28.10.2013 Aufrufe

Kakophonie und Selbstorganisation in der digitialen Agora

Kakophonie und Selbstorganisation in der digitialen Agora

Kakophonie und Selbstorganisation in der digitialen Agora

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

aktionen «[because they] lack the responsibility of an actual bodily commitment».<br />

So fehlt ihnen <strong>der</strong> dauernde Feedback missbilligen<strong>der</strong> Blicke, die physisch anwesende<br />

Sprecher davon abhält, endlos o<strong>der</strong> <strong>in</strong> fe<strong>in</strong>dseliger Weise zu sprechen<br />

(Bregman <strong>und</strong> Koay 2000): mit <strong>der</strong> Folge, dass aus Mangel an horizontaler Sozialkontrolle<br />

potente Mittel zentralistischer Steuerung («Mo<strong>der</strong>ation») notwendig<br />

s<strong>in</strong>d, um überbordende Post<strong>in</strong>gs o<strong>der</strong> rücksichtslose «Flam<strong>in</strong>gs» zu unterb<strong>in</strong>den.<br />

Dank <strong>der</strong> grossen Relevanz <strong>in</strong>ternal-subjektiver Faktoren hängt das virtuelle wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

stärker als das realweltliche Kommunikationsverhalten von subjektiven<br />

Dispositionen <strong>und</strong> Fähigkeiten ab, die <strong>der</strong> pädagogischen Formung zugänglich<br />

s<strong>in</strong>d: z. B. von <strong>der</strong> erfolgreichen E<strong>in</strong>sozialisierung e<strong>in</strong>er «Netiquette», die auch<br />

ohne dauernde Beobachtung durch an<strong>der</strong>e (d. h. auf <strong>der</strong> Basis re<strong>in</strong>er «Innenlenkung»)<br />

h<strong>in</strong>reichend funktioniert, o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> vorgängigen Schaffung von Lernbereitschaften,<br />

die <strong>in</strong> hohem Masse bestimmen, ob <strong>und</strong> <strong>in</strong> welchem Umfang man das<br />

Internetsurfen für den Wissenserwerb (anstatt z. B. bloss für unterhaltende Zwecke)<br />

nutzt (Delli Carp<strong>in</strong>i <strong>und</strong> Scott 2002). Das Internet erhöht den Grad, <strong>in</strong> dem das<br />

Wissen <strong>und</strong> Können e<strong>in</strong>es Menschen alle<strong>in</strong> von se<strong>in</strong>en subjektiven Motivationen<br />

<strong>und</strong> Interessen abhängig ist: eben weil objektiv-physische, situative Bed<strong>in</strong>gungen<br />

an Bedeutung verlieren. Wer politisch <strong>in</strong>teressiert ist, wird das Netz produktiv zur<br />

Ausdehnung se<strong>in</strong>es politischen Wissens nutzen <strong>und</strong> sich damit immer stärker von<br />

politisch Un<strong>in</strong>teressierten unterscheiden.<br />

All diesen Tendenzen zur Individualisierung waren im frühen Web 1.0 noch dadurch<br />

Grenzen gesetzt, dass (z. B. <strong>in</strong> Form von «Home Pages» o<strong>der</strong> «Chat Rooms» etc.)<br />

noch Orte des virtuellen kollektiven Zusammenf<strong>in</strong>dens <strong>und</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaftsb<strong>in</strong>dung<br />

geschaffen worden s<strong>in</strong>d, die sich an <strong>der</strong> Metaphorik des physischen Raumes<br />

orientierten. Demgegenüber hat sich im Web 2.0 mit den «Social Network Sites»<br />

(z. B. Facebook) e<strong>in</strong>e nicht mehr an virtuellen Orten, son<strong>der</strong>n an <strong>in</strong>dividuellen Personen<br />

orientierte Form <strong>der</strong> Vernetzung etabliert. Indem je<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelne sich primär<br />

als Zentrum e<strong>in</strong>es eigenen Fre<strong>und</strong>schaftsnetzwerks def<strong>in</strong>iert, wird e<strong>in</strong>e f<strong>und</strong>amentalere,<br />

schwerer überw<strong>in</strong>dbare Kluft zur Politik geschaffen, die ja immer e<strong>in</strong>e<br />

Überschreitung solch <strong>in</strong>formeller Gruppierungen (<strong>in</strong> Richtung auf verb<strong>in</strong>dlichere<br />

formelle Interaktionen) impliziert.<br />

Durch diese neuen Onl<strong>in</strong>e-Angebote bekommen <strong>in</strong>dividuelle Politiker e<strong>in</strong>en<br />

neuen Kanal, auf dem sie sich direkt auf Augenhöhe mit <strong>und</strong> nicht mehr<br />

im W<strong>in</strong>dschatten ihrer Partei präsentieren können. Sie setzen ihre Agenda<br />

selbst <strong>und</strong> erreichen onl<strong>in</strong>e viel leichter Aufmerksamkeit. Daraus ergeben<br />

sich neben Chancen auch Risiken. Wenn Hubertus Heil (SPD) <strong>und</strong> Cem Özdemir<br />

(Grüne) ihre virtuelle Stimme erheben, dann schenken ihnen mehrere<br />

tausend Menschen Aufmerksamkeit. Bislang konnten Heil auf Twitter <strong>und</strong><br />

Özdemir auf Facebook deutlich mehr Follower <strong>und</strong> Unterstützer (virtuelle<br />

Hans Geser www.medienpaed.com > 31.5.2012<br />

7 / 15

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!