfauenfederbuschschmuck, die Hemden, an Ärmeln<br />
gefaltet, der Brustpelz aus Schafsfell zu Tuchhosen, Strümpfen,<br />
Schaftstiefeln. Das Tuch, das die Trägerin selbst zum eckigen Zeugstück<br />
macht. Die erstarrte Pose <strong>für</strong>s Bildquadrat <strong>und</strong> ihre Sammlung der<br />
Farbigkeiten <strong>und</strong> Menschenblicke <strong>und</strong> Tuchmuster. Aus all dem<br />
Abgelegten blickt eins aus dem Plissee der Farbschichten: schöner ein<br />
Gesicht, wie Klopstock singt, <strong>und</strong> dies tut es stets gegenwärtig.<br />
Anmerkungen<br />
...<br />
Der Titel "Wie man schwarze Augen trägt" verweist auf das "Taschenpoem" von<br />
Filip Brunea-Fox, übersetzt von Ernest Wichner in der Lyrik-Anthologie "Auf der<br />
Karte Europas ein Fleck". Zürich. 1991. (= Ammann)<br />
Einige Gedichte von Caius Dobrescu sind nachzulesen in einem Buch über "Poesie<br />
aus Rumänien": "Ich ist ein andrer ist bang", herausgegeben von Gregor Laschen.<br />
Der vorliegende Text "wie echt" ist übersetzt von Werner Dürrson. Bremerhaven.<br />
2000. (= edition die horen)<br />
Teresa Präauer, Studium der Germanistik in Salzburg <strong>und</strong> Berlin & Bildende Kunst in<br />
der Malereiklasse am Salzburger Mozarteum. Lebt als Bildende Künstlerin in Wien.<br />
Ausstellungen, Stipendien (bm:bwk), Ankauf (BKA), Preis (Land Oö.). Publikationen u.a.<br />
in: SALZ. Zeitschrift <strong>für</strong> Literatur. Heft 123, März 2006.<br />
- 73 -
Drei Gedichte<br />
.<br />
Von Erika-Elisabeth Mureşan<br />
(01. 01. 2007)<br />
Ein Augenblick<br />
zart-frisches Leben mein Geschenk an dich<br />
ist die Zeit eine Gabe an sich ist<br />
der Impuls Freiheit<br />
vielleicht<br />
staunt man viel oder<br />
liebt man zu selten das Menschliche in<br />
uns ist taub-stumme Faszination<br />
Ein Nahblick<br />
unwichtig<br />
grasgrüne Haut<br />
erhobene baumfrische Hügel<br />
so individuell <strong>und</strong> ganz<br />
mein<br />
Ein Orientierungsblick<br />
welches menschliche Gesicht welche<br />
Masken der Straßen<br />
welche Asphaltschritte welche<br />
Richtungsgedanken<br />
welcher Befreiungspuls welche<br />
Wortnuancen<br />
welches Du welches<br />
Ich<br />
Erika-Elisabeth Mureşan (erika.em@web.de), geboren am 20. Dezember 1983,<br />
siebenbürgisch-sächsischer Herkunft. Seit 2003 Studentin der Germanistik <strong>und</strong> Anglistik<br />
an der Babeş-Bolyai Universität in Klausenburg (Rumänien). Mitarbeit am Wörterbuch zur<br />
Zeitschrift "Echinox" unter der Leitung von Lektor Horea Poenar (2005). Veröffentlichung<br />
in der österreichischen Zeitschrift DUM (2005).<br />
- 74 -
Neue Reiselust gen Osten<br />
Tourismus <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>politik in der Westukraine<br />
...<br />
Es bleibt zu hoffen, dass sich zahlreiche engagierte <strong>und</strong> mutige Menschen<br />
finden, die auch der Grenzregion der südlichen Westukraine/Rumäniens eine<br />
Chance<br />
geben, sich zu entwickeln <strong>und</strong> zu wachsen. Der Reichtum an Sehenswürdigkeiten<br />
ist ein großer, den es zu entdecken <strong>und</strong> zu erleben gilt.<br />
Von Brigitte Macaria<br />
(01. 02. 2007)<br />
Sehr bald nach dem Fall des Eisernen Vorhanges wurde <strong>für</strong><br />
europäische, vor allem aber <strong>für</strong> außereuropäische, besonders USamerikanische<br />
<strong>und</strong> japanische Touristen, der Besuch des Städtedreiecks<br />
Wien-Budapest-Prag zu einer beliebten Reiseroute. In den letzten Jahren<br />
erweiterte sich dieses Dreieck <strong>für</strong> viele um die polnische Stadt Krakau, deren<br />
kultureller Reichtum das zentraleuropäische Mosaik um einige interessante<br />
Facetten erweitert <strong>und</strong> abr<strong>und</strong>et. Dem vorausgegangen waren enorme<br />
Anstrengungen zur Renovierung <strong>und</strong> Modernisierung der alten<br />
Residenzstadt der polnischen Könige. Dass in derselben historischen Region,<br />
jedoch von Krakau durch eine Staatsgrenze getrennt, eine weitere Stadt mit<br />
ähnlicher kultureller Bedeutung liegt, blieb vielen Touristen zwar vielleicht<br />
nicht verborgen, war jedoch wegen der lange Zeit schlechteren<br />
Erreichbarkeit meist nicht konkret erfahrbar. Die Rede ist hierbei von der<br />
alten Hauptstadt des ehemaligen K&K Kronlandes "Königreich Galizien <strong>und</strong><br />
Lodomerien" – Lemberg.<br />
Lemberg: Alte Handelsstadt <strong>und</strong> UNESCO-Weltkulturerbe<br />
Lemberg <strong>und</strong> ihre touristischen Reichtümer laden in den letzten Jahren<br />
vor allem kulturhistorisch interessierte Reisende (beziehungsweise<br />
Personengruppen mit biografischen Bezugspunkten zu dieser Region)<br />
zunehmend zu einer vielfältigen Entdeckungstour ein:<br />
Lemberg (poln.: Lwów, ukr.: L´viv), jene Stadt, die anlässlich ihrer<br />
Gr<strong>und</strong>steinlegung durch Fürst Danylo Halytskyj im Herbst 2006 ihr 750jähriges<br />
Jubiläumsfest feierte, liegt an den Schnittlinien verschiedener<br />
Herrschaftsräume <strong>und</strong> Sprachen. Dieser Diamant Osteuropas ist in vielerlei<br />
Hinsicht eine wahre Schatzkammer, die sich vor Vergleichen mit Krakau,<br />
Prag, Wien oder Budapest nicht zu scheuen braucht. Lemberg ist mit seinen<br />
über 2000 historischen, architektonischen <strong>und</strong> kulturellen Denkmälern ein<br />
Museum unter freiem Himmel. Der Stadtkern, welchem 1998 von der<br />
UNESCO der Weltkulturerbe-Status verliehen wurde, stammt aus der frühen<br />
Neuzeit <strong>und</strong> birgt vor allem Schätze aus der Renaissance <strong>und</strong> dem Barock.<br />
Neben den Kirchen <strong>und</strong> Bürgerhäusern der ehemals reichen Handelsstadt,<br />
am Kreuzungspunkt von Verkehrswegen zwischen Ostsee, Mittelmeer <strong>und</strong><br />
- 75 -
Schwarzem Meer, besitzt die Stadt über 20 nennenswerte Museen, welche<br />
über die Ukraine hinaus von Bedeutung sind.<br />
An erster Stelle steht zweifellos die Lemberger "Gemäldegalerie". Diese<br />
kann seit 2004 – neben dem bisherigen Ausstellungsgebäude in der<br />
Stefanyk-Straße – auch im ehemaligen Stadtpalais der Fürsten Potocki einen<br />
Teil ihrer Schätze präsentieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf<br />
Renaissance <strong>und</strong> Barock.<br />
Der mit 44 historisch bedeutenden Gebäuden eingefasste historische<br />
Marktplatz (Rynok) präsentiert sich in einer farbenprächtig restaurierten<br />
Fassadenfront aus Renaissance- <strong>und</strong> üppigen Barockbauwerken. Ebenfalls<br />
am Hauptplatz liegt das großzügig dimensionierte Apothekenmuseum; dieses<br />
zeigt mehrgeschossig das alchimistisch anmutende Schaffen <strong>und</strong> Tun der<br />
Pharmazeuten der letzten Jahrh<strong>und</strong>erte. Auch heute findet sich ein aktiver<br />
Apothekenbetrieb in diesem Gebäude.<br />
Von der letzten Ruhestätte zum Museum<br />
Der Lyčakivs'ke-Friedhof erzählt in teilweite prunkvollen<br />
Grabmonumenten dem Besucher von seinen österreichischen, deutschen,<br />
polnischen <strong>und</strong> ukrainischen Dauergästen. Der große ukrainische<br />
Schriftsteller Ivan Franko fand hier ebenfalls in einem Ehrengrab seine letzte<br />
Ruhestätte. Von der Gr<strong>und</strong>steinlegung im letzten Drittel des 18.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts bis heute wurden über 300.000 Gräber, Grabplatten <strong>und</strong><br />
Gruftinschriften angelegt, die dem Besucher von einer bewegten Geschichte<br />
der Stadt <strong>und</strong> ihrer Bewohner erzählen. Dieser historisch bedeutende<br />
Friedhof gilt zu Recht als einer der sehenswertesten <strong>und</strong> ältesten Europas.<br />
Die kunstvollen Steinmetz- <strong>und</strong> Bildhauerarbeiten vermitteln<br />
Museumscharakter; zudem werden seit 1975 nur mehr in absoluten<br />
Ausnahmefällen Beisetzungen verzeichnet. Seit 1991 hat dieses Areal<br />
Museumsstatus erlangt.<br />
Das Freilichtmuseum im "Kaiserwald"<br />
Unweit des Friedhofes findet sich eine vergleichsweise lebensbejahende<br />
erwandernswerte Sehenswürdigkeit Lembergs: Das weitläufige Museum <strong>für</strong><br />
Volksarchitektur <strong>und</strong> Lebensweise liegt im waldig-hügeligen Areal des alten<br />
Kaiserwaldes, heute Ševčenko- Wäldchen genannt. In Erinnerung an einen<br />
Besuch des Kaisers im Jahre 1780 war seinerzeit die Bezeichnung<br />
"Kaiserwald" geprägt worden; interessanterweise wird diese<br />
altösterreichische Benennung von vielen Lembergern immer noch<br />
verstanden.<br />
Inmitten dieses bewaldeten Areals liegt nun das großzügig angelegte<br />
Freilichtmuseum: Über 120 meist aus Holz gefertigte Gebäude –<br />
Bauernhäuser, Stallungen, Mühlen, Holzkirchen, ein Schulhaus <strong>und</strong><br />
Taubenhäuser aus der gesamten westukrainischen Region – werden auf 50<br />
ha Fläche gezeigt. Besondere Beachtung verdienen die Bauten der<br />
- 76 -
Karpatenregion, namentlich jene der Bojken, Lemken <strong>und</strong> Huzulen, da sie<br />
vor dem endgültigen Entschwinden zumindest in Museumskreisen bewahrt<br />
werden können. Die ältesten Objekte reichen bis in die erste Hälfte des 18.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts zurück <strong>und</strong> ein Großteil ist <strong>für</strong> den Besucher geöffnet <strong>und</strong><br />
präsentiert rustikales Interieur. Viele der Hausgärten werden aktiv betreut,<br />
dadurch entsteht ein besonders lebhaftes Flair <strong>für</strong> den Besucher.<br />
Möglichkeiten des organisierten Tourismus in Lemberg<br />
Den Individualreisenden ohne ausreichende kyrillische Sprachkenntnisse<br />
kommen die ortsansässigen Produzenten ausgezeichneter<br />
Informationsmaterialien entsprechend entgegen. Meist sind die<br />
Informationsbroschüren, Bücher <strong>und</strong> Stadtpläne in englischer oder sogar<br />
deutscher Sprache abgefasst <strong>und</strong> können in den städtischen Museen im<br />
Zentrum erworben werden. Sogar ein Informationsbüro besteht seit einigen<br />
Jahren, wenngleich es von seinem ursprünglichen zentralen Platz im<br />
Rathaus zur etwas weniger frequentierten Stelle im äußeren Bereich der<br />
Stadtmauer ausweichen musste. Derzeit ist das Tourismusbüro eine private<br />
Institution mit durchaus westlichen Qualitätsansprüchen. Die<br />
internationalen Sprachkenntnisse der fre<strong>und</strong>lichen Mitarbeiter sind sehr<br />
erfreulich.<br />
Eine nachwirkende multikulturelle Vergangenheit<br />
Im architektonischen Erbe allein liegt nicht das ganze Geheimnis der<br />
Attraktivität von Lemberg. Es ist seine kulturelle Vielfalt – sichtbar in den<br />
verschiedenen Sprachen <strong>und</strong> Religionen der Bewohner dieser Stadt – welche<br />
schon in der Vergangenheit Verbindungen zu verschiedenen Teilen Europas<br />
hergestellt hat. So spielt die Stadt nicht nur in der ukrainischen, sondern<br />
auch in der polnischen, österreichischen sowie in der sowjetischen<br />
Geschichte eine bedeutende Rolle. Daraus resultiert das besondere Interesse<br />
von Ukrainern, Russen, Polen, Österreichern <strong>und</strong> damit auch des gesamten<br />
deutschsprachigen Raums <strong>für</strong> die ehemals östlichste Region der K&K-<br />
Donaumonarchie.<br />
So erfreut sich etwa die im Norden der Altstadt gelegene "Österreich-<br />
Bibliothek" großer Beliebtheit. Dort werden deutschsprachige Filme im<br />
Originalton gezeigt, Fachbücher sowie Belletristik eifrig verborgt <strong>und</strong> ein<br />
reger kultureller Austausch zwischen Lembergern <strong>und</strong> deutschsprachigen<br />
Personen vor Ort gepflegt. Weiters findet sich der verlängerte Arm der<br />
Österreich-Kooperation in einem Institutsraum des Obergeschoßes der<br />
Lemberger Universität. Die größte Buchmesse der Ukraine findet ebenfalls in<br />
Lemberg statt.<br />
Apropos Bücher - Das „Lemberger Buchforum" bietet über 700 Verlagen die<br />
Möglichkeit sich einer interessierten Besucherschaft von über 60.000<br />
Interessenten zu präsentieren.<br />
- 77 -
Die Überschneidungen von unterschiedlichen <strong>Kultur</strong>en <strong>und</strong> Religionen<br />
während der vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erte in der Westukraine sind den<br />
meisten Landesinteressierten vor allem aus der Literatur bekannt. Galizien<br />
<strong>und</strong> die Bukowina waren ja ein umfassender religiöser <strong>und</strong> linguistischer<br />
"melting pot".<br />
Der jüdische Anteil an der Geschichte Lembergs <strong>und</strong> der Westukraine ist<br />
auch <strong>für</strong> weniger involvierte Beobachter unübersehbar.<br />
Die Städte Czernowitz, Ivano-Frankivs’k (zur Zeit der Donaumonarchie<br />
"Stanislau" benannt), Čortkiw sowie Kolomea bieten bildungsinteressierten<br />
Reisenden die Möglichkeit, sich verschiedene <strong>Kultur</strong>en zu erschließen <strong>und</strong><br />
den Lebenswelten berühmter Persönlichkeiten wie Rose Ausländer, Paul<br />
Celan, Wasilj Stefanyk, Karl Emil Franzos, Bruno Schultz, Mihai Eminescu<br />
<strong>und</strong> vieler anderer nachzuspüren. Von großer Attraktivität <strong>für</strong> den kultur-<br />
<strong>und</strong> bildungsinteressierten Touristen sind auch die volkskulturell<br />
nennenswerten Besonderheiten der Westukraine.<br />
Hoffnungsträger UNESCO?<br />
Wie die erfolgreichen Bemühungen um die Aufnahme der Altstadt von<br />
Lemberg in das UNESCO-Weltkulturerbe-Verzeichnis <strong>und</strong> die diesbezüglich<br />
laufenden Bemühungen von Czernowitz zeigen, sind sich die<br />
Verantwortlichen der Bedeutung des kulturellen Erbes bewusst. Darauf<br />
weisen auch die konkreten Schritte zur Revitalisierung der alten<br />
Adelsschlösser im Umkreis von Lemberg hin: Während das Schloss Oles’ko<br />
bereits in der sowjetischen Periode <strong>für</strong> Ausstellungen genutzt wurde, sollen<br />
nun weitere Schlösser revitalisiert <strong>und</strong> als touristisches Gesamtpaket<br />
entsprechend beworben werden.<br />
Von einem ähnlichen Wunsch, sich in kulturpolitischem Weitblick zu üben,<br />
zeugt die partielle Neugestaltung des Volksk<strong>und</strong>emuseums von Kolomea.<br />
Dieses im Kernland der Huzulenkultur gelegene Städtchen befindet sich im<br />
südlichen Karpatenbogen unweit der rumänischen Grenze.<br />
Die Karpaten <strong>und</strong> die ihnen westlich <strong>und</strong> östlich vorgelagerten Landschaften<br />
sind äußerst reizvoll <strong>und</strong> gut <strong>für</strong> den klassischen Erholungs- <strong>und</strong><br />
Wandertourismus geeignet. Die Region bietet zahlreiche Möglichkeiten <strong>für</strong><br />
Winter- <strong>und</strong> Sommersport. Alteingesessene Thermalkurorte wie Truskavec’<br />
oder Moršin stehen ganzjährig in Betrieb <strong>und</strong> hatten ihre Gr<strong>und</strong>steinlegung<br />
bereits im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Die Einrichtungen des Sport- <strong>und</strong><br />
Erholungstourismus sprechen in erster Linie Gäste aus der Ukraine <strong>und</strong> den<br />
anderen ehemaligen Sowjetrepubliken an. Langfristig gesehen sollen aber<br />
auch Gäste aus dem Westen <strong>für</strong> die Karpatenregion interessiert werden.<br />
Eine der ersten Studien bezüglich des touristischen <strong>und</strong> kulturellen<br />
Potenzials der Karpatenregion wurde bereits 1999 gemeinsam mit<br />
Projektpartnern aus dem EU-Raum abgewickelt. (Es folgten auch weitere<br />
theoretische Studien). Der im Folgenden näher bezeichnete touristische<br />
- 78 -
Marktauftritt der fünf Karpatenregionen ist das Resultat aus einer Studie<br />
der neunziger Jahre mit einem irländischen Projektpartner:<br />
Theorie <strong>und</strong> Praxis einer Tourismusstudie<br />
"Euro-Region" – bald mehr als ein Begriff?<br />
Die aktuelle Entwicklungspolitik der Westukraine steht in<br />
Zusammenhang mit dieser Tourismusstudie. Dabei wurden zwölf mögliche<br />
weitere touristische Vorgehensweisen erarbeitet. Kernziel war dabei auch die<br />
Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten des touristisch orientierten<br />
Managements vor Ort. Mit dem Überbegriff "Euro-Region" werden<br />
verschiedene länderübergreifende Interessen <strong>und</strong> Projekte formuliert. Diese<br />
Region umfasst alle Länder, die an den Karpaten geografisch Anteil haben.<br />
In der hierarchisch untergeordneten "Mikro-Karpaten-Region" sind die fünf<br />
im Folgenden näher beschriebenen westukrainischen Gebiete<br />
zusammengefasst. Ihre Koordinierung erfolgt durch den "Karpatenrat" in<br />
Iwano Frankiwsk.<br />
Der Versuch eines gemeinsamen Marktauftrittes der fünf<br />
westukrainischen Verwaltungsgebiete der "Karpatenregion"<br />
Als erste Ansätze einer gebietsübergreifenden Tourismusförderung<br />
treten die fünf Verwaltungsgebiete Lemberg, Ivano-Frankivs’k, Užhorod,<br />
Ternopil’ <strong>und</strong> Czernowitz unter der Marke "Karpatenregion" gemeinsam auf.<br />
Der geschlossene Auftritt bei namhaften Tourismusmessen im In- <strong>und</strong><br />
Ausland vermittelt bereits eine gute Idee, wie vernetzt angedachter Sport-<br />
<strong>und</strong> Bildungstourismus künftig aussehen könnte. Die gesamte Region ist<br />
auch <strong>für</strong> das Nischenprodukt "Grüner Tourismus" bestens geeignet. Am<br />
ehesten ist dies vergleichbar mit den deutschsprachigen, zunehmend<br />
beliebter werdenden Begriffen "Erlebnisurlaub am Land" <strong>und</strong> "Urlaub am<br />
Bauernhof". In Ivano-Frankivs’k entschloss man sich daher, eine<br />
gemeinsame touristische Anlauf- <strong>und</strong> Koordinationsstelle einzurichten.<br />
Dieser gemeinsame Marktauftritt – mit Unterlagen in englischer Sprache –<br />
darf als erster relevanter Schritt gesehen werden, auch einem des<br />
Kyrillischen unk<strong>und</strong>igen Publikum die Region der Westukraine besser<br />
erschließbar zu machen.<br />
Eine objektive Beurteilung des Entwicklungsstandes der westukrainischen<br />
Tourismuswirtschaft ist unverändert schwierig einzustufen: Die<br />
Bewertungsparameter <strong>für</strong> Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg gilt es mittel- <strong>und</strong> langfristig<br />
vor Ort zu erarbeiten.<br />
Erkennen <strong>und</strong> Beleben des kulturellen Potenzials<br />
Im Umland von Lemberg finden sich die sehenswerten, historisch<br />
bedeutenden Schlossanlagen Oles’ko, Žovkva, Svirž <strong>und</strong> Pidhirci. Das<br />
Städtchen Žovkva beispielsweise bietet dem achtsamen <strong>und</strong> interessierten<br />
Besucher eine baulich äußerst interessante Palette: Ein Klosterkomplex,<br />
- 79 -
heute von einer polnischen Nonnenschaft geführt, eine w<strong>und</strong>erschöne<br />
Holzkirche mit beachtlichen Ikonen <strong>und</strong> die einzige Wehrsynagoge der<br />
Region finden sich allesamt in dem kleinen Städtchen. Die einstmalige<br />
Bedeutung des kleinen, heute ins Lemberger Hinterland abgerückten Ortes<br />
lässt sich heute nur mehr partiell erahnen.<br />
Die imposante Burganlage von Mukačevo liegt bereits im Verwaltungsgebiet<br />
von Užhorod, das ist jene Region, die am nächsten zur ungarischen Grenze<br />
liegt.<br />
Um bei einem monumentalen Festungsbau in der Czernowitzer Oblast zu<br />
verweilen, sei die sehenswerte imposante Festungsstadt Chotyn hier<br />
genannt. Sie findet sich eine gute Autost<strong>und</strong>e nordöstlich von Czernowitz.<br />
Diese Festungsanlage liegt am Dnister <strong>und</strong> lag bereits im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
an einem bedeutenden Handelsweg. Die Burganlage war Mitte des 17.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts auch die letzte Bastion gegen die Türken. Sie konnte nur dank<br />
eines Zusammenschlusses der geeinten slawischen Armee gehalten werden.<br />
Diese Sehenswürdigkeiten sind trotz der eher mäßig ausgebauten<br />
Straßenverbindungen in einer mehrtägigen Reise durchaus erreichbar <strong>und</strong><br />
zu besichtigen. Für Individualreisende ist die Orientierung durch die<br />
ausnahmslos kyrillische Hinweis- <strong>und</strong> Straßenbeschilderung dennoch<br />
unverändert schwierig.<br />
Einige kleinere Reisebüros in Deutschland <strong>und</strong> der Schweiz bieten Reisen<br />
<strong>für</strong> Kleingruppen sowie Individualtouristen in die Westukraine an, die sich<br />
durchaus eines wachsenden Interesses erfreuen dürften. Positiv fällt auch<br />
das wachsende Interesse der Ukrainer dabei auf: Mit dem Anbot von<br />
Privatquartieren – vor allem in den Ski- <strong>und</strong> Wanderregionen – will man den<br />
westlichen Tourismusinteressen entgegenkommen. Im Gegensatz dazu<br />
wirken die klotzartigen Hotelkästen der Sowjetzeit auf westlich orientierte<br />
Reisende einfach wenig einladend. Deshalb wird auch die Idee, mit örtlichen<br />
Gepflogenheiten sowie Land <strong>und</strong> Leuten in direkten Kontakt zu treten,<br />
zunehmend geschätzt.<br />
Touristische Entwicklungen in Theorie <strong>und</strong> Praxis<br />
Westliche Beobachter mögen bald erkennen, dass die touristischen<br />
Möglichkeiten vor Ort bei Weitem nicht bestmöglichst erkannt <strong>und</strong> genutzt<br />
werden. Es stimmt, dass manche Veränderungen, wie die Koordinierung des<br />
Marktauftrittes der fünf Verwaltungsgebiete, auch mit Hilfe von EU-Mitteln<br />
realisiert worden sind. Die Konditionen <strong>für</strong> die Teilnahme an EU-gestützten<br />
Projekten sind häufig sehr kompliziert <strong>und</strong> lassen auch investitionsfreudige<br />
<strong>und</strong> engagierte Tourismusfachleute vor Ort immer wieder zurückschrecken.<br />
Um eine spätere handfeste, weil sichtbare Umsetzung der angedachten<br />
Projekte zu sichern, wird jedoch ein Umdenkprozess vor Ort unumgänglich<br />
sein. Dabei geht es nicht darum, theoretische Maßnahmenpapiere am<br />
laufenden Bande zu produzieren, sondern durch engagiertes Erkennen der<br />
einzelnen Fachinstitute, Tourismus-Departments an Fachhochschulen <strong>und</strong><br />
Universitäten entsprechend zukunftsorientiert zu agieren.<br />
- 80 -
Der chronische Kapitalmangel <strong>und</strong> die häufig fehlenden Perspektiven der<br />
Menschen vor Ort sind sehr starke Bremsmechanismen, die so manches<br />
theoretisch wohlklingende Tourismuspapier nicht in die Praxis umsetzen<br />
lassen. Diese Umsetzungsblockaden beruhen mitunter wohl auch auf dem<br />
mangelhaften <strong>Wissen</strong> über vorhandene Ressourcen <strong>und</strong> deren Bedeutung im<br />
nationalen <strong>und</strong> internationalen Rahmen.<br />
Lücken in der touristischen Basisarbeit<br />
Neben der mangelhaften Datenlage hinsichtlich der Touristenzahlen<br />
besteht ein weiteres Gr<strong>und</strong>problem im Fehlen tatsächlicher<br />
Feldforschungen. Das bedeutet konkret das Erfassen der tatsächlichen<br />
Möglichkeiten <strong>und</strong> Wünsche bezüglich der Weiterentwicklung in kulturellen<br />
<strong>und</strong> touristischen Belangen der einzubindenden Bevölkerung vor Ort.<br />
Hier<strong>für</strong> gilt es eine seriöse Arbeitsgr<strong>und</strong>lage zu schaffen. Eine<br />
zukunftsorientierte Planung kann nur gemeinsam mit den Menschen vor Ort<br />
stattfinden, die von Entwicklungen <strong>und</strong> Veränderungen ja auch betroffen<br />
sind <strong>und</strong> davon profitieren sollen.<br />
Die Schätzungen der Besucherströme aus dem In- <strong>und</strong> Ausland sind eben<br />
Schätzungen, die nicht unbedingt der realen Situation entsprechen. In<br />
Lemberg gibt es beispielsweise Angaben über jährliche Besucherzahlen von<br />
etwa 120.000 Personen; davon sollen 20.000 Reisende aus dem Ausland<br />
sein. Woher diese Besucher kommen, bleibt bereits wieder offen. Dass die<br />
realen Daten von Tourismus-Insidern etwa zwanzigmal höher eingeschätzt<br />
werden, hilft nicht wirklich weiter.<br />
Eine Bedarfserhebung hinsichtlich der Reiseentwicklung in Czernowitz sieht<br />
noch diffuser aus. Das Czernowitzer Management & Tourismus-Institut ist<br />
eingegliedert in das Institut <strong>für</strong> Handel <strong>und</strong> Wirtschaft. Es ist mit einer<br />
österreichischen Fachhochschulstruktur annähernd vergleichbar. Der<br />
engagierte Lehrgangsleiter ist durchaus an Kooperationen mit ausländischen<br />
Tourismus- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>- Fachbetrieben interessiert. Die Einbindung der<br />
Studierenden in konkrete wissenschaftliche Rechercheprojekte,<br />
Machbarkeits- Studien (Feasibility studies) <strong>und</strong> die Unterstützung bei der<br />
schrittweisen Umsetzung der daraus resultierenden Ergebnisse vor Ort sollte<br />
dabei ein zukunftsweisender Parameter sein.<br />
Einem Kooperationsversuch zwischen der Tourismus-Fachhochschule "Modul" (Wien),<br />
einer Tourismusfachschule in Strals<strong>und</strong> (Norddeutschland) <strong>und</strong> dem Tourismusinstitut in<br />
Czernowitz wurde leider vor wenigen Jahren kein bürokratisches grünes Licht seitens eines<br />
zukunftsweisenden vernetzenden EU-finanzgestützten Lehrplankonzeptes gegeben.<br />
An konkreten Kooperationsschritten wurde die letzten beiden Jahre auch seitens der <strong>Kultur</strong>-<br />
Konzeptionisten von "<strong>Kultur</strong> & Tourismus Management" gearbeitet. Diese interkulturell<br />
agierende <strong>und</strong> kulturvernetzende Firma mit Sitz in Wien ist eine Arbeitsgemeinschaft,<br />
bestehend aus Personen des ukrainischen <strong>und</strong> österreichischen <strong>Kultur</strong>kreises, die ein besseres<br />
<strong>Kultur</strong>verständis entwickeln will.<br />
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Eine weitere Initiative bietet die Plattform "Fre<strong>und</strong>e der Bukowina". Sie versteht sich als<br />
Drehscheibe eines breit angedachten Networkings <strong>und</strong> wurde 2006 in Österreich begründet.<br />
Sie will Anlaufstelle sein <strong>für</strong> nationale <strong>und</strong> internationale Institute <strong>und</strong> Bildungsträger,<br />
Einzelinitiativen, Vereine <strong>und</strong> Stiftungen, die im wissenschaftlichen, kulturellen <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Sinne die <strong>Kultur</strong>landschaft Bukowina als eine Region mit vielschichtigem<br />
Potenzial erkennen <strong>und</strong> sich einbringen möchten.<br />
Konkrete Chancen in der Nordbukowina – Czernowitz<br />
Die Stadt Czernowitz (rum. Cernăuţi, ukr.: Černivci) hat hinsichtlich<br />
ihrer Infrastruktur, der internationalen Erreichbarkeit <strong>und</strong> ihrer<br />
Positionierung in UNESCO- Kreisen gegenüber Lemberg noch großen<br />
Aufholbedarf. In zahlreichen innerstädtischen Altstadtgassen wurden auf<br />
Initiative der Stadtverwaltung hin in den letzten Jahren verstärkt zahlreiche<br />
Restaurierungen vorgenommen. Beispielsweise wich an vielen Bürgersteigen<br />
wackeliges Kopfsteinpflaster den optisch bedingt ansprechenden, doch<br />
durchaus gut begehbaren Asphaltplatten-Lösungen.<br />
Das F<strong>und</strong>ament der Stadt Czernowitz ist durch die Lössbasis kein besonders<br />
stabiles; die Restaurierungsarbeiten werden durch die aufsteigende<br />
Feuchtigkeit nicht eben begünstigt. Anlässlich der allherbstlich<br />
stattfindenden Stadtfeste werden eifrig Fassadenübermalungen <strong>und</strong><br />
frontseitig gelegene Restaurierungen an öffentlichen Gebäuden <strong>und</strong><br />
Privathäusern vorgenommen. Tatsächlich gibt es in Czernowitz einen schier<br />
unendlichen Aufholbedarf an restaurierungsbedürftigen Objekten.<br />
Das im Norden der Stadt gelegene, ehemals weit über die Grenzen der<br />
Bukowina hinaus bekannte osteuropäische chassidische Zentrum des<br />
W<strong>und</strong>errabbis Friedman – der auch "der Lubawitscher" oder der "Ruschiner"<br />
genannt wird –, befindet sich in einem kleinen Ort namens Sadagora <strong>und</strong> ist<br />
seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben.<br />
Nach Erbstreitigkeiten mit den heute in Amerika <strong>und</strong> Israel lebenden<br />
Nachkommen der Friedmann-Dynastie scheint der Verfall des<br />
zwischenzeitlich als Metallfarbenfabrik genutzten Gemäuers unaufhaltsam.<br />
Dabei wurde in den frühen neunziger Jahren bereits die Idee eines "Schtetl-<br />
Tourismus" r<strong>und</strong> um das Friedmann'sche Monumentalgebäude angedacht.<br />
Die Bedenken gegen eine Art "Disneyland in Sadagora" waren bislang<br />
allerdings unbegründet.<br />
Der beeindruckende alte jüdische Friedhof mit seinen kunstvollen<br />
Steinornamenten, der großflächiger wirkt als der Ortskern von Sadagora<br />
selbst, ist da<strong>für</strong> unverändert ein großer Besuchermagnet geblieben. Die<br />
mitunter zwischen den Grabsteinen herumstreifenden Ziegen <strong>und</strong> Schafe<br />
vermitteln ein recht eindrucksvolles Bild davon, wie es aussieht, wenn die<br />
Natur sich stückweise eine sakrale Stätte zurückzuerobern versucht.<br />
Die Trennung des historisch gewachsenen "Buchenlandes" in Nord- <strong>und</strong><br />
Südbukowina<br />
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Die bislang definitive politische Trennung dieser einst gewachsenen<br />
<strong>Kultur</strong>landschaft erfolgte im Juni 1940. Seit der Besetzung durch die<br />
Sowjetarmee in diesem Jahr ist die kulturell <strong>und</strong> historisch entstandene<br />
Struktur der Bukowina zweigeteilt geblieben. Die rote Armee marschierte in<br />
die Nordbukowina mit Czernowitz ein. Somit war das Ende des<br />
"Buchenlandes", das als territoriale Einheit unter den Habsburgern<br />
geschaffen worden war, mit Unterbrechung (in den Jahren 1941-1944)<br />
durch die international anerkannte <strong>und</strong> bis heute geltende Grenze zwischen<br />
Rumänien <strong>und</strong> Ukraine besiegelt.<br />
Die Befreiung vom rumänischen Staatsnationalismus durch das<br />
bolschewistische Regime führte in der Nordbukowina zu einer Sowjetisierung<br />
durch die Sowjetmacht – <strong>und</strong> in der Folge zu einem totalen Bruch in der<br />
wirtschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftspolitischen Lebensweise. (Dies betraf auch<br />
die Region Bessarabien, der heutigen Republik Moldau).<br />
Der südliche Teil des Buchenlandes, die "Südbukowina", findet sich heute in<br />
Nordrumänien <strong>und</strong> ist über den landschaftlich reizvollen Pass Siret von<br />
Czernowitz kommend zu passieren. Die Gebietshauptstadt der<br />
Südbukowina, Suceava, wird von Reisenden gerne als Ausgangspunkt <strong>für</strong><br />
die Besichtigung der prächtigen, an Freskenreichtum unübertroffenen<br />
Moldauklöster ausgewählt. Die bekanntesten sowie historisch bedeutsamen<br />
Objekte dieser Landschaft sind heute zweifelsohne die Moldauklöster.<br />
Zahlreiche von ihnen stehen heute bereits unter UNESCO- Denkmalschutz<br />
<strong>und</strong> werden auch von internationalen Reisegruppen eifrig besucht. Selbst<br />
Pilgergruppen können in den größeren Klosteranlagen Herberge gegen ein<br />
kleines Salär beziehen.<br />
Die Hoffnung auf Länder überschreitende <strong>Kultur</strong>- <strong>und</strong> Themenwege, die<br />
den Reisenden <strong>und</strong> Erk<strong>und</strong>enden einen neuen <strong>Kultur</strong>raum besser zu<br />
erschließen helfen, soll einer der zukunftsorientierten Mosaiksteine einer<br />
bereisbaren <strong>und</strong> einladenden Grenzregion sein. Gerade in den grenznahen<br />
östlichen <strong>und</strong> nördlichen Teilen Österreichs, die ja zur Zeit vor der<br />
Grenzöffnung innerhalb Europas lange Zeit als wirtschaftlich wenig attraktiv<br />
galten, gibt es mittlerweile zahlreiche Themenwege in Grenzlandschaften, die<br />
auch auf Naturparkebene Grenzland erlebbar <strong>und</strong> interessant machen. So<br />
bleibt zu hoffen, dass sich zahlreiche engagierte <strong>und</strong> mutige Menschen<br />
finden, die auch der Grenzregion der südlichen Westukraine eine Chance<br />
geben, sich zu entwickeln <strong>und</strong> zu wachsen!<br />
Der Reichtum an Sehenswürdigkeiten ist ein großer, den es zu entdecken, zu<br />
unterstützen <strong>und</strong> zu erleben gilt!<br />
Dr. Brigitte Macaria (bukowina@chello.at), geboren in Wels (OÖ). Lebt in Wien <strong>und</strong> im Waldviertel.<br />
Studium der Medien- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>wissenschaft an der Università di Bologna (D.A.M.S); Internationales<br />
Europarecht an der Cattolicà di Milano, Italianistik <strong>und</strong> Theaterwissenschaft an der Universität Wien.<br />
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Arbeitsgebiete<br />
Konsulenz <strong>für</strong> interkulturelle <strong>und</strong> grenzüberschreitende Projekte (u.a. Tourismus-, Machbarkeitsstudie<br />
<strong>für</strong> historische Objekte, Regionalmangement); Networking, Projektmanagement; Eventorganisation in<br />
den Bereichen Kunst, Tanz, Theater, Festival; Archiv- <strong>und</strong> Internet- Recherchen (Genealogie <strong>und</strong><br />
Forschungen in In- <strong>und</strong> Ausland);<br />
Homepage<br />
...<br />
www.m-m-creations.<br />
com/bukowina<br />
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Siebenbürgens Wehrkirchen trutzen bis heute<br />
...Auf Spurensuche in den einst deutschen Dörfern Siebenbürgens<br />
In welches Bauerndorf man auch kommt in Siebenbürgen, das Bild ist ähnlich:<br />
Die jungen Leute sind weggegangen, nur die Alten sind geblieben <strong>und</strong> fühlen sich<br />
doch längst als Fremde im eigenen Land. Kaum ein Dorf, wo mehr als zehn, fünfzehn<br />
Leute noch tatsächlich miteinander Deutsch sprechen.<br />
Von Reinhard Kriechbaum<br />
(01. 01. 2007)<br />
Mit einiger Mühe bin ich nach Mergeln gekommen. Ein Einheimischer hat<br />
mich die gut zwanzig Kilometer in ein weites, fruchtbares Ackertal im Auto<br />
mitgenommen. Ich hatte gehört, dass es hier <strong>und</strong> in einigen benachbarten<br />
siebenbürgischen Bauerndörfern noch einige besonders gut erhaltene<br />
Kirchenburgen gebe. Nun stehe ich also vor einer solchen imposanten Anlage:<br />
Eine Mauer mit wehrhaften Ecktürmen umgibt die Kirche, die selbst zwei<br />
massive, blockartige Türme hat.<br />
Nicht lange muss ich draußen bleiben, denn ein älterer Mann sieht mich, fragt<br />
mich in akzentfreiem Deutsch nach meinem Ziel. Mein Interesse an der<br />
Kirchenburg stachelt seine Gesprächigkeit an. Er ist nicht Rumäne, sondern<br />
Deutscher. Ja, hier im Dorf ist er aufgewachsen. Jetzt lebt Johann Brenner<br />
allerdings schon lange in Deutschland, so wie fast alle deutschsprachigen<br />
Familien aus dem Ort. Aber im Sommer machen viele Rentner <strong>und</strong> auch ihre<br />
Kinder <strong>und</strong> Enkel gerne Urlaub in der alten Heimat. Die Häuser gehören ihnen ja<br />
noch <strong>und</strong> in Deutschland fühlen sie sich nicht wirklich zu Hause. Sie streichen<br />
Fensterläden <strong>und</strong> halten die alten Bauernhäuser in Stand. Natürlich ist ihnen auch<br />
die Erhaltung der Kirche – "ihrer Kirche"! – ein großes Anliegen.<br />
Mittlerweile hat mich Johann Brenner seinem Bruder vorgestellt, der nach wie vor<br />
in Mergeln lebt <strong>und</strong> Mesnerdienste versieht. Gemeinsam sind wir auf einen der<br />
Türme gestiegen <strong>und</strong> schauen über das malerische Dorf, über die Firste der roten<br />
Ziegeldächer, über die Obstgärten <strong>und</strong> Getreidefelder. Bauern fahren mit<br />
Ochsenkarren die Ernte ein. Die Räder versinken ein wenig im Schlamm der<br />
naturbelassenen Wege.<br />
Spielende Kinder schauen zu uns herauf, rufen <strong>und</strong> winken. "Zigeunerkinder",<br />
sagt Johann Brenner missmutig. "Hier war der deutsche Ortsteil", erklärt er mir.<br />
Dann hatte es in der Hitlerzeit geheißen: Heim ins Reich! Auch die<br />
kommunistischen Jahrzehnte waren der deutschen Minderheit nicht zuträglich.<br />
"Zuerst sind die Rumänen gekommen, dann die Zigeuner." Die Aussicht auf eine<br />
staatliche Pension in Deutschland lockte nach der Wende viele Familien zur<br />
raschen Auswanderung.<br />
... In welches Bauerndorf man auch kommt in Siebenbürgen, das Bild ist<br />
ähnlich: Die jungen Leute sind weggegangen, nur die Alten sind geblieben <strong>und</strong><br />
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fühlen sich doch längst als Fremde im eigenen Land. Kaum ein Dorf, wo mehr als<br />
zehn, fünfzehn Leute noch tatsächlich miteinander Deutsch sprechen. Aber die<br />
Kirchenburg <strong>und</strong> das dem meist schon verlassenen evangelischen Pfarrhof<br />
angeschlossene Schulhaus bergen Erinnerungen an Jugendzeiten, als<br />
siebenbürgische <strong>Kultur</strong> noch lebte. "Auf dieser Bank sind wir als Konfirmanden im<br />
Gottesdienst gesessen", sagt Johann Brenner. "Das Uhrwerk im Turm hat mein<br />
Großvater gemacht." Darauf ist er stolz. Natürlich ist mit der deutschsprachigen<br />
Bevölkerung auch die Zahl der evangelischen Pfarrer zurückgegangen. Vier <strong>und</strong><br />
noch mehr Gemeinden muss einer mittlerweile versorgen.<br />
Wir spazieren durchs Dorf, der Mann plaudert mit Fre<strong>und</strong>en, die in ihrer alten<br />
Heimat Urlaub machen. Man erzählt sich Schwänke aus der Schulzeit. Ich möchte<br />
mehr wissen. "Gehen Sie doch dort hinüber, in das gelbe Haus. Dort wohnt<br />
Lehrer Frank!" Ich habe Glück, Herr Frank ist zu Hause <strong>und</strong> freut sich über den<br />
unerwarteten Besucher. Auch er ist nur im Sommer in Rumänien, lebt sonst in der<br />
Nähe von Stuttgart. Aber bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1986 war er hier<br />
tätig, 33 Jahre lang hat er den allmählichen Rückgang der deutschen Gemeinde<br />
erlebt. "Bis 1952 hatten wir sogar eine Gymnasialstufe an unserer Dorfschule",<br />
erinnert er sich wehmütig.<br />
Man braucht sich nicht zu w<strong>und</strong>ern, wenn sich Lehrer Frank emotionell äußert:<br />
"Meine Schüler haben nach der Übersiedlung nach Deutschland nie einen<br />
Sprachkurs besuchen müssen, meine Tochter beherrscht die Beistrichsetzung<br />
besser als mancher Deutsche!" Was den Pädagogen, den seine Schüler immer<br />
noch gerne besuchen, mit Stolz erfüllt: "Alle haben etwas gelernt, keiner aus<br />
unserer Gemeinde ist in Deutschland jetzt arbeitslos." Wilhelm Frank, dieser<br />
charismatische Dorfschulmeister, hat "gegen Essen unterrichtet". Für die<br />
Bezahlung des Lehrers <strong>und</strong> des evangelischen Pfarrers kamen nämlich<br />
traditionellerweise die Gemeinden auf. Wie groß war seine Schule? "Alle zwei<br />
Jahre wurde eine neue Klasse eröffnet", erklärt der Lehrer. Meist waren das<br />
vierzig Kinder, "wir hatten also zwanzig Geburten pro Jahr".<br />
Die bunten, vielformigen Trachten Siebenbürgens sind nicht nur längst aus<br />
dem Straßenbild verschw<strong>und</strong>en, selbst beim Kirchgang kann man sie kaum noch<br />
irgendwo sehen. Aber den Straßendörfern mit ihren weiten Angern, den zur<br />
Straßenseite hin halb abgewalmten Dächern <strong>und</strong> den auffälligen Hoftoren sieht<br />
man an, dass sie einst Dörfer von "Siebenbürger Sachsen" waren. Um die Mitte<br />
des 12. Jahrh<strong>und</strong>erts hat der erste deutsche Einwanderungsschub stattgef<strong>und</strong>en.<br />
Die Bezeichnung "Sachsen" hat gar nichts mit dem heutigen deutschen<br />
B<strong>und</strong>esland zu tun, hat sich aber schon im Mittelalter eingebürgert. Die meisten<br />
Einwanderer kamen aus dem Rhein- <strong>und</strong> Moselgebiet, aus Belgien <strong>und</strong><br />
Luxemburg. Ihre Dialekte sind dem Unk<strong>und</strong>igen kaum verständlich.<br />
Es ging darum, das dünn besiedelte Gebiet innerhalb des Karpatenbogens<br />
besser gegen Tatareneinfälle, später gegen die Türken abzusichern. In den<br />
Landstrichen "im fernen Ungarnlande jenseits des Waldes" (daher heißt<br />
Siebenbürgen bis heute auch Transsylvanien) durften die Einwanderer auf<br />
großzügig bemessenes eigenes Land <strong>und</strong> weitgehende politische Freiheiten<br />
hoffen. Ihre Gegenleistung bestand in der Kultivierung des Landes <strong>und</strong> in der<br />
Verpflichtung zur Grenzsicherung.<br />
- 86 -
Im östlich gelegenen "Burzenland" (um Kronstadt/Brasov) richtete sich der im<br />
dritten Kreuzzug eher glücklos agierende Deutsche Ritterorden ein. Auch die<br />
Ordensritter gründeten Dörfer <strong>und</strong> erbauten ansehnliche Kirchenburgen:<br />
Tartlau/Prejmer, zwölf Kilometer nordöstlich von Kronstadt, ist die besterhaltene<br />
<strong>und</strong> beeindruckendste kirchliche Wehranlage, die auf die Deutschordensritter<br />
zurückgeht.<br />
Das Wirken des Deutschen Ritterordens war freilich nur von begrenzter<br />
Dauer, denn die zunehmende politische Macht war dem Ungarnkönig Andreas II.<br />
(dem Vater der heiligen Elisabeth) ein Dorn im Auge. Die Ritter wurden mit<br />
Waffengewalt vertrieben, ließen sich fortan in Preußen <strong>und</strong> an der Ostsee nieder.<br />
Im 14. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>ert mauserte sich das transsylvanische Sammelsurium von<br />
Einwanderer-Dörfern zur eigenen, verbindenden <strong>Kultur</strong> <strong>und</strong> wurde auch zu einer<br />
politischen Größenordnung. Auch nach der Eroberung durch die Türken blieb<br />
Siebenbürgen kulturell eigenständig <strong>und</strong> leistungsfähig. Vor allem die<br />
Reformation wirkte schul- <strong>und</strong> damit kulturbildend: Johannes Honterus – sein<br />
Denkmal steht vor der berühmten "Schwarzen Kirche" in Kronstadt – war der<br />
Reformator Siebenbürgens. Im Zuge der Gegenreformation <strong>und</strong> dann unter Maria<br />
Theresia kamen weitere – nunmehr: evangelische – Einwanderer ins Land:<br />
"Landler" aus Oberösterreich, aber auch Tiroler, Steirer, Kärntner – Einzelgänger,<br />
Familien, aber auch halbe Dörfer. Manche assimilierten sich, <strong>für</strong> andere war<br />
Siebenbürgen Durchgangsstation. Zum Beispiel <strong>für</strong> eine Gruppe Kärntner, die<br />
sich nach Auflösung des siebenbürgischen Toleranzgesetzes unter Joseph II.<br />
plötzlich als unerwünschte Protestanten in einem rekatholisierten Land<br />
wiederfanden <strong>und</strong> schließlich über die Walachei <strong>und</strong> die Ukraine in die USA<br />
auswanderten (auf die Höfe der Hutterischen Bruderschaft).<br />
Aber das sind eigene Geschichten. Siebenbürgen ist im Kern ein kulturelles <strong>und</strong><br />
religiöses Mischgebiet mit deutlichen lokalen Abgrenzungen geblieben: Noch<br />
heute sind die protestantischen Gemeinden (Augsburger Bekenntnis) so gut wie<br />
ausschließlich deutschsprachig. Die ungarischen Szekler bilden – soferne sie<br />
nicht ebenfalls Protestanten sind – die katholischen Kirchengemeinden. Der<br />
katholische Klerus Rumäniens spricht untereinander Ungarisch. Die Orthodoxie<br />
schließlich ist Sache der Rumänen, wobei die deutschsprachigen Siebenbürger<br />
zwischen "Rumänen" <strong>und</strong> "Zigeunern" unseligerweise kaum Unterschiede<br />
machen. Die Spannungen <strong>und</strong> Vorurteile sind gewaltig, am besten harmonisieren<br />
noch Deutschstämmige <strong>und</strong> Ungarn (Szekler) miteinander.<br />
Doch zurück zu den Kirchenburgen. Sie sind die architektonischen<br />
Wahrzeichen der Region. In ungefähr zweih<strong>und</strong>ert Dörfern gewinnt man noch<br />
einen Eindruck von den ursprünglichen Anlagen, haben sich Ringmauern mit<br />
Wehrgängen, an den Türmen <strong>und</strong> den Kirchen selbst Verteidigungseinrichtungen<br />
wie Pechnasen <strong>und</strong> Schießscharten erhalten. Nicht selten gibt es in den<br />
Langschiffen der spätromanischen, früh- <strong>und</strong> hochgotischen Kirchen einen<br />
Brunnen. In den Kirchenburgen konnte sich die bäuerliche Bevölkerung im<br />
Notfall einschließen <strong>und</strong> eine Zeitlang leben, denn in den Verteidigungstürmen<br />
hatte man auch Lebensmittel eingelagert.<br />
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In Homorod/Hamerude weist mich der dortige Mesner eigens auf den<br />
"Speckturm" hin. In seiner Jugend, erzählt er, ist hier tatsächlich noch das Fleisch<br />
gelagert worden, <strong>und</strong> nach dem Sonntagsgottesdienst hätten die Bauern jeweils<br />
ihre Wochenration geholt. Die Aufbewahrung im "Speckturm" hatte auch<br />
konservatorische Gründe. Die Bauernhäuser sind ja nicht unterkellert, wogegen<br />
in den dicken Turmmauern ein günstigeres Klima zum Aufbewahren<br />
verderblicher Nahrungsmittel herrschte.<br />
Wer nun neugierig geworden ist, wo Kirchenburgen zu finden sind: Im<br />
Dreieck zwischen den Städten Kronstadt/Brasov, Hermannstadt/Sibiu <strong>und</strong><br />
Schäßburg/Sighisoara gibt es sie in großer Zahl. Vereinzelt findet man sie weiter<br />
nördlich in der Gegend von Bistritz/Bistrita. Nicht versäumen darf man einen<br />
Besuch in Birthälm/Biertan (Ausgangspunkt: Schäßburg): eine riesige gotische<br />
Hallenkirche auf einem mit drei Mauerringen umgebenen Hügel. An diesem<br />
ehemaligen Bischofssitz findet man sogar eine Übernachtungsmöglichkeit. Auch<br />
die Kirchenburg von Meschen/Mosna ist von mehreren Mauern umgeben. Die<br />
Umgebung von Mediasch <strong>und</strong> jene von Reps sind besonders reich an gut<br />
erhaltenen Wehrkirchen.<br />
Die Kirchen sind versperrt, aber es lohnt sich immer, nach dem Kirchenschlüssel<br />
zu fragen: Die Mesner wohnen meistens nur ein paar Häuser weiter. Sie sprechen<br />
deutsch, freuen sich über interessierte Besucher <strong>und</strong> gleichen im Regelfall<br />
wandelnden Geschichtsbüchern. Und weil es in den ländlichen Regionen<br />
Siebenbürgens ja so gut wie keine Gasthäuser (<strong>und</strong> Hotels schon gar nicht) gibt,<br />
ist man als Reisender <strong>für</strong> die so entstehenden privaten Kontakte doppelt dankbar.<br />
Eine zweiwöchige Wanderung von Wehrkirche zu Wehrkirche kann <strong>für</strong><br />
kulturinteressierte Menschen mit ein wenig Wagemut <strong>und</strong> ohne<br />
Berührungsängste ein einmaliges Erlebnis sein. Vor allem ist es wichtig, in<br />
diesem Völkergemisch aus Deutschen, Ungarn, Rumänen <strong>und</strong> Zigeunern<br />
Fingerspitzengefühl zu zeigen <strong>und</strong> die bestehenden Vorurteile eben zu<br />
akzeptieren. Die bäuerliche <strong>Kultur</strong>landschaft gehört zu den unverfälschtesten in<br />
Europa. Die Obstbaumblüte im Mai ist die idyllischste Reisezeit.<br />
Reinhard Kriechbaum (kriechbaum@drehpunktkultur.at), geboren 1956. Studium der Fächer<br />
Kunstgeschichte <strong>und</strong> Volksk<strong>und</strong>e an der Universität Graz, Chordirigieren <strong>und</strong> Gesang an der dortigen<br />
Musikhochschule. Von 1982 bis 1989 <strong>Kultur</strong>redakteur der "Salzburger Nachrichten", 1989 bis 1991<br />
Leiter der Pressestelle der Erzdiözese Salzburg. Seit 1992 freier <strong>Kultur</strong>journalist <strong>für</strong> in- <strong>und</strong><br />
ausländische Medien. Reisejournalismus mit Schwerpunkt Osteuropa. Einige Buchveröffentlichungen<br />
im Rosenheimer Verlagshaus.<br />
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Meerträubchen <strong>und</strong> Wüstenrenner<br />
Die Donau-Auen-Expertin Erika Schneider im Aurora-Interview<br />
"Die Donau durchzieht mit ihren zahlreichen Nebenflüssen wie ein grünes Band<br />
Mittel- <strong>und</strong> Südosteuropa. Sie durchquert auf ihrem Weg bis zur Mündung ins<br />
Schwarze Meer nicht nur unterschiedliche Naturräume, sondern auch<br />
unterschiedliche Sprach- <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>räume. Diese Vielfalt im geographischen,<br />
biologisch-ökologischen <strong>und</strong> kulturellen Bereich ist das, was die Besonderheit der<br />
Donau ausmacht ."<br />
Das Interview führte Franz Wagner<br />
(01. 01. 2007)<br />
AM: Frau Schneider, wenn Sie mit Deutschen oder Österreichern sprechen, deren <strong>Wissen</strong><br />
über Rumänien begrenzt ist, welche Klischees <strong>und</strong> Vorurteile über dieses Land begegnen<br />
Ihnen am häufigsten?<br />
Schneider: Am häufigsten wird die Korruption als ein allgemeines Merkmal <strong>für</strong> Rumänien<br />
angeführt. Die Rumänen werden als "şmecher" bzw. als schlitzohrig bezeichnet <strong>und</strong><br />
immer wieder wird gesagt, dass man in dem Lande alles nur mit "Bakschisch", also mit<br />
Bestechungsgeldern erledigen könne. Auch Trägheit <strong>und</strong> zu wenig zupacken, d. h. die<br />
Dinge laufen lassen wie sie eben kommen, gehören bei vielen zum Bild der Rumänen.<br />
Man sollte aber nicht auf solche Klischees achten, die leider existieren, denn es gibt auch<br />
dort einen großen Facettenreichtum verschiedenster Menschen <strong>und</strong> Denkweisen <strong>und</strong> in<br />
letzter Zeit wirklich große <strong>und</strong> bemerkenswerte Anstrengungen <strong>für</strong> Verbesserungen, die<br />
von dem Willen einer Integration in die Europäische Union <strong>und</strong> von einer Anerkennung<br />
als europafähiger Partner geprägt sind. Viele Rumänen meinen: "wir wollen zurück nach<br />
Europa" <strong>und</strong> verstehen darunter Bindungen, die es früher aus der Geschichte heraus<br />
gegeben hat.<br />
AM: Wirft man einen Blick in die hiesigen Zeitungen, wird viel über die<br />
Investitionstätigkeit westeuropäischer Unternehmen in Rumänien geschrieben, wobei hier<br />
besonders die industrielle, technische oder ökonomische Entwicklung des Landes im<br />
Fokus liegt. Über das "andere" Rumänien – zum Beispiel darüber, dass immer noch 96 %<br />
aller ländlichen Haushalte ohne Anschluss an eine Kläranlage sind – erfährt man abseits<br />
der üblichen Katastrophenmeldungen (Donau-Hochwasser,…) dagegen kaum etwas. In<br />
welchen Bereichen empfinden Sie die Diskrepanz zwischen täglicher Realität <strong>und</strong><br />
öffentlicher Wahrnehmung am stärksten? Worüber sollte zuvorderst berichtet werden?<br />
Schneider: Tatsächlich wird meist über wirtschaftliche Entwicklung, neue<br />
Niederlassungen ausländischer Firmen usw. berichtet. Weniger weiß man über die<br />
Landbevölkerung, die unter schwierigen Bedingungen lebt, ohne entsprechende<br />
Infrastruktur in den Dörfern <strong>und</strong> mit geringstem Einkommen. Hinzu kommt die Tatsache,<br />
dass es in den wenigsten Dörfern Trinkwasserversorgung gibt. Abwasserreinigung,<br />
Kläranlagen gibt es auch nicht. Ungeregelt ist meist auch die Müllentsorgung im<br />
ländlichen Raum, die große Umweltprobleme aufwirft <strong>und</strong> dringend einer Lösung bedarf.<br />
Dorfränder, Böschungen <strong>und</strong> vor allem Fließgewässer dienen als Müllkippe, weil immer<br />
noch die Mentalität besteht, dass das Wasser alles mitnimmt. Dass es aber auch<br />
irgendwo ankommen muss <strong>und</strong> dort Probleme bereitet, wird wenig berücksichtigt. Das<br />
Problem der Müllentsorgung hat jedoch, wie Untersuchungen zeigen, auch mit dem<br />
Umweltverhalten <strong>und</strong> dem geringen Umweltbewusstsein der Bevölkerung zu tun.<br />
Aktionen zur Bewusstseinsbildung fallen, wie auch meine persönliche Erfahrung zeigt, auf<br />
fruchtbaren Boden besonders bei der jungen Generation (Programme mit Schülern).<br />
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AM: Als Biologin setzen Sie sich bereits seit Jahrzehnten mit dem Ökosystem "Donau"<br />
auseinander. Es scheint, als hätten Sie eine besondere Beziehung zu diesem Fluss.<br />
Warum dieses lebenslange Interesse?<br />
Schneider: Die Donau sowie das gesamte Einzugsgebiet der Donau ist von vielen<br />
Gesichtspunkten aus gesehen überaus interessant. Sie durchzieht vom Schwarzwald <strong>und</strong><br />
dem Voralpenland, mit zahlreichen Nebenflüssen aus den Alpen, wie ein grünes Band<br />
Mittel- <strong>und</strong> Südosteuropa <strong>und</strong> durchquert auf ihrem Weg bis zur Mündung ins Schwarze<br />
Meer nicht nur unterschiedliche Naturräume, sondern auch unterschiedliche Sprach- <strong>und</strong><br />
<strong>Kultur</strong>räume. Diese Vielfalt im geographischen, biologisch-ökologischen <strong>und</strong> kulturellen<br />
Bereich ist das, was die Besonderheit der Donau ausmacht, die so unterschiedliche<br />
Räume miteinander verbindet, <strong>und</strong> eine Einheit mit Vielfalt darstellt. Es ist die<br />
Verbindungsachse, die trennt <strong>und</strong> vereinigt <strong>und</strong> einfach vieles zu bieten hat.<br />
AM: Im Jahr 1990 erklärte die UNESCO das Donau-Delta zum Biospärenreservat, über<br />
die Hälfte des Gebietes ist als Weltnaturerbe ausgezeichnet. Was macht diesen gerade<br />
einmal 10.000 Jahre alten "Haufen Sand", der seit der letzten Eiszeit in das Schwarze<br />
Meer hineinwächst, zu etwas so Schützenswertem?<br />
Schneider: Das Donau-Delta ist nicht allein ein "Haufen Sand" , sondern ein Komplex<br />
von Ökosystemen <strong>und</strong> Lebensräumen, der durch die Dynamik der Donau <strong>und</strong> des<br />
Schwarzen Meeres entstanden ist. Durch die Ablagerungen von Sedimenten an der<br />
Donaumündung entstand im Laufe von Jahrtausenden ein vielfältiges Mosaik, bestehend<br />
aus Wasserläufen, Seen mit ausgedehnten Seerosendecken <strong>und</strong> anderen<br />
Wasserpflanzen, riesigen Schilfflächen, zum Teil als Schwingdecken "Plaur" ausgebildet,<br />
schmalen Galerie-artigen Silberweidenwäldern, offenen Schlammflächen <strong>und</strong> in<br />
Meeresnähe ausgedehnte, fächerartig angeordnete Sanddünenkomplexe. Letztere bergen<br />
in den Dünentälchen von den Schwankungen des Gr<strong>und</strong>wassers geprägte<br />
Hartholzauenwälder besonderer Art, bestehend vor allen aus Sumpfesche, Stiel- <strong>und</strong><br />
Balkaneiche <strong>und</strong> ausgezeichnet durch Lianenreichtum <strong>und</strong> vielfältigen<br />
Einnischungsmöglichkeiten <strong>für</strong> Tiere. Die offenen Dünenkämme haben oft wüstenartigen<br />
Charakter <strong>und</strong> beherbergen an die extreme Trockenheit angepasste Arten wie Persische<br />
Winde, Meerträubchen, Kolchische Segge, verschiedene Flechtenarten u.a.m. Hier<br />
tummelt sich der Wüstenrenner, eine Eidechsenart der asiatischen Steppe, hier finden<br />
sich die Trichter des Ameisenlöwen <strong>und</strong> viele Insektenarten von hoher biogeographischer<br />
Relevanz. Mit seiner Vielfalt an Lebensräumen beherbergt das Donau-Delta eine hohe<br />
Artenvielfalt. Hier gibt es 1.668 Pflanzenarten, etwa 70 verschiedene Süßwasserfische,<br />
etwa 330 Vogelarten, darunter zahlreiche Reiherarten: Silber- <strong>und</strong> Seidenreiher,<br />
Purpurreiher, Nachtreiher, sowie Löffler, Brauner Sichler u.v.m. Das Donau-Delta ist der<br />
Lebensraum der größten europäischen Population des Rosapelikans, etwa 4.000<br />
Brutpaare, <strong>und</strong> des Krauskopfpelikans mit etwa 100 Brutpaaren, <strong>und</strong> beherbergt 60%<br />
der Weltpopulation der Zwergscharbe (Kleiner Kormoran). Es ist auch das<br />
Überwinterungsgebiet von etwa 40.000 Rothalsgänsen (50% der Weltpopulation), die aus<br />
dem Gebiet der Taimyrä-Halbinsel an den Rand des Donau-Deltas kommen. Fischotter<br />
<strong>und</strong> Europäischer Nerz sind hier zu Hause. Von letzterem gibt es im Donau-Delta die<br />
europaweit größte Population. Die Aufzählung könnte noch mit vielen interessanten Arten<br />
fortgesetzt werden. Zu erwähnen wäre vielleicht noch die Vielzahl unterschiedlicher<br />
Insektenarten wie Schmetterlinge, Käfer, Heuschrecken, von denen bisher etwa 2.000<br />
Arten erfasst sind, wobei ihre Zahl sicher noch viel höher liegt.<br />
AM: In der Zeit des Ceauşescu-Regimes wurde ein umfassendes Programm zur<br />
"Nutzbarmachung" der Donau <strong>und</strong> seiner Mündungsgebiete ins Leben gerufen, das unter<br />
anderem große Produktionsstätten <strong>für</strong> Fisch, Schilf, Getreide, Holz <strong>und</strong> Baustoffe vorsah.<br />
Was ist heute von diesem Programm geblieben? Welche Fehler wurden damals gemacht?<br />
Schneider: Die großen Umgestaltungspläne des Überschwemmungsgebietes der Unteren<br />
Donau begannen noch vor Ceauşescu im Jahr 1963, als großflächige Trockenlegungen<br />
der ausgedehnten "Balta"-Gebiete vorgenommen wurden. Von den 5.402 km 2 der Auen<br />
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an der Unteren Donau oberstrom des Deltas wurden mehr als 4.500 km 2 durch Dämme<br />
vom Strom getrennt <strong>und</strong> zu landwirtschaftlichen Zwecken trockengelegt oder in<br />
Fischzuchtanlagen umgewandelt. Die Umgestaltungsmaßnahmen betrafen auch das Delta<br />
(4.152 km 2 Fläche ohne Lagunen-Komplex von Razelm-Sinoe), wo es zunächst zur<br />
Einrichtung von Schilfpoldern <strong>und</strong> Fischzuchtanlagen kam. 1983 wurden die<br />
Eindeichungs- <strong>und</strong> Trockenlegungsarbeiten mit verstärkter Intensität fortgesetzt. Dort<br />
wurden bis zur Wende insgesamt 97.409 ha Fläche eingedeicht, davon 39.974 ha <strong>für</strong><br />
intensive Landwirtschaft. Mit dem Verlust des Überschwemmungsgebietes kam es zu<br />
einem drastischen Einbruch der Fischpopulationen. Die Untere Donau ist nämlich<br />
vorzugsweise der Lebensraum zahlreicher Cypriniden (Karpfenartiger), die zum Ablaichen<br />
vegetationsreiche, flach überflutete Flächen, die so genannte "intinsura" brauchen. Durch<br />
die Abtrennung der Auen gingen diese "Fischkinderstuben" verloren <strong>und</strong> damit auch fast<br />
das gesamte traditionelle Fischereiwesen an der Unteren Donau oberstrom des Deltas.<br />
Der großflächige Verlust an Wasserflächen durch Trockenlegen vieler Auenseen führte zu<br />
lokalen Klimaveränderungen, die unter anderem einen Einfluss auf die Landwirtschaft an<br />
den Terrassenhängen der Donau hatten. Der gestörte Wasserhaushalt in den Auen der<br />
Unteren Donau führte unter den Bedingungen des kontinentalen Klimas (mit hoher<br />
Verdunstung) zur Versalzung vieler Böden, so dass sie <strong>für</strong> die landwirtschaftliche Nutzung<br />
an Wert verloren oder unbrauchbar wurden. Die Versalzung traf auch auf die<br />
eingedeichten Flächen im Donau-Delta zu. Zudem war der Verlust der Auen als<br />
biologische Filter <strong>für</strong> Schadstoffe zu beklagen, die nun stromabwärts transportiert wurden<br />
<strong>und</strong> zu einem erhöhten Eintrag an belastetem Wasser ins Donau-Delta führten. Nicht<br />
zuletzt zeigte auch das Hochwasser des abgelaufenen Jahres, dass durch die Abtrennung<br />
der Auen dem Strom die Räume <strong>für</strong> Hochwasserretention genommen wurden <strong>und</strong> sich die<br />
Wassermassen ihren Weg zum Teil selbst suchten, wobei es zu verheerenden Folgen<br />
kam. Die wichtige Retentionsfunktion der Auen wurde außer Acht gelassen sowie auch<br />
ihre sonstigen Funktionen als Lebensraum <strong>für</strong> Tiere, als biologischer Filter, Klimaregler<br />
etc. Insgesamt wurde der Lebensraum vieler Arten drastisch reduziert oder ging vollends<br />
verloren. Dennoch waren im Delta zum Zeitpunkt der Wende große Flächen unversehrt<br />
geblieben. Von dem gesamten Umgestaltungsprogramm sind viele geschädigte Gebiete<br />
übrig geblieben, aber viele eingerichtete Polder werden auf Gr<strong>und</strong> zu hoher Strom- <strong>und</strong><br />
Pumpkosten sowie mangelnder Infrastruktur nicht mehr entsprechend der Bestimmung<br />
des Umgestaltungsplanes genutzt.<br />
AM: Claudio Margris schreibt in seinem Buch "Donau. Biographie eines Flusses", dass<br />
sich die Bevölkerung des Deltas von über 21.000 im Jahr 1970 auf weniger als 15.000 im<br />
Jahr 1992 verringert habe. Warum damals dieser dramatische Rückgang? Wie war die<br />
Entwicklung nach 1992?<br />
Schneider: Der Bevölkerungsrückgang war auf den Mangel an Arbeitsmöglichkeiten<br />
zurückzuführen <strong>und</strong> auf den Mangel an weiterführenden Schulen. In den meisten Orten<br />
gab <strong>und</strong> gibt es nur die ersten vier Klassen, danach müssen die Kinder in größere Orte<br />
gehen, um die weiterführenden Schulen zu besuchen. Es gab <strong>und</strong> gibt nur zwei größere<br />
Ortschaften im Delta: Sulina (etwa 5.000 Einwohner, aber gegenwärtig eher weniger)<br />
<strong>und</strong> Chilia (etwa 2.000, ebenfalls eher weniger). Es wurden große staatliche Fischfarmen<br />
eingerichtet, die das traditionelle Fischereigewerbe einengten <strong>und</strong> die<br />
Arbeitsmöglichkeiten reduzierten. Der Bevölkerungsschw<strong>und</strong> im Donau-Delta setzte sich<br />
auch nach der Wende fort, so dass zur Zeit die Einwohnerzahl mit etwa 8.000 angegeben<br />
wird. Viele sind noch in ihren Herkunftsorten im Delta gemeldet, wohnen aber nicht mehr<br />
dort. Besonders <strong>für</strong> die jungen Leute gibt es keine Arbeit, außerdem ist das schwere,<br />
entbehrungsreiche Leben im Donau-Delta ein Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> das Ausweichen auf andere<br />
Möglichkeiten. "Die Kinder sollen es besser haben", heißt es. Diese Entwicklung ist nur<br />
dann zu stoppen, wenn es <strong>für</strong> die Bevölkerung im Delta Alternativen gibt, die es lohnend<br />
machen, dort zu bleiben.<br />
AM: Was kann man tun, um zu verhindern, dass immer mehr Junge aus der Delta-<br />
Region in die Städte abwandern? Eine Option wäre etwa die des Ökotourismus:<br />
Einheimische Fischer, die ihre Gäste in kleinen Booten durch das Delta führen…<br />
- 91 -
Schneider: Die Option Ökotourismus mit Naturbeobachten <strong>und</strong> Genießen des einfachen<br />
Lebens <strong>und</strong> der Ruhe der Deltaweiten kann einige Verbesserungen <strong>für</strong> die Region<br />
bringen, aber nur wenn es gute Alternativmöglichkeiten gibt <strong>und</strong> lokale Initiativen<br />
unterstützt, die es lohnen machen, dort zu bleiben. Dazu gehört, dass man die<br />
Einwohner unterstützt, ihre Häuser besser auszustatten, die sanitären Möglichkeiten zu<br />
verbessern, die Wasserversorgung regelt, die gesamte Infrastruktur in den Dörfern<br />
verbessert <strong>und</strong> nicht jeder Einkauf nur in Tulcea getätigt werden kann. Des weiteren<br />
sollte man auch die lokalen Fischer unterstützen <strong>und</strong> bevorzugen, die Preise <strong>für</strong><br />
angebotenen Fisch sollten korrekt festgelegt werden, der Fischmarkt sollte frei sein <strong>und</strong><br />
sich nach Angebot <strong>und</strong> Nachfrage regeln. Auch sollte der Zugang der lokalen Bevölkerung<br />
zu den Ressourcen – natürlich mit bestimmten Umweltauflagen – frei sein <strong>und</strong><br />
Nutzungsmöglichkeiten bevorzugen, die sowohl der Bewahrung der Biodiversität als auch<br />
der Ressourcennutzung durch die lokale Bevölkerung zugute kommen. Der Ökotourismus<br />
sollte auch dahingehend unterstützt werden, dass die lokalen Produkte den Touristen<br />
angeboten werden können, z.B. selbstgemachter Käse (es gibt Schafzucht <strong>und</strong><br />
traditionelle Rinderhaltung). Da der Ökotourismus nur <strong>für</strong> die Sommermonate<br />
interessante Möglichkeiten bietet, sollte man über zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten <strong>für</strong><br />
die Bewohner des Deltas nachdenken, zu denen auch das Aufleben traditioneller<br />
Handwerkstätigkeiten (z. B. Flechten von Matten <strong>und</strong> Körben) gehört. Der Ökotourismus<br />
hat bereits einige Verbesserungen gebracht. Viele Einwohner, besonders am Sulina-Arm<br />
sowie auf der rechten Seite des Sf. Gheorghe-Arms, haben sich kleine Pensionen gebaut<br />
<strong>und</strong> eingerichtet, sozusagen Familienbetriebe, die von Touristen gern angenommen<br />
werden. Allerdings hat auch diese Bautätigkeit ihre Kehrseiten, vor allem dann, wenn die<br />
Architektur der Bauten nicht der traditionellen Bauweise angepasst ist. Es müsste<br />
vielmehr auf eine vernünftige Raumplanung geachtet werden.<br />
AM: Welche Rolle spielt die Donau als Trinkwasserquelle? Haben die Rumänen<br />
überwiegend Zugang zu sauberem Trinkwasser?<br />
Schneider: Im Einzugsgebiet der Donau sind etwa 22 Millionen Menschen mit ihrer<br />
Trinkwassernutzung von der Donau abhängig. An der Unteren Donau beziehen alle<br />
größeren Städte ihr Trinkwasser aus dem Fluss. Die Stadt Tulcea am Donau-Delta<br />
entnimmt ihr Trinkwasser ebenfalls der Donau. Da<strong>für</strong> gibt es auch Aufbereitungsanlagen,<br />
die aber dringend vergrößert werden müssen. Abwasserreinigung, Kläranlagen gibt es<br />
jedoch kaum oder von zu geringer Kapazität, so dass Abwässer zum großen Teil in die<br />
Donau eingeleitet werden. In den Dörfern entlang der Unteren Donau wird das<br />
Trinkwasser eher aus Gebieten der Donauterrasse entnommen. Dort gibt es überall<br />
Trinkwasserbrunnen. Allerdings gibt es in den Dörfern keine oder kaum eine zentrale<br />
Trinkwasserversorgung mit Wasserleitungen zu den Häusern. In einigen Orten ist man<br />
gerade dabei, Trinkwasserleitungen zu legen. Für die Bevölkerung des Donau-Deltas war<br />
das Donauwasser die einzige Trinkwasserquelle. Auch heute noch sieht man bei einigen<br />
Gehöften große Behälter aus Kalkstein, in die das Wasser hineingeschüttet wurde, um es<br />
zu filtern. In manchen Deltadörfern gibt es Brunnen, deren Trinkwasser heilig ist <strong>und</strong><br />
daneben ein Kreuz steht, weil das Wasser darin so wertvoll ist. In wenigen Dörfern des<br />
Deltas wurden Trinkwasserleitungen gelegt (Mila 23), an die sich die Bewohner<br />
anschließen können. Heute wird das Trinkwasser ins Delta meist in Wasserkästen aus der<br />
Stadt gebracht. Die größten Investitionen sind im Bereich Trinkwasserversorgung <strong>und</strong><br />
Abwasserreinigung erforderlich <strong>und</strong> es gibt bereits viele diesbezügliche Anstrengungen<br />
<strong>und</strong> konkrete Projekte.<br />
AM: Im Jahr 2000 unterzeichneten die Umweltminister von Rumänien, Bulgarien,<br />
Moldawien <strong>und</strong> der Ukraine das Projekt "Grüner Korridor", eine Vereinbarung zum Schutz<br />
der unteren Donau <strong>und</strong> des Deltas, das bisher größte Renaturierungsvorhaben in Europa.<br />
Wie verträgt sich dieses Vorhaben mit dem im Jahr 2004 von der Ukraine begonnenen<br />
Bau des Bystroe-Kanals, der in Zukunft direkt durch einen Teil des Mündungsgebietes<br />
führen soll?<br />
- 92 -
Schneider: Der Bystroe-Kanal stellt <strong>für</strong> die Donaumündung aus ökologischer Sicht ein<br />
Problem dar. Untersuchungen zeigen deutlich, dass der Bystroe-Kanal längerfristig<br />
negative Auswirkungen auf das Ökosystem Donau-Delta/Donau haben wird. Diese betrifft<br />
vor allem die Störe, die aus dem Schwarzen Meer Donau aufwärts wandern. Diese<br />
brauchen <strong>für</strong> ihre Wanderung im wahrsten Sinne des Wortes einen freien, natürlichen<br />
Korridor. Der Bystroe-Arm des sek<strong>und</strong>ären Deltas am Chilia-Arm ist Teil dieses Korridors.<br />
<strong>Wissen</strong>schaftliche Untersuchungen belegen, dass z. B. der als Schifffahrtskanal<br />
ausgebaute Sulina-Arm im Donau-Delta <strong>für</strong> die Störwanderung verloren gegangen ist <strong>und</strong><br />
von den Störarten gemieden wird. Leider belegt das Problem Bystroe, dass die<br />
Integration von Umweltproblemen in einem solchem Vorhaben nicht berücksichtigt wird.<br />
Der Bystroe-Kanal ist nur eine kurze Strecke, zieht jedoch weitere Maßnahmen nach sich,<br />
die den gesamten Chilia-Arm betreffen werden, wenn das Vorhaben der Ukrainer, eine<br />
eigene Schifffahrtsstraße auf dem Chilia/Kilija-Arm zu haben, verwirklicht wird oder wenn<br />
ein geplanter Anlenkungsdamm ins Meer hinaus gebaut wird. Dabei könnte es dann zu<br />
Problemen veränderter Ablagerung <strong>und</strong> auch zu Erosion an anderer Stelle der Küste<br />
kommen. Der Bystroe-Kanal ist keine dauerhafte Lösung <strong>für</strong> die Schifffahrt, da er immer<br />
wieder ausgebaggert werden muss. Zur Zeit werden große Geldsummen genannt, die <strong>für</strong><br />
den Bystroe-Kanal verwendet werden sollen, die Baggerung allein verschlingt jedoch<br />
nicht soviel Geld <strong>und</strong> es scheint, dass das Geld <strong>für</strong> andere Zwecke verwendet wird.<br />
AM: Wo liegt Ihrer Ansicht nach die Grenze zwischen einer angemessenen<br />
wirtschaftlichen Nutzung der Donau als "Wasserstraße" <strong>und</strong> einem schonenden Umgang<br />
ihrer natürlichen Ressourcen – etwa am Beispiel des von der EU ins Leben gerufenen<br />
"Trans European Network for Transport"?<br />
Schneider: Leider ist es auch bei diesem Projekt so, dass diejenigen, die die<br />
Entscheidung <strong>für</strong> TENs-T treffen, sich nicht mit den Ökologen an einen Tisch setzen, um<br />
gemeinsam Lösungen zu finden, die naturverträglich <strong>und</strong> auch <strong>für</strong> die Schifffahrt tragbar<br />
sind. Wenn die Schifffahrt nicht an die Flussbedingungen der Donau angepasst wird, ist<br />
langfristig eine nachhaltige Beeinträchtigung <strong>für</strong> die Umwelt zu erwarten. Die Donau<br />
bietet Alternativen durch ihre große Strombreite, so dass sie mit flacheren, breiteren<br />
Schiffen größerer Länge befahren werden könnte ohne dass Flussbettveränderungen<br />
durchgeführt werden müssten, auch wenn niedrigere Wasserstände vorhanden sind<br />
(Anpassung der Schifffahrt an den Fluss <strong>und</strong> nicht des Flusses an die Schifffahrt). Auf der<br />
Donau gibt es im Vergleich zum Rhein einen viel geringeren Verkehr. Wo auf dem der<br />
Rhein bei Duisburg 100 Millionen Tonnen Fracht transportiert werden <strong>und</strong> bei Karlsruhe-<br />
Mannheim etwa 40 Millionen, so sind es auf der Unteren Donau 6-10 Millionen Tonnen,<br />
eine Ziffer, die auch <strong>für</strong> den serbischen Abschnitt Gültigkeit hat. Außerdem müsste der<br />
Schiffsverkehr auf der Donau auch in Relation mit den anderen Verkehrsmitteln LKW <strong>und</strong><br />
Eisenbahn gesehen werden. Man kann jedoch den Verkehr auf dem Rhein nicht mit dem<br />
auf der Donau vergleichen. Für die untere Donau würde es ein eigenes regionales<br />
Konzept brauchen, dass sowohl der Schifffahrt als auch den Umweltbelangen Rechnung<br />
trägt. Auch wäre noch zu erwähnen, dass <strong>für</strong> jede Maßnahmenplanung eine<br />
Umweltverträglichkeitsstudie gemacht werden muss (Strategic Environmental<br />
Assessment), <strong>und</strong> zwar aufgr<strong>und</strong> einer integrierten Untersuchung, die sowohl dem<br />
Transport als auch den Umweltbelangen Rechnung trägt. Außerdem gibt es verschiedene<br />
legale Instrumente, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Nach der Europäischen<br />
Wasserrahmenrichtlinie müssen auch stark veränderte Wasserkörper einem potentiell<br />
guten Zustand zugeführt werden.<br />
AM: Ein Lehrsatz der Ökologie besagt, dass sich in "katastrophenreichen" Landschaften<br />
wesentlich mehr Arten ansiedeln können. Dem steht aber das Bedürfnis des Menschen<br />
nach mehr Schutz, insbesondere vor den regelmäßigen Donau-Hochwässern, entgegen.<br />
Wie kann es trotz allem ein Miteinander von Mensch <strong>und</strong> Natur an der Donau geben? Was<br />
passiert zum Beispiel, wenn es durch Dammbauten oder Kanälen zu keinen regelmäßigen<br />
Überschwemmungen mehr kommen kann? Welche Auswirkungen hätte das <strong>für</strong> die Natur?<br />
- 93 -
Schneider: Es ist bekannt, dass der Fluss <strong>und</strong> seine Aue ein dynamisches System bilden<br />
<strong>und</strong> gerade die Dynamik <strong>und</strong> die Vielfalt der Kleinlebensräume die Arten- <strong>und</strong><br />
Habitatvielfalt bedingt. Die Menschen haben in früheren Zeiten auch mit dem Fluss <strong>und</strong><br />
meist in Einklang mit ihm gelebt. Die Ortschaften wurden meist am Rand der<br />
Niederterrasse gebaut, sowie es beispielsweise an der Unteren Donau auch deutlich wird.<br />
Erst durch die Trennung der Auen vom Strom <strong>und</strong> der Trockenlegung konnte man in die<br />
Auen bauen. Gerade aber der Verlust an Auen bzw. an Retentionsraum <strong>für</strong> den Fluss hat<br />
große Hochwasserprobleme heraufbeschworen. Bedingt durch die Hochwasserereignisse<br />
des Jahres 2006 hat ein Umdenkprozess begonnen <strong>und</strong> es wurden in Rumänien Pläne<br />
entworfen, wie man die Hochwassersicherheit vergrößern könne. Um die Ortschaften, die<br />
gefährdet sind, weil die Terrasse zu niedrig ist oder weil man in die Auen gebaut hat,<br />
müssen Ringschutzdeiche errichtet werden. Dort wo es möglich ist, müssen die Dämme<br />
jedoch geöffnet <strong>und</strong> die Auen wieder mit dem Strom verb<strong>und</strong>en werden, um Flächen zur<br />
Hochwasserrückhaltung zu schaffen, was sowohl der Natur als auch dem Menschen<br />
zugute kommen wird. Immer lauter <strong>und</strong> bestimmter wird über das Konzept "mehr Raum<br />
<strong>für</strong> Flüsse" nachgedacht <strong>und</strong> verhandelt. Das Ausbleiben der Überschwemmungen führt<br />
zu Veränderungen vor allem im Wasserhaushalt, bringt einen Verlust typischer<br />
Lebensräume, führt z.B. an der unteren Donau zu Versalzung <strong>und</strong> Versteppung, zu<br />
Klimaveränderungen etc. Schließlich verschwindet der Lebensraum zahlreicher Arten.<br />
AM: Einer Untersuchung zufolge kamen 1980 noch knapp 80.000 ausländische Touristen<br />
ins Delta, im Jahr 1993 dann nur noch etwa 7.000. Warum kam es damals zu diesem<br />
starken Besucherschw<strong>und</strong>? Hat sich die Zahl der Reisenden heute wieder erholt?<br />
Schneider: In den achtziger Jahren wurden viele Gruppenreisen organisiert. Das war zu<br />
der Zeit als beispielsweise auch Neckermannreisen ans Schwarze Meer stattfanden, die<br />
dann auch ins Donau-Delta führten. Später, als die Bedingungen <strong>für</strong> Ausländer immer<br />
strenger wurden, blieben die Touristen weg. Im Zuge der Umgestaltungspläne <strong>für</strong> das<br />
Donaudelta wurden die Besucher dann eher ferngehalten. Die Zahl der Reisenden hat<br />
sich heute einigermaßen erholt, hält sich jedoch auf relativ niedrigem Niveau. Ursache<br />
da<strong>für</strong> sind steigende Preise, teure Hotels <strong>und</strong> teilweise nicht so gute Dienstleistungen. Für<br />
die Rumänen sind Angebote <strong>für</strong> Auslandsreisen viel besser <strong>und</strong> begehrenswerter, erstens<br />
weil man bis Ende der Ceauşecsu-Ära nicht reisen konnte <strong>und</strong> nun die Möglichkeit hat,<br />
<strong>und</strong> zweitens, weil die ausländischen Angebote attraktiver <strong>und</strong> preiswerter sind als im<br />
eigenen Land. Ökotourismus hingegen ist <strong>für</strong> Ausländer, die Rumäniens Natur kennen<br />
lernen wollen, sehr attraktiv.<br />
AM: Wie können die einheimischen Bewohner des Deltas vom Tourismus profitieren,<br />
wenn die meisten Besucher noch immer in den großen Städten übernachten <strong>und</strong> dann<br />
nur auf einen Sprung ins Naturschutzgebiet kommen? Der überwiegende Teil der<br />
Einnahmen geht doch vor allem an die Reiseveranstalter oder an Führer, die sich nicht<br />
aus der ansässigen Bevölkerung rekrutieren.<br />
Schneider: Große Busreisen, die nur als Tagesausflug gedacht <strong>und</strong> mit Übernachtungen<br />
im Hotel verb<strong>und</strong>en sind, finden immer weniger Statt. Der Trend geht schon zu kleineren<br />
Reisen <strong>und</strong> Nutzung von Hausbooten. In dem Fall hat die lokale Bevölkerung aber auch<br />
wenig davon. Es müssen, wie schon erwähnt, auch <strong>für</strong> die lokale Bevölkerung<br />
Alternativen geboten werden, die es ihnen ermöglichen, im Tourismusgeschäft besser<br />
mitzumachen.<br />
AM: Welche Maßnahmen halten Sie <strong>für</strong> nötig, damit das Donaudelta auch in Zukunft als<br />
gemeinsamer Lebensraum <strong>für</strong> Tier <strong>und</strong> Mensch erhalten werden kann?<br />
Schneider: Maßnahmen zur Stärkung des Umweltbewusstseins, des Bewusstseins <strong>für</strong> die<br />
Werte des Donaudeltas <strong>und</strong> ihren Schutz; Erarbeitung von Lösungen, die Naturschutz<br />
<strong>und</strong> nachhaltige Nutzung der Ressourcen verbinden; Zugang der lokalen Bevölkerung zu<br />
den Ressourcen <strong>und</strong> deren geregelte Nutzung; ein gut geregeltes Kontrollsystem <strong>für</strong> die<br />
- 94 -
Ressourcennutzung <strong>und</strong> den Tourismus, um Übergriffe auszuschalten; Eindämmung des<br />
wilden Motor-Schnellboottourismus <strong>und</strong> bessere Kontrolle der Zugänge solcher<br />
Motorboote <strong>und</strong> der im Delta genutzten Wege (auf manchen Kanälen geht es zu wie auf<br />
der Autobahn); besserer Schutz der Kernzonen des Biosphärenreservats mit<br />
funktionierenden Kontrollmechanismen (einschließlich Kampf gegen Wilderei); bessere<br />
Abstimmung der Biosphärenreservatsverwaltung mit den lokalen <strong>und</strong> regionalen<br />
Behörden; Einbindung der lokalen Bevölkerung in Entscheidungsprozesse: Informations-<br />
<strong>und</strong> Kommunikationsveranstaltungen.<br />
AM: Sehr geehrte Frau Schneider, haben Sie vielen Dank <strong>für</strong> das Interview!<br />
Prof. Dr. Erika Schneider (erika.schneider@iwg.uni-karlsruhe.de), Jahrgang 1942, ist<br />
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Auen-Institut des WWF (World Wide F<strong>und</strong> for Nature) in Rastatt.<br />
Sie studierte Biologie mit Schwerpunkt Botanik an der Universität Klausenburg. Als Forscherin<br />
arbeitete sie bis 1969 am Biologischen Forschungszentrum der Rumänischen Akademie der<br />
<strong>Wissen</strong>schaften in Klausenburg <strong>und</strong> anschließend bis 1984 im Naturwissenschaftlichen Museum in<br />
Hermannstadt, damals Abteilung des Brukenthal-Museums. 1985 trat sie in das WWF-Auen-Institut<br />
Rastatt ein, wo sie bis heute als Expertin <strong>für</strong> Vegetationsk<strong>und</strong>e, Pflanzenökologie, Renaturierung von<br />
Feuchtgebieten <strong>und</strong> Umweltverträglichkeitsstudien wirkt. In den letzten Jahren lag der Schwerpunkt<br />
ihrer Tätigkeit in der Renaturierung des Donaudeltas.<br />
Publikationen<br />
...<br />
Über 100 Veröffentlichungen in Fachzeitschriften <strong>und</strong> Büchern, Mitarbeit an r<strong>und</strong> 50 Fachgutachten,<br />
Mitgliedschaft in mehreren internationalen Gesellschaften <strong>und</strong> Teilnahme an zahlreichen Tagungen.<br />
Umfassendere Arbeiten der letzten Jahre sind: "Die Auen im Einzugsgebiet der unteren<br />
Donau"(1991), "Die ökologische Funktion der Donauauen <strong>und</strong> ihre Renaturierung" (engl., 2002), "Die<br />
Auenwälder der Donau (franz., 2003).<br />
Homepage<br />
...<br />
www.auen.uni-karlsruhe.de<br />
- 95 -
Rumäniens Wirtschaft <strong>und</strong> Politik<br />
Wandel <strong>und</strong> gegenwärtige Gestalt<br />
Schon früh wurde der wirtschaftliche Aufschwung Rumäniens von <strong>und</strong> <strong>für</strong><br />
eine sehr schmale Elite betrieben. Das ist heute nicht viel anders. Wie sonst wäre<br />
es zu erklären, dass die wirtschaftlichen Wachstumsraten abenteuerlich hoch,<br />
die Armut aber nach wie vor groß ist.<br />
Von Hannes Hofbauer<br />
(01. 01. 2007)<br />
Im Sog der drei historischen Zentren Europas finden sich rumänischsprachige<br />
Gebiete <strong>und</strong> Menschen seit Jahrh<strong>und</strong>erten zwischen den Interessen Wiens bzw.<br />
Brüssels, Moskaus <strong>und</strong> Konstantinopels / Istanbuls. Der sich über ein Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
hinziehende Rückzug der Osmanen aus der Region <strong>und</strong> die damit einhergehende<br />
Auflösung der drei von der Hohen Pforte oberherrschaftlich verwalteten<br />
historischen rumänischen Fürstentümer Moldawien, Transsylvanien <strong>und</strong> Walachei<br />
hat der nachmaligen Türkei ihren Einfluss auf Rumänien geraubt. Umso stärker<br />
traten seit dem späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert die österreichischen Habsburger <strong>und</strong> die<br />
russischen Romanovs in Erscheinung.<br />
Die Eingliederung von Teilen der rumänischen Siedlungsgebiete als<br />
Siebenbürgen <strong>und</strong> Bukowina unter Wiener bzw. von Bessarabien unter Moskauer<br />
Kontrolle modernisierten wirtschaftlich gesehen einerseits die ehemaligen<br />
tributären Ökonomien, brachten sie jedoch andererseits unter verstärkte<br />
ökonomische Abhängigkeit. Mit der Gründung Rumäniens als geopolitischem<br />
Kompromiss der Weltmächte am Berliner Kongress 1878 verstärkten das<br />
Deutsche Reich <strong>und</strong> Österreich-Ungarn ihren Einfluss in den rumänischen<br />
Siedlungsgebieten. Die Abhängigkeit des Landes von westlichen Interessen kam<br />
politisch am sichtbarsten in der Einsetzung eines hohenzollerischen<br />
Adelssprösslings, Karl, als erstem rumänischen König zum Ausdruck. Der<br />
wirtschaftliche Aufschwung des Landes wurde von <strong>und</strong> <strong>für</strong> eine sehr schmale Elite<br />
betrieben. Eine Bodenreform im Jahr 1920 machte aus feudal vollständig<br />
abhängigen Landarbeitern Kleinstbauern, dem Hunger der Landbevölkerung<br />
konnte sie ebenso wenig entgegenwirken wie dem Analphabetismus, der vier<br />
Fünftel der RumänInnen betraf. Die gegenüber dem Land parasitäre Stadt blieb<br />
als solche bestehen.<br />
Mit dem Sieg der Roten Armee über Hitler-Deutschland <strong>und</strong> seine<br />
Verbündeten 1944 übernahm eine in der rumänischen Gesellschaft kaum<br />
verankerte kommunistische Partei die Initiative. Rasche Proletarisierung unter<br />
entwicklungsdiktatorischen Bedingungen industrialisierte das Land,<br />
alphabetisierte die Bevölkerung <strong>und</strong> veränderte die Lebensbedingungen<br />
gr<strong>und</strong>legend: im Jahr 1990 hatte die durchschnittliche Lebenserwartung mit 70<br />
Jahren fast westeuropäisches Niveau erreicht, 1930 war sie noch bei 40 Jahren<br />
gelegen.<br />
- 96 -
Nach der Erschießung des letzten national-kommunistischen Führers Nicolae<br />
Ceausescu dauerte es in Rumänien länger als in vergleichbaren Nachbarländern,<br />
bis sich westliche Konzerne das vormalige Staatseigentum aufteilten. Das lag<br />
unter anderem an dem geringen Druck, den mächtige Institutionen wie Weltbank<br />
<strong>und</strong> Währungsfonds auf die postkommunistische Elite ausüben konnten:<br />
Ceausescu hatte die in den 1970er Jahren angehäufte Außenschuld Rumäniens im<br />
Jahr 1989 zurückbezahlt, das Land war schuldenfrei.<br />
Erst gegen Ende der 1990er Jahre konnte sich eine den westeuropäischen<br />
<strong>und</strong> US-amerikanischen Konzernen ergebene Administration in Bukarest<br />
etablieren. Seither testet das Kapital aus den Zentren radikale ökonomische <strong>und</strong><br />
soziale Maßnahmen in der rumänischen Peripherie. Mit der Einführung eines<br />
Einheitssteuersatzes von 16% "Flat tax" <strong>für</strong> Unternehmenssteuern ist Rumänien <strong>für</strong><br />
große Investoren steuerlich das günstigste Land in der Europäischen Union<br />
geworden. Der Durchschnittslohn beträgt ein Fünftel des westeuropäischen<br />
Niveaus. Die durch neue Verelendung ausgelöste Mobilisierung hat nach<br />
Schätzung des Arbeitsministers zwei Millionen RumänInnen – als großteils<br />
"Illegale" – auf westeuropäische Arbeitsmärkte getrieben. In der Landwirtschaft<br />
mit dem EU-weit höchsten Beschäftigtenanteil von 35% bauen US-Konzerne<br />
großflächig gentechnisch veränderte Lebensmittel an. Die Profitraten von<br />
Banken,Versicherungsgesellschaften <strong>und</strong> Energiekonzernen, die allesamt von<br />
westeuropäischen Zentralen aus geführt werden, liegen weit über dem EUeuropäischen<br />
Durchschnitt. Und von der westeuropäischen Öffentlichkeit<br />
weitgehend unbemerkt, sitzt der bekannteste rumänische Gewerkschaftsführer,<br />
der Bergarbeiter Miron Cozma, seit 1999 wegen Staatsgefährdung im Gefängnis.<br />
Dies wohl als Warnung an alle im rumänischen Transformationsrausch zu kurz<br />
Gekommenen, gegen ihre soziale Marginalisierung auf die Straße zu gehen.<br />
Wohin sich die Millionen unbrauchbar Gewordenen, vom Kommunismus<br />
Proletarisierten <strong>und</strong> jetzt Prekarisierten in naher Zukunft wenden sollen, ist nach<br />
der EU-weiten Schließung des Arbeitsmarktes <strong>für</strong> RumänInnen zur zentralen<br />
sozialen Frage geworden. Zur Zeit sieht es nicht danach aus, dass sich eine<br />
politische Kraft dieser Frage annimmt. Stattdessen wird in den Mainstream-<br />
Medien weiterhin viel vom Phänomen Rumänien zu lesen sein, in dem die<br />
wirtschaftlichen Wachstumsraten abenteuerlich hoch <strong>und</strong> – gleichzeitig angeblich<br />
unverständlicher Weise – die Armut abenteuerlich groß ist.<br />
Hannes Hofbauer (promedia@mediashop.at), Jahrgang 1955, hat Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeschichte<br />
an der Universität Wien studiert. Er arbeitet als Journalist <strong>und</strong> Publizist. Seit 1989 bereist er die<br />
Länder Osteuropas <strong>und</strong> hat – mit Co-Autoren – historisch angelegte Regionenportraits der Bukowina,<br />
Transsylvaniens/ Siebenbürgens <strong>und</strong> Schlesiens verfasst<br />
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"Ovids Exildichtungen sind der Beginn<br />
einer 'rumänischen Literatur'"<br />
Aurora-Interview mit dem Altphilologen Gerhard Petersmann<br />
"Rumänien begreift sich in Mentalität <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong> als romanisches, der westlichen<br />
lateinischen <strong>Kultur</strong> Europas zugehörendes Land. Das kulturelle Erbe Roms ist<br />
allgegenwärtig <strong>und</strong> <strong>für</strong> Rumänien identitätsstiftend."<br />
Das Interview führte Franz Wagner<br />
(01. 03. 2007)<br />
AM: Was versteht man heute unter dem Begriff der Exildichtung <strong>und</strong> wie hat sich dieser<br />
entwickelt? Kann man von einem eigenen Genre sprechen?<br />
Petersmann: Unter Exil- oder auch Emigrantenliteratur versteht man im<br />
weiteren Sinne Werke verschiedener Gattungen von Autoren oder<br />
Autorinnen, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen ihre<br />
Heimat unter Zwang oder auf Gr<strong>und</strong> freier Entscheidungen verlassen<br />
mussten. Derartige Literatur geht bis in die Anfänge der Schriftkultur<br />
zurück, weil Vertreibung, Exil <strong>und</strong> Verbannung offenbar immer geschehen<br />
sind <strong>und</strong> leider auch geschehen – man denke an die aus welchen Gründen<br />
auch immer heute vorhandenen Migrationen aus Afrika <strong>und</strong> Asien. Auch die<br />
europäische Antike kennt zahlreiche Beispiele von Exilliteratur – von<br />
frühgriechischer Lyrik um 600 v. Chr. (Alkaios, Sappho, Hipponax u.a.) über<br />
Ovid <strong>und</strong> Seneca im 1. Jhdt. n. Chr. bis in die Spätantike reicht der Bogen.<br />
Exilliteratur entsteht aus den politischen Rahmenbedingungen einer<br />
Epoche, spiegelt Kämpfe um Macht <strong>und</strong> Einfluss wider, hat also wohl auch<br />
eine anthropologische Komponente. Waren es in der frühen Neuzeit<br />
Religionskämpfe, die Literatur Heimatvertriebener erzeugte, so wurden<br />
Verbannte <strong>und</strong> Emigranten des Zarenreiches im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert abgelöst<br />
von Exilierten <strong>und</strong> Flüchtlingen aus dem Sowjetimperium des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts. Die wohl größte <strong>und</strong> schrecklichste Ausweitung erfuhr<br />
Exilliteratur, von der man weniger als Gattung, aber durchaus als<br />
literarischem Genre sprechen kann, in der Zeit des Nationalsozialismus mit<br />
seinen unzähligen verbannten <strong>und</strong> verjagten, geflüchteten <strong>und</strong><br />
ausgewanderten Intellektuellen <strong>und</strong> Künstlern.<br />
AM: Im Alter von 50 Jahren wurde Publius Ovidius Naso nach Tomi am Schwarzen Meer,<br />
dem heutigen Constanza, verbannt. Ovid gibt später an, dass Kaiser Augustus diese<br />
Entscheidung persönlich getroffen habe, <strong>und</strong> sein Landesverweis weder durch ein<br />
Gerichtsverfahren noch durch einen Beschluss des Senats legitmiert war. Was war der<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> diesen überraschenden Schritt des Kaisers?<br />
Petersmann: P. Ovidius Naso, in Sulmo (heute Sulmona, in der Region<br />
L´Aquila) 43 v. Chr., ein Jahr nach der Ermordung Caesars geboren, gehört<br />
wohl neben Seneca zu den prominentesten verbannten Römern. Kaiser<br />
Augustus erließ im Jahre 8 n. Chr. einen von Ovid selbst als edictum<br />
bezeichneten Relegationsbescheid. In diesem wird die relegatio, die mildere<br />
- 98 -
Form der Verbannung nach Tomis (oder auch Tomi) verhängt.<br />
Staatsbürgerschaftliche Rechte <strong>und</strong> Vermögen blieben unangetastet, auch<br />
ein Publikationsverbot wurde gegen den bereits sehr berühmten Dichter<br />
offenk<strong>und</strong>ig nicht ausgesprochen. Die Gründe <strong>für</strong> dieses kaiserliche Edikt<br />
sind trotz aller Forschung bis heute ungeklärt. Es gibt lediglich Ovids eigene<br />
Hinweise in seinen Exildichtungen, den fünf Büchern der Tristia (carmina),<br />
also den "Liedern der Trauer", <strong>und</strong> den vier Büchern Epistulae ex Ponto, den<br />
ebenfalls hexametrischen Elegien der "Briefe vom Schwarzen Meer". Diese<br />
Hinweise sind kryptisch <strong>und</strong> haben zahllose Theorien nach sich gezogen, die<br />
allesamt Theorien geblieben sind. Ovid spricht von carmen <strong>und</strong> error, von<br />
seinem poetischen Werk <strong>und</strong> einem Missverständnis der staatlichen<br />
Autorität. Es bleibt offen, ob Ovid ein bestimmtes Werk seiner<br />
künstlerischen Produktion, etwa die Liebeselegien oder die schlüpfrigen<br />
Lieder seiner belehrenden <strong>und</strong> zum Sexualgenuss anregenden "Liebeskunst"<br />
gemeint hat oder sein Gesamtwerk - inklusive der weltberühmten<br />
Metamorphosen <strong>und</strong> des durch die Verbannung unterbrochenen<br />
Festkalenders Roms (Fasti). Hinsichtlich des error, des Missverständnisses,<br />
deutet er einmal durch den Hinweis auf eine in seinen Metamorphosen<br />
erzählte Geschichte des Mythos von Aktaion (Actaeon) an, dass er etwas<br />
gesehen oder unabsichtlich von etwas Kenntnis erlangt habe, was seine<br />
lebenslange Entfernung aus Rom nach sich zog. Der griechische Mythos<br />
erzählt, der schöne junge Jäger Aktaion habe bei der Jagd im tiefen Forst die<br />
Göttin Diana nackt beim Baden an einer Quelle gesehen <strong>und</strong> sei von ihr zur<br />
Strafe in einen Hirsch verwandelt worden. Die Metamorphose war tödlich –<br />
Aktaion wurde von seinen eigenen H<strong>und</strong>en zerrissen.<br />
AM: Die am äußersten Rand des römischen Imperiums gelegene Stadt Tomi zum Exilort<br />
zu bestimmen, erscheint ungewöhnlich. Warum wurde Ovid nicht wie üblich auf eine<br />
abgelegene italienische Insel oder in eine Griechenstadt Kleinasiens verbannt?<br />
Petersmann: Tomis (nach griech. Tomis, Tomidos) oder Tomi (nach griech.<br />
Tomoi) liegt im südlichen Teil des Donaudeltas <strong>und</strong> war zur Zeit Ovids seit<br />
über 600 Jahren griechische Koloniestadt von Auswanderern aus der<br />
kleinasiatischen Küstenstadt Milet. Nach der Einverleibung dieser Regionen<br />
in das Römische Reich war Tomi Grenzstadt zu den von Thrakern <strong>und</strong><br />
Getenstämmen bewohnten Ländern nördlich der Donau. Die Bevölkerung<br />
muss ein buntes Gemisch von Griechen, Thrakern <strong>und</strong> Römern gewesen<br />
sein, letztere bestehend aus Verwaltungspersonal, Kauf- <strong>und</strong> Handelsleuten<br />
sowie römischem Militär; die Administration war typisch griechisch<br />
ausgerichtet, allerdings unter römischer Oberhoheit. Tomis war nach<br />
Ausweis der archäologischen Bef<strong>und</strong>e durchaus eine Stadt mittlerer Größe,<br />
die mit ihren Hafenanlagen <strong>und</strong> Verbindungsstraßen in das ausgesprochen<br />
fruchtbare <strong>und</strong> geradezu als Getreidelieferant geltende Hinterland, die<br />
heutige Dobrudscha, eine nicht unbedeutende Rolle in der Region spielte.<br />
Inschriften bezeugen große Reedereien <strong>und</strong> Hafenanlagen noch in der<br />
Spätantike, auch ist das Christentum bereits früh bezeugt. Vielleicht lag <strong>für</strong><br />
Augustus die relativ große Entfernung von Rom sowohl auf dem Seeweg<br />
(Brindisi – Aegaeis - Dardanellen – Bosporus - Schwarzmeerküste) als auch<br />
noch schwieriger auf dem Landweg der Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Wahl des Ortes. Ovid<br />
muss in Tomi gestorben sein, etwa acht bis neun Jahre nach dem Antritt der<br />
Verbannung. Weder der greise Kaiser noch sein Nachfolger (seit dem<br />
- 99 -
Todesjahr des Augustus 14 n. Chr.) Tiberius haben die Relegation<br />
aufgehoben.<br />
AM: Sowohl in den Tristia als auch in den Briefen vom Schwarzen Meer adressiert Ovid<br />
all die Klagen über seinen jetzigen Zustand an die zurückgebliebenen Fre<strong>und</strong>e in der<br />
Heimat. Wie kommentierten Ovids Zeitgenossen dessen Exilschriften?<br />
Petersmann: Ovid schrieb seit Antritt seiner Reise 8 n. Chr. an Gedichten,<br />
Elegien im Hexameter, die er auch als solche bezeichnet, <strong>und</strong> sendet sie in<br />
Bücherrollen (libelli) nach Rom. Auffällig ist, dass er in allen Gedichten der<br />
fünf Bücher Tristien Adressaten nicht bei Namen nennt. Dies tut er aber<br />
sehr wohl bei allen Gedichten der "Briefe vom Schwarzen Meer". Aus der<br />
dortigen Begründung leitet sich die Erklärung <strong>für</strong> die "Namenlosigkeit" der<br />
Lieder der Trauer her: In den Tristien hat der Dichter offenk<strong>und</strong>ig Rücksicht<br />
auf die Adressaten genommen oder nehmen müssen, die nicht gerne offen<br />
mit dem eben Verbannten in Verbindung gebracht werden wollten. Ovid<br />
wollte ja mit seinen Liedern ihre Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung im Bemühen um<br />
die Rücknahme oder Aufhebung des Ediktes erreichen. Zunehmend durch<br />
die ersten Jahre der Verbannung <strong>und</strong> durch die Erfolglosigkeit derartiger<br />
Interventionen gezeichnet, lässt er alle Rücksichten fahren <strong>und</strong> verlangt in<br />
oft sehr direkten Aussagen in den poetischen Briefen vom Schwarzen Meer<br />
von namentlich genannten ehemaligen Fre<strong>und</strong>en, Bekannten <strong>und</strong><br />
Verwandten Unterstützung.<br />
AM: "Dies Land", schreibt der Verfasser der Metamorphosen in scheinbarer Übertreibung<br />
über seinen Verbannungsort, "es liegt nahe dem eisigen Pol". Wie bestimmend war die<br />
psychologische Erfahrung des Ausgesetztseins <strong>für</strong> Ovids Wahrnehmung des Landes <strong>und</strong><br />
seiner Bewohner? Anders gefragt: Sah sich Ovid in den knapp zehn Jahren seiner<br />
Verbannung vornehmlich als ein von Barbarei bedrohter Fremdling oder mehr als Lehrer<br />
<strong>und</strong> <strong>Kultur</strong>bringer?<br />
Petersmann: Ovid hat in seinen Exildichtungen alle Höhen <strong>und</strong> Tiefen der<br />
Heimatferne, des Heimatverlustes, der Andersartigkeit, der Fremde<br />
"besungen". Seine Dichtungen sind zum Archetyp von Exildichtung<br />
geworden: Er durchlebt die auch bei vielen späteren Exilierten sichtbar<br />
werdenden Stadien der psychischen Bewältigung, bzw. Nichtbewältigung der<br />
Exilsituation. Ist es zunächst die auf ihn stürzende Fremde der <strong>Kultur</strong> <strong>und</strong><br />
Landschaft, die bei ihm das bekannte "Chez nous" – Syndrom auslöst, den<br />
ständigen bitteren <strong>und</strong> schmerzenden Vergleich mit der fernen Heimat,<br />
beginnen allmählich die Realität der Landschaftserfahrung, die veränderten<br />
Abläufe des täglichen Lebens, die besondere geographische Situation des<br />
Exilortes – mit seinen <strong>für</strong> einen Menschen der mediterranen Welt oft sehr<br />
kalt empf<strong>und</strong>enen Wintern – <strong>und</strong> die sicherlich vorhandene Feindbedrohung<br />
durch die Barbarenstämme der nördlich der Donau wohnenden Völker eine<br />
<strong>für</strong> den Verbannten nicht mehr einfach zu bewältigende Größe <strong>und</strong><br />
Bedeutung anzunehmen. Sie verzerren – verständlicherweise – die realen<br />
Verhältnisse: Auch das ist typisch <strong>für</strong> Exilliteratur, die sich mit der<br />
persönlich erlebten Situation des Exils auseinandersetzt. Dazu kommt in<br />
einem immer größer werdenden Ausmaß die Angst der totalen Isolation bis<br />
hin zum drohenden Sprachverlust. Auch hier die Verzerrung, die durch<br />
diese Furcht ausgelöst wird: Natürlich gab es genügend lateinisch<br />
- 100 -
sprechende Menschen in der Stadt <strong>und</strong> in der Region, aber die Kultiviertheit,<br />
der Lebensstil, der persönliche Umgang mit Intellektuellen <strong>und</strong> Künstlern,<br />
die Feinheit einer Bildungsgesellschaft, der Ovid in der Hauptstadt des<br />
Imperium, in Rom angehörte, war hier nur eine ferne Erinnerung.<br />
Merkwürdig ist auch, dass weder von Besuchen noch von Fre<strong>und</strong>en oder<br />
Verwandten, auch nicht von seiner offenbar von ihm selbst sehr geliebten<br />
dritten Frau <strong>und</strong> seiner Tochter die Rede ist. Das Land, Tomis <strong>und</strong> seine<br />
Bewohner werden des öfteren sehr negativ dargestellt. Auch wenn der<br />
Dichter getisch lernt, ja sogar nach seinen eigenen Angaben getisch dichtet,<br />
sieht er sich nirgends als <strong>Kultur</strong>bringer in einem Barbarenland, erlebt er<br />
vielmehr das Phänomen der "verkehrten Welt", des M<strong>und</strong>us inversus, wo<br />
man über seine Dichtungen lacht <strong>und</strong> er selbst in den Augen der Ansässigen<br />
der "Barbar" ist.<br />
AM: Rumänische <strong>Wissen</strong>schaftler veranstalten noch heute regelmäßig Ovid-Kongresse,<br />
auf denen Lateinisch gesprochen wird. Wie wichtig ist den Rumänen die Pflege der<br />
eigenen Sprache?<br />
Petersmann: Die historische Entwicklung hat Tomi in konstantinischer Zeit<br />
zu Constantiana gemacht, von dem sich heute der Name Constanza<br />
herleitet. Durch die Eroberungen <strong>und</strong> Neuorganisation der damaligen<br />
Regionen Mösien <strong>und</strong> Dakien vor allem durch Kaiser Trajan an der Wende<br />
vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrh<strong>und</strong>ert ist die<br />
Romanisierung der Region nahezu total geworden. Rumänien begreift sich in<br />
Mentalität <strong>und</strong> <strong>Kultur</strong> als romanisches, der westlichen lateinischen <strong>Kultur</strong><br />
Europas zugehörendes Land. Das kulturelle Erbe Roms ist allgegenwärtig<br />
<strong>und</strong> <strong>für</strong> Rumänien identitätsstiftend. Das Schicksal Ovids wird von<br />
Rumänen entsprechend gewürdigt <strong>und</strong> ist immer Forschungsgegenstand<br />
geblieben – Ovids Exildichtungen sind der Beginn einer "rumänischen<br />
Literatur". – Ob man bei Kongressen wirklich lateinisch spricht, möchte ich<br />
dahingestellt lassen. Heute ist die Konferenzsprache in Rumänien vielfach<br />
Französisch <strong>und</strong> natürlich Englisch.<br />
AM: Schlägt man rumänische Telefonbücher auf, stößt man häufig auf den Namen<br />
"Ovidiu". Wie lebendig ist im heutigen Rumänien eigentlich das Andenken an den<br />
Verfasser der Briefe vom Schwarzen Meer?<br />
Petersmann: Das kann ich schwer beantworten, da ich wenig Kontakt zu<br />
rumänischen <strong>Wissen</strong>schaftlern habe. Ovid als verbannter Römer gehört zu<br />
den kulturellen Größen Rumäniens, ist Bestandteil des kulturellen Erbes der<br />
Nation, gehört in besonderem Maße zum Bildungskanon <strong>und</strong> wird – wie die<br />
Sprache, in der er dichtete – an allen höheren Bildungseinrichtungen<br />
gepflegt.<br />
AM: Welche Bedeutung hatten die in Tomi entstandenen Lieder Ovids <strong>für</strong> die spätere<br />
Exildichtung?<br />
Petersmann: Ovids Exildichtungen, die alle in Tomi entstanden sind, sind<br />
aus den oben genannten Gründen archetypisch <strong>für</strong> dieses Genre der<br />
Literatur geworden. Daran ändern auch jüngste Versuche von<br />
Literaturwissenschaftlern nichts, die Verbannung Ovids als ein in der<br />
- 101 -
Realität nie stattgef<strong>und</strong>enes Ereignis, als eine rein poetische, das heißt<br />
virtuelle Verbannung zu sehen. Den großen Dichter Roms, der traditionelle<br />
Literaturformen als Auslaufmodelle erkannt habe <strong>und</strong> in<br />
Gattungssynkretismen neue reizvolle Gattungen schuf, habe die Problematik<br />
<strong>und</strong> vor allem die Psychologie einer Exilsituation <strong>und</strong> eines Exilierten gereizt<br />
<strong>und</strong> er habe sein eigenes Exil erf<strong>und</strong>en. In der Tat gibt es nirgends, auch<br />
nicht fast ein Jahrh<strong>und</strong>ert später etwa in den Werken des Plinius <strong>und</strong><br />
Tacitus auch nur den geringsten Hinweis auf ein Exil des Ovid. Derartige<br />
Vorstellungen moderner Interpreten haben bislang keinen Glauben<br />
gef<strong>und</strong>en. Es steht zu be<strong>für</strong>chten, dass Ovid, hätte er tatsächlich den alten<br />
Kaiser mit immer neuen Gedichten aus einem angeblich von diesem selbst<br />
herbeigeführten Exil genervt, vom Kaiser eben deswegen verbannt worden<br />
wäre – vielleicht auch nach Tomis.<br />
AM: Herr Prof. Petersmann, vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch!<br />
O.Univ.-Prof. Dr. Gerhard Petersmann (Gerhard.Petersmann@sbg.ac.at) ist Fachbereichsleiter<br />
des Fachbereiches Altertumswissenschaften an der Universität Salzburg.<br />
- 102 -
Endlich daheim – in der Fremde<br />
...<br />
Als 18-Jährige verließ Paula Leichtweiß ihre Geburtsstadt Bukarest,<br />
um mit ihrer Familie nach Deutschland auszuwandern. Vom Ceauşescu-Regime<br />
als "Person ohne Staatszugehörigkeit" gebrandmarkt, war sie über lange Jahre<br />
auf der Suche nach dem Gefühl von "Heimat".<br />
Von Paula Leichtweiß<br />
(01. 02. 2007)<br />
Es sind etwa 25 Jahre vergangen, seit ich mein Heimatland verlassen habe.<br />
Seitdem habe ich nur ein Mal als Touristin <strong>für</strong> zwei Wochen Anfang der 80er<br />
Jahre die Schwarzmeerküste besucht. Aber sonst bin ich, außer kurz bei<br />
einem Klassentreffen, nie wieder da gewesen. Mit 18 Jahren habe ich<br />
zusammen mit meinen Eltern Rumänien verlassen, um nach Deutschland<br />
auszuwandern – zur Familienzusammenführung, hieß es.<br />
Das Ceauşescu-Regime hatten wir alle satt <strong>und</strong> waren letztendlich der<br />
Ansicht, dorthin auswandern zu müssen, wo die anderen Familienmitglieder<br />
seit zig Jahren lebten. Da meine Mutter in Siebenbürgen geboren ist <strong>und</strong><br />
einen deutschen Namen hat, wurden wir häufig als "Nazis" beschimpft. Ich<br />
besuchte in Bukarest die deutsche Schule. Es machte mir immer wieder<br />
Spaß, mit meiner besten Fre<strong>und</strong>in auf dem Schulweg ausschließlich<br />
Deutsch zu sprechen. Wir fühlten uns stark, unverletzbar, da keiner in<br />
unserer Umgebung unsere Sprache verstand. Wir haben uns sogar<br />
manchmal über Leute lustig gemacht, weil wir genau wussten, keiner würde<br />
uns verstehen – wie kindisch! Auch deshalb wurden wir ziemlich dämlich<br />
angestarrt. Wir waren Fremde im eigenen Land. Wir haben uns eigentlich nie<br />
so richtig heimisch gefühlt. Wir hatten das Gefühl, dahin ziehen zu müssen,<br />
wo wir hingehörten.<br />
Wir stellten schließlich den Antrag auf Ausreise nach Deutschland, <strong>und</strong><br />
dann war langes Warten angesagt. Ich durfte meine Freude mit keinem<br />
teilen. Niemand durfte davon Wind bekommen, denn unser Antrag hätte<br />
abgelehnt werden können. Die rumänischen Behörden machten es uns nicht<br />
allzu einfach, das Land zu verlassen. Man sagte uns, wir bekämen erst die<br />
"kleinen" Papiere – also einen Zwischenbescheid, der bestätigte, dass wir als<br />
künftige Auswanderer erfasst wurden – <strong>und</strong> danach die "großen" Papiere, die<br />
dann quasi ein Voranschreiten der weiteren bürokratischen Abläufe<br />
ermöglichten. Insgesamt hat dieser Vorgang etwa ein halbes Jahr gedauert.<br />
Das war verhältnismäßig kurz im Vergleich zu anderen Verfahren, von denen<br />
wir gehört hatten.<br />
Als 18-Jährige wurde ich schließlich vor eine Kommission geladen, die mich<br />
zu verschiedenen Themen ausfragte. Ich betrat mit meiner Mutter einen<br />
Raum, in dem hinter einem langen Tisch etliche dubiose Personen saßen.<br />
Allesamt stellten sie mir unangenehme Fragen. Ich fühlte mich wie vor<br />
- 103 -
einem Gericht, das mich in Kürze <strong>für</strong> schuldig erklären würde. Man<br />
versuchte mich zu bekehren: Ich solle das Land nicht verlassen. Mir wurde<br />
sogar eine Wohnung zugesichert <strong>und</strong> eine gute Ausbildung. Man versuchte<br />
mir klar zu machen, ich müsse dem Wunsch meiner Eltern zum<br />
Auswandern nicht nachgeben. Als wir den Raum verließen, fragte ich mich:<br />
Bin ich nun schuldig oder nicht schuldig?<br />
Einige Monate später bekamen wir den erlösenden Bescheid. Unserer<br />
Ausreise stand nun nichts mehr im Wege. Die Freude war groß. Wir fühlten<br />
uns, als dürften wir heimfahren. Wir bekamen unsere Reisepässe, darauf<br />
stand "Reisepass <strong>für</strong> Personen ohne Staatszugehörigkeit" – also fast so wie<br />
"herrenlos". Viele weitere Behördengänge waren dann angesagt, bis uns<br />
schließlich die Haushaltsauflösung bevorstand. Ich musste mich von all<br />
meinen Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> von meinem so vertrauten Jugendzimmer<br />
verabschieden. Es war schon ein seltsames Gefühl, sich von allem trennen<br />
zu müssen, denn wir durften nur zwei Holztruhen mitnehmen, die an alte<br />
Reisekoffer aus vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erten erinnerten. Jedes Einzelteil<br />
drängte mich, es noch einmal genau anzusehen: Gehst du nun mit, oder<br />
musst du da bleiben?<br />
Außer meiner Kleidung <strong>und</strong> einigen Puppen aus der Kindheit durfte nichts<br />
mit. Alles musste verkauft oder verschenkt werden. Auch meine geliebte<br />
schwarze Katze durfte nicht mit. Die wurde zu einer entfernten Verwandten<br />
meines Vaters gebracht, doch da blieb sie nicht. An unserem letzten Abend<br />
in unserer Wohnung miaute sie plötzlich vor der Haustür. Sie war<br />
zurückgekehrt, obwohl ich sie in einer Reisetasche mit der Straßenbahn<br />
weggebracht hatte. Der Abschied von all unseren Fre<strong>und</strong>en am Flughafen<br />
war herzzerreißend. Endlich wurde mir klar, es gab kein Zurück.<br />
In der neuen Heimat angekommen, wo wir uns eigentlich "daheim"<br />
fühlen sollten, wurden wir als Eindringlinge betrachtet. Die Behördengänge<br />
beim Erstellen der neuen Papiere machten uns klar, dass wir eigentlich<br />
nicht hierhin gehörten. Uns wurde das Gefühl vermittelt, unsere alte Heimat<br />
verraten zu haben. Irgendwie bekam ich dadurch ein schlechtes Gewissen.<br />
Beim ersten "Interview" in Deutschland erging es mir ähnlich wie vor der<br />
Kommission in Rumänien. Wohl wieder schuldig? Doch wir ließen uns die<br />
Euphorie nicht trüben, endlich dort angekommen zu sein, wo wir<br />
hingehörten. Zunächst war alles aufregend neu. Nach einem Vierteljahr<br />
wurde uns eine hübsche Mietwohnung angeboten. Wir sagten sofort zu. Zu<br />
diesem Zeitpunkt dachten wir: endlich daheim. Leider hielt diese Euphorie<br />
<strong>für</strong> mich nicht allzu lange an.<br />
Ich durfte nun die Schule besuchen. Ich verfügte ja über keinen Abschluss,<br />
weil ich wegen unserer Ausreise die Schule hatte abbrechen müssen. Das<br />
neue Schulsystem machte mir sehr zu schaffen. Ich war an meine<br />
Klassengemeinschaft gewöhnt. Hier hatte ich auf dem Gymnasium Kurse<br />
<strong>und</strong> die Klassenkameraden waren nie die gleichen. Wir waren zwar eine<br />
"Tutorengruppe", sahen uns aber nur in den Pausen zwischen den<br />
Unterrichtsst<strong>und</strong>en. Ich war eine Klassenlehrerin gewöhnt – jetzt hatte ich<br />
- 104 -
einen Tutor. Meine Mitschüler waren zwar alle nett, aber irgendwie sehr<br />
fremd. Ständig wurde ich auf meine Herkunft angesprochen. Das fanden<br />
viele zwar sehr interessant, aber ich fühlte mich sehr unwohl in meiner Haut<br />
– ich war die Neue aus Rumänien. Ich durfte viel über meine alte Heimat<br />
berichten, aber irgendwie konnte ich mich nie so richtig als Dazugehörige<br />
fühlen. Dieser Eindruck wurde mir mehr durch die Lehrer vermittelt als<br />
durch meine Mitschüler. Schließlich war ich dann der Meinung, ich müsse<br />
mich endlich zusammenreißen, mich auf meinen Hosenboden setzen, alles<br />
ignorieren <strong>und</strong> ernsthaft lernen, um bei den Lehrern einen besseren<br />
Eindruck zu hinterlassen. Das tat ich zwar, kam aber nie so richtig an. Ich<br />
konnte mich noch so anstrengen, doch leider führte dies zu keinem Erfolg.<br />
Auch meine Zensuren wurden dadurch nicht besser.<br />
In meiner damaligen Verzweiflung kam mir plötzlich eine Idee: Ich bat<br />
eine Mitschülerin (eigentlich die Klassenbeste), <strong>für</strong> mich ein Referat zu<br />
schreiben. Ich schrieb es auf ein neues Blatt Papier <strong>und</strong> <strong>und</strong> gab es unter<br />
meinem Namen ab. Das Resultat war wieder einmal niederschmetternd. Ich<br />
bekam da<strong>für</strong> nur vier von fünfzehn möglichen Punkten. Nun stand <strong>für</strong> mich<br />
endgültig fest: Es liegt nicht an meiner Anstrengung, sondern an meiner<br />
Person, an meiner Herkunft. Dasselbe Gefühl hatte ich, was die Mitarbeit im<br />
Unterricht betraf: Auch sie wurde nie so richtig anerkannt. Mit den<br />
wachsenden Misserfolgen schwand auch die dazugehörende Motivation <strong>und</strong><br />
irgendwann brach ich die Schule ab. Vielleicht hätte ich mich dagegen<br />
wehren sollen, vielleicht hätte ich es auf eine Konfrontation ankommen<br />
lassen sollen, aber im Ceauşescu-Regime wurde uns eingetrichtert, den<br />
M<strong>und</strong> zu halten <strong>und</strong> sich fügen. Ich fühlte mich zwar daheim, aber auch<br />
sehr fremd <strong>und</strong> abgestoßen. Nicht das geringste Zeichen von Anerkennung<br />
durfte ich hier erfahren. Ich konnte mich schließlich nicht mehr dagegen<br />
wehren: Ich hatte Heimweh.<br />
Mittlerweile bin ich glücklich verheiratet <strong>und</strong> Mutter zweier Kinder. Ich weiß:<br />
ich bin daheim. Da, wo meine Familie ist, da bin ich daheim. Auch viele<br />
Fre<strong>und</strong>e habe ich in den letzten 25 Jahren dazubekommen. Mittlerweile<br />
fühle ich mich, als gehörte ich endlich dazu. Ein schönes Gefühl!<br />
Vor einigen Jahren war ich der Meinung, ich müsse meiner Familie das<br />
Land zeigen, wo ich aufgewachsen bin. Auf diese glorreiche Idee kam ich<br />
durch ein vorangegangenes Klassentreffen, das in Bukarest stattfand. Leider<br />
hatte ich zu diesem Zweck nur drei Tage eingeplant – viel zu kurz. So musste<br />
ich feststellen, dass mir Rumänien doch sehr gefehlt hatte. Nach 20 Jahren<br />
waren mir viele Straßen <strong>und</strong> Gebäude auf einmal so vertraut, als wäre ich<br />
nie weg gewesen. Das Haus, in dem unsere Wohnung war, stand immer<br />
noch, <strong>und</strong> ich hatte das Gefühl, ich kehrte heim. Ja sogar unsere nette<br />
Nachbarin aus dem Erdgeschoss wohnte immer noch da. Viele<br />
Freudentränen flossen bei unserem Wiedersehen. Und das Klassentreffen ...<br />
überwältigend! Emotionsgeladen wie all die Male davor. Als hätte ich meine<br />
nie gehabten Geschwister wiedergef<strong>und</strong>en. Nur leider war alles viel zu kurz.<br />
- 105 -
In der ersten Woche unseres Urlaubs, den wir anschließend dort<br />
verbrachten, waren wir Gäste einer sehr lieben ehemaligen Schulkollegin.<br />
Ich bin so froh, dass wir uns wiedergef<strong>und</strong>en haben! Sie ist ein Teil meiner<br />
wiedergef<strong>und</strong>enen Kindheit <strong>und</strong> Jugend. Obwohl wir zu Schulzeiten nicht<br />
sehr viel miteinander zu tun gehabt hatten <strong>und</strong> auch jetzt nicht viele<br />
Gemeinsamkeiten haben, verstehen wir uns blendend. Die zweite Woche<br />
verbrachten wir am Schwarzen Meer. Auch das war schön <strong>und</strong> aufregend,<br />
aber als Tourist im eigenen Land zu sein? – sehr seltsam. Die dritte Woche<br />
fuhren wir in die Berge, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation. Auch dort<br />
wohnten wir bei Fre<strong>und</strong>en – allein die Reise dorthin war abenteuerlich. Im<br />
Zug wurden wir angestarrt, als kämen wir von einem anderen Stern, als<br />
würde uns auf der Stirn geschrieben stehen, dass wir hier fremd sind. Alles<br />
war wieder sehr vertraut, aber ich habe mich mal wieder sehr fremd gefühlt.<br />
Vergangenes Jahr war ein neuerliches Klassentreffen, wieder in<br />
Bukarest, 25 Jahre seit Schulschluss. Irgendwie habe ich den Drang<br />
verspürt, die Sache in die Hand zu nehmen, in den letzten Jahren Kontakte<br />
zu alten Schulkollegen wiederherzustellen <strong>und</strong> sie zu animieren, zu einem<br />
weiteren Klassentreffen zu kommen. Und es kamen viel mehr als ich<br />
erwartet hatte. Auch jetzt flossen Freudentränen, denn es war wieder<br />
überwältigend; wieder um Jahre zurückgeschmissen, wieder Kind zu sein,<br />
wieder daheim.<br />
Sie alle waren auf einmal wieder da: die ganzen Erinnerungen, der alte<br />
Schulhof, die alten Schulkollegen, meine hochgeschätzte ehemalige<br />
Klassenlehrerin. Gerne haben wir uns an die "guten alten Zeiten" erinnert.<br />
Gemeinsam waren wir stolze Pioniere gewesen – na ja, zumindest hatte man<br />
uns das eingetrichtert –, Mitglieder des VKJ (Verband der kommunistischen<br />
Jugend) <strong>und</strong> nicht zuletzt Schüler der deutschen Schule – damals eine ganz<br />
besondere Schule Bukarests. Seitdem haben wir wieder ständigen Kontakt<br />
zueinander, obwohl wir in aller Welt verstreut sind.<br />
Ich denke, das brauche ich: Immer wieder dorthin zurückzukehren, wo<br />
ich meine Kindheit <strong>und</strong> einen Teil meiner Jugend verbracht habe. Denn das<br />
tut immer gut – daheim zu sein, egal, wo das ist.<br />
Paula Leichtweiß (mp.leichtweiss@online.de), geboren 1963 in Bukarest. Arbeitete nach ihrem<br />
Schulabgang kurzfristig als Hamburger-Restaurant-Mitarbeiterin, schulte dann um zur Sekretärin.<br />
Zurzeit Hausfrau <strong>und</strong> freischaffend in der Foto- <strong>und</strong> Videobearbeitung tätig. Verheiratet, zwei Kinder.<br />
Lebt seit 1981 in Deutschland.<br />
- 106 -
Magabudu <strong>und</strong> sein Schwert<br />
Ein Integrationslied<br />
...<br />
"Sie wissen das vielleicht noch nicht: Ich bin nämlich kein eigentlicher<br />
Staatsmann. Ich bin freischaffender Diktator." (Magabudu,<br />
Staatspräsident von Magabudien)<br />
Von Vasile V. Poenaru<br />
(01. 02. 2007)<br />
Motto: Handle immer so, dass du wollen kannst, mit dabei sein zu dürfen.<br />
(Magabudus kategorisches Leitmotiv)<br />
VORSPIEL IN WIEN<br />
Ein zentraleuropäischer Justizminister (des weiteren VERMITTLER genannt)<br />
sitzt zusammen mit Herrn MAGABUDU, einem ausländischen<br />
Staatspräsidenten, <strong>und</strong> dessen schweigsamen, doch anmutigen<br />
Assistentinnen vor den Überbleibseln eines offensichtlich üppigen<br />
Abendbrots. Sie essen gerade Apfelstrudel <strong>und</strong> Mozartknödel <strong>und</strong> hören Die<br />
Zauberflöte. Getränke werden eingeschenkt.<br />
VERMITTLER Prost! (Sie stoßen an) Mir wurde gesagt, Sie wollen<br />
demnächst beitreten.<br />
MAGABUDU Zum Wohl! Sie haben recht. Die letzten paar Gläser m<strong>und</strong>en in<br />
der Tat am besten. Keine Frage, Wien ist immer wieder eine Reise wert ...<br />
Beitreten? Ja, freilich, das wollen wir. Warum auch nicht?<br />
VERMITTLER Prima! Jetzt wird bei uns nämlich sowieso mal gründlich<br />
erweitert. Und dann natürlich radikal ausgemistet. Frisches Blut aus<br />
unserem lieben Osten wird wohl kaum schaden.<br />
MAGABUDU Das erinnert mich an diesen Depp mit seinem blöden Horror:<br />
Dracula braucht frisches Blut.<br />
VERMITTLER Aber nicht doch! In der EU glaubt heutzutage niemand mehr<br />
an den Unsinn, ich meine, an Ihre Vampire <strong>und</strong> dergleichen.<br />
MAGABUDU Der ganze Kram gehört aber immer noch zu Ihrer<br />
Unterhaltungskultur.<br />
VERMITTLER Nur weil wir viel <strong>für</strong> Mythen übrig haben. Ansonsten ist alle<br />
Welt jetzt ganz aufgeschlossen. Blutsauger-Personen gibt’s bei Ihnen nicht,<br />
soviel steht fest. Und wir selber sind auf keinen Fall welche, wollte sagen,<br />
- 107 -
nicht in dem Sinne. Wir mögen Sie einfach als tüchtige Nation, ja sagen wir<br />
mal ruhig als europäische Nation.<br />
MAGABUDU Wir mögen Sie ebenfalls.<br />
VERMITTLER Und Ihre Vampire sind nun einmal Teil Ihres erweiterten<br />
osteuropäischen <strong>Kultur</strong>reichtums, selbst wenn es sie nicht als solche gibt.<br />
Außerdem wissen wir: Sie haben ein w<strong>und</strong>erschönes Land <strong>und</strong> fleißige<br />
Arbeiter.<br />
MAGABUDU Klar. Schnell. Billig. Pragmatisch. Romantisch. Was immer.<br />
Zweih<strong>und</strong>ert Tage Sonnenschein im Jahr. Delta. Meer. Berge … Hier, eine<br />
Ansichtskarte. Stimmt es denn nicht? So eine Natur sucht ihresgleichen –<br />
was jetzt aber nicht gegen die Alpen gemeint ist.<br />
VERMITTLER Da muss ich Ihnen einmal ganz aufrichtig beistimmen. Ihr<br />
Sonnenschein ist der beste Sonnenschein weit <strong>und</strong> breit! Prost!<br />
MAGABUDU Zum Wohl! Sehen Sie? All diese Gipfeln sind mindestens<br />
zweitausendfünfh<strong>und</strong>ert Meter hoch. Über all diesen Wipfeln spürt man<br />
kaum einen Hauch. Was kann ich schon hinzufügen? Mehr Licht. Reinere<br />
Luft. Frischeres Wasser. Edelweiß in großen Haufen.<br />
VERMITTLER Und ich rufe: Natur! Natur! Nichts so Natur als diese Berge!<br />
… Die würden ja wirklich überaus prächtig zu unserer erweiterten Landkarte<br />
passen. Gute Berge sind das! Hohe Berge! Super-Berge! Der Traum eines<br />
jeden Jodlers! Garantiert haltbar <strong>und</strong> dazu noch wenigstens zum Teil<br />
weitgehend bewäldert, um es so auszudrücken.<br />
MAGABUDU Wer keinen Wald hat, kann kein Holz hacken, sag ich immer.<br />
Was übrigens auch ökologisch betrachtet von überregionaler Bedeutung sein<br />
dürfte.<br />
VERMITTLER O ja, bestimmt. Und Holz brauchen wir im Herzen Europas,<br />
lassen Sie sich das gesagt sein. Gutes Holz ist das! Anständiges Holz! Super-<br />
Holz!<br />
MAGABUDU Beste Qualität! Gestatten Sie? Hier! Die Unterlagen: Bitte! Sie<br />
werden in diesem Dossier allgemein-europäische Elemente erkennen. Unsere<br />
Eichen zum Beispiel. Brennholz <strong>für</strong> drei Generationen. Maibäume bis in den<br />
Himmel. Weinfässer <strong>für</strong> den echten Trinker! Und wenn Sie wollen, liefern wir<br />
auch noch den Wein dazu. Wenden wir die Seite: Da! Edelholz <strong>für</strong> sämtliche<br />
Möbelstücke sämtlicher neueuropäischer Barone.<br />
VERMITTLER So viel haben Sie?<br />
MAGABUDU Und mehr. Wertvolles Holz <strong>für</strong> Ihre Wertpapiere! Daraus lassen<br />
sich übrigens auch Euroscheine drucken, die nie zerfallen.<br />
- 108 -
VERMITTLER Auch nicht, wenn man sie bewusst oder eben aus Versehen<br />
mit ein bisschen Schwefel anstreicht oder so ... ?<br />
MAGABUDU Nie <strong>und</strong> nimmer! Beständigkeit in jeder Hinsicht garantiere ich<br />
auf jeden Fall, denn ein Geldschein mit authentischer Kaufkraft sollte<br />
meiner Meinung nach kein Schweizer Käse sein. Nichts <strong>für</strong> ungut.<br />
VERMITTLER Ganz meine Ansicht. Und deswegen sind wir ja zur Zeit<br />
gerade dabei, proaktive Mittel ausfindig zu machen, damit das sozusagen ein<br />
<strong>für</strong> alle Mal im ureigentlichsten Sinne des Wortes ins Reine gebracht wird,<br />
<strong>und</strong> jetzt meine ich natürlich denjenigen Sinn des Wortes, der in der Tat<br />
schon allein aus kulturwissenschaftlichen Überlegungen heraus ...<br />
MAGABUDU Ja, ja ... Will ich Ihnen gerne glauben. Und wie gesagt: Holz!<br />
VERMITTLER Ein Begriff mit Tradition!<br />
MAGABUDU Die älteste Eiche Europas steht seit Jahrtausenden in meinem<br />
Weingarten, wie zahlreiche Augenzeugen bestätigen. Sehen Sie, diese<br />
vorchristlichen Berichte, Memoiren <strong>und</strong> Verzeichnisse aus meiner<br />
Privatbibliothek habe ich sogar mit dem Siegel der Akademie versehen<br />
lassen. Wenn Sie mich mal besuchen kommen, zeige ich Ihnen, wie das<br />
gemacht wird.<br />
VERMITTLER Wir haben auch eine Eiche, die schon vor r<strong>und</strong> tausend<br />
Jahren zum ersten Mal urk<strong>und</strong>lich erwähnt wurde. Knapp neun Meter im<br />
Umfang. Ich hatte immer gedacht, das sei die älteste in Europa.<br />
MAGABUDU Meine misst volle sechszehn Meter. Und nächstes Jahr wird sie<br />
noch wesentlich erweitert.<br />
VERMITTLER Ach so, Sie machen das künstlich!<br />
MAGABUDU Ja, freilich. Sonst dauert’s mir zu lange. Wer wird denn gleich<br />
fünfh<strong>und</strong>ert Jahre warten?<br />
VERMITTLER Na ja. Das ist nicht verkehrt. Beschleunigtes Wachstum<br />
fördert die Wirtschaft. Die Wirtschaft fördert den Wohlstand. Der Wohlstand<br />
fördert die Integration. Wir werden uns jedenfalls darauf freuen, Ihr Holz<br />
verbrennen zu dürfen. Oder eben hochwertiges Zeitungspapier bzw.<br />
stämmige Weinfässer <strong>und</strong> Möbelstücke oder eben beständigere Euroscheine<br />
daraus herzustellen.<br />
MAGABUDU Dann sind wir uns also einig.<br />
VERMITTLER Wären vielleicht zufälligerweise wöchentliche Lieferungen<br />
denkbar?<br />
MAGABUDU Wird gemacht! Und wenn ich den letzten Baum selber<br />
abhacken muss.<br />
- 109 -
VERMITTLER Ausgezeichnet! Fabelhaft! Gut so! Aber wie steht's mit Ihren<br />
Dings ... mit den verflixten <strong>und</strong> gottverdammten ... das heißt, mit Ihren<br />
herumvagab<strong>und</strong>ierenden Landstreichern ... wollte sagen, wie steht's mit<br />
Ihren sogenannten Staatenlosen?<br />
MAGABUDU Den? …<br />
VERMITTLER Sie haben bei uns h<strong>und</strong>ertfünf Staatenlose. Die möchten wir<br />
Ihnen sehr gerne zurückschicken, wenn es geht. Aber Sie wollen ja nicht …<br />
MAGABUDU Unsere Roma?<br />
VERMITTLER Ihre Zigeuner!<br />
MAGABUDU Das will ich mir jetzt einmal höflichst verbitten! Mein Land ist<br />
nicht bereit, staatenlose Personen gegen deren Willen hierher verfrachten zu<br />
lassen! Und übrigens: Solange sie noch unter unsereiner verweilten, hießen<br />
sie bei Ihnen immer Roma. Jetzt sind sie auf einmal Zigeuner. Jetzt, wo Sie<br />
endlich die Möglichkeit haben, diese Ihren Angaben gemäß ja so sehr<br />
verfolgte Minderheit zu achten, zu schätzen <strong>und</strong> zu schützen, hört man von<br />
nichts als Abschiebung.<br />
VERMITTLER Wir wollen Ihnen aber gern eine Kleinigkeit zukommen<br />
lassen.<br />
MAGABUDU Ja, das hört sich schon anders an.<br />
VERMITTLER (gibt) Bitte.<br />
MAGABUDU (nimmt) Danke.<br />
VERMITTLER Na sehen Sie? Problem gelöst. Es hat mich sehr gefreut. So ...<br />
Einen angenehmen Abend noch!<br />
MAGABUDU Ihnen auch. Morgen früh fliegt meine Maschine. Sie können<br />
mir dann immer noch sagen, ob Ihnen mein Staatsvertrag gefällt. Und<br />
wissen sie was? Wir brauchen eine Kopfprämie. Ich meine, <strong>für</strong> die<br />
Vagab<strong>und</strong>en.<br />
VERMITTLER Für die Schmarotzer? Koa’ Problem. Einen angenehmen<br />
Rückflug noch!<br />
ERSTE SZENE<br />
Am übernächsten Tag bei Magabudu zu Hause. Ein Hahn kräht. Hupen.<br />
Drei Salven. Trommeln. Die Neunte. Ein Botschafter aus Bruxelles, kurz EU-<br />
MANN genannt, steigt aus dem Wagen.<br />
- 110 -
DER EU-MANN Herr Magabudu, ich bin der Mann von der Europäischen<br />
Union.<br />
MAGABUDU Treten Sie näher. Ich habe Sie erwartet. Da: Erfrischungen.<br />
Bonbons. Kaugummi. Allerhand. Bedienen Sie sich nach Herzenslust. Und<br />
... ganz wichtig: Schuhe ausziehen.<br />
DER EU-MANN Wie bitte? Soll ich? ...<br />
MAGABUDU Die Schuhe ausziehen. Ich brauche hier keinen Dreck.<br />
DER EU-MANN Ach so ...<br />
MAGABUDU Ja. Dort ist das Gästezimmer ... Zigarette gefällig?<br />
DER EU-MANN Nein, danke. Ich rauche nicht. Bin ein ganz ges<strong>und</strong>er <strong>und</strong><br />
umweltfre<strong>und</strong>licher Kerl. Und machen Sie sich bitte keine Sorgen. Wir EU-<br />
Leute pflegen sehr sauber zu sein.<br />
MAGABUDU Keine Zigarette? Schade. Die Europäische Union kann ich<br />
leiden. So, ich werde mal kurz eine rauchen ... Und bevor ich's noch<br />
vergesse: Sie sind zur Jagd eingeladen. (Der Jägermarsch ertönt)<br />
DER EU-MANN Ich bin doch kein Jäger ... Darf man denn hier ... ?<br />
MAGABUDU Man darf. Schließlich sind Sie ja mein Gast.<br />
DER EU-MANN Das ist sehr nett von Ihnen. So ... Jetzt werde ich mal kurz<br />
... Moment! Ist das ein richtiges Schwert?<br />
MAGABUDU Will ich meinen!<br />
DER EU-MANN Was tun Sie denn damit?<br />
MAGABUDU Tja bis vor ein paar Jahren gab's bei uns noch die Todesstrafe.<br />
Und weil ich mich nicht nur geistig, sondern auch körperlich in Form halten<br />
will ...<br />
DER EU-MANN Sie werden doch nicht im Ernst behaupten, dass ...<br />
MAGABUDU Wir können das Schwert auch wegtun. Ganz wie Sie wünschen<br />
... Sehen Sie, dieses Foto wurde während der Revolution geschossen. Ich war<br />
unrasiert, hatte einen ganz gewöhnlichen Pullover an <strong>und</strong> ...<br />
DER EU-MANN Sie wollen also beitreten.<br />
MAGABUDU Ja, mein Land, Magabudien, wie ich es manchmal liebkose,<br />
würde sich mächtig freuen, wenn ... Wir würden uns wirklich alle riesig<br />
freuen.<br />
- 111 -
DER EU-MANN Warum haben Sie ihn umgebracht?<br />
MAGABUDU Den Alten? Erstens bin ich in keiner Weise da<strong>für</strong><br />
verantwortlich, <strong>und</strong> zweitens hatte mir damals alle Welt recht gegeben, ja,<br />
sogar Sie gaben mir, stillschweigend vielleicht, aber immerhin durchaus<br />
verständlich, recht, besser gesagt, alle freuten sich, <strong>und</strong> ich bin auch heute<br />
noch felsenfest davon überzeugt, dass ich damals das Richtige getan habe.<br />
Der Mann wollte einfach nicht kapieren, dass nun andere dran sind.<br />
DER EU-MANN Sie zum Beispiel.<br />
MAGABUDU Ich zum Beispiel. Und wohlgemerkt: Ich bin kein Mann, mit<br />
dem sich spaßen lässt. Dabei bin ich aber ein ganz anständiger Kerl. Hab ein<br />
Foto von Kohl, er nannte mich Bruderherz. Eins von Clinton, seine Frau<br />
lobte mein Englisch ... Das Lasso hier hab ich vom jungen Bush. Und da:<br />
immer nur reinschauen. Ein Autograph vom letzten Zar. Und so weiter.<br />
DER EU-MANN Mensch! Eine Menge Exponate!<br />
MAGABUDU Ja. Dort liegen meine Trophäen. Kühl aufbewahrt. Der letzte<br />
Großgr<strong>und</strong>besitzer ... seine Familie ... ferner Politiker der vorletzen<br />
Regierung samt deren Familien ... Politiker der letzten Regierung ... Politiker<br />
der allerletzten Regierung ...<br />
DER EU-MANN Und was steckt in dem Rahmen?<br />
MAGABUDU Mein kategorisches Leitmotiv: Handle immer so, dass du wollen<br />
kannst, mit dabei sein zu dürfen.<br />
DER EU-MANN Sie sind ein trefflicher Staatsmann, das steht fest.<br />
Pragmatisch. Integrationsk<strong>und</strong>ig. Unkompliziert.<br />
MAGABUDU Was wahr ist, darf man auch sagen. Kompliziert bin ich noch<br />
nie gewesen. Sie sagen mir, was Sie wollen, <strong>und</strong> ich sage Ihnen, was ich will.<br />
DER EU-MANN Und die Europäische Union weiß das durchaus zu schätzen.<br />
Besonders in diesen globalen Zeiten erweiterter Integration, wo ein jeder<br />
seinen beruflichen Werdegang vorzüglich überregional <strong>und</strong> multikulturell<br />
gestaltet, so dass ein neues Land selbst im engeren Sinne sozusagen ein<br />
neues Land im weitesten Sinne ist <strong>und</strong> bleibt, um es mal kurz zu halten ...<br />
MAGABUDU Das kann ich gut mitverfolgen. Weltoffener Stil. Aufklärend.<br />
Einleuchtend.<br />
DER EU-MANN Danke schön. Ihr Stil ist auch nicht zu verwerfen. Mich<br />
w<strong>und</strong>ert aber bloß, dass Sie nie einen anständigen Beruf erlernt haben,<br />
wollte sagen, dass Sie im wörtlichen Sinne per se nie was anderes ...<br />
MAGABUDU War schon immer Diktator, soweit ich mich besinnen kann. Ich<br />
meine, früher gab's so was natürlich nicht, da hatte ich meinen Job wie<br />
- 112 -
jedermann. Aber in jüngster Zeit, <strong>und</strong> auf die jüngste Zeit kommt es ja<br />
schließlich hauptsächlich an ...<br />
DER EU-MANN Was waren Sie denn früher?<br />
MAGABUDU Parteisekretär.<br />
DER EU-MANN Bei denen?<br />
MAGABUDU Bei denen. Hatte mein gesichertes Einkommen. Und in der<br />
Freizeit konnte man Pläne schmieden. Sie wissen das vielleicht noch nicht:<br />
Ich bin nämlich kein eigentlicher Staatsmann. Ich bin freischaffender<br />
Diktator.<br />
DER EU-MANN Sie sind ein origineller Typ. Heißen Präsident <strong>und</strong> dünken<br />
sich Diktator. Dazu noch freischaffend. Dabei meinen die Leute, so streng<br />
seien Sie auch wieder nicht.<br />
MAGABUDU O du liebe Güte! Keineswegs! Ich war immer ein ganz<br />
Aufgeklärter!<br />
DER EU-MANN Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst<br />
verschuldeten Unmündigkeit. Immanuel Kant.<br />
MAGABUDU Ganz derselben Meinung. Und da will ich nur noch ein ganz<br />
kleines Wort hinzufügen: Der Weltgeist ist stets unterwegs zu sich selbst.<br />
Hegel.<br />
DER EU-MANN Hegel? Das ist was <strong>für</strong> mich. Den hab ich nämlich auch<br />
gelesen. Stichwort Dialektik – wobei aber das Wort freilich gar nicht von ihm<br />
selber stammt, was Sie hier am Rande des Seins möglicherweise nicht<br />
wissen. Wie dem auch sei: Was wollen Sie mit der Hegelschen Dialektik<br />
anfangen?<br />
MAGABUDU Wir werden den europäischen Geist zurück nach Europa<br />
bringen. Und von wegen Rand des Seins!<br />
DER EU-MANN Tschuldigung, das war nur so ein blöder postkolonialer<br />
Ausrutscher angesichts der vielen Kongresse zum Thema Mittelpunkt des<br />
Seins, versteht sich. Es wird da einem so leicht übermäßig zentralistisch<br />
zumute. Zudem war ich in der letzten Woche ein bisschen erkältet. Also<br />
meinen Sie jetzt den ...<br />
MAGABUDU Ich meine den europäischen Geist.<br />
DER EU-MANN Den gibt’s ja gar nicht.<br />
MAGABUDU Wohl nicht bei Ihnen, aber bei uns!<br />
DER EU-MANN Schon gut, Sie werden's besser wissen.<br />
- 113 -
MAGABUDU Genau.<br />
DER EU-MANN Sie sind folglich ein milder Diktator.<br />
MAGABUDU Nennen wir es so.<br />
DER EU-MANN Das ist ungefähr die Linie, die zur Zeit auch bei uns<br />
angestrebt wird. Die Würde des Menschen ist unantastbar, aber jeder tut<br />
natürlich, was das Zentrum sagt. Denn ohne einheitliche Richtlinien geht<br />
das Ganze nicht.<br />
MAGABUDU Klingt durchaus demokratisch. Das war in Magabudien<br />
eigentlich nie radikal anders, wie Sie ja wissen. Richtlinien sind meines<br />
Erachtens sowieso gut <strong>für</strong> die Wirtschaft. Echt: Bin schon immer <strong>für</strong> solide<br />
Richtlinien gewesen. Wie sagten doch gleich die alten Römer? Nenn mir die<br />
Richtlinie, <strong>und</strong> ich sag dir, wo’s entlang geht. Oder war das ein Italiener? Die<br />
sehen immer so ähnlich aus. (Fängt an zu singen) Sempre sempre, sempre<br />
sempre tu! ...<br />
DER EU-MANN (Macht mit) Sempre sempre, insistentemente … (Hört auf zu<br />
singen) Man kann es aber auch mal mit Richtbildern versuchen.<br />
MAGABUDU Wie bitte? Richtbilder? Hm ... Das ist ein seltsames Wort. Dazu<br />
ließe sich ja unter Umständen eine treffliche Rede halten. (Grübelt)<br />
Richtbilder der demokratischen Weiterentwicklung ... Oder noch besser:<br />
Zukunft Europa. Ein Richtbild.<br />
DER EU-MANN Momentchen! Wo war denn gleich mein Kugelschreiber? Ich<br />
habe nämlich übermorgen wieder einen Kongress zum Thema Mittelpunkt<br />
der Marginalien. So ein Spruch kommt nicht alle Tage auf einen zu. Den will<br />
ich mir notiert haben. Also ... (Kritzelt) Zukunft Europa. Ein Richtbild ...<br />
(Zufrieden) Ja, das sitzt auf allen vier Buchstaben. Passt auch<br />
kulturpolitisch gut in unsere Kiste. Mehr noch: Sowas können wir unter<br />
Umständen sogar <strong>für</strong> unsere Parallelaktion brauchen!<br />
MAGABUDU Für was <strong>für</strong> eine Aktion? ...<br />
DER EU-MANN Für unsere Parallelaktion! Sie wissen doch, dass die<br />
Amerikaner in einem Jahr den totalen Übergang zur quasi-patriotischen<br />
Gesellschaftsform <strong>und</strong> zum neuen Völkerrecht feiern. Wir dürfen da nicht<br />
zurückbleiben. Das Geld ist vorhanden. Tinte <strong>und</strong> Mikrofone sind<br />
vorhanden. Dreih<strong>und</strong>ert aufklärungstüchtige Philosophen warten in<br />
wohldotierten akademischen Einrichtungen, gewappnet mit modernsten<br />
Einleuchtungstechnologien, auf den Marschbefehl. Der Ausschuss tagt<br />
schon seit Jahren. Alles, was noch fehlt, ist eine Idee.<br />
MAGABUDU Ja <strong>und</strong> denken Sie, dass ich auf so einem Richtbild gut<br />
aussehen werde?<br />
- 114 -
DER EU-MANN Was soll denn das heißen? Richtbilder sind ja gar keine<br />
Bilder! Richtbilder sind Wahrheiten, genauer gesagt, Richtbilder sind ewige<br />
Wahrheiten, die weder ewig noch wahr sind.<br />
MAGABUDU Weder ewig noch wahr ... Leicht zu übersetzen. Gut verdaubar.<br />
Sehr realpolitisch. Das mag ich. Klingt nach Erfolg.<br />
DER EU-MANN Hat sich ein schlafloser Österreicher vor h<strong>und</strong>ert Jahren<br />
ausgerechnet. Ein Mathematiker, der offensichtlich an starken<br />
Weltschmerzen litt.<br />
MAGABUDU Mathematik ist eine tolle Sache. Besonders der Teil mit der<br />
Differentialrechnung <strong>und</strong> so. Aber wenn der Mann schon tot ist, geht mich<br />
das Ganze natürlich wenig an. Also h<strong>und</strong>ert Jahre? ... Schnee von gestern.<br />
DER EU-MANN Vielleicht auch nicht. Derartige ewige Wahrheiten sind<br />
heutzutage jedenfalls wieder einmal r<strong>und</strong> um Bruxelles durchaus salonfähig.<br />
MAGABUDU Absolute Dinge mit begrenzter Haftung?<br />
DER EU-MANN Das trifft den Nerv der Zeit. Darauf komme ich noch zu<br />
sprechen. Aber nun einmal eine delikate Fragenserie zum Thema Beitreten,<br />
wenn’s recht ist.<br />
MAGABUDU Gleich eine Serie? Das will gefeiert sein. Warten Sie. Ich bestelle<br />
mal eine Kanonensalve <strong>und</strong> zwei exotische Tänzerinnen. Aber delikat<br />
müssen die sein, sonst wird hier nicht entsprechend integriert.<br />
(Kanonensalve. Exotische Tanzmusik. Kichern)<br />
(Eine halbe St<strong>und</strong>e später)<br />
ZWEITE SZENE<br />
MAGABUDU Nun gut. Ich bin bereit. Schießen Sie los. Serien gefallen mir<br />
sowieso am besten. Zum Beispiel die Riemann-Serie, die ja gerade beim<br />
Integrieren so wichtig ist. Und wir sind jetzt hoffentlich sozusagen mit Leib<br />
<strong>und</strong> Seele beim Integrieren.<br />
DER EU-MANN Na dann also. (Räuspert sich) Erst einmal eine ganz<br />
theoretische Sache, <strong>und</strong> bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich ein<br />
bisschen bürokratisch wirke. Wir fragen das jedes Mal, wenn ein neuer<br />
Kandidat dran ist. Sie müssen nicht antworten, falls Sie nicht wollen. Also<br />
(zuvorkommend): Könnten Sie den Minderheiten ihre Rechte garantieren?<br />
MAGABUDU Könnte ich.<br />
- 115 -
DER EU-MANN (erleichtert) Das ging schnell. Sie sind sehr gütig. So ...<br />
Weiter geht’s. Was haben wir denn da? Ah, ja! Könnten Sie Ihre<br />
Gesetzgebung bei Bedarf ein bisschen lockern?<br />
MAGABUDU Könnte ich.<br />
DER EU-MANN Sehr nett von Ihnen. Könnten Sie ein Buch über die<br />
Revolution schreiben?<br />
MAGABUDU Könnte ich.<br />
DER EU-MANN Könnten Sie aufhören zu rauchen?<br />
MAGABUDU Also vor r<strong>und</strong> zweitausend Jahren, als unsere<br />
zweitausendjährige Nation im Tumult der Geschichte ihre hervorragenden<br />
Kunstwerke <strong>und</strong> legendären Helden schuf ... inmitten all der Türken <strong>und</strong><br />
Tartaren, die es damals freilich noch gar nicht gab, ja streng genommen gar<br />
nicht geben konnte – schon aus rein geschichtlichen Gründen, wenn man’s<br />
recht bedenkt ... ich meine, als die alten Römer eine steinige Brücke über die<br />
Donau bauten <strong>und</strong> die alten Daker erst einmal aus diplomatischstrategischen<br />
Überlegungen heraus Frieden schlossen, es sich dann aber<br />
bald anders überlegten <strong>und</strong> schließlich doch nicht mehr beitreten wollten<br />
<strong>und</strong> so ...<br />
DER EU-MANN Herr Magabudu, könnten Sie aufhören zu rauchen?<br />
MAGABUDU Sie sind ein Trottel. (Nach einer Pause) Ich kann mich noch gut<br />
daran erinnern. Eine Kugel schoss ganz dicht an mir vorbei, auf'm Panzer<br />
droben. Sie sahen wohl fern, aber ich befand mich wohlgemerkt stets im<br />
Brennpunkt der Ereignisse, um einen metaphorischen Ausdruck zu<br />
verwenden, denn Metaphern sind ja bekanntlich sowas wie meine zweite<br />
Natur. Die erste Natur ist <strong>und</strong> bleibt das Vaterland.<br />
DER EU-MANN Und ich rufe: Natur! Natur! Nichts so Natur als ihr<br />
Vaterland!<br />
MAGABUDU Recht so. Das Vaterland ... das will schon was heißen ... Mann,<br />
waren das Zeiten! ... Ich schloss die Augen, <strong>und</strong> als ich sie wieder öffnete ...<br />
DER EU-MANN Wie kamen Sie an die Macht?<br />
MAGABUDU Ich habe Platon gelesen.<br />
DER EU-MANN Die Republik? Menon?<br />
MAGABUDU Phaidros. Man soll den lieben, der am wenigsten um Liebe<br />
wirbt.<br />
DER EU-MANN Das heißt, man soll denjenigen wählen, der nicht gewählt<br />
werden will.<br />
- 116 -
MAGABUDU Stimmt. Die Jungs vom PR-Department haben den Wählern<br />
immer wieder eingeschärft, dass mir eigentlich streng genommen herzlich<br />
wenig an einem Sieg liegt. Dieser Slogan wirkte W<strong>und</strong>er. Die Leute<br />
schenkten mir ohne jede Spur von Vorbehalt ihre Stimmen.<br />
DER EU-MANN Kompliment.<br />
MAGABUDU Danke, ebenfalls.<br />
DER EU-MANN Sie haben übrigens eine sehr nette Reform.<br />
MAGABUDU Alles hausgemacht.<br />
DER EU-MANN Und erst gar dieser prächtige Palast!<br />
MAGABUDU Originelle Renaissance. (Wichtig) Neudemokratische<br />
Kunstpolitik. Hab ich alles selbst bauen lassen.<br />
DER EU-MANN Jetzt flunkern Sie.<br />
MAGABUDU Aber nur ein bisschen.<br />
DER EU-MANN Bekennen Sie sich denn immer noch zur Partei?<br />
MAGABUDU Mein Schwert ist rot. Doch das spielt jetzt keine Rolle mehr,<br />
oder?<br />
DER EU-MANN Wie viele haben Sie getötet?<br />
MAGABUDU Den Mann will ich kennenlernen, der die zählt! Schauen Sie<br />
sich nur die Schneide an! Wie ein rasender Roland drang ich in die<br />
Geschichte des Christentums ein! Unser heiliger Fürst Stefan der Große, der<br />
mir gewissermaßen als Vorbild dient, hat vor gut fünfh<strong>und</strong>ert Jahren so<br />
viele Türken zerhauen, dass der Papst ihn Athlet der Christenheit nannte.<br />
Aber jetzt sollen die Türken ja ebenfalls bald aufgenommen werden.<br />
DER EU-MANN Nur wenn sie sich benehmen.<br />
MAGABUDU Was wohl kaum der Fall sein wird. Die wollen ja das ganze<br />
Erdteil in ein Paschalik umwandeln.<br />
DER EU-MANN Nicht, dass ich wüsste. Aber wenn ein Paschalik sich als<br />
Wirtschaftsmodell der Integration erweist, dann könnte es ja schließlich bei<br />
Gelegenheit durchaus als zulässige parellele ... Aha! Sieh einer an! Schon<br />
wieder ein Foto mit Ihnen als Fechtmeister! Über Ihre Fertigkeit im<br />
Nahkampf weiß wohl manch einer ein Lied zu singen.<br />
MAGABUDU Das will ich meinen! Kein Widersacher hielt mir je stand! Jeder<br />
Hieb ein Treffer! Ha! Ha! ... (Haut mit dem Schwert durch die Luft)<br />
- 117 -
DER EU-MANN Ist das ein gewöhnliches Schwert?<br />
MAGABUDU Was reden Sie denn da? Natürlich nicht. Die Vorfahren haben's<br />
überaus erfolgreich gegen die Türken geführt, um das ganze Abendland vor<br />
dem sicheren Untergang zu bewahren. Ferner standen wir hier in letzter Zeit<br />
als Vorposten gegen die russische ...<br />
DER EU-MANN Wir haben kein Geld.<br />
MAGABUDU Schade.<br />
DER EU-MANN Der rote Strich.<br />
MAGABUDU Ist schon klar. Gegen einen roten Strich lässt sich wenig tun,<br />
obwohl es nicht so sehr die Farbe an sich ist, die einem Unbehagen einflößt,<br />
sondern eben der Strich als übergeordnete Kategorie, wie ich bekanntlich<br />
einmal im Rahmen einer sehr wichtigen Konferenz gesagt habe. Doch wie<br />
steht’s um den Beitritt?<br />
DER EU-MANN Herr Magabudu, tja, nun, wie soll ich’s formulieren, das<br />
hängt sehr stark von Ihrer Argumentation ab.<br />
MAGABUDU Unsinn. Ein kräftiges Organ ist besser als tausend Argumente!<br />
Ha! ... Wird wo gesprochen? Rein ins Gespräch, mit voller Wucht! Nur das<br />
zählt: multikulturelle Integrationspolitik. Zwar bin ich schon lange Boss,<br />
doch will ich’s weiter bleiben. Meine Kollegen im Westen haben nicht mehr<br />
Grütz im Kopf als ich. Möchte meinen Lieblingsminister darauf wetten, dass<br />
es keiner so lange im Amt aushält. Ubi Bene Ibi Patria. Wer hier fest im<br />
Sattel sitzt, wird auch drüben nicht fallen. Manch einer unserer<br />
multikulturell erprobten Geschäftsleute hat sich ja schon längst auf eigene<br />
Faust bei Ihnen breitgemacht <strong>und</strong> dabei tonnenweise Euro angehäuft.<br />
DER EU-MANN Tja, ganz kann ich Ihnen da nicht widersprechen. Wobei<br />
wiederum freilich die meisten dieser vermeintlich multikulturell erprobten<br />
<strong>und</strong> in der Tat diesseits wie jenseits der Legalität bewanderten<br />
Geschäftsleute sich in Wirklichkeit mit allerhand Lumpenpack einlassen,<br />
was meiner Meinung nach unabdingbar mit Hinblick auf die gr<strong>und</strong>legenden<br />
Gesetzmäßigkeiten ...<br />
MAGABUDU Ich sag's doch. Überall dieselbe Mentalität, überall derselbe<br />
Schweinestall, überall eine Wirtschaft, um es mal spinozistisch<br />
auszudrücken. Diesseits wie jenseits der Trennlinien, was Sie ja auch gerade<br />
in Ihrer spezifischen Art <strong>und</strong> Weise hervorhoben …<br />
DER EU-MANN Nicht mit diesen Worten. Aber weil Sie Spinoza erwähnen,<br />
kann man Ihnen im Moment schlecht widersprechen, denn ohne Linsen<br />
gibt’s keine Brillen <strong>und</strong> ohne Brillen gibt’s keine Vision.<br />
MAGABUDU Ist schon gut. Sie müssen sich nicht entschuldigen ... Für mich<br />
ist die europäische Identität sowieso auf eine an sich einheitliche, breit<br />
- 118 -
angelegte Totalitätsfigur reduzierbar, die jeweils in Form bestimmter Quasi-<br />
Individuen in Erscheinung tritt.<br />
DER EU-MANN Quasi? Einer wie Sie <strong>und</strong> ich?<br />
MAGABUDU Kann sein. Und wenn jetzt einzelne Quasi-Individuen<br />
sozusagen als Weltknoten der Weltpolitik oder beispielsweise – warum nicht?<br />
– als Umweltknoten der Umweltpolitik im Euroland herumlaufen <strong>und</strong> dabei<br />
aktiv darauf hinwirken, dass die Lösung einer europäisch bedeutungsvollen<br />
Gleichung vermittels eines energischen, überregional patriotischen Hiebs<br />
gezeitigt wird, wie ich Ihnen jetzt gleich sozusagen als Demo vorführen werde<br />
...<br />
DER EU-MANN Lassen Sie das bleiben. Wirklich, ich bin schon felsenfest<br />
davon überzeugt. Irgendwann wird der Knoten der Integration bestimmt<br />
gelöst.<br />
MAGABUDU Und soweit Sie mich fragen ...<br />
DER EU-MANN Unbedingt. Denn Sie verstehen sich auf Ihren Job. Soviel ist<br />
gewiss.<br />
MAGABUDU In der Tat. Wenn ein Vergleich erlaubt ist: Alex der Große hat's<br />
ähnlich gehalten. Ich meine, wenn's um Knoten ging <strong>und</strong> so ...<br />
DER EU-MANN Mit dem sind Sie wohl auch verwandt?<br />
MAGABUDU Nicht unmittelbar.<br />
DER EU-MANN Immerhin: Sie scheinen aus guter Familie zu sein.<br />
MAGABUDU Ja merkt man das denn wirklich?<br />
DER EU-MANN Und ob! Ich frage mich aber, warum Sie das Volk andauernd<br />
Damokles nennt. Sie heißen doch Magabudu.<br />
MAGABUDU Keine Ahnung. Die Kerle sind einfach <strong>und</strong>ankbar.<br />
DER EU-MANN Haben Sie je an Harakiri gedacht?<br />
MAGABUDU Was <strong>für</strong> ein Schwachsinn! Ich kann gar nicht glauben, dass Sie<br />
mich so etwas fragen.<br />
DER EU-MANN Als Sie gewählt wurden, versprachen Sie doch, dass Sie,<br />
gesetzt, Ihr Regierungsprogramm versagt, abtreten <strong>und</strong> ...<br />
MAGABUDU Abtreten? Das war dumm. Das hätte ich nicht sagen sollen.<br />
DER EU-MANN Aber Sie sagten ja ...<br />
- 119 -
MAGABUDU Würden Sie denn an meiner Stelle abtreten?<br />
DER EU-MANN Nein.<br />
MAGABUDU Da haben Sie's.<br />
DER EU-MANN Herr Magabudu, im Vertrauen, es gibt da noch bestimmte<br />
weitere Aspekte, die sich Ihrem Anliegen in keiner Weise dienlich erweisen,<br />
um es gepflegt zu formulieren. Ihre Leute haben zum Beispiel unlängst einen<br />
jungen unbewaffneten Soldaten erschossen, der zum Zahnarzt ging.<br />
MAGABUDU Was Sie aber nicht wissen, ist, dass ein anderer Soldat kurz<br />
zuvor zwei meiner Männer erschossen hatte.<br />
DER EU-MANN Soldat heißt immerhin nicht gleich Soldat. Ich meine, wenn<br />
es ja ein anderer war, wie Sie gerade sagten ...<br />
MAGABUDU Wenn Sie wirklich aIle Einzelheiten wissen wollen, verbinde ich<br />
Sie mit dem Department. Ich verstehe mich nicht so recht auf diese Sachen.<br />
Aber wer zum Zahnarzt geht, soll stehen bleiben, wann immer ihm dies<br />
befohlen wird. Klar?<br />
DER EU-MANN Bei uns ist das nicht so.<br />
MAGABUDU Hierzulande hält man sich nach wie vor an die Tradition.<br />
DER EU-MANN Das klingt ganz patriotisch.<br />
MAGABUDU In der Tat. Mir wurde schon öfters gesagt, ich sei ein großer<br />
Patriot. Doch nur die Geschichte kann urteilen, inwiefern ...<br />
DER EU-MANN Wie steht’s mit Ihren Extremisten?<br />
MAGABUDU Wie steht's mit Ihren Extremisten?<br />
(Pause. Es wird Holz gehackt)<br />
MAGABUDU Keine Sorge, meine Jungs hab ich im Griff.<br />
DER EU-MANN Prima. Denn wenn auch in Zukunft Ihre fünftausend Räuber<br />
bei uns in schwarzen Wäldern ...<br />
MAGABUDU Das sind nicht meine Leute. Da kann ich Ihnen überhaupt<br />
nicht helfen.<br />
DER EU-MANN In unserem Fernsehen wurde gesagt ...<br />
MAGABUDU In unserem Fernsehen wurde was anderes gesagt.<br />
- 120 -
DER EU-MANN Na gut. (Pause) Aber sogar die Italiener wollen darauf<br />
schwören können, dass Ihre zerlumpten Gauner <strong>und</strong> gottverdammten<br />
Banditen ... wollte sagen: Ihre sozusagen eigentlich eher unbefugten<br />
Staatsbürger ...<br />
MAGABUDU Mascalzone! Wer sagt das? Die Italiener? Würden Sie einem<br />
Italiener glauben? Testis unus, testis nullus! Und überhaupt: Möchten Sie<br />
wissen, was ich über deren Gauner alles zu sagen habe?<br />
DER EU-MANN Lieber nicht.<br />
MAGABUDU Na dann.<br />
DER EU-MANN Und trotzdem: Auch die Engländer meinen ganz kategorisch,<br />
ja sogar im Klartext, <strong>und</strong> zwar schwarz auf weiß, dass wenigstens 80 Prozent<br />
aller Straftaten in allen Großstädten ...<br />
MAGABUDU Also hören Sie! Die englische Königin hat den Alten in Ihrem<br />
Luxuswagen durch London gefahren <strong>und</strong> dabei reichlich Zitronentee<br />
eingeschenkt. Keine Rede von Prozenten <strong>und</strong> Straftaten <strong>und</strong> Großstädten.<br />
DER EU-MANN Dazu war sich Ihre Majestät wohl zu schade.<br />
MAGABUDU Damit ich nicht lache! Und die Zeitungen? Und die Schwätzer<br />
bei Trafalgar Square? Waren sich die auch zu schade?<br />
DER EU-MANN Ich <strong>für</strong> mein Teil lese von den englischen Blättern ja ehrlich<br />
gesagt nur die Times. Und natürlich auch noch die New York Times. Es geht<br />
übrigens das Gerücht, Sie waren schon wieder in New York.<br />
MAGABUDU Ich war in vielen Städten. Und das schon lange vor der Sache<br />
mit der Mauer. Wer das Zeug dazu hatte, konnte sich nämlich auch damals<br />
leidlich bewegen.<br />
DER EU-MANN Ist mir bekannt.<br />
MAGABUDU Bei Ihnen war ich ja ebenfalls ziemlich oft, als ich den Alten<br />
begleitete. Der Alte klagte immer, wir stehen hier als Vorposten gegen die<br />
russische Übermacht, <strong>und</strong> Sie ließen sich dann jedes Mal anpumpen. Nur<br />
mir will das nicht gelingen. Ich brauche übrigens einen neuen Laptop.<br />
DER EU-MANN Das bringen wir schon in Ordnung. Aber ansonsten haben<br />
sich die Zeiten ziemlich geändert.<br />
MAGABUDU Da würde ich aber nicht ganz so sicher sein. Ich bin immer<br />
noch ein guter Fechter. Die NATO zum Beispiel wird mein Schwert schon<br />
brauchen können, vor allem, weil ich nie viel frage. Auf mich ist immer<br />
Verlass. Ob nun Mission, Koalition oder Demolition.<br />
- 121 -
DER EU-MANN Sehr geehrter Herr Präsident, regen Sie sich doch nicht auf!<br />
Allen Respekt <strong>für</strong> Ihre Armee, aber heutzutage verwendet man Tomahawk-<br />
Flieger. Oder man zerbombt einfach alles mit umweltfre<strong>und</strong>lichen Mini-<br />
Atombomben. Sehen Sie, es gibt auch ganz neue Knöpfe, auf die es sich ganz<br />
bequem drücken lässt. Hier, die jüngsten Satellitaufnahmen vom jüngsten<br />
Krieg. Fällt alles direkt aus dem Himmel. Ich sag’s Ihnen: Bodeneinsatz ist<br />
passé.<br />
MAGABUDU Abwarten <strong>und</strong> sehen.<br />
DER EU-MANN Das klingt in der Tat sehr vernünftig, denn eines meiner<br />
Lieblingssprichwörter ist bekanntlich „Eile mit Weile". Doch nur das reine<br />
Urteil der Zeitgeschichte vermag sich der reinen Kritik der Urteilskraft zu<br />
entziehen.<br />
MAGABUDU Was aber auch temporal gedeutet werden kann.<br />
DER EU-MANN Meinetwegen schon. Schließlich kann der Zeitgeist ebenfalls<br />
temporal gedeutet werden.<br />
MAGABUDU Tempus est ioc<strong>und</strong>um ...<br />
DER EU-MANN Tja, so ... (Räuspert sich) Und jetzt ... Noch eine Bitte, wenn<br />
Sie nichts dagegen haben. Liebster Herr Magabudu ... Ihr Kollege, der König,<br />
der sich zur Zeit ja bei uns aufhält ...<br />
MAGABUDU Der ist nicht mein Kollege.<br />
DER EU-MANN Nun, freilich nicht in dem Sinne ...<br />
MAGABUDU Den kenne ich ja überhaupt nur vom Hörensagen.<br />
DER EU-MANN Gewiss, doch ...<br />
MAGABUDU Da gibt's kein Doch. Der Mann will bloß mehr abzocken. Seine<br />
Gier kennt kein Ende!<br />
DER EU-MANN Wie dem auch sei, in Ihrem Geschichtslexikon hat er einen<br />
ganzen Absatz.<br />
MAGABUDU Der wird noch verkleinert.<br />
DER EU-MANN Und als er neulich wieder die Grabstätten seiner Vorfahren<br />
aufsuchen wollte, um ehrehrbietig der Vergangenheit zu gedenken ...<br />
MAGABUDU Von wegen ehrehrbietig! Mein Schwert will er klauen, um sich<br />
damit zu rühmen.<br />
DER EU-MANN Er behauptet, Sie hätten ihm die Krone ... wie sagt man<br />
denn gleich? ... irgendwie entwendet, als er gestürzt wurde.<br />
- 122 -
MAGABUDU Der wurde nicht gestürzt, er fiel selber um. Ja er stürzte sich<br />
geradezu kopfüber mitten rein in den Abgr<strong>und</strong> der Geschichte. Das Volk<br />
konnte ihn einfach nicht mehr ausstehn. So war das.<br />
DER EU-MANN Und die Krone?<br />
MAGABUDU Konfisziert, nicht entwendet.<br />
DER EU-MANN Er behauptet, er stand hier als Vorposten gegen die<br />
russische Übermacht, <strong>und</strong> als dann die Russen kamen, musste er weg.<br />
MAGABUDU Mir hat er gesagt, er will die Schweiz bereisen. Wahrscheinlich<br />
hat's ihm dort außerordentlich gut gefallen. Tatsache, er blieb.<br />
DER EU-MANN Sie wollten ihn doch nur vom Hörensagen kennen.<br />
MAGABUDU Wie bitte? Hab ich das gesagt? Sind Sie sicher?<br />
DER EU-MANN H<strong>und</strong>ertprozentig.<br />
MAGABUDU Na <strong>und</strong> wenn schon. Belästigen Sie mich nicht die ganze Zeit<br />
mit Einzelheiten! War ja nicht in dem Sinne gemeint ...<br />
DER EU-MANN Haben Sie ihn nun persönlich kennengelernt oder nicht?<br />
MAGABUDU (abwehrend) Diese ganze Geschichte geht mir jetzt aber doch<br />
ein bisschen zu weit. Glauben Sie mir: Ich hab's auch nicht leicht.<br />
DER EU-MANN Er behauptet, Sie hätten ihm das Schwert, mit dem seine<br />
Vorfahren voller Tapferkeit gegen die Türken <strong>und</strong> dann auch gegen die<br />
Russen ...<br />
MAGABUDU Das Schwert geb ich nicht her.<br />
DER EU-MANN Dann vielleicht die Krone? Überlegen Sie's sich doch mal in<br />
aller Ruhe. (Lässt Geldmünzen klirren)<br />
MAGABUDU Ah! ... Ihre Musik bezaubert mich! ... Ich merke schon, wir<br />
können unter Umständen prächtig zusammenarbeiten. Warten Sie mal, ich<br />
finde bestimmt einen Ausweg. Wie wär's denn, wenn wir die Krone<br />
abwechselnd tragen würden?<br />
DER EU-MANN Gute Idee.<br />
MAGABUDU Aber zurück darf er nicht.<br />
DER EU-MANN Und wenn er nur ganz bescheiden dann <strong>und</strong> wann mal die<br />
Grabstätten seiner ...<br />
MAGABUDU Ausgeschlossen!<br />
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DER EU-MANN Das ist hart. Sie verweigern dem letzten König dieses Landes<br />
das Recht, die väterliche Luft des Vaterlandes einzuatmen.<br />
MAGABUDU Tu's ja nur um seinetwillen. Das letzte Mal hätte ihn die Menge<br />
beinahe gelyncht. Luft! ... Ha! ... Frische Luft war noch das Wenigste, nach<br />
dem ihm zumute war. Auf das Volkseigentum hatte er es abgesehen. Und<br />
saß dabei Tag <strong>und</strong> Nacht im Casino. Können Sie sich das vorstellen? Nichts<br />
wie pokern. Und zwar mit dem Geschick des Vaterlandes, worum er sich<br />
freilich in Wirklichkeit in keiner Weise schert.<br />
DER EU-MANN Ich höre, er soll aber recht beliebt sein.<br />
MAGABUDU Der <strong>und</strong> beliebt! Dass ich nicht lache! Denken Sie, die Leute<br />
lieben Spekulanten?<br />
DER EU-MANN Ich bitte Sie, Herr Magabudu! So weit wird er es wirklich<br />
nicht getrieben haben.<br />
MAGABUDU Und ob! Der will doch nur seine Siebensachen zurück. Wie<br />
kleinlich ... Uff! Ich hasse ihn!<br />
DER EU-MANN Aber nicht doch! ... Herr Magabudu, lassen Sie das Schwert.<br />
Bitte! Es hat ja keinen Sinn.<br />
MAGABUDU Autsch! ... (Eine Glasscheibe zerbricht) Wer ist da? Bin ich es?<br />
(Angeekelt) Pfutsch dich, du hässliches Spiegelbild! Ich kann dich nicht<br />
ausstehen! Schauen Sie weg! Das bin ganz bestimmt nicht ich! Nein! Jetzt<br />
hab ich mich schon wieder geritzt!<br />
DER EU-MANN Am Daumen?<br />
MAGABUDU Am Zeigefinger ... Und den Zeigefinger brauche ich, weil ... Aber<br />
... Halt! Mensch! Haben Sie das gesehen? Was <strong>für</strong> ein bezauberndes<br />
Geschöpf! Sie hätten mir sagen sollen, dass Sie so fesche Frauen mitbringen!<br />
Die Göttin Europa an meinem Fenster! Genauer gesagt, die Göttin der<br />
Europäischen Union.<br />
DER EU-MANN Ich darf Ihnen versichern: Die Europäische Union hat keine<br />
Göttin, wobei freilich die Frauenquote bei uns neulich sehr wichtig ist. Der<br />
Euro aber bleibt weiterhin männlich. Das sind wir unserem Haushaltsdefizit<br />
schuldig.<br />
MAGABUDU Ach Quatsch! Sie war ja eben da! Ich habe sie gesehen. Ein<br />
weiblicher Erdgeist! So durch <strong>und</strong> durch quasi-individuell mitteleuropäisch –<br />
genau wie ich es am liebsten mag. Hallo, meine Dame! He! Du! Mädchen!<br />
Verweile noch, du bist so schön! Ich bin’s! Bin Magabudu! Bin<br />
deinesgleichen!<br />
DER EU-MANN Das war meine Assistentin. Von der lassen sie bitte die<br />
Finger. Und jetzt sollten wir aber wirklich das Blut wegwischen. Lassen Sie<br />
- 124 -
mal sehen. So ... Zum Glück nichts Ernsthaftes. Das bringen wir schon in<br />
Ordnung.<br />
MAGABUDU Haben Sie denn Pflaster mit?<br />
DER EU-MANN Versteht sich.<br />
MAGABUDU Das find ich toll.<br />
DER EU-MANN Mit scharfen Dingen sollte man sacht umgehen.<br />
MAGABUDU Klasse, Mann! Sie sind gut im Verbinden.<br />
DER EU-MANN Freut mich, Ihnen behilflich zu sein. Jetzt geben Sie aber<br />
endlich das Schwert aus der Hand! Sie sehen ja aus wie ein Chirurg!<br />
MAGABUDU Wie sich das trifft! Mein Assistent, Herr Budu, sagt immer zu<br />
mir, ich sei der Chirurg der Reform. Was natürlich eine Metapher ist.<br />
DER EU-MANN Hab ich mir gedacht.<br />
MAGABUDU Ich bin nämlich sozusagen der Vater dieser vielumstrittenen,<br />
dabei aber doch so sinnvollen Übergangsperiode. Der geistige Vater, versteht<br />
sich.<br />
DER EU-MANN In den Zeitungen hab ich mal gelesen ...<br />
MAGABUDU Wobei allerdings letzten Endes allein die Geschichte<br />
entscheiden wird, inwiefern meine Bedeutung größer ist als diejenige der<br />
bisherigen Führer unseres Geschlechts ...<br />
DER EU-MANN Stecken Sie das Schwert in die Scheide.<br />
MAGABUDU Tschuldigung. (Tut es) Ich bin halt zu tatkräftig. Ja wenn ein x-<br />
Beliebiger meine politischen Reden hört, dann mag er wohl im Stillen<br />
denken, das sei alles bloß Papperlapapp, aber ...<br />
DER EU-MANN Keineswegs, Herr Magabudu. Wird alles in die Protokolle<br />
aufgenommen. Da<strong>für</strong> haben wir in Bruxelles eine ganz große Schublade.<br />
MAGABUDU Die Sache ist, mein System funktioniert. Darauf kommt es an.<br />
DER EU-MANN Allem Anschein nach krachen jedoch in letzter Zeit all Ihre<br />
bis vor Kurzem noch so sicher dünkenden Fonds zusammen.<br />
MAGABUDU Nicht der Rede wert. Mit einer kleinen Investitionsspritze ...<br />
DER EU-MANN Na ja, Sie kennen sich da bestimmt am besten aus.<br />
Schließlich sind Sie ja der Chirurg.<br />
- 125 -
MAGABUDU Beschleunigtes Privatisierungsprogramm nennt man das.<br />
DER EU-MANN Für Ihren Wortschatz kann ich Sie nur beglückwünschen.<br />
MAGABUDU Oh, ich hab viele Wörter gelernt. Manche hab ich sogar selbst<br />
erf<strong>und</strong>en. Besonders Rechtsbegriffe. In der Freizeit stilisiere ich oft das<br />
Gr<strong>und</strong>gesetz.<br />
DER EU-MANN Darf man denn? ...<br />
MAGABUDU Im Vertrauen: Man darf. Bedenken Sie, dass das Ganze ohne<br />
mich nie stattgef<strong>und</strong>en hätte. Als ich damals im heldenhaften Wirrwarr der<br />
Revolution ... ich meine, auf dem Panzer droben ...<br />
DER EU-MANN Haben Sie denn keine Experten, die das tun? Ich meine,<br />
wirklich, also, das Gr<strong>und</strong>gesetz ...<br />
MAGABUDU Bin mir selber Experte genug. Die Freude können Sie mir doch<br />
gönnen. Und außerdem sind wir ja sowieso ziemlich schlecht bei Kasse. Da<br />
muss ein Mann zwei, drei oder mehrere Ämter bekleiden, um sich über<br />
Wasser zu halten.<br />
DER EU-MANN Das sind ja vollkommen verschiedene Gewaltsphären, die<br />
Sie da durcheinanderbringen.<br />
MAGABUDU Ich sag's Ihnen: Alles muss man selber tun.<br />
DER EU-MANN Unmöglich.<br />
MAGABUDU Ja, ja, so geht das. Bei uns wird eben viel gearbeitet.<br />
DER EU-MANN Bei uns auch. Nur sind die Voraussetzungen ...<br />
MAGABUDU Unsinn! Diesseits wie jenseits der Mauer wurden schon immer<br />
Geschäfte gemacht. Blicken wir doch in den Spiegel. Ich bin ein Mann mit<br />
Beziehungen. Und Sie auch. Deshalb stehen wir nun beide da.<br />
DER EU-MANN Schon gut, schon gut. Ich sag ja nicht nein. (Glockenton)<br />
Das Beitrittsgespräch ist schon fast vorbei. Nur noch eine letzte Frage,<br />
hochverehrter Herr Magabudu. Hand auf's Herz. Sie haben manches auf<br />
dem Gewissen. Stimmt’s?<br />
MAGABUDU Hab ich. (Murmelt) Hab ich? ...<br />
DER EU-MANN Wie schlafen Sie nachts?<br />
MAGABUDU Vortrefflich, besten Dank. Und tagsüber ebenfalls.<br />
DER EU-MANN Dann muss ich Ihnen eins sagen. Was Ihren Beitritt<br />
anbelangt ...<br />
- 126 -
MAGABUDU Ja? Bitte! Heraus mit der Sprache! Beitreten, trat bei,<br />
beigretreten. Ich mag das Wort. Einer soll mal "Vae victis" gebrüllt <strong>und</strong><br />
darauf sein Schwert in die Waage geschleudert haben. Keine Ahnung, was<br />
das bedeutet. Hat mir aber ebenfalls sehr gefallen.<br />
DER EU-MANN Freilich wiegt Ihr Schwert einiges auf. Aber ansonsten wollen<br />
wir noch sehen.<br />
MAGABUDU Steht mein Name nun auf der Liste oder nicht?<br />
DER EU-MANN Ihr Name steht auf der Liste.<br />
MAGABUDU Die Jagd beginnt morgen früh. Gute Beute.<br />
DER EU-MANN Gute Beute.<br />
MAGABUDU Und sollten Sie noch was auf dem Herzen haben ...<br />
DER EU-MANN Sie sind sehr gütig.<br />
MAGABUDU Was wahr ist, darf man auch sagen.<br />
DER EU-MANN Zuerst einmal, also, ganz aufrichtig gesagt: Herr Magabudu,<br />
wie bereits erwähnt, Sie nennen ein w<strong>und</strong>erschönes Land Ihr eigen.<br />
MAGABUDU (stolz) Na ja.<br />
DER EU-MANN Und das Volk ist wirklich kolossal.<br />
MAGABUDU Klar. Als unsere Leute im Tumult der Jahrh<strong>und</strong>erte, das blanke<br />
Schwert in der Hand, die Angriffe der ...<br />
DER EU-MANN Gute Leute sind das, ehrliche Leute, Super-Leute, fleißige<br />
Leute ...<br />
MAGABUDU Fleißig sind wir schon immer gewesen, denn Arbeit ist <strong>für</strong> die<br />
Menschen meines Vaterlandes die zweite Natur.<br />
DER EU-MANN Und ich rufe: Natur! Natur! Nichts so Natur als diese<br />
Menschen! ... Menschen mit Profil <strong>und</strong> Beständigkeit. Authentische<br />
Möglichkeitsmenschen. So durchaus neueuropäische Kraftkerle! Ganz<br />
Sturm <strong>und</strong> Drang! Dazu klassisch <strong>und</strong> romantisch zugleich ... Nur ...<br />
MAGABUDU Nur?<br />
DER EU-MANN Wie Ihre Nachbarn manchmal meinen, könnte es mitunter<br />
den Anschein erregen, Sie seien in mancher Hinsicht streng genommen <strong>und</strong><br />
de facto irgendwie so ein bisschen daneben, wollte sagen nicht sine qua non,<br />
sondern ...<br />
- 127 -
MAGABUDU Ich weiß schon, was Sie sagen wollten. Die haben mich also bei<br />
Ihnen schlechtgemacht! Schon wieder!<br />
DER EU-MANN Sie wollen gern eine autonome Region hier in Ihrem Land ...<br />
MAGABUDU Das glaube ich. Möchte selber gern ein Stückchen aus dem<br />
Nachbarland.<br />
DER EU-MANN Geht aber nicht.<br />
MAGABUDU Eben.<br />
DER EU-MANN Auf der anderen Seite: Was Ihren Schatz anbelangt ...<br />
MAGABUDU Ja?<br />
DER EU-MANN Ich denke offen gesagt nicht, dass Sie den zurückkriegen.<br />
MAGABUDU Was soll denn das wieder heißen? Sie sprachen ja vor Kurzem<br />
mit dem russischen ... wie war denn gleich der Name?<br />
DER EU-MANN Spielt keine Rolle. Er hat's sich inzwischen wieder anders<br />
überlegt. Beim diesjährigen Handelsdefizit kein W<strong>und</strong>er. Und das Gas<br />
brennt auch nicht so gut, wie es am Anfang schien ... Also lange Rede,<br />
kurzer Sinn: Er will nun das Gold doch noch lieber eine zeitlang bei sich<br />
aufbewahren.<br />
MAGABUDU Das ist blöd.<br />
DER EU-MANN Genau meine Meinung.<br />
MAGABUDU Aber wenn Sie vielleicht ein kleines Wort <strong>für</strong> uns einlegen ...<br />
DER EU-MANN Kann ich nicht. Der Mann steht da sozusagen als Vorposten<br />
gegen die nationalistischen ...<br />
MAGABUDU Ein ganz kleines Wort.<br />
DER EU-MANN Unmöglich.<br />
MAGABUDU Feigling!<br />
DER EU-MANN Ja wenn Sie mir so kommen ...<br />
MAGABUDU Nie haben Sie den Mut einzugreifen! Nie!<br />
DER EU-MANN Da würde ich an Ihrer Stelle vorsichtiger sein.<br />
MAGABUDU Was haben Sie getan, als 1991 der Putsch los war?<br />
- 128 -
DER EU-MANN Tja ... Zum Ersten verkündeten wir da nach reiflicher<br />
Überlegung <strong>und</strong> selbstredend unter Berücksichtigung einschlägiger<br />
internationaler Vereinbarungen <strong>und</strong> bilateraler sowie multilateraler<br />
Abkommen ... also wir verkündeten ... Moment, was verkündeten wir denn?<br />
MAGABUDU Sie verkündeten Ihre Charakterschwäche! Sie zeigten der Welt,<br />
dass Sie wirklich keine Eigenschaften haben. Quatschen <strong>und</strong> Fressen, das<br />
ist bei Ihnen alles. Nichts haben Sie getan! Gar nichts!<br />
DER EU-MANN Ja ganz so viel mag es wohl auch wieder nicht gewesen sein,<br />
nur, was heißt schon viel? Wir wollen jetzt doch nicht darüber streiten!<br />
(Beschwichtigend) Ist ja sowieso alles mittlerweile schon Schnee von gestern,<br />
wie Sie zu sagen belieben.<br />
MAGABUDU Hm ... Meinetwegen.<br />
DER EU-MANN Kommen Sie schon! Sie sind ja ganz außer sich geraten. So<br />
... einen kräftigen Handschlag drauf. Seien wir wieder gut.<br />
MAGABUDU He! Sie haben mir weh getan! Das war die w<strong>und</strong>e Hand.<br />
DER EU-MANN Tut mir leid. Ich schicke Ihnen einen Balsam, wenn ich<br />
wieder zu Hause bin.<br />
MAGABUDU Nett von Ihnen.<br />
DER EU-MANN Versteht sich ja von selbst. Eine Hand salbt die andere.<br />
Denn reibungslose Prinzipien gehen mir über alles. Das bedeutet: Wir helfen<br />
einander.<br />
MAGABUDU Wie gesagt, die EU kann ich leiden.<br />
DER EU-MANN Eins weiß ich schon jetzt ganz bestimmt: Ich werde an Sie<br />
denken.<br />
MAGABUDU Tun Sie das. Aber es ist nun wirklich höchste Zeit zum<br />
Schlafen. Morgen gehen wir nämlich auf Beutefang. Und zwar ganz im<br />
vorkapitalistischen Sinne. (Der Jägermarsch)<br />
DER EU-MANN Mir soll's recht sein. Schlafen Sie wohl. (Schnarcht schon)<br />
(Am nächsten Tag)<br />
DRITTE SZENE<br />
MAGABUDU Ta ta ta ta ta! Los Mann, drücken Sie ab! Das kann jeder.<br />
DER EU-MANN Kotz Bombenelement! Ein Hirsch!<br />
- 129 -
MAGABUDU Was dachten Sie denn? Dass wir Sie ohne Beute wegschicken?<br />
DER EU-MANN Der sieht ja ganz lebendig aus!<br />
MAGABUDU Ist er auch.<br />
DER EU-MANN Und den soll ich jetzt? ...<br />
MAGABUDU Immer nur anlegen ... Feuer!<br />
DER EU-MANN (schießt) Das gibt 'nen Braten.<br />
MAGABUDU Ich <strong>für</strong> meinen Teil will nur ein kleines Schnitzel.<br />
DER EU-MANN (lacht) Können Sie haben. Wir EU-Leute sind Meister in<br />
Sachen der Schnitzelei.<br />
MAGABUDU Weiß ich. Sie kriegen übrigens eine Kopie der Kassette. Junge<br />
Junge, haben Sie einen killer instinct! Das wird noch ein echter Horror!<br />
Besser als Dracula braucht frisches Blut.<br />
DER EU-MANN Ach nein doch! ... Haben Sie denn? ...<br />
MAGABUDU Alles auf Band.<br />
DER EU-MANN O du liebe Güte! Was kann einer sagen? Kolossal. Freut<br />
mich ... 'ne gute Leistung. Wirklich.<br />
MAGABUDU Die bestmögliche. (Beifall) Hören Sie? Unser Land gratuliert.<br />
Das war der letzte Hirsch.<br />
DER EU-MANN Den ich jetzt erlegt habe?<br />
MAGABUDU Den Sie jetzt erlegt haben.<br />
DER EU-MANN O je ...<br />
MAGABUDU Genau.<br />
DER EU-MANN Mein Gott. Das hätten Sie doch sagen sollen!<br />
MAGABUDU Ist ja sowieso egal. Hirsche konnte ich nie ausstehen.<br />
DER EU-MANN Aber laut der neulich aktualisierten Satzung des<br />
Allgemeinen Europäischen Försterverbands ...<br />
MAGABUDU Sehen Sie? Mein Assistent, Herr Budu. Wird jetzt den Bauch<br />
unserer überaus prächtigen Beute aufschlitzen. Und dann ...<br />
DER EU-MANN Warum tut er das mit ihrem Schwert?<br />
- 130 -
MAGABUDU Was <strong>für</strong> eine Frage! Sie sind ein sonderbarer Kauz ... Obst<br />
gefällig? Wein gibt' s natürlich auch.<br />
DER EU-MANN Danke, doch ...<br />
MAGABUDU Nichts zu danken. Nur der Tod ist umsonst.<br />
DER EU-MANN Das hab ich bemerkt.<br />
MAGABUDU Wer sich hier auskennt. der weiß, dass aIle Dinge ihren<br />
traditionellen Gang nehmen. Als zum Beispiel mein Vorgänger stürzte ...<br />
DER EU-MANN Man ist nie vorsichtig genug. Besonders als Staatschef. Wo<br />
befand er sich denn?<br />
MAGABUDU Auf dem Schafott.<br />
DER EU-MANN Ach so ...<br />
MAGABUDU Ja ... Warum fragen Sie?<br />
DER EU-MANN Nur aus Neugier. Ich meine, bei uns fällt man nämlich von<br />
oben.<br />
MAGABUDU Bei uns auch. Und nun: Meister! Es kann losgehn! (Der<br />
Todesmarsch ertönt).<br />
DER EU-MANN Halt! Was tun die Leute da? Sie sollen aufhören! Aufhören!<br />
MAGABUDU Sind Sie aber empfindlich! (Nach einer Weile) In Ordnung.<br />
Jungs, könnt euch davontraben. (Die Musik fällt weg) Das war aber eine<br />
ergiebige Erweiterungsjagd. Falls Sie noch Fragen haben, steht Ihnen unser<br />
Vaterland natürlich jederzeit zur Verfügung. Ansonsten wünsche ich jetzt<br />
bald guten Appetit.<br />
DER EU-MANN (gequält) Danke, ebenfalls.<br />
VIERTE SZENE<br />
Das Feuer lodert. Messer werden geschliffen. Hühner gackern. Wein strömt<br />
aus den Fässern<br />
MAGABUDU Und wie gesagt: So kämpfte ich. Jederzeit an der Spitze meiner<br />
Leute.<br />
DER EU-MANN (müde) Brav so ...<br />
- 131 -
MAGABUDU Und keinen gab's, der mir je widerstand.<br />
DER EU-MANN (halb schlafend) A-ha ... (schnarcht)<br />
MAGABUDU He!<br />
DER EU-MANN Ma ... Ga ...<br />
MAGABUDU Budu!<br />
DER EU-MANN Maga ... Magabudu.<br />
MAGABUDU Ja bitte? Das bin ich. Aber wo steckt denn bloß mein Assistent?<br />
Herr Budu! Hallo!<br />
DER EU-MANN (schnarcht) Budu.<br />
MAGABUDU Ja ... Toll war das, wie wir den Staat neu errichteten. Ich<br />
meine: Revolution <strong>und</strong> Reform ... Abschlachtung der Ausbeuter, Ausbeutung<br />
der Abgeschlachteten ... Enteignung ... Rückerstattung.<br />
Schuldenbegleichung. Neuverschuldung ... Ergo ... Alles picco bello.<br />
DER EU-MANN Bello ...<br />
MAGABUDU Angenommen, dass, ... Ich meine ... Also jetzt mal aufgepasst:<br />
Hier ist mein Staat, <strong>und</strong> hier ist mein Schwert. Verstehen Sie mich?<br />
DER EU-MANN Ja ja ja ja ...<br />
MAGABUDU Verdammt! Sie hören mir nicht zu!<br />
DER EU-MANN (wacht auf) O ja.<br />
MAGABUDU O nein. Sie hören mir nicht zu. Niemand hört mir zu. Ich will<br />
aber, dass man mir zuhört! Und wenn ich will, dann will ich! Kapiert?<br />
DER EU-MANN Na klar doch ... Ganz wie Sie wollen. (Nach einer Pause)<br />
<strong>Wissen</strong> Sie was? Das machen wir so: 'ne richtige Pressekonferenz<br />
organisieren ...<br />
MAGABUDU Eine internationale?<br />
DER EU-MANN Eine internationale.<br />
MAGABUDU Hm ... Das ist eine Idee.<br />
DER EU-MANN Stellen Sie sich doch bloß vor: Ringsherum lauter<br />
Mikrophone … die ganze Welt hört zu, <strong>und</strong> Sie können sich ihr Leid vom<br />
Herzen reden.<br />
- 132 -
MAGABUDU (aufjauchzend) Liebling! Wo bist du denn? (Atmet) Heo-he!<br />
Liebling! Komm doch endlich her! Ich darf! Ich darf! Ich darf!<br />
DER EU-MANN Wen rufen Sie denn? Ihre Frau?<br />
MAGABUDU Meinen Premierminister. Er ist wie ein Sohn <strong>für</strong> mich.<br />
DER EU-MANN Da liegt er ja.<br />
MAGABUDU Richtig. Er ist wohl noch ein bisschen müde.<br />
DER EU-MANN Sieht ganz so aus. Soll ich ihn wecken?<br />
MAGABUDU Nein, das schaffen Sie nie. Ich sag's ihm dann eben persönlich,<br />
wenn es soweit ist. Er muss ja auch mitlächeln. Vor der Kamera, meine ich.<br />
DER EU-MANN Sollte sich am besten erst die Zähne putzen.<br />
MAGABUDU Mir macht das nichts aus.<br />
DER EU-MANN Ich weiß, Sie sind sehr ... wie sagt man gleich?<br />
MAGABUDU Tolerant.<br />
DER EU-MANN Ach ja, tolerant.<br />
MAGABUDU Bin ich.<br />
DER EU-MANN Das kann man Ihnen kaum abstreiten. Sie können schon<br />
was über sich ergehen lassen. Mehrere Journalisten <strong>und</strong> drei<br />
Verfassungsrichter haben das bestätigt. Doch was tun Sie, wenn Ihnen<br />
jemand so richtig auf die Nerven geht?<br />
MAGABUDU Dann bleibe ich tolerant. Und hole meine quasi-zivilen<br />
Kommandos herbei. Die hauen den Kerl zusammen, während ich weiterhin<br />
tolerant bin. Eine schlichte, wirksame Politik. Dulce et decorum est ...<br />
DER EU-MANN Die wackeren Leute haben Ihnen gewiss sehr geholfen, Sie<br />
wissen schon, damals ...<br />
MAGABUDU Als wir das Richtbild der Wende neu definierten?<br />
DER EU-MANN Als Sie es sich, Ihren ursprünglichen Versicherungen zum<br />
Trotz, anders überlegten <strong>und</strong> den Kurs der Geschichte wieder ein bisschen<br />
nach links umlenkten. Wobei Sie freilich den Kurs der Donau, den<br />
Anrainerstaaten zuliebe <strong>und</strong> nicht zuletzt dank unserer massiven<br />
Geldzuwendungen, unverändert ließen. Wo<strong>für</strong> wir jetzt übrigens ein weiteres<br />
Mal recht schön danken ...<br />
- 133 -
MAGABUDU Gern geschehen. Also die Blaue Donau ist meiner Meinung<br />
nach die Königin unter Europas Flüssen. Reich an Geschichte <strong>und</strong> von<br />
Legenden umwoben. So ... Und Europas Legenden wollen wir auf jeden Fall<br />
aufrechterhalten.<br />
DER EU-MANN Bravo! Genau solche Leute brauchen wir. Sprachlich begabt<br />
<strong>und</strong> originell. Das Zeitalter der Epigonen ist nun endgültig vorbei!<br />
MAGABUDU Ohne Bezuschussung ginge das aber kaum. Sie wissen ja:<br />
Staatspolitik verlangt gute Buchhaltung. Darf ich bitten?<br />
DER EU-MANN (gibt) Bitte.<br />
MAGABUDU (nimmt) Danke. Sie bekommen da<strong>für</strong> eine Quittung. Ich bleibe<br />
niemandem etwas schuldig. Eine Hand wäscht die andere, wie einst ein<br />
bedeutender Philosoph meiner Jungendzeit zum Anlass der Gesamtausgabe<br />
seiner Alterswerke sagte ...<br />
DER EU-MANN Da haben Sie wieder mal recht. Besonders, wenn die<br />
persönliche Kasse ja so strikt von der Staatskasse getrennt ist.<br />
MAGABUDU Ja das nun auch wieder nicht, aber immerhin: Soweit es geht,<br />
halte ich die beiden selbst im realpolitischen Umgang natürlich im<br />
Mindesten prinzipiell kategorisch auseinander.<br />
DER EU-MANN Wir auch. Denn Geld will gezählt sein. (Ein bisschen<br />
verlegen) Darf ich mir jetzt die Hände waschen? Das Blut sieht irgendwie<br />
unanständig aus. Freilich ist es dabei ja auf der einen Seite nicht<br />
eigentliches Blut, sondern eben vielmehr, wie sagt man das ... hm, tja ... also<br />
als Dichotomie betrachtet ...<br />
MAGABUDU Klar. Handtuch <strong>und</strong> Seife bekommen Sie am Eingang.<br />
DER EU-MANN Sehr nett von Ihnen.<br />
MAGABUDU Machen Sie’s gut!<br />
DER EU-MANN Dann Auf Wiedersehen. (Angenehm überrascht) Mensch!<br />
Das Waschbecken finde ich aber absolut großartig!<br />
MAGABUDU Pures Gold. Vollkommen automatisiert. Mit Musik aus drei<br />
Kontinenten. Und das Geweih dort oben ist natürlich garantiert echt.<br />
Waschen Sie nur ruhig Ihre Hände in Unschuld. Das Wasser kommt aus<br />
unseren Bergen.<br />
DER EU-MANN Klasse! Es tut so wohl, mithilfe modernster Technik alles ins<br />
Reine zu bringen! Eine Erfahrung, die ich europaweit immer wieder machen<br />
darf. (Hupen) Zeit <strong>für</strong> den Rückflug: Mein Wagen ist schon da. Einen<br />
angenehmen Beitritt noch. Und ... Herr Magabudu!<br />
- 134 -
MAGABUDU Hm? ...<br />
DER EU-MANN Wir haben Sie doch schon immer geliebt!<br />
MAGAGBUDU Ich Sie auch. (Gelassen) Ich Sie auch. (Die Neunte ertönt)<br />
ENDE<br />
Vasile V. Poenaru (bardaspoe@rogers.com), Germanist <strong>und</strong> Autor (geb. 1969), mehrjährige<br />
Tätigkeit als Journalist <strong>für</strong> kanadische Zeitungen, derzeit Doktorand an der Universität<br />
Toronto. Erhielt 2006 den Social Sciences and Humanities Research Council of Canada<br />
(SSHRC) Award als Anerkennung seiner Forschungsarbeit an der Universität Toronto.<br />
- 135 -
Mündlich’n, so blau<br />
Sieben <strong>und</strong> skythische Syzygien<br />
zur Achilles-Insel Alba im Litoral der Donau<br />
Von Oswald Egger<br />
(01. 01. 2007)<br />
Dort, wo Böhmen am Meer liegt, legt die Donau ihren Namen im Meer<br />
ab – <strong>und</strong> heißt fortan Hister. Die seit Aristoteles vermutete (<strong>und</strong><br />
vehement diskutierte) Bifurkation der Donau geht mithin in Istrien vor<br />
sich: hier teilt sich der Strom <strong>und</strong> mündet zum einen (als kleinerer Arm)<br />
ins adriatische Mittelmeer (nahe der Achilles-Stadt Aquileia), <strong>und</strong> zum<br />
anderen (als verlängerter Ärmel) in das Schwarze Meer (nahe der Pappelweißen<br />
Insel des Achilles, Leuke oder Alba, wo Persephone bzw.<br />
Proserpina die gleichnamige Nymphe zum populus alba der<br />
Weißpappelnacht dämonisierte (die demotisch Weiße Frau am Baum),<br />
<strong>und</strong> sie gleichwohl um alles in der Welt verpflanzte (jenes Papperlapapp<br />
um Achilles Grab). – Die teils unterirdisch verlaufenden Karstflüsse<br />
Istriens haben diese Vorstellung beides, veranlaßt <strong>und</strong> unterlaufen: Der<br />
Rhein entspringt doppelzüngig (er entsteht am Ort, dem er im Wort steht,<br />
<strong>und</strong> entgeht beiden, seiner Schrift entziffert); die Donau mündet mit<br />
ihrem – Lied <strong>und</strong> Bahn – ›in‹ der Mündlichkeit, litoral (wie Augen im Fluß<br />
der Dauer, diese Jetztzeit-Werder des Diskreten im Stetigen), im Vorüber<br />
(»präter«) der Syzygien (Prater- oder Vorseh-Auen) einer fast schon<br />
skythischen Unvergangenheit <strong>und</strong> Geographie, worin Substrate – als<br />
deren Arme <strong>und</strong> Bilokation – Handlungen schon vor Verursachung<br />
ineinander übergingend <strong>und</strong> inseln (unvordenklich sich-in-sich), so blau,<br />
so – instantan: einem vorgehend (wie sonst niemand), indem sie das<br />
Andere ereignen, sobald sie das Nicht-Andere tun, genauer, da Achilles<br />
ruht, fließt alles.<br />
1<br />
Als ich über Tümpeln (vom zugeschirrten Paddel-Wald, Istern, so<br />
büschelig verzweigt) zu Kolkhorst kaum vordrang, mußte ich Wat-lang<br />
staks passierte Siele (<strong>und</strong>urch’-hiebtes Schilf) verqueren, Kälte <strong>und</strong><br />
Schatten; über Hüllen mündelte Gebirge wie Zellfaschinen (nicht, daß<br />
eine leere Welt in Wirklichkeit verschwimmt), Rollstaub-Hauben (<strong>und</strong> die<br />
glimm-Lichtschnur gedörrten Lohdern) zog ich <strong>und</strong> einen Fäd’selpelz,<br />
zwirnte die Quastenfrucht-Kapseln über die Zupfspur (Huzeln) <strong>und</strong> stieg<br />
auf den Ist-Schlitten (einer Sitzholzkiste, schließlich). Ich flößte verirrt, in<br />
meinem Fußsack besteckt, zu Sieben (diese kipp-Triebe trieb’-ten),<br />
ruderte (»verhexte« quasi) Trensen (<strong>und</strong> Ring-Ösen unbeweglich – ich)<br />
verbissen in die Riemen. Die Segel schnitten <strong>und</strong> verschlitzten wimperig<br />
den Himmel über Buchtsplitt, <strong>und</strong> die Fladen Ruder Spanten (rührten<br />
den) Graupelkoch zu Leck. Ich kenterte in Regen, verunsank’t am Glas-<br />
Wasser (plötzlich) schwimmb’lende Schlingalgen, fast golden schlüpft die<br />
- 136 -
Brut der Kugel falbmond in Morast <strong>und</strong> Fasern, Büffel’n, die<br />
Hufblatt’schten, Zirpdrüsen Tropf’ ten Sporen wie ob olivgrüne Lichter<br />
auf die Eßbux-Stämme, den Gräsersee allmende, sie (insick’ten), malten<br />
alle-balgten Schrittschatten stahlblau <strong>und</strong> keimgrün (dünn) über die<br />
Eishaut, mitten im fast Glutsee (auf flacher Inselhand, stimmen):<br />
Lehmflach h<strong>und</strong>erte Zwergwels-Stelzsäbelschnäpper <strong>und</strong> Saugflocken<br />
eingekauzt. Der ganze Frostwald (von vertrockneten Schlammfetzen<br />
verkleistert) war von der Traglast Sahlweide niedergedrückt, in Schichten<br />
auf übereinanderhängenden Borsten <strong>und</strong> Ästen (Haar-Garben)<br />
verbüschelt. Ich schritt (über Rain) die Unfelder ab <strong>und</strong> zog mit<br />
wringenden Händen den Sumpf- <strong>und</strong> Brutkahn zu erloschenden Ufern<br />
(mit unzählig kleinen Stichhalmkrustenkämmen im üppigten Stich. Kein<br />
Schnee lag über der Erde: Salzblumen überdeckten die<br />
Schlämmwannen; ihre Ähren blitzten mit sirrenden Perl-Kristallen, <strong>und</strong><br />
ich erinnere mich nicht mehr, wie sehr ich zurückgef<strong>und</strong>en habe.<br />
2<br />
Bis zur St<strong>und</strong>e ist die salzige Binnensee noch mit den falbglast-<br />
Wassermassen der Zuflüsse verunmengter Schmelz, dann klart sie (zu<br />
klammem Blau) jenem, in Pfriemform-Blüten welk (aus tümpfeligen<br />
Pfützchen), dem erst Steppland-lachen Bruchwald Röhrichte sich,<br />
allmählich zuvermeerte, so Schärwasserlieschflächen (Froschbiß’zien<br />
ganze Inseln verschwimmender Salvinien). Ich habe Dünglehm<br />
gestochen, eingefeuchtet <strong>und</strong> mit Stroh-Nachtschatten Halmgarb<br />
Flügelraup’ verrührt (<strong>und</strong> den aus Öltuch versiegelten Sack in die Barke<br />
geworfen). Die Sandbarre ist von randhohen Disteln <strong>und</strong> (»dornicht«)<br />
bezehrenden, losen Nestern der Wegwespen grauweißgeringelt <strong>und</strong><br />
verwabert, <strong>und</strong> Brutnattern (zitterten im Wind); aus Ziehbrei fertigte ich<br />
in Modelholzwannen Ziegel aus Eis‘ter Viskose (<strong>und</strong> Wolfsmilchlatwergen<br />
Schwärmern), die in der Sonne verborkten Boots-Schwämme (span’ten).<br />
Ohne Zweifel – ein Triel strich’t ab <strong>und</strong> verlandete (<strong>und</strong> t’sick‘t) mit<br />
Takterschrecktem Flatterruf, ich steuerte inzwischen Ton <strong>und</strong> Glocke<br />
(<strong>und</strong> Vertoonung) durchs verdammte Land, doch das Ausbooten deichte<br />
heftig dem umschlack’ten, von dichtestem Glasalgenflor<br />
r<strong>und</strong>ummuldeten Steilstrand das gestapfte Grab (verbrandet). Ich war in<br />
der Flut-Tat von Ungestaltfelsen um die wie Lagune begünstigt, ankerte<br />
in Lak’t-trüber Wässerung (T’ucht-Faschinen der Länd) <strong>und</strong> fuhr auf<br />
Frostjollen ans Watland. Das steinerne Meer war ungelände steinig <strong>und</strong><br />
kam karg: neben Untiefen toten Flüssen (in Erosionstälern<br />
unzerfurchten Hängen) stieg ich dem dichten Dürre-Berg entgegen (<strong>und</strong><br />
verdickte in Glutluft). Hoch hob sich der Horstbrocken vom Eiland, das<br />
wohl Inseln mit variskischem Untergr<strong>und</strong> versickert, aber ablag, daß das<br />
bloße Auge den facettierten Seehöhen-Horizont mit R<strong>und</strong>wimpern maß.<br />
Kalzedonischer Permquarz aus karmingrauer Rötelbreccie <strong>und</strong> klunc in<br />
Buchten rieseln fallendere Konglomerate. Die Steinschmätzer flögen vor<br />
mir auf, als Lebensraum.<br />
- 137 -
3<br />
Die Insel hieß Leukó <strong>und</strong> will ein Heiligtum (»Achilles«) überbergen.<br />
Das Eiland ist (»Istern«) mit Schwarzerde <strong>und</strong> Wäldern ockergelber Blaß-<br />
Pappeln bedeckt (<strong>und</strong> Ulmen), schroffste Klafter über’m Spiegelmeer<br />
erhaben unter zerklüftet felsigem Gestade (mit Böschungsschraffen),<br />
Anlandplätze ›gibt es‹ am Westufer (mit vier Fuß Tiefe), an der Ostseite<br />
(zwei Fuß Tiefe) <strong>und</strong> einen von Süden her (wo die Untiefe drei Fuß<br />
betrug). Zerspell’zt um die Insel schlangen Felszacken ein <strong>und</strong><br />
schnapp’ten ragte Rogelrollblöcke aus dem Brandmeer von Felsen, durch<br />
welche ich vom Landen (mit Ruderstaken), vorvorsichtig manövrieren<br />
mußte. Wie Augentiere – ihr Wort liegt in der Hand (<strong>und</strong> wiegt anders).<br />
Und der Meergr<strong>und</strong> istert mit Muscheln besetzt, die Schärwindwellen<br />
drüber kräuselten Chonchylien <strong>und</strong> -linien. So hohe Speltgräser<br />
bedeckten den Unteil der Insel; – da brannten weder Baum noch Busch<br />
die Augen: auf der Hutweide in Hängländern <strong>und</strong> Leiten flogen zu Glut<br />
Motten (die verpuppten Schwärmer) gegen Juni. Eine fast Gansgroß<br />
hornfüßige Silbermöve in oscillae, ein Wälzrädertier in Inseln<br />
vorüberstreichender Strömung – wie Schlitzinsekten sind-ist die Facetten<br />
(die veraschten) in Zufluren flugfähiger Trugsamen. Wie diese<br />
Korbdoldenblütler glandern, Karstgrashalme, so ruderal-tatarischen<br />
Melden, die Käspappel Hirtentäschelten Körr’bel <strong>und</strong> Hirsreisbinsen wie<br />
Kamillen (die einzig grünen)(<strong>und</strong> übrigen) Trespen der Achillea,<br />
Riedflechten <strong>und</strong> Ißkrautgräser <strong>und</strong> Treßpolstertrostkissen bötelten das<br />
Mooshorst dörr versengte, Ungespenstern der Sandgrassteppen. Aus<br />
Weide fast filpt das vereiste Nistgeäst mit Brutzurufen vom Wiedehopf.<br />
Fünf, sechs Dunen knäueln sich aus morschtem Olbholz, vergeblich<br />
flocht ich aus Ginster Schilf-Fischzäune <strong>und</strong> Fallen, die latz’ten Netze<br />
<strong>und</strong> Fell-Reussen Anlitz’en an langen <strong>und</strong> verspielt verdrehten, so<br />
Schritt-verliebten Schnüren.<br />
Vom Meer sprüht in schrägen Häng-Strähnen Wasser aus den Fog-<br />
Schwaden Wolken <strong>und</strong> über die Hügelbögen der Insel. Das Wasser der<br />
Siele übertritt die schilflosen Ufer, <strong>und</strong> die Marschwege mürbten<br />
gr<strong>und</strong>los, dann legte sich das Wetter. Infolge werde ich (nach Jahr <strong>und</strong><br />
Tagen) Trassengrasgarben beides, nennen, binden <strong>und</strong> erinnern, am<br />
kommenden dann (<strong>und</strong> nächsten) will ich diese Unzahl Stengel ihrer<br />
ährendürren Spatelkappen Blüten, wie ihre geschnäbelten Knötchen<br />
(pflücken <strong>und</strong> verdisteln). Ich scheuche Lichtfalter von Sträuchern <strong>und</strong><br />
klopfte sie zu Sporen, die Weiden Eichten (Rüsterbüschte) Einmauern,<br />
Blattpappeln <strong>und</strong> Planken, <strong>und</strong> Ast-quast Nessel-tausend<br />
Knollen(Schlehen) Wellen <strong>und</strong> Gehänge, auf Kapselschlitzschiffchen<br />
überwebend <strong>und</strong> Meersalbei (<strong>und</strong> Wermut) (mit schwimmenden wif’t-<br />
Puppen, Urnwannen <strong>und</strong> Dolden <strong>und</strong> Trüffelfrüchten) sickerte<br />
Gisch’schlick zwischen Solbruch <strong>und</strong> flak’gt Vertiefungen der Schollen.<br />
Das meiste Gestein ist von Fladenroter Farbe, an einzelnen Kieseln fand<br />
ich Falbkristalle mit wenigen, sehr feinen Kalk- <strong>und</strong> Marmoradern;<br />
4<br />
- 138 -
Hornmergelblende <strong>und</strong> Quarzgeschiebe (rostgrau). Am Brutplatz der<br />
Mantelmöven (ihr Gefieder ist blak’tweiß, mit Nacken in blaugrauen<br />
Farben) grimmelten Schlangen, eine Unmenge von gelackten Rußfuseln<br />
im Schiefer, diese (Würfelnattern zu gekielten Schuppen) unwegsamen<br />
Küstenschlucht-klammen Hänge mit abschlüpfrigen Klipptalgtälern<br />
inzwischen Schotterklüften grobrot gesprenkelter Salwandfelsen<br />
(erinnerten an Istrien) die Steineier der Möven austrinkt <strong>und</strong> Jagd auf<br />
deren Brut macht: ihr Geschrei glich schallendem Gelächter (mit jenen<br />
abgesetzten Tönen) der Kinder. Es hieß, daß Schlangen an der Küste ins<br />
Wasser gingen <strong>und</strong> fischfangend untertauchten. Ich habe die Insel in<br />
einem Tschaïken-Kahn umschifft <strong>und</strong> sah keine Wirbel nattern (aber<br />
diese Strudel zwischen Sand <strong>und</strong> Brack). Auch von Wasserfossilien war<br />
in dem Kalkschlick keine Spur.<br />
5<br />
F<strong>und</strong>e, Scherben von Vasen, Schalen etc. habe ich nicht gemacht;<br />
was da war, muß gescharrt (<strong>und</strong> verschafft) sein. Ich fand nur zwischen<br />
Felshängen im Geröll die Steinbrech-Draperien ihrer Weißpappelnacht<br />
(zu Schluch’z, mit Urnen, ungefüllt aus blanker Minze, Amaranth) mit<br />
Schmetterlingen kahler Hangalm <strong>und</strong> Distelfalter (Kohlweißlinge, einzwei<br />
Eulchen, geflogene Zünsler); emmern kleine Grasameisen <strong>und</strong><br />
flugunfähige Raupen-Fellwänste oder, Junigrün, wie Florgoldfliegen fast<br />
Fühlchen- <strong>und</strong> Rüsselfüßler verkümmerter Löcher in Asseln: eine biß<br />
mir (mit ihren Sichel-Kiefern) ihr Gift in den Finger, daß Arm <strong>und</strong><br />
Handrücken binnen einer St<strong>und</strong>e wulstdick aufschwollen blauen <strong>und</strong><br />
bald nachher diese Drüsen Hautkissen <strong>und</strong> Haare schmerzten; erst zwei<br />
Tage später ließen die Borsten Sporen. Ich baute die Treillage auf, <strong>und</strong>,<br />
sowie ich im Zelt sitzte, schwätzen die Geschwader (<strong>und</strong> waten). Ich<br />
verblüffe, <strong>und</strong> es singt <strong>und</strong> surrt in den Drähten der Festzeltplane, dann<br />
calmt die Schar <strong>und</strong> stelzt zu ihren Brutplätzen (<strong>und</strong> das Zelt interessiert<br />
sie nicht). Jetzt frischt Wind auf <strong>und</strong> rüttelt am Zeltgestell, die Uferläufer<br />
krallen sich geduckt auf ihre Nestmulden, die Kolonie verstummt. Es<br />
heißt, am 20. Jänner 1888 flockt eine Herde Trappen auf der Insel<br />
nieder, auf welche Jagd gemacht wird (mit der Flinte oder, wie<br />
Schlangen, mit Schlagstangen): die Trappen waren infolge heftiger Fröste<br />
am ganzen Gefieder mit Eisschichten bedeckt, die am Rumpf in<br />
förmlichen Zapfen herunterhingen. Sie sollen, heißt es, schreckhaft<br />
abgemagert gewesen sein <strong>und</strong> kaum mehr fähig zu fliegen. Und unter<br />
Eis-Steinen hausten sie als Gespinste in Firnhöhlen grauflaumhaariger<br />
Schneespinnen; davor Affodilllilien wachsen <strong>und</strong> wiegten sich zu<br />
Sommern, ein dichtes Flechtdach verlaubte, Schatten wie Kopftücher oft<br />
auf Kartoffeln, <strong>und</strong> die Fellmützen auf den Zaunhanghauben inzwischen<br />
Schilf <strong>und</strong> – Lieschgras – immer Wind.<br />
- 139 -
6<br />
Die Aussicht kilbt über – vorausgesetzt, das Wetter ist schön (<strong>und</strong> die<br />
Luft durchsichtig). Mein schwarzes ganzes Meer (ist zugefroren) – eine<br />
Dickeisdecke, die sich vom Tuffstrand in die See vorschob (<strong>und</strong> schiebt<br />
noch) – verbirgt sich unter dem Schneefilz. Weit hinter Riß-Barren<br />
Schollen, in die sich Eisvielflache gliedern (<strong>und</strong> lösten), liegt ungr<strong>und</strong><br />
verschimmert offener Grubenkies, <strong>und</strong> von unfern leuchten die so<br />
bauschten quasi, Steinweiß-Bögen überragender – Karpaten? Was dem<br />
Gesicht dort wie dort als verschwommene Linie tüchelt, ist<br />
Festlandküste, die Auge-an-Auge (»diese drei«) Münder der Ister zeigt,<br />
wodurch ihr Strom ins Vormeer brack’t. Ausgedehnte Ösen- <strong>und</strong><br />
Treibeisfelder tschupp’ten langsaum vor zu Böen nach Erstrecktem (sie<br />
sprudelten <strong>und</strong> rieseln). Und die Rauchlinien, die zerfärbten outremer<br />
(morbleu), auf hie <strong>und</strong> da voranstakende Ruck-Tucker überteilt, <strong>und</strong><br />
trudelten (von schmauchten Fährbooten) zu, oder es sind cabotage<br />
Tiefseeschiffe, die von den Flöß-Häfen holzten, so Segeljollen mit zagen<br />
Unseil-Masern ja, aber takelage befrachtet (<strong>und</strong> mit Früchten). Brrr, eisig<br />
fegten Kehrwinde (wie Wirbeltiere tromben) über See <strong>und</strong> Strand, ließen<br />
den Schnee stäuben <strong>und</strong> werften das Meer zu Bucht (<strong>und</strong> verpulverten<br />
Spülsaumlinien). An den Packeiskanten brandete das Wasser <strong>und</strong><br />
vermochte doch nicht, dessen Decke aufzubrechen. Nach Weile stöbern<br />
blinde (<strong>und</strong> glimmende) Schwebschneebienen (<strong>und</strong> versteinerten) in<br />
Schwärmen, schmolzen <strong>und</strong> vertropften zu Schotter (bleiern grauer<br />
Schatten). Nur Lößschollen so Blöcke, die verbrockten untertunkt, sie<br />
Feldern. Dort hokken ungeheure Mantelmöven mit schiefendem Gefieder<br />
<strong>und</strong> Kopfmasken <strong>und</strong> lachen (die Kapuz’ten) Kobolde über alle Molen<br />
<strong>und</strong> verkrallten sich massiv zu Fratzen (mit Händchen <strong>und</strong><br />
Fühlrüsselfüßchen, wie Virgeln). – Ich verrindete in birkweißen Pappeln,<br />
stand mit Achilles (<strong>und</strong> vor allem) Alberbrossen am Ufer des – es heißt so<br />
– Ungewässer des Vergessens (<strong>und</strong> die Erinnerung isterte den Teich).<br />
7<br />
So Unrat-bunt die Conchylie zwischen den Kieseln auch aussieht, den<br />
Fersen behagen die Spitz-Kalksplitter nicht. Ich zähle fünfzehn<br />
zertretenste Schlangengelege, Eier von Ringel-, Sprenkel- <strong>und</strong><br />
Würfelnattern, die Schalen lagen verwüstet (umverstreut) im Areal. Von<br />
der einen Seite der Insel bis gegen deren Mitte (<strong>und</strong> zur Bucht hin),<br />
Bausch <strong>und</strong> Bogen zueinander, Mauerreste, Schutthaufen. Aber mein<br />
Interesse galt besonders den Bienenfresservögeln <strong>und</strong> Blauracken<br />
– <strong>und</strong> den Speiballen der Nestlinge <strong>und</strong> Biester: sie brüten am Nord-<strong>und</strong><br />
Südufer in Steilwänden schroffer Lehmtäler, in Erosionskolkinseln (der<br />
Ister). Auch erste Streifzüge am kommenden Tag enttäuschten: so schön,<br />
wie ich das Elysium in Erinnerung hatte, ist es nicht, es ist – Istrien –<br />
auf dem Karstkalk völlig ausgedörrt. Und Trugspiele <strong>und</strong> Windhimmel<br />
klafften mir aus dem Meer entgegen, dessen Leuchtfläche ich Flutdurchquerte<br />
(schon seit Tagen stand ich am Bug). Mein Atem (ist die<br />
Erinnerung istern, ihr Traum?) bewegte die Seeoberfläche in rieselnden<br />
- 140 -
Kräuseln, wodurch der schlanke Wellenkahn zu Schwank <strong>und</strong> Küste rief,<br />
er führt Bleiweiß Wasser, <strong>und</strong>urchfurcht von Menning-<br />
Schwimmbänderfarben, rote Flammenmeerlinien schnürend, mehr <strong>und</strong><br />
zitternd facettierte Fäden, verharkten sich die Zwirnwerg-Tricotagen<br />
Goldflossen (verflüssigt massivster Wasser). Und dort, wo Himmel <strong>und</strong><br />
Spiegel verklammerten im Litoral, strudeln Fogstriemen, Nebel-blank, so<br />
Wolken-gleich vorauf, dem nahbaren Morgen ein Land (mit Sicht in sich)<br />
zu schwadronieren. Die kleine, kleine Überfahrt gab dem Toben<br />
Fischgründen Boden, worüber lebhaft trollende Seeschwalben scharten,<br />
Wat-Tiere schilpten, … <strong>und</strong> mit kirr’ner, mit Schnabulier-Gier alle Vögel,<br />
alle, auf Flutsch-Fische (die flögen jetzt), tropften, <strong>und</strong> loderten nach<br />
Haus (»zutage«) <strong>und</strong> – zu Talg.<br />
Oswald Egger, geboren 1963 in Lana/Südtirol. Lebt in Wien <strong>und</strong> Hombroich. 1992 Abschluss an der<br />
Universität Wien mit einer Poetik des Hermetischen ("Wort <strong>für</strong> Wort"). 1988-1998 war er Herausgeber<br />
der Zeitschrift Der Prokurist sowie der edition per procura, 1986-1995, <strong>und</strong> Das böhmische Dorf (seit<br />
2003). Früher Veranstalter der "<strong>Kultur</strong>tage Lana", jetzt Koordinator <strong>für</strong> Literatur der Museumsinsel<br />
Hombroich. Eggers Gedichte wurden u.a. ins Französische <strong>und</strong> Amerikanische übersetzt.<br />
Auszeichnungen (Auswahl):<br />
Mondseer Lyrikpreis (1999). Georg-Saiko-Preis (2000). Clemens-Brentano-Preis (2000). Christine-<br />
Lavant-Förderpreis (2001). Förderpreis der Stadt Wien (2001). Fellowship Literatur der Stiftung Insel<br />
Hombroich (2002). Meraner Lyrikpreis (2002 - gemeinsam mit Sylvia Geist). Stipendium des<br />
Deutschen Literaturfonds (2003). Karl-Scuzka-Förderpreis des Südwestfunk, Baden-Baden (2004).<br />
Christian-Wagner-Preis (2006).<br />
Veröffentlichungen (Auswahl):<br />
Die Erde der Rede, Gedicht (1993, Kleinheinrich). Gleich <strong>und</strong> Gleich (1995, Edition Howeg). Blaubarts<br />
Treue (1997, Edition Howeg). Juli, September, August (1997, Edition Solitude). Herde der Rede,<br />
Gedicht (1999, Suhrkamp). Nichts, das ist, Gedichte (2001, Suhrkamp). -broich, Homotopien eines<br />
Gedichts (2003, Edition Korrespondenzen). Room of Rumor, Tunings (2004). Prosa, Proserpina,<br />
Prosa (2005, Suhrkamp).<br />
...<br />
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Rumänien im World Wide Web<br />
Einen Adressüberblick, nach Ländern geordnet,<br />
finden Sie auf unserer Website: www.aurora-magazin.at<br />
Außerdem: eine kommentierte Linkliste zu<br />
...<br />
Investieren in Rumänien<br />
(Investitionsführer <strong>und</strong> Portale, Firmendatenbanken, Reiseinfos, Wirtschafts- <strong>und</strong><br />
Ländernachrichten, Institutionen, Verbände, Messen)<br />
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