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Kakophonie und Selbstorganisation in der digitialen Agora

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H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> gedrängt o<strong>der</strong> gar endgültig elim<strong>in</strong>iert zu werden. Damit steht sie im<br />

Kontrast zu den Massenmedien, wo vergangene Zeitungen <strong>und</strong> Sendungen sehr<br />

rasch deaktualisiert werden <strong>und</strong> <strong>in</strong> schwer zugänglichen Archiven verschw<strong>in</strong>den,<br />

wie auch zum mündlichen Diskurs, wo je<strong>der</strong> Sprecher tendenziell nur auf unmittelbar<br />

vorangehende Voten reagiert. Indem sie ihren Nutzern Informationsbestände<br />

aus verschiedensten Zeiträumen <strong>in</strong> genau <strong>der</strong>selben Weise verfügbar machen,<br />

können Computernetze <strong>der</strong> politischen Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e bisher unbekannte<br />

zeitliche Tiefendimension verleihen, die beispielsweise für die kont<strong>in</strong>uierliche<br />

Akkumulation von Wissensbeständen, die Ausreifung von Argumentationsstrukturen,<br />

die Rückbeziehung auf frühere geschichtliche Perioden <strong>und</strong> die Inganghaltung<br />

e<strong>in</strong>er eigenen Systemevolution genutzt werden kann. kann. Typischerweise<br />

verlangen Onl<strong>in</strong>e-Diskurse (idealiter) e<strong>in</strong>e gesteigerte rezeptive Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> Reaktionsbereitschaft, <strong>in</strong>sofern (im Vergleich mit mündlichen Diskussionen)<br />

weniger voraussehbar ist, auf welche vorangegangenen Kommunikationen Votanten<br />

Bezug nehmen (werden), <strong>und</strong> die für orale Kommunikationsflüsse charakteristischen<br />

l<strong>in</strong>earen Abläufe werden durch komplexere Vernetzungen ersetzt, <strong>in</strong>dem<br />

Voten simultan auf mehrere bisherige Voten Bezug nehmen, sie durch Collage<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Synopsis br<strong>in</strong>gen o<strong>der</strong> durch Zusammenfassung auf e<strong>in</strong>e neue Generalisierungsstufe<br />

heben.Im politischen Diskurs s<strong>in</strong>d vor allem die Zuwächse an Sozialkontrolle<br />

bedeutsam, die beispielsweise dadurch entstehen, dass Votanten für<br />

alles, was sie früher gesagt haben, ad <strong>in</strong>f<strong>in</strong>itum haftbar gemacht werden <strong>und</strong> damit<br />

die frühere Freiheit verlieren, straflos <strong>in</strong>konsistent zu se<strong>in</strong> o<strong>der</strong> gar zu völlig neuartigen,<br />

gegensätzlichen Standpunkten überzuwechseln. Diese erbarmungslose<br />

Netzkontrolle wurde erstmals 1995 im «Presidential Memory Project» des amerikanischen<br />

«National Public telecomput<strong>in</strong>g Network» realisiert, das den Zweck hatte,<br />

alle Dokumente über Präsident Cl<strong>in</strong>ton (se<strong>in</strong>e Laufbahn, se<strong>in</strong>e Wahlkampagne,<br />

se<strong>in</strong>e Amtsführung usw.) zu aggregieren <strong>und</strong> während se<strong>in</strong>er gesamten Amtszeit<br />

abrufbar zu halten (Geser 1996). Die offensichtliche Absicht <strong>der</strong>artiger «monitor<strong>in</strong>g<br />

systems» besteht dar<strong>in</strong>, amtierende Politiker zu e<strong>in</strong>er erhöhten «Selbsttreue» <strong>und</strong><br />

zeitlichen Konsistenz ihrer Ansichten <strong>und</strong> Verhaltensweisen zu verpflichten bzw.<br />

sie im Falle von Abweichungen unter e<strong>in</strong>en schärferen Begründungszwang zu setzen.<br />

Falls sich <strong>der</strong>artige Bewertungskriterien durchsetzen, könnten Politiker leicht<br />

an <strong>der</strong> Praktizierung an<strong>der</strong>er geschätzter Tugenden geh<strong>in</strong><strong>der</strong>t werden: etwa <strong>der</strong><br />

Bereitschaft, sich ungeachtet <strong>der</strong> Vergangenheit immer wie<strong>der</strong> neu an aktuelle<br />

Problemlagen, politische Stimmungslagen im Lande etc. zu adaptieren.<br />

Generell stehen solch konservierende E<strong>in</strong>flüsse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spannungsvollen Verhältnis<br />

zur wachsenden Differenzierung <strong>der</strong> Lebensphasen <strong>und</strong> zur Dynamisierung<br />

mo<strong>der</strong>ner Biographien, die zunehmend Raum for<strong>der</strong>n, um sich im Interesse e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>novativen Neubeg<strong>in</strong>ns vom Ballast persönlicher Vergangenheiten zu befreien.<br />

Hans Geser www.medienpaed.com > 31.5.2012<br />

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