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Guatemala - ein Land des Südens<br />

Studienreise zu den Hintergründen seiner Gegenwart<br />

11. Februar bis 5. März 2006<br />

Leitung:<br />

Barbara Müller, Redaktorin Fijáte<br />

Toni Steiner, Präsident Guatemala Netz Zürich


In Santa María Nebaj<br />

Und ich hatte geglaubt,<br />

dass man die Campesinos zur Erntearbeit<br />

längst nicht mehr auf Lastwagen pfercht.<br />

Heute<br />

hab ich sie wegfahren sehen<br />

in Santa María Nebaj;<br />

samt ihren Hunden,<br />

samt ihren Hühnern,<br />

samt ihren Flicken<br />

samt ihrer Trauer,<br />

samt ihrem winzigen Stück Hoffnung.<br />

Humberto Ak'abal<br />

Die TeilnehmerInnen der Reise haben Berichte über die Begegnungen der Gruppe mit<br />

Menschen und Organisationen sowie ihre persönlichen Eindrücke in Tagebuchberichten<br />

festgehalten. Dieser Reisebericht möchte ein Stück Erinnerung einer sehr eindrücklichen,<br />

schönen, lehrreichen und manchmal auch bedrückenden Reise sein.<br />

Wir haben die Berichte mit Links, Adressen und mit einem Anhang mit weiterführenden<br />

Informationen zum jeweiligen Thema ergänzt.<br />

Der Bericht kann auch im Internet heruntergeladen werden:<br />

http://www.guatemalanetz.ch<br />

das Redaktionsteam: Barbara und Yvonne<br />

Layout: Piero


Inhalt<br />

Antigua Guatemala (Peter Freybe) ............................................ 12.02.06 S. 1<br />

Auf Columbus' Spuren S. 1<br />

Iximché (Mila Cristóbal) ............................................................ 13.02.06 S. 3<br />

Colomba (Ilse Süsser) ............................................................... 14.02.06<br />

Kirchezentrum Colomba S. 4<br />

Finca Santa Rosa S. 5<br />

Finca Santa Anita S. 5<br />

Tecún Umán (Genviève Bichsel) ................................................. 15.02.06<br />

Casa de la Mujer S. 7<br />

Bananenplantage S. 7<br />

Casa del Migrante S. 8<br />

Concepción Chiquirichapa (Christine Fuchs-Huser) ..................... 16.02.06<br />

Poder local – Treffen mit verschiedenen Organisationen S. 9<br />

Xela: Coordinadora Departamental de Comadronas CODECOT S. 10<br />

San Rafael, San Antonio, San Marcos (Ilse Süsser) ................... 18.02.06<br />

Maisfest in San Rafael S. 11<br />

Gesundheitszentrum San Antonio S. 12<br />

REMHI S. 13<br />

San Marcos ............................................................................. 19. und 20.02.06<br />

Finca Las Delicias (Ann Schwarz) S. 15<br />

Bischof Ramazzini (Peter Freybe) S. 18<br />

San Miguel Ixtahuacán (Peter Freybe) S. 18<br />

Hueheutenango – Sacapulas – Nebaj (Adelheid Honecker) ......... 21.02.06 S. 20<br />

Nebaj (Adelheid Honecker) ......................................................... 22.02.06<br />

Rigoberto Pérez und MitarbeiterInnen S. 21<br />

La Pista S. 22<br />

Xix (Yvonne Joos) ..................................................................... 23.02.06<br />

Asociación de Poblaciones Desarraigadas K'iche S. 25<br />

Asociación de Mujeres para el Desarrollo Integral S. 26<br />

Centro de Formación Nuevos Mayas S. 28<br />

San Bartolomé Jocotenango (Ann Schwarz) .............................. 24.02.06 S. 30<br />

Chichicastenango (Yvonne Joos) ............................................... 25.02.06<br />

Pastoral de la Tierra Quiché S. 31<br />

Lago Atitlán, Panabaj (Barbara Müller) ...................................... 26.02.06<br />

Asociación Maya Neuvo Sembrador S. 29<br />

Sololá (Mila Cristóbal) ............................................................... 27.02.06<br />

Hurrican Stan - Luis Palacios S. 36<br />

Petén (Yvonne Joos) ................................................................. 28. und 29.02.06<br />

CPR Santa Rita S. 38<br />

Alianza por la Vida y la Paz S. 40<br />

Guatemala Stadt ..................................................................... 1. – 4. 03.06<br />

CAFCA (Yvonne Joos) S. 35<br />

De Víctimas a Actoras del Cambio (Yvonne Joos) S. 43<br />

Archive der Nationalen Polizei (Barbara Müller) S. 47<br />

Schweizer Botschaft (Peter Freybe) S. 50<br />

ACOGUATE (Yvonne Joos) S. 51<br />

Centro de Estudios de Guatemala (Yvonne Joos) S. 53


11. 02. 06: Der 1. Tag auf Columbus’ Spuren<br />

Nach langer gründlicher Vorbereitung (wie wir<br />

auf Schritt und Tritt erstaunt und dankbar bemerken),<br />

treffen wir uns am 1<strong>1.2</strong>.2006 in Zürich<br />

auf dem Flughafen. Toni empfängt uns,<br />

wir checken ein bei Iberia. Und dann sind wir<br />

schon in Madrid. Was Christoph Columbus im<br />

Auftrag des spanischen Königs 1492 unternahm<br />

– auf einem langen Seeweg Amerika zu<br />

entdecken! –, dazu traten wir (unsere auf 10<br />

Personen geschrumpfte Gruppe) auf Einladung<br />

von Toni und Barbara an, um unsere Entdeckungs-<br />

und Studienreise nach Guatemala zu<br />

12. 02. 06: Ein Tag in Antigua<br />

«Die größte Sache seit der Erschaffung der Welt und<br />

seit der Fleischwerdung und dem Tod Christi am<br />

Kreuz ist die Entdeckung Indiens; deshalb nennt<br />

man es auch neue Welt, und man nennt es nicht nur<br />

deshalb ‹neu›, weil es neu entdeckt ist, sondern<br />

weil es von riesiger Ausdehnung ist, fast so groß wie<br />

die Alte Welt, die Europa, Afrika und Asien umfasst.»<br />

(Francisco Lopez de Gomara, 1522<br />

– nachzulesen bei Mila)<br />

Wir erleben in Antigua<br />

eine Stadt europäischen,<br />

besonders spanischen<br />

Zuschnitts. Wir kommen<br />

also wie Columbus von<br />

Osten her hier im Westen<br />

an. Was werden wir entdecken<br />

auf den Spuren<br />

der conquistadores, der<br />

Eroberer dieses schönen<br />

Erdteils? Mit Pferden und<br />

Schiesseisen waren sie<br />

gekommen, haben die<br />

Ureinwohner der indianischen<br />

Stämme als interessante<br />

Fremde beeindruckt,<br />

haben die Missionare<br />

nachkommen lassen<br />

– bis schliesslich die<br />

menschenverachtende<br />

Unterdrückung und Ausrottung<br />

grosser Teile der<br />

indigenen Bevölkerung<br />

das Ergebnis und der<br />

grausame Erfolg der<br />

«Mission» derer war, die aus Madrid gekommen<br />

waren. Werden wir auch Spuren von Bartolome<br />

de Las Casas wieder finden?<br />

1<br />

unternehmen. 6.15 Uhr treffen wir uns in Kloten<br />

auf dem Flug- (nicht See-) Hafen. Kurzbesuch<br />

und Zwischenstation ist in der Heimat<br />

des Columbus in Madrid. Gegen 23 Uhr landeten<br />

wir in Guatemala-City – sicher gestartet,<br />

gut geflogen, ordentlich gelandet. Zu unserer<br />

Freude empfängt uns Barbara, die Land und<br />

Leute so gut kennt und unsere sachkundige<br />

und engagierte Begleiterin wird. Antonio, der<br />

unser treuer ortskundiger Chauffeur sein wird,<br />

ist auch schon da. Und los geht’s in die Nacht<br />

bei Vollmond nach Antigua.<br />

Was für seltsame Nachfahren sind wir auf dem<br />

Weg von Madrid hierher? Was wollen wir hier?<br />

Wie werden wir dem Erbe der spanischen Eroberer<br />

und dem Erbe der immer noch unterdrückten<br />

indigenen Völker begegnen?<br />

Antigua – 1543 gegründete Stadt, die bald zur<br />

Kolonialhauptstadt wurde. Am 26.7.1773 zerstörte<br />

ein schweres Erdbeben die Stadt vernichtend.<br />

Im ehemaligen Dominikaner-Kloster<br />

Santo Domingo<br />

(heute ein vornehmes<br />

Luxus-Touristen-Hotel) erinnert<br />

uns Toni an die Geschichte.<br />

Francisco Antonio<br />

De Fuentes y Guzman<br />

schrieb im 17. Jahrhundert<br />

mit bewegten Worten über<br />

die Schönheit und Fruchtbarkeit<br />

des Landes.<br />

Die «Kreuzzüge» der conquistadores<br />

hatten in Antigua<br />

zur Errichtung und Blüte<br />

von ca. 50 Kirchen und Klöstern<br />

(!) geführt. Heute sehen<br />

wir neben der nur teilweise<br />

wieder hergerichteten Kathedrale<br />

überall in der Stadt<br />

markante Zeugnisse alter<br />

Pracht: riesige Kirchenruinen<br />

immer wieder zwischen den<br />

kleinen nach spanischem<br />

Muster errichteten eingeschossigen<br />

Häuserzeilen. Der<br />

Vulkan Agua am Rande der<br />

Stadt hat bestimmt, dass die Häuser zu allermeist<br />

nur eingeschossig «erdbebensicher» gebaut<br />

sind. 1976 wurde die Stadt freilich erneut


Opfer eines verheerenden Erdbebens. Wie im<br />

Planquadrat am Reißtisch konzipiert, ist die<br />

Stadt nun längst zu einem Touristenzentrum,<br />

seit 1979 Weltkulturerbe der UNESCO, geworden.<br />

Und es zeichnet sich schon heute ab: Antigua<br />

ist eine wohlhabende Enklave in einem<br />

bitterarmen Land.<br />

Und was mir am ersten Tag noch aufgefallen<br />

ist:<br />

• eine wunderschöne Natur und Landschaft<br />

mit bunten Blütenbäumen;<br />

• die Fülle von Früchten auf dem großen<br />

bunten Markt;<br />

2<br />

• die Polizei private Sicherheitsleute als<br />

«kleine Jungens» überall mit Gewehr<br />

im Anschlag präsent;<br />

• die Mütter mit den kleinen Kindern auf<br />

den Armen sind selbst noch kleine Mädchen;<br />

• es gibt so viele Kinder auf den Straßen<br />

überall.<br />

Abschied in Antigua mit Blick von der Klosterruine<br />

über die Dächer der Stadt:<br />

Was wäre die Welt ohne die Entdeckung des<br />

Columbus ?<br />

Was wäre die Welt ohne Klöster ?


13. 02. 06: Antigua - Iximché - Santa Anita<br />

Salimos de Antigua hacia Iximche, la capital<br />

de los Kaqchikeles antes de la llegada de los<br />

españoles y escenario de la brutal conquista y<br />

aplastamiento de la resistencia quiché por Pedro<br />

de Alvarado. Las ruinas de Iximche en un<br />

paisaje apacible y bellísimo se presentan bien<br />

conservadas. Los paneles de información con<br />

ilustraciones facilitan el recorrido al visitante.<br />

Dentro del parque existen altares mayas: sencillos<br />

redondeles de cemento, con una pequeña<br />

concavidad en el centro donde la población<br />

indígena realiza sus ceremonias. Se<br />

ofrendan flores, frutos, productos de las cosechas<br />

y bebidas. Hay sacerdotes mayas. Todo<br />

ello, se inscribe en el marco de la política acordada<br />

en los Acuerdos de Paz de respetar y recuperar<br />

la cultura indígena.<br />

Sotero uno de los responsables de la conservación<br />

del parque arqueológico, pausado y<br />

competente, nos informa de las dificultades de<br />

su tarea. Por una parte, hay que combatir las<br />

plagas que atacan a los pinos; por otra, educar<br />

a la población para proteger el medioambiente<br />

porque la limpieza y cuidado del bosque son el<br />

mejor medio de frenar la invasión de los<br />

parásitos. Una vez desarrollada la enfermedad<br />

es la tala de los ejemplares afectados el único<br />

medio de impedir su propagación. En lo que<br />

respecta a la colaboración de la población, Sotero<br />

señala contradicciones como que la gente<br />

3<br />

se oponga, por una parte, a la tala de árboles<br />

y, por otra se abandonen descuidadamente basuras<br />

en el entorno. La municipalidad de<br />

Tecpan ha editado un sencillo folleto que informa<br />

con precisión sobre los mecanismos de<br />

propagación. También se han repartido bolsas<br />

para recoger la basura, pero hasta ahora los<br />

resultados dejan mucho que desear.<br />

En mi opinión, se plantea el reto de cómo lograr<br />

que la consideración de la naturaleza<br />

como sagrada en la cultura maya, se traduzca<br />

en una protección efectiva del medio ambiente.<br />

Para comer viajamos hasta el Restaurente El<br />

Pedregal, donde tomamos contacto con una<br />

cooperativa de tejedoras.<br />

Por la tarde llegamos a Santa Anita, la plantación<br />

de café propiedad (aunque muy hipotecada)<br />

de un grupo de exguerrilleros. La tierra<br />

olía divinamente y, en mi opinión, la cena fue<br />

sencilla pero fantástica. Nos alojamos en la<br />

antigua casa patronal, reconvertida en alojamiento<br />

turístico. La casa tiene posibilidades,<br />

aunque no debidamente explotadas, cara a<br />

implantarse como alojamiento de turismo rural<br />

que es lo que desean los dueños. La gente cordialísima.


14. 02. 06: Colomba, Santa Rosa, Santa Anita<br />

Kirchenzentrum Colomba<br />

Die Hähne auf der Finca Santa Anita wecken<br />

uns schon um 3 Uhr am Morgen zum ersten<br />

Mal. Nach einem wunderbaren Frühstück<br />

chauffiert uns Antonio nach Colomba in das<br />

dortige Kirchenzentrum. Wir werden zunächst<br />

von Schwester Armelina begrüsst, die uns das<br />

Gesundheitszentrum mit seinen Behandlungsräumen,<br />

der Apotheke und den zwei Büros<br />

zeigt. Im Vorraum warten Leute auf einer<br />

Bank, bis sie aufgerufen werden. Sie selbst ist<br />

zusammen mit einem Arzt für die Naturheilkunde<br />

zuständig. Die Apotheke ist öffentlich,<br />

d.h. Leute aus dem Ort können kommen und<br />

Medikamente einkaufen, allerdings muss vorher<br />

die Diagnose und Behandlungsart (ob Naturmedizin<br />

oder herkömmliche Medikamente)<br />

der PatientInnen geklärt sein. Ausserdem werden<br />

hier Kurse in Gesundheitserziehung und -<br />

aufklärung abgehalten. Ein Regal mit vielen<br />

getrockneten Kräutern unterschiedlicher Art<br />

hat mich sehr beeindruckt.<br />

Im Anschluss besuchen wir noch kurz die Kirche<br />

und treffen dort Padre Leoni, den zuständigen<br />

Pfarrer, der erst seit kurzer Zeit hier ist.<br />

Wir unterhalten uns mit ihm über den schwarzen<br />

Christus, der uns in einer Nische der Kirche<br />

aufgefallen ist. Die Kirche selbst ist erst<br />

ca. 50 Jahre alt und wirkt ziemlich nüchtern<br />

und kahl.<br />

Danach gehen wir zu Fuss zu einem weiteren<br />

Projekt, das durch die Initiative der Kirchengemeinde<br />

entstanden ist: in eine Bäckerei. Herrlicher<br />

Duft nach frischem Brot empfängt uns,<br />

und sehr fotogen steht eine der dort arbeiten-<br />

4<br />

den Frauen an einem Tisch und beginnt Teig<br />

für neues Brot zu mischen und zu kneten.<br />

Hermelinda und Isabel Perez, die beiden Frauen,<br />

berichten uns von dem Werdegang des<br />

Projekts. Der Vorschlag, mit dieser Arbeit zu<br />

beginnen, kam von Schwester Armelina, sie<br />

hatte die Idee, Brot, das mit Sojamehl zur<br />

besseren Eiweissversorgung angereichert ist,<br />

herzustellen.<br />

Drei Jahre dauerte die Einarbeitungsphase. In<br />

der ersten Zeit arbeiteten 30 Frauen in nur<br />

kurzen Schichten mit. Jetzt sind es noch fünf,<br />

diese arbeiten Vollzeit in Schichten. Die anderen<br />

sind ausgeschieden, da das Gehalt nicht<br />

ausreichte, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.<br />

Im Augenblick genehmigen sich die<br />

Frauen einen monatlichen Betrag von 200<br />

Quetzales. Einige Jugendliche, die von der Kirchengemeinde<br />

bezahlt werden, helfen ebenfalls<br />

mit. Gebacken wird pan frances, pan dulce<br />

und verschiedene Spezialbrötchen. Mittwochs<br />

wird mehr produziert, da an diesem Tag<br />

mehrere Frauen aus<br />

den umliegenden Dörfern<br />

in ihren Gemeinden<br />

Brot verkaufen und<br />

so einen kleinen Zwischengewinn<br />

für sich<br />

erwirtschaften können.<br />

Am Donnerstag wird<br />

nicht gebacken, da an<br />

diesem Tag die wöchentliche<br />

Teamsitzung<br />

stattfindet.<br />

Anfänglich waren sie in<br />

einem gemieteten<br />

Häuschen mit Backofen,<br />

das einem Bäcker<br />

gehört, untergebracht.<br />

Inzwischen konnten sie<br />

mit Hilfe einer Stiftung<br />

von ausserhalb dieses<br />

Haus erwerben. Verkauft<br />

wird in einem Laden im Ort, aber ob sie<br />

dort auf Dauer bleiben können, ist noch nicht<br />

gesichert. Das Restbrot wird gemahlen, mit<br />

Soja und Mais angereichert und als Grundstoff<br />

für ein Atol-ähnliches Getränk angeboten. In<br />

der ersten Zeit half das Büro im Gemeindezentrum<br />

bei der Buchhaltung, Einkäufen etc. Inzwischen<br />

arbeitet eine Frau dort und die Gruppe<br />

ist selbstständig. Im Anschluss an unseren<br />

Besuch bekommen wir noch einen wunderbaren<br />

Saft und dazu selbstgebackene Biskuitrolle<br />

angeboten.


Finca Santa Rosa<br />

Als Nächstes steht auf dem Programm ein Besuch<br />

auf der Finca Santa Rosa Nueva. Wir werden<br />

von mehreren Mitgliedern an einer langen<br />

Tafel zum Mittagessen empfangen. Herlindo<br />

Chamorro, der Vorsitzende der Junta Directiva,<br />

und die anderen Anwesenden berichten uns<br />

von den Problemen, die es hier gibt. 450 Familien<br />

mit ca. sieben Personen pro Familie leben<br />

hier seit 19 Jahren auf relativ kleiner Fläche.<br />

Sie wurden damals entlassen, weil sie eine<br />

Lohnerhöhung gefordert hatten.<br />

Gesetzlich ist festgelegt, dass jeder, der entlassen<br />

wird eine Wiedergutmachung bekommt.<br />

In ihrem Fall überliess der Finquero ihnen ein<br />

Stück Land, dessen Grösse sich jeweils nach<br />

der Dauer der Arbeitszeit richtete. Es ist jedoch<br />

so klein, dass die Familien nicht davon leben<br />

können. Die Kaffeekrise trug das ihrige<br />

dazu bei.<br />

So migrierte ein Teil der Arbeiter nach Mexiko.<br />

Doch auch dort ist das Gehalt niedrig, das Essen<br />

ist schlecht und die Arbeit ist nicht besser.<br />

Beschäftigung ausserhalb zu finden ist schwierig,<br />

es ist höchstens möglich, auf den Kartoffelplantagen<br />

in der Umgebung als Taglöhner<br />

etwas dazu zu verdienen. Einige arbeiten auf<br />

der bisherigen Finca, für 21 Q. pro Tag, aber<br />

ohne Sozialversicherung. Frauen verdienen die<br />

Hälfte, der staatlich<br />

festgelegte Mindestlohn<br />

beträgt 37 Q. GewerkschaftlicheOrganisation<br />

wird systematisch<br />

verhindert.<br />

Es gibt eine Schule, der<br />

Weg nach Colomba<br />

wäre für die Kinder zu<br />

weit und zu gefährlich.<br />

Unterstützung bekommen<br />

die Leute von der<br />

Kirchengemeinde in<br />

Colomba. Vor allem für<br />

die Frauen gibt es Ernährungsberatung<br />

und<br />

Nahrungsmittelhilfe, da<br />

viele Kinder unterernährt<br />

sind. Weiterbildungen,Impfprogramme<br />

und praktische Unterweisungen<br />

im Umgang mit Kindern und Jugendlichen<br />

finden ebenfalls statt. An diesen<br />

Programmen nehmen 30 Frauen teil. Ein Gesundheitszentrum<br />

gibt es nur in Colomba.<br />

Hebammen, die auch in Colomba ausgebildet<br />

werden, leben auf der Finca.<br />

Neben der katholischen Kirche gibt es hier elf<br />

5<br />

verschiedene evangelikale Sekten. Hier wurde<br />

uns deutlich, was diese «Kirchen» in Guatemala<br />

anrichten: Die Menschen reden nicht mehr<br />

miteinander, und es gibt durch diese Spaltungen<br />

in den Gemeinden viel Misstrauen und Gewalt.<br />

Eine Doktrin heisst: «Man darf sich nicht<br />

organisieren.» Heilung von Krankheiten erfolgt<br />

über das Gebet, nicht mit Hilfe eines Arztes.<br />

Die Prediger locken die Menschen erst mit Geschenken<br />

in die Kirchen und anschliessend,<br />

wenn sie Mitglieder sind, müssen sie den<br />

«Zehnten» bezahlen. Das einzig Gute mag<br />

vielleicht das Verbot sein, Alkohol zu konsumieren.<br />

Jedenfalls stellten wir fest, dass diese<br />

Sekten das fertig bringen, was die Conquista<br />

nicht geschafft hat: Sie spalten die Bevölkerung<br />

und verhindern das gemeinsame sich<br />

Wehren gegen Ungerechtigkeit und Repression.<br />

Im Anschluss besuchen wir noch die unterhalb<br />

liegende Finca La Rosaria Bola de Oro, bestaunen<br />

dort mit gemischten Gefühlen den Garten<br />

des Finqueros mit Schwimmbad, gepflegtem<br />

Rasen, die Anlage mit allerlei Früchten, z.B.<br />

Macadamianüssen, Riesenzitronen etc,. einem<br />

Teich und natürlich dem grossen Haus, in dem<br />

nur selten jemand wohnt. Gegenüber liegen<br />

die Minihäuser für die Fincaarbeiter und ihre<br />

Familien.<br />

Finca Santa Anita<br />

Nach der Rückkehr nach Santa Anita haben wir<br />

noch Gelegenheit, mit einer der Bewohnerinnen<br />

einen Gang durch die Pflanzungen zu einem<br />

Mirador zu machen und erfahren sowohl<br />

bei diesem Spaziergang als dann auch am<br />

Abend von Marconi und Clara etwas über die


Entstehung dieser Kooperative, und auch über<br />

die Visionen, die sie für die Zukunft haben.<br />

Etwa 130 ehemalige Guerilleros/-as fanden<br />

sich nach der Demobilisierung im Jahr 1998<br />

zusammen und beschlossen, sich gemeinsam<br />

auf einem Stück Land niederzulassen. Sie erwarben<br />

diese Finca, die seit acht Jahren nicht<br />

mehr bewirtschaftet wurde und entschieden<br />

sich dafür, hier biologischen Kaffee anzubauen.<br />

Gleichzeitig traten sie einer Organisation von<br />

kleinen Maya-ProduzentInnen bei.<br />

Die Finca kostete 2'063'000 Quetzales, sie ist<br />

1'500 Cuerdas (67'500 ha) gross. In den ersten<br />

fünf Jahren mussten keine Zinsen und<br />

auch keine Tilgung bezahlt werden, inzwischen<br />

sind jährlich 12% Zinsen fällig. Zunächst lief<br />

der Kaffeeexport über den fairen Handel gut.<br />

Inzwischen gibt es Probleme wegen der Kaffeekrise.<br />

Durch den Anbau von billigem und<br />

minderwertigem Kaffee in Vietnam, der den<br />

Weltmarkt überflutet, haben sich die Absatzmöglichkeiten<br />

verschlechtert, und an eine Tilgung<br />

des Darlehens ist im Augenblick nicht zu<br />

denken. Als nächstes droht das Schreckgespenst<br />

der Freihandelszone.<br />

Dazu kamen interne Probleme in der Gruppe.<br />

Zunächst bewirtschafteten alle das ganze Land<br />

gemeinsam. Mit der Zeit bekamen einige Mitglieder<br />

gut bezahlte Arbeit ausserhalb und<br />

pflegten das ihnen zugeteilte Land nicht mehr,<br />

d.h. andere mussten für sie arbeiten. Das<br />

führte zu Uneinigkeiten. Und vor allem durch<br />

ein Mitglied wurde erreicht, dass das ganze<br />

Land nach bestimmten Kriterien parzelliert<br />

wurde. Vermarktet wird weiterhin gemeinsam,<br />

aber jede Familie kann nun entscheiden, wie<br />

viel sie anbauen will. Uns schien diese Entwicklung<br />

der Anfang vom Ende zu sein. So<br />

6<br />

werden z.B. durch Vererbung die einzelnen<br />

Parzellen immer kleiner und es stellt sich die<br />

Frage, ob das ursprüngliche Gemeinschaftsprojekt<br />

nicht zum Scheitern verurteilt ist. Ausserdem<br />

müsste die Kaffeepflanzung dringend<br />

verjüngt werden, doch dazu fehlt das Kapital.<br />

Es gibt inzwischen Überlegungen, in den Anbau<br />

von Gemüse einzusteigen. Bananen werden<br />

für die Vermarktung im Inland angebaut,<br />

ausserdem züchten sie seit einiger Zeit einen<br />

Baum namens Palo blanco, der ein besonders<br />

hartes Holz liefert, das zur Herstellung von<br />

Möbeln und zum Hausbau geeignet ist.<br />

Ein weiterer Plan besteht darin, ein Ökotourismus<br />

-Projekt zu starten. Der Gedanke dabei<br />

ist, TouristInnen, die in Xela eine Sprachschule<br />

besuchen, zu einem Aufenthalt auf der Finca<br />

zu motivieren. Sie sollen das Leben hier kennen<br />

lernen, evtl. mitarbeiten, und in dem bis<br />

jetzt noch nicht optimal ausgestatteten Gästehaus<br />

untergebracht werden. Auch dieser Gedanke<br />

schien uns wegen der Abgelegenheit der<br />

Finca und dem schlechten Zufahrtsweg recht<br />

illusionär.<br />

Die Finca hat eine eigene Basisschule und seit<br />

zwei Jahren eine Sekundarschule. Es gibt einen<br />

Lehrer und eine Lehrerin. Im Kindergarten<br />

arbeiten zwei Mütter und eine Erzieherin. Ausserdem<br />

gibt es einen Gesundheitspromotor mit<br />

einer kleinen Apotheke und eine Tienda, in der<br />

das Notwendigste angeboten wird.<br />

Ich fühlte mich in den Tagen bzw. Nächten,<br />

abgesehen von einigen Magenproblemen,<br />

recht wohl und hätte gerne noch mehr Zeit gehabt,<br />

die Umgebung kennen zu lernen.<br />

-> E-Mail: cafeorgsantaanita@hotmail.com


15. 02. 06: Tecún Umán<br />

Casa de la Mujer, Bananenplantage, Casa del Migrante<br />

Casa de la Mujer<br />

Über die Ruta Pacífica, die Hauptverkehrsachse<br />

Mittelamerika/Mexiko/USA, gelangen wir nach<br />

Tecún Umán, der Grenzstadt zu Mexiko. Vorbei<br />

an Plantagen (Palmöl, Papaya, Mango, Tabak,<br />

Gummibäumen), aber auch an einer<br />

grossen Militäranlage, die düstere Erinnerungen<br />

an Verfolgung, Folter und Tod weckt, geht<br />

die Fahrt.<br />

In Tecún Umán besuchen wir als erstes die<br />

Casa de la Mujer, ein von Schwestern der Congregación<br />

Oblatas del Santisimo Redentor geleitetes<br />

und von der Caritas Schweiz unterstütztes<br />

Projekt. Hier werden Frauen, die auf<br />

dem Weg in die Migration in Tecún Umán gestrandet<br />

sind und ins Milieu der Prostitution zu<br />

gleiten drohen oder bereits geglitten sind, aufgenommen,<br />

unterstützt und betreut. Erste<br />

Kontakte mit diesen Frauen aus Nicaragua,<br />

Honduras, El Salvador und Guatemala werden<br />

von den Schwestern Angelica und Norma in<br />

der Stadt, in den Bars, in den entsprechenden<br />

Etablissements geknüpft. Behutsam wird Vertrauen<br />

aufgebaut und Beratung angeboten.<br />

Im Centro de Salud erhalten die Frauen Informationen<br />

und Unterstützung in gesundheitlichen<br />

Fragen, in der Vorsorge, werden über<br />

Aids und die gesundheitlichen Risiken auf der<br />

Strasse aufgeklärt. Im Centro de Capación<br />

werden die Frauen über ihre Rechte informiert<br />

(grundlegende Menschenrechte, Schutz von<br />

Minderjährigen, Misshandlungen, Ausbeutung),<br />

erhalten psychologische Unterstützung und<br />

sollen für ihre ganz persönliche Stärke und<br />

7<br />

Würde sensibilisiert werden. Dazu gehören<br />

auch die Ausbildungen, z.B. das Alphabetisierungsprogramm<br />

und die Ausbildung zur Coiffeuse<br />

oder Schneiderin, die das Zentrum den<br />

Frauen anbietet. Mit dem Verkauf selbsthergestellter<br />

Putzmittel wird zur Finanzierung etwas<br />

beigetragen.<br />

So gestärkt verlassen die Frauen das Zentrum<br />

nach durchschnittlich<br />

ein bis zwei Jahren,<br />

selbstbestimmter und<br />

freier als zuvor. Einige<br />

Frauen entschliessen<br />

sich für den Weg weiter<br />

in die Migration<br />

oder auch für den<br />

Weg zurück in die<br />

Prostitution. Für viele<br />

andere aber bedeutet<br />

der Weggang der Beginn<br />

eines neuen Lebens<br />

im Heimatland<br />

oder hier, mit einem<br />

Beruf, mit einem erstarktenSelbstbewusstsein<br />

und neuen<br />

inneren und äusseren<br />

Fähigkeiten.<br />

-> E-mail:casadelamujer@intelnett.com<br />

Bananen, Bananen<br />

Anschliessend folgt ein eindrücklicher Besuch<br />

in einer Bananenplantage, deren Bananen für<br />

Chiquita bestimmt sind. Nach ausgeklügeltem<br />

zeitlichem System werden die Bananenblüten<br />

nach dem Heranreifen von 5 bis 6 Bananenstauden<br />

abgeschnitten (55 Tage), die Bananenstauden<br />

gewaschen, nach Grösse und Güte<br />

aussortiert (Kompost, Viehfutter, Inland, Export),<br />

zur Reiferetardierung chemisch behandelt<br />

und in den bekannten Bananenschachteln<br />

verpackt. Diese Plantage exportiert vornehmlich<br />

in die USA, wo die Früchte in den Lagerhallen<br />

wiederum chemisch behandelt werden,<br />

um den Reifungsprozess erneut in Gang zu<br />

bringen.<br />

Die Arbeit in den Plantagen und in den Verarbeitungshallen<br />

ist anstrengend und intensiv.<br />

Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden angehalten,<br />

sich mit Schutzkleidern und Handschuhen<br />

vor den chemischen Zusätzen zu schützen,<br />

doch die Haut mancher Hand zeugt da-


von, dass die Umsetzung der Vorschriften nicht<br />

allzu genau genommen wird. Unter grossem<br />

Zeitdruck werden die Bananen aussortiert,<br />

gewogen und im Akkord in die Schachteln verpackt<br />

(18 kg pro Schachtel), in Lastwagen verladen<br />

und in Puerto Barrios und Puerto Quetzal<br />

verschifft.<br />

Casa del Migrante<br />

Autorität und Ausstrahlung ihres Leiters, Padre<br />

Ademar Barilli, prägen die Casa del Migrante.<br />

Nicht zuletzt diesem dem Orden der Scalabriner<br />

angehörenden Brasilianer ist es zu verdanken,<br />

dass die Casa del Migrante hier in Tecún<br />

Umán für die Migrantinnen und Migranten ganz<br />

Mittelamerikas zur Anlauf- und Beratungsstelle,<br />

aber auch zum Ort des Auftankens und kurzen<br />

Innehaltens geworden ist. Im Durchschnitt<br />

werden hier täglich bis zu 120 Menschen aufgenommen,<br />

betreut, über ihre Rechte aufgeklärt,<br />

über die Bedingungen, Gefahren und<br />

Aussichten ihres Migrationsweges informiert.<br />

Jetzt, wo sich Migration und Drogenhandel zu<br />

einem hochexplosiven Gemisch und lukrativem<br />

Geschäft verbinden, wo eine 8000 Mio. Dollar<br />

teure Mauer Migrationswillige abschrecken soll,<br />

ist die Casa oft letzter Zufluchtsort. Hier ist der<br />

Migrant, die Migrantin nicht illegal, sondern<br />

8<br />

papierlos, vor allem aber Mensch mit seiner<br />

unantastbaren Würde. Die MigrantInnen haben<br />

hier ein Dach über dem Kopf, erhalten medizinische<br />

und rechtliche Beratung und müssen<br />

nach spätestens drei Tagen ihren Weg, wohin<br />

er sie auch führen wird, weitergehen.<br />

Das Problem der Migration steht nicht wirklich<br />

auf der politischen Agenda mittelamerikanischer<br />

Staaten. Der Geldfluss, der durch die<br />

Exil-GuatemaltekInnen (12% der Bevölkerung)<br />

nach Guatemala zurückfliesst, ist für den guatemaltekischen<br />

Staat unverzichtbar. Somit ist<br />

es auch gar nicht in seinem Interesse, der<br />

Migration wirksame Massnahmen entgegenzusetzen.<br />

Auch wenn natürlich im Vorfeld des<br />

kurz vor Abschluss stehenden Freihandelsabkommens<br />

mit den USA das Gegenteil beteuert<br />

wird. In Wirklichkeit bedroht dieses unter anderem<br />

die Lebensgrundlagen der campesinos/as,<br />

die mit ihrer bescheidenen Maisproduktion<br />

den Maisexporten des nordamerikanischen<br />

Nachbarn kaum etwas entgegenzusetzen haben<br />

und in ihrem Überleben bedroht sind. Als<br />

möglicher, viel eher unmöglicher Ausweg bietet<br />

sich wiederum die Migration an.<br />

Padre Ademar’s Aufgabe wird nicht einfacher<br />

werden, seine Arbeit nicht weniger, sein Einsatz<br />

noch schwieriger.


16. 02. 06: Concepción Chiquirichapa und Quetzaltenango (CODECOT)<br />

Nach den Kaffeeplantagen von Santa Anita<br />

(700 m ü. M.) geht die Fahrt weiter in die<br />

Höhe, wo bis in die höchsten und steilsten Gebiete<br />

Kartoffeln, Zwiebeln und Kohl angepflanzt<br />

werden. Unser Ziel ist Concepción<br />

Chiquirichapa. Die Gemeinde von Concepción<br />

Chiquirichapa hat ca. 22'000 EinwohnerInnen.<br />

Viele BewohnerInnen emigrieren wegen mangelnder<br />

Verdienstmöglichkeiten.<br />

Der Zweck unseres Besuches ist, zu sehen,<br />

wie sich die Gemeinde von der Basis her organisiert.<br />

Diese Dynamik kam vor allem unter<br />

dem letzten Bürgermeister zustande. Der jetzige<br />

Bürgermeister scheint daran weniger interessiert<br />

zu sein.<br />

Wir werden von Felix Cabrera, Präsident und<br />

Koordinator des kommunalen Radios, auf dem<br />

Marktplatz empfangen. In einem kleinen, kargen<br />

Raum der Radiostation treffen wir VertreterInnen<br />

von verschiedenen lokalen Organisationen,<br />

welche uns ihre Aktivitäten vorstellen.<br />

Kinderrat: Der Kinderrat (Consejo Municipal<br />

Infantil) ist wie ein Verein organisiert. Er wurde<br />

von CEIBA, einer kirchlichen Organisation,<br />

gegründet, welche die Lehrerinnen motivierte,<br />

mit den SchülerInnen verschiedene Themen<br />

(Drogen, Armut, etc.) anzusprechen. Aus dieser<br />

Initiative entstand der Kinderrat, welcher<br />

soziale und sportliche Aktivitäten organisiert.<br />

Der Rat strukturiert sich selber und wird vom<br />

Kinderbürgermeister geleitet. Der «offizielle»<br />

Bürgermeister gibt finanzielle, logistische und<br />

moralische Unterstützung.<br />

Kredit-Kooperative: Die Kooperative ist eine<br />

Organisation, welche den gegenwärtig 800<br />

Mitgliedern aus «Conce» und den umliegenden<br />

Dörfern ermöglicht, ihr Geld in einer Sparkasse<br />

anzulegen und Kleinkredite zu beziehen. Darlehen<br />

können z.B. für Saatgut zu einem Zinssatz<br />

von 1% (Banken 9%) bezogen und nach<br />

der Ernte rückerstattet werden. Das Startkapital<br />

kam von einer anderen Organisation. Heute<br />

ist die Kooperative aber schuldenfrei und<br />

selbsttragend. Für eine Ausweitung ihrer Aktivitäten<br />

wäre sie allerdings froh um mehr<br />

Fremdkapital.<br />

Das Eigenkapital besteht aus den jährlichen<br />

Beiträgen der Mitglieder (socios). Die Darlehenshöhe<br />

hängt von der möglichen Garantie<br />

(Haus, Land, etc.) ab. Dieses Modell der<br />

Selbsthilfe im Bereich Mikrokredite scheint gut<br />

zu funktionieren.<br />

Frauenkomitee: Das Frauenkomitee ist eine<br />

9<br />

private Organisation, die noch keinen Rechtsstatus<br />

hat und deshalb noch keine Projekte<br />

einreichen kann. Es wurde auf Initiative des<br />

vorherigen Bürgermeisters 2001 gegründet.<br />

Die 35 Mitglieder sind ausschliesslich Maya-<br />

Frauen. Sie werden von einer Junta Directiva<br />

(Vorstand) geleitet und organisieren mit finanzieller<br />

Unterstützung anderer Organisationen<br />

Workshops, talleres, über verschiedene relevante<br />

Themen wie Gender, Gewalt gegen Frauen,<br />

innerfamiliäre Gewalt etc. und organisieren<br />

an Weihnachten, am internationalen Tag der<br />

Frau und am Muttertag öffentliche Veranstaltungen.<br />

Das Komitee ist sehr engagiert, hat aber trotzdem<br />

Schwierigkeiten, neue Mitglieder zu gewinnen.<br />

Viele Frauen wohnen zu weit weg und<br />

können die Transportkosten nicht bezahlen.<br />

Die Ehemänner sind oft gegen eine Teilnahme,<br />

weil sie nicht akzeptieren wollen, dass sich die<br />

Frauen organisieren. Aber auch viele Frauen<br />

leben weiterhin im hergebrachten Rollenverhalten<br />

und wollen deshalb nicht mitmachen.<br />

Das Komitee ist aber zuversichtlich, dass sich<br />

mit ständiger Überzeugungsarbeit die Aktivitäten<br />

ausweiten lassen.<br />

Komitee für die Verbesserung der Infrastruktur<br />

der Gemeinde: Dieses Komitee<br />

besteht aus Freiwilligen, welche sich alle Mühe<br />

geben, gefährdete Infrastrukturen in Stand zu<br />

halten (z.B. Reparatur von Wasserleitungen<br />

nach dem Wirbelsturm Stan). Allerdings erhält<br />

es von der neuen Gemeinderegierung im Gegensatz<br />

zu früher keine finanzielle Unterstützung<br />

und es findet keine Zusammenarbeit<br />

statt. Lediglich das Material wird von einer Regierungsorganisation<br />

zur Verfügung gestellt.<br />

Umweltschutz-Komitee: Dieses Komitee beschäftigt<br />

sich mit Umweltfragen innerhalb der<br />

Gemeinde. Seine Aufgabe sind Aufforstung<br />

und Schutz der Wälder, Schutz der Wasserquellen<br />

und Schutz der altares mayas, den<br />

heiligen Orten der Maya in den Wäldern. Das<br />

Komitee wird von Helvetas unterstützt. Verschiedene<br />

Anwesende sind allerdings der Meinung,<br />

dass es seine Aufgaben nur ungenügend<br />

wahrnimmt.<br />

Lokalradio: Felix Cabrera hat dieses Radio<br />

vor fünf Jahren (mit-)gegründet und koordiniert<br />

das Programm. Es hat zwar keine Radiokonzession,<br />

sendet aber täglich von 5 bis 21<br />

Uhr in Spanisch und Mam. Früher wurde die<br />

Infrastruktur durch die Gemeinde zur Verfügung<br />

gestellt. Heute muss alles selber finan-


ziert werden, was sehr schwierig ist. Das Personal,<br />

auch die SprecherInnen, arbeitet ohne<br />

Salär. Strom, Licht und Telefon können kaum<br />

von der gelegentlichen Werbung bezahlt werden.<br />

Dank der intensiven Zusammenarbeit mit<br />

NGOs können aber die Programme im Bereich<br />

Ausbildung, Gesundheit, Umwelt und Kulturelles<br />

aufrechterhalten werden. Die News und andere<br />

Informationen werden im Internet gesucht.<br />

Schlussfolgerung: Dank dem aufgeschlossenen,<br />

früheren Gemeinderat entstand eine sehr<br />

interessante und ermutigende Dynamik der<br />

«Organisation von unten». Allerdings unterstützt<br />

der heutige Gemeinderat die Komitees<br />

nur zögerlich oder gar nicht mehr und scheint<br />

sich über die Bedürfnisse der Gemeinde hinweg<br />

zu setzen, um eigene Interessen zu verfolgen.<br />

Die Leute geben sich darüber Rechenschaft<br />

und hoffen, dass sich bei den nächsten<br />

Wahlen wieder einiges ändern wird. Fazit: Ein<br />

spannender Ansatz, der heute dank dem Engagement<br />

Einzelner noch weiterlebt, aber eine<br />

politische Änderung braucht, um wirklich erfolgreich<br />

zu sein. Wir haben den Eindruck,<br />

dass der herzliche Empfang und das offene<br />

Gespräch ein Zeichen war, dass die Menschen,<br />

die sich für das Gemeinwohl einsetzen, unseren<br />

Besuch geschätzt haben und darin einen<br />

«Kontakt nach aussen» und Solidarität sehen.<br />

Am Mittag geht es weiter von Concepción Chiquirichapa<br />

nach Quetzaltenango. Uns interessiert<br />

insbesondere das Zentrum der<br />

CODECOT (Coordinadora Departemental<br />

de Comadronas Tradicionales), dem<br />

Koordinationszentrum der indigenen<br />

Hebammen. Wir werden von der Junta<br />

Directiva in ihren traditionellen Trachten<br />

wie alte Bekannte herzlichst empfangen<br />

und gleich mit einem exquisiten<br />

Mittagsmahl verwöhnt. Diese traditionellen<br />

Hebammen leben in und mit der<br />

Bevölkerung, haben ein grosses, jahrhundertealtes<br />

Wissen und begleiten<br />

80% der schwangeren Frauen mit ihren<br />

Neugeborenen vor, während und nach<br />

der Geburt. CODECOT wurde im Jahr<br />

2000 gegründet. Sie möchte den traditionellen<br />

Hebammen eine Plattform zu geben, um ihre<br />

professionelle, soziale und kulturelle Kompetenz<br />

zu valorisieren. Das Gesundheitssystem<br />

marginalisierte die traditionellen Hebammen.<br />

Sie wurden nicht anerkannt, nicht entlöhnt<br />

und in den Institutionen des Gesundheitswesens<br />

diskriminiert. Ihnen wurde unter anderem<br />

die hohe Kindersterblichkeit zu Last gelegt.<br />

Deshalb wuchs die Überzeugung, dass<br />

10<br />

nur mit staatlicher Anerkennung und guter<br />

Ausbildung, welche neben der traditionellen<br />

auch die moderne Geburtshilfe miteinbezieht,<br />

der wichtige Beruf der traditionellen Hebamme<br />

gerettet werden kann.<br />

Mit Unterstützung der «Centrale Sanitaire Suisse»<br />

und dem «Global Fund for Women» begann<br />

die CODECOT, ihren Mitgliedern Weiterbildungskurse<br />

zu offerieren. 2004 wurde der<br />

erste Kurs, dem weitere folgten, erfolgreich<br />

mit der «Promotion» abgeschlossen. 2004<br />

wurde diese Anstrengung insofern honoriert,<br />

als CODECOT die Anerkenung der Regierung<br />

erhielt und nun offiziell Hebammen ausbilden<br />

kann, welche in traditioneller und moderner<br />

Geburtshilfe ausgebildet werden. Der Lehrplan<br />

ist mit dem Gesundheitsministerium abgesprochen.<br />

Das nächste Projekt ist nun der Bau einer<br />

Schule von Hebammen für Hebammen. Die<br />

Gemeinde hat dazu ein Terrain zur Nutzung<br />

während 25 Jahren zur Verfügung gestellt. Allerdings<br />

müssen sie den Bau innert zweier Jahre<br />

erstellen. Mit dem Gesundheitsministerium<br />

wird bereits über die Anerkennung der Schule<br />

verhandelt.<br />

Die offene, engagierte und herzliche Diskussion<br />

beweist uns, dass das ganze Projekt mit<br />

viel Engagement, Kraft und Überzeugung vorangetrieben<br />

wird. Es ist durchaus möglich,<br />

dass dieses Projekt dank der Persönlichkeit<br />

und der Hartnäckigkeit der führenden Hebam-<br />

men der CODECOT zu einem Erfolg wird und<br />

der für den kulturellen Zusammenhang so<br />

wichtige Beruf der traditionellen Hebamme<br />

eine neue Bedeutung erhalten wird.<br />

Wir würden gerne noch weiter diskutieren.<br />

Aber die vorgerückte Stunde erlaubt uns nur<br />

noch, unseren Gastgebern ein Geschenk in<br />

Form eines Modells eines weiblichen Beckens<br />

zu übergeben.<br />

-> E-mail: codecot@intelnett.com


18. 02. 06: Maisfest San Rafael, San Antonio Sacatepequez,<br />

REMHI San Marcos<br />

Maisfest San Rafael<br />

Von Xela aus starten wir am Morgen in Richtung<br />

San Rafael. Wir sind dort zu einem traditionellen<br />

Maisaussaatfest, das immer im Februar<br />

gefeiert wird, eingeladen. Die eigentliche<br />

Aussaat findet einige Wochen später, zum Beginn<br />

der Regenzeit statt. Dieses Fest wird nach<br />

einer alten Mayatradition, die vermischt ist mit<br />

christlichen Werten, gefeiert. Wir kommen an,<br />

auf dem Platz vor der Kirche haben sich schon<br />

viele Indígenas in wunderschönen Trachten<br />

versammelt und es beginnt ein Ritus, der alle<br />

Sinne anspricht. Man muss ihn erlebt haben:<br />

die Farben, das Räuchern, das Tanzen, die Musik,<br />

das Explodieren der Knallkörper, der Ernst,<br />

mit dem die Menschen dabei sind und gleichzeitig<br />

ihre Fröhlichkeit<br />

und schliesslich<br />

das Essen.<br />

Wir werden lautstark<br />

durch das Mikrofon<br />

von allen wichtigen<br />

Mitgliedern der Kirchengemeinde<br />

und<br />

des Kirchenvorstandes<br />

begrüsst. An der<br />

Kirchenwand ist ein<br />

Altar mit vielen Blumen<br />

aufgebaut, auf<br />

dem Boden wie ein<br />

Mandala ebenfalls<br />

ein Altar, der für die<br />

Mayas eine besonders<br />

zentrale Bedeutung<br />

hat. Dort liegen<br />

die Maiskolben in ihren<br />

verschiedenen<br />

Farben: weiss, gelb,<br />

11<br />

rot und schwarz und daneben Kerzen in den<br />

entsprechenden Farben. Sie haben eine wichtige<br />

symbolische Bedeutung: weiss ist die Farbe<br />

des Nordens, ein Symbol für die Luft, den<br />

Geist, die menschlichen Knochen, die weisse<br />

Rasse. Gelb ist das Symbol des Südens und<br />

des Wassers, die Farbe der menschlichen Haut,<br />

Symbol für die Hoffnung auf Nahrung und die<br />

gelbe Rasse. Rot steht für den Osten,<br />

den Sonnenaufgang, das Feuer, das<br />

menschliche Blut, den Beginn des Lebens<br />

und die rote Rasse. Schwarz bedeutet<br />

den Westen, die Erde, den Sonnenuntergang,<br />

das menschliche Haar,<br />

den Beginn der Nacht, die Ruhe, die<br />

schwarze Rasse. Ein Teil der Maiskolben<br />

ist als Puppen angekleidet. In der<br />

Mitte liegen blaue und grüne Kerzen,<br />

sie sind das Zentrum: grün ist die Natur,<br />

die Mutter Erde und die Fruchtbarkeit,<br />

blau ist die Farbe des Himmels,<br />

das Symbol für den Vatergott und die<br />

Transzendenz. Auch dieser Altar ist mit<br />

Blumen geschmückt. Ausserdem stehen<br />

Tonfiguren da, die Indígenas darstellen.<br />

Die Zeremonie beginnt mit Gebeten und Dank<br />

an die gesamte Schöpfung, mit Verneigungen<br />

nach allen Himmelsrichtungen und der Aussage:<br />

«Wir kommen aus dem Mais und wir sind<br />

der Mais» aus dem Schöpfungsmythos der Mayas.<br />

Von grosser Bedeutung ist auch die Einheit<br />

des Männlichen und Weiblichen. Und immer<br />

wieder wird geknallt.


Dann beginnt der Tanz: eine Frau und ein<br />

Mann tanzen mit kleinen Schritten, in der<br />

Hand je eine Maispuppe, im Rhythmus der Marimbamusik,<br />

sie tanzen nebeneinander und<br />

aufeinander zu, bis dann ein zweites Paar genauso<br />

tanzend die Fläche betritt. Weitere Paare<br />

kommen dazu, Kinder und Jugendliche und<br />

schliesslich ist die Tanzfläche voll und auch wir<br />

werden aufgefordert, teilzunehmen. Einige<br />

Tanzende stellen während des Tanzens mimisch<br />

die Arbeit auf dem Feld (Hacken, Ernten<br />

etc.) oder auch im Haus (z.B das Backen von<br />

Tortillas) dar.<br />

Nachdem die Zeremonie zu Ende ist, werden<br />

wir in die Kirche an eine lange Tafel zu einer<br />

wunderbaren Suppe, einem Caldo de Res, mit<br />

Tamales eingeladen, die die Frauen inzwischen<br />

zubereitet haben.<br />

Wir verabschieden uns und machen noch einen<br />

kurzen Abstecher auf den Friedhof. Pfarrer Toribido<br />

Pineda von der Diözese San Marcos begleitet<br />

uns und beantwortet unsere Fragen zur<br />

Bestattungskultur und zu den Farben auf den<br />

Friedhöfen hier im Land, die uns während der<br />

bisherigen Reise aufgefallen sind. Offenbar<br />

sind sie aber ohne besondere Bedeutung. Oft<br />

findet die Beerdigung mit einem Katecheten<br />

auf dem Friedhof statt, in der Kirche wird eine<br />

Messe gelesen. Die Solidarität mit der betroffenen<br />

Familie in der Gemeinde ist gross, es<br />

gibt Geschenke, damit das Grab finanziert<br />

werden kann. Die Beerdigung muss nach Gesetz<br />

innerhalb von 24 Stunden stattfinden. An<br />

Allerheiligen wird auf den Friedhöfen ein grosses<br />

Fest mit Essen und Trinken auch für die<br />

Verstorbenen gefeiert. Die Trauerfarbe ist<br />

schwarz oder weiss.<br />

12<br />

Gesundheitszentrum in San Antonio Sacatepequez<br />

Maricarmen, die selbst als Ausbilderin im Zentrum<br />

arbeitet, und bei der auch Toni gelernt<br />

hat, begrüsst uns. Sie führt uns durch die bisherigen<br />

und vor allem durch die neuen Räume,<br />

die mit Hilfe von Spenden der Gruppe der<br />

letztjährigen Reise mitfinanziert werden konnten.<br />

Es sind Schlafräume, Duschen und Toiletten,<br />

die neu gebaut werden konnten. So wurde<br />

ermöglicht, dass die Gruppen, die ihre Ausbildung<br />

in Naturmedizin machen, hier im Haus<br />

wohnen können. Unten im Haus gibt es einen<br />

Versammlungsraum, in dem auch Konferenzen<br />

stattfinden. Es gibt unterschiedliche Kursangebote,<br />

die Kurse in Naturmedizin werden vor allem<br />

von Frauen besucht. Angeboten werden<br />

verschiedene alternative Therapien: Homöopathie,<br />

Bachblüten, Kinesiologie, Urintherapie,<br />

Reiki, Pflanzenheilkunde, Therapie<br />

mit Umschlägen usw.<br />

Viele der angewandten Therapien<br />

stammen aus der Mayatradition,<br />

z.B. die Energiearbeit.<br />

Das Zentrum soll für die PatientInnen<br />

ökonomisch gut zugänglich<br />

sein. Wer rasche Hilfe<br />

benötigt, z.B. mit Aspirin, kann<br />

auch das erhalten. Die am<br />

häufigsten vorkommenden<br />

Krankheiten sind:<br />

Atemwegsinfekte, Störungen<br />

im Magen-Darmtrakt, Arthritis,<br />

Hautkrankheiten und Diabetes.<br />

Diese Naturmedizin, die inzwischen<br />

auch öffentlich anerkannt<br />

ist, soll sich möglichst<br />

selbst finanzieren. Die Kurse<br />

sind kostenlos, für mehrtägige<br />

Kurse kann bei der Diözese San Marcos ein<br />

Stipendium beantragt werden. Das Startkapital<br />

kam von aussen, es reichte für 18 Mitarbeiter-<br />

Innen. Das Gehalt für eine Stunde beträgt<br />

6,50 Q. Die MitarbeiterInnen sind nicht fest<br />

angestellt.<br />

Auf die Frage, woher die Kräuter bezogen werden,<br />

berichtet uns Maricarmen, dass sie zum<br />

Teil selbst gesammelt oder angepflanzt würden,<br />

der Rest werde zugekauft. Das Zentrum<br />

soll auch für andere Gruppen offen sein. Wir<br />

erfahren vom Pfarrer, dass hier auch KatechetInnen<br />

ausgebildet werden. Ausserdem gibt es<br />

die Möglichkeit, eine Schreinerlehre zu machen<br />

oder Schneiderin zu werden.<br />

Ein Kaffee mit Gebäck im Pfarrhaus stärkt uns<br />

für den weiteren Verlauf des Tages und beim


Abfahren entdecken wir jede Menge Ringelblumen<br />

auf dem Platz vor der Kirche. Ob sie wohl<br />

geerntet und verarbeitet werden?<br />

San Marcos: REMHI<br />

Nach diesem ereignisreichen Tag besuchen uns<br />

am Abend im Hotel in San Marcos noch der<br />

Leiter des Büros von REMHI (San Marcos), Rodolfo<br />

Godínez und ein Mitarbeiter namens Oscar<br />

und erzählen uns von ihrer Arbeit im hiesigen<br />

Departement.<br />

REMHI bedeutet Recuperación de la Memoria<br />

Histórica, das heisst auf deutsch «Wiedererlangung<br />

des historischen Gedächtnisses». Es<br />

handelt sich um ein Projekt, das 1994 nach<br />

dem Abkommen über die Menschenrechte in<br />

Oslo von Bischof Gerardi initiiert wurde. Seine<br />

Idee war, der Bevölkerung zu ermöglichen,<br />

sich an ihre Geschichte zu erinnern und sie so<br />

aufzuarbeiten, denn «Ein Volk, das seine Geschichte<br />

vergisst, ist dazu verdammt, die Geschichte<br />

zu wiederholen.» Er gründete die sogenannte<br />

Wahrheitskommission und begann,<br />

die Bevölkerung über Plakate und durch das<br />

Radio über das Ziel des Projektes aufzuklären.<br />

Die Hälfte der Gemeinden im Bereich San Marcos<br />

wollten sich zunächst nicht mit der Sache<br />

befassen, sie hatten keinen Mut und fürchteten<br />

um ihre KatechetInnen, da noch lange nicht<br />

klar war, wie stabil der bisherige Friede war.<br />

In der ersten Phase des Projekts wurden die<br />

KatechetInnen ausgebildet. Sie wurden über<br />

die Inhalte der Friedensabkommen, die Rolle<br />

der katholischen Kirche und die Ursachen der<br />

Konflikte in der Vergangenheit aufgeklärt. Sie<br />

lernten, Interviews zu führen und mit Hilfe von<br />

psychologischer Begleitung zu ertragen, was<br />

die Menschen ihnen erzählten. Daran beteiligten<br />

sich 40 Männer und Frauen.<br />

In der zweiten Phase gingen diese ausgebildeten<br />

Menschen zu den Betroffenen und versuchten<br />

dort, einen Rahmen des Vertrauens zu<br />

schaffen und deren Ängste zu überwinden,<br />

denn keiner traute dem anderen mehr. Der Zugang<br />

zu den Frauen war offenbar leichter,<br />

denn 80% der Berichte stammen von Frauen.<br />

Das Kernstück des Projekts sind die sog. Testimonios,<br />

diese waren oft sehr schmerzhaft für<br />

die Menschen, sie benötigten sehr viel Zeit,<br />

Zeit zum Reden, Zeit zum Weinen, aber es war<br />

auch eine Befreiung, endlich über alles sprechen<br />

zu können, oft nach mehr als zehn Jahren.<br />

Alle Interviews wurden gesammelt, in das<br />

Büro des Erzbischofs gebracht und dort zu<br />

dem Bericht Guatemala Nunca Más zusammengefügt.<br />

Am 24.5.1998 wurde der Bericht<br />

der Öffentlichkeit vorgestellt und keine 50<br />

13<br />

Stunden später wurde Bischof Gerardi ermordet.<br />

In der Hauptstadt gibt es inzwischen eine<br />

Gedenkstätte für ihn, im April ist ein Gedächtnismarsch<br />

für Gerardi geplant.<br />

Die Ermordung Gerardis bedeutete zunächst<br />

einen Stopp für das gesamte Projekt, die alten<br />

Ängste tauchten wieder auf. Doch die Diözese<br />

San Marcos führte trotzdem ihre Arbeit fort.<br />

Inzwischen sind vier Bände mit unterschiedlichen<br />

Titeln und Themen erschienen, ausserdem<br />

gibt es eine populäre Version mit vielen<br />

Bildern, die wir auch für uns erwerben konnten.<br />

Als nächster Wunsch kam aus der Bevölkerung<br />

die Bitte um die Exhumierung der Toten. Für<br />

die Mayas haben der Tod und der Ort der Bestattung<br />

eine grosse Bedeutung. Durch die Ermordungen<br />

war der Zyklus Geburt – Tod unterbrochen<br />

worden, denn oft wurden die Toten<br />

entweder von den Angehörigen oder vom Militär<br />

ohne Ritus ganz schnell in Massengräbern<br />

verscharrt .<br />

Der Bischof der Diözese, Alvaro Ramazzini,<br />

fördert das Projekt mit viel Mut und Engagement.<br />

Er hat viele Auslandkontakte, dadurch<br />

wird es auch finanzierbar. In den Kirchengemeinden<br />

werden weiterhin AnimatorInnen ausgebildet,<br />

die ihr Wissen weitergeben sollen und<br />

können.<br />

Die Regierung versucht immer wieder, das Projekt<br />

zu stoppen. Die Opfer werden immer älter<br />

und eine Wiedergutmachung, die auch gefordert<br />

wird, kann evtl. nicht mehr stattfinden,<br />

weil sich alles in die Länge zieht. Doch es gibt<br />

auch immer wieder positive Prozesse, die Mut<br />

machen, fortzufahren. Mit Schulen wird zusammengearbeitet,<br />

so erfahren die Kinder die<br />

Geschichte ihrer Eltern und die Vergangenheit<br />

wird nicht vergessen. Gruppen, die sich gebildet<br />

haben, versuchen, einen legalen Status zu<br />

erreichen, um so den Zugang zu Geldern zu<br />

bekommen.<br />

Inzwischen ist der Hauptbereich ihrer Arbeit<br />

die Exhumierung. Deren Finanzierung ist problematisch,<br />

denn die psychologische Begleitung<br />

der Betroffenen und die Beerdigungen sind<br />

teuer. Und immer wieder gibt es noch neue<br />

Testimonios.<br />

Unsrerseits gibt es noch verschiedene Fragen,<br />

zum Beispiel:<br />

Welche war die Rolle der Kirche während des<br />

Prozesses? – Sie stand offenbar auf der Seite<br />

der Verfolgten, beeinflusst von der Befreiungstheologie.<br />

Das war auch der Grund dafür, dass<br />

die KatechetInnen verfolgt und bedroht wurden.


Wie steht es mit der Entschuldigung der Verantwortlichen?<br />

– Die Justiz ist langsam und<br />

blind. Ríos Montt hat 440 Dörfer ausradiert,<br />

hier in der Nähe wurden in einem Dorf in einer<br />

Nacht 47 Menschen massakriert. Eine Entschuldigung<br />

dafür gibt es bis heute nicht. Es<br />

gibt auch keinen Willen, das Geschehene als<br />

Genozid anzuerkennen. Wohl gab es in Rabinal<br />

eine Pseudoentschuldigung vom derzeitigen<br />

Präsidenten Berger, aber das Volk will mehr:<br />

eine echte Entschuldigung und eine Wiedergutmachung.<br />

Wer sind die politischen Verbündeten des Projekts?<br />

– Das sind auf jeden Fall die Menschenrechtsorganisationen.<br />

Manchmal scheint auch<br />

der Kongress zu helfen, was jedoch den Hintergrund<br />

hat, bei der Bevölkerung gut dazustehen,<br />

um Wählerstimmen zu bekommen.<br />

Viele, die sich zunächst für die Arbeit einsetzten,<br />

liessen die Menschen allein, in dem Moment,<br />

als sie einen offiziellen Posten bekamen.<br />

Bestes Beispiel dafür ist Rigoberta Menchú: Als<br />

Präsidentin der staatlichen Menschenrechtsorganisation<br />

hat sie ihre Landsleute verraten und<br />

alleine gelassen.<br />

Weshalb wählen noch so viele Ríos Montt? – Es<br />

ist die historische Amnesie, die chronische Vergesslichkeit<br />

der Menschen. Als er regierte, gab<br />

es feste Gesetze, heute herrscht ein quasi gesetzloser<br />

Zustand im Land. Die Menschen hoffen<br />

in dieser Hinsicht auf eine Veränderung,<br />

können aber die Zusammenhänge nicht herstellen.<br />

Ausserdem ist er eine starke Führerpersönlichkeit<br />

mit einer klaren Strategie, die er<br />

seit Jahren verfolgt. Er sorgt für seinen politischen<br />

Nachwuchs, was die anderen Parteien so<br />

nicht machen. Z.B. hat er seine Tochter in die<br />

politische Szene eingeführt. Hier in San Marcos<br />

wurde während der letzten Wahlen viel Bewusstseinsarbeit<br />

gemacht, dadurch war das<br />

Wahlergebnis ordentlich. Im Quiché war das so<br />

nicht möglich, da durch den Mord von Gerardi<br />

die Arbeit gestoppt wurde, und so bekam die<br />

FRG viele Wählerstimmen. Und schliesslich<br />

gibt es keine Partei im Land, die wirklich das<br />

Volk vertritt, auch das ist ein wesentlicher<br />

Grund für diese Wahlergebnisse.<br />

Müde nach diesem ereignisreichen Tag mit so<br />

unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnissen<br />

gehen wir zu Bett.<br />

14


19. 02. 06: San Marcos – Las Delicias (MTC)<br />

An diesem sonnigen Morgen empfangen uns<br />

Ana und Fernando, die als spanische LaienmissionarInnen<br />

in der technischen Equipe des Movimiento<br />

de Trabajadores Campesinos (MTC)<br />

tätig sind, in ihrem Büro in San Marcos für<br />

ein ausführliches Briefing.<br />

Das MTC will die ArbeiterInnen im Altiplano<br />

und in den Fincas stärken und sie unterstützen,<br />

wenn sie ihre Rechte einfordern. Das Ziel<br />

ist die integrale menschliche und soziale Entwicklung.<br />

Die Bewegung hat rund 2000 Mitglieder,<br />

zum grösseren Teil Frauen (weil die<br />

Frauen, deren Männer als Emigranten in den<br />

USA arbeiten, sehr aktiv sind).<br />

Das Departement San Marcos war nebst<br />

Quiché am stärksten vom Krieg betroffen. San<br />

Marcos ist die ärmste Gegend Guatemalas;<br />

das Gebiet liegt isoliert und weit entfernt von<br />

der Hauptstadt. Das Land im Altiplano ist karg<br />

und reicht nur für Subsistenzwirtschaft (Mais,<br />

Kartoffeln und Getreide für die Selbstversorgung).<br />

Viele Indígenas müssen deshalb zur<br />

Kaffeeerntezeit als temporäre ArbeiterInnen,<br />

so genannte Eventuales, auf den Fincas in der<br />

Bocacosta arbeiten, oft mit ihren ganzen Familien<br />

(das bedeutet, dass die Kinder das Schuljahr<br />

nicht beenden können). Die «Colones»<br />

hingegen sind fest angestellte ArbeiterInnen,<br />

die ständig auf den Fincas leben. Das Land der<br />

Bocacosta ist sehr fruchtbar, praktisch ausnahmslos<br />

in Grossgrundbesitz. Ganz selten besitzen<br />

die Einheimischen eigenes Land. Die<br />

Finqueros sind meist Leute aus dem Ausland,<br />

die hier ihr Vermögen gemacht haben, Nachkommen<br />

von Deutschen und Spaniern, heute<br />

naturalisierte GuatemaltekInnen mit mittelalterlichen<br />

Vorstellungen von Landbesitz und<br />

dem Umgang mit Angestellten. Die Finqueros<br />

sind nicht nur die Besitzer des Landes, sondern<br />

auch der Leute, die sie wie Sklaven halten.<br />

Dazu kommt der Rassismus: Die Indígenas<br />

werden als minderwertige Menschen betrachtet<br />

und behandelt.<br />

Das der Diözese San Marcos angegliederte<br />

Technische Büro des MTC arbeitet in den fünf<br />

Bereichen Indigenes Recht, lokale Machtverhältnisse,<br />

Zugang zu Land, Arbeitsrecht und<br />

Suche nach solidarischer Ökonomie. Der bisherige<br />

Schwerpunkt der Tätigkeit lag in der<br />

Stärkung der lokalen Führer und im Arbeitsrecht.<br />

Zurzeit arbeiten sie mit Leuten von sieben<br />

Fincas; in zwei Fincas werden Protestaktionen<br />

durchgeführt. Es geht um ungerechtfertigte<br />

Entlassungen, Mindestlöhne und endlose<br />

Reihen von Menschenrechtsverletzungen.<br />

Das Justizwesen ist blind und langsam, Prozes-<br />

15<br />

se ziehen sich über Jahre hin, und der Gewinn<br />

eines Prozesses bedeutet noch lange nicht,<br />

dass das gerichtlich zugesprochene Recht auch<br />

durchsetzbar ist. Während dieser Zeit sind die<br />

Leute in total ungesicherter Situation, ohne<br />

Geld. Ein Recht auf Bezahlung haben sie ohnehin<br />

nur dann, wenn sie auf der Finca wohnen<br />

bleiben. Die Situation ist vergleichbar mit derjenigen<br />

der Minenarbeiter. Ana ist überzeugt,<br />

dass die Menschenrechte nicht eingehalten<br />

werden können, solange das Finquero-System<br />

existiert. Die Fincas und alles, was sich darauf<br />

befindet, also auch die Schule und der Gesundheitsposten,<br />

sind Privatbesitz. Deshalb<br />

werden die sozialen Rechte hier kontinuierlich<br />

verletzt. Guatemala werde wirtschaftlich gesehen<br />

von 20 Familien regiert: Sie besitzen Fabriken,<br />

Plantagen, Fincas und würden von den<br />

Freihandelsabkommen profitieren. So ist etwa<br />

der aktuelle Präsident Viehzüchter und Zuckerrohrproduzent.<br />

Die lokalen Leader des MTC leben gefährlich,<br />

sie werden immer wieder bedroht. Die Arbeit<br />

an der Basis machen die KatechetInnen in den<br />

Gemeinden. Bei Protestaktionen wurden zum<br />

Beispiel die Strassen gesperrt und zum Zeitpunkt<br />

des Erntebeginns alle Transporte blockiert<br />

mit dem Ziel, die Regierung zu zwingen,<br />

sich mit der Problematik der miserablen<br />

Rechtsstellung der Landarbeiter auseinanderzusetzen.<br />

Allerdings müssen sie mit den Aktionen<br />

sehr vorsichtig sein, denn die Repression<br />

zielt auf die lokalen Leader. Den Leuten gehe<br />

jetzt aber langsam die Geduld aus, sie seien<br />

zunehmend bereit, weiter zu gehen.<br />

Im Hinblick auf den Besuch der «Marlin»-Goldmine<br />

zwischen Sipacapa und San Miguel erhalten<br />

wir von Fernando auch eine Einführung<br />

in die Minenproblematik: Die Metallminen seien<br />

in den letzten Jahren «entdeckt» worden.<br />

Im ganzen Land gebe es ca. 200 Punkte, wo<br />

Abbaumöglichkeiten geprüft werden – und in<br />

keinem Fall sei die lokale Bevölkerung konsultiert<br />

worden (wie es das internationale Abkommen<br />

über die Rechte der indigenen Völker verlangt).<br />

«Glamis Gold» kam im Jahr 2003 in die<br />

Region und versprach gut bezahlte Arbeit. Die<br />

Firma begann, Land zu kaufen und bezahlte<br />

das Dreifache der üblichen Preise – ohne zu informieren,<br />

wozu. Schon längst ist aber klar,<br />

dass es um Tagbau geht, wobei das Gestein im<br />

Zyanidbad vom Metall getrennt wird. Das Projekt<br />

hat enorme Umweltschäden wie Abholzung,<br />

Erosion und Wasserprobleme zur Folge.<br />

In einer Region mit Wasserknappheit wird für<br />

den Abbau eine Viertelmillion Liter Wasser pro


Stunde benötigt. Zudem besteht die grosse<br />

Gefahr, dass das hochgiftige Zyanid ins Grundwasser<br />

gelangt.<br />

Das Projekt ist auch nicht nachhaltig; nach<br />

dem Aufbau der Infrastruktur sind praktisch<br />

alle Arbeitsplätze für die Ansässigen weggefallen,<br />

denn Ingenieure und Maschinenführer sind<br />

Auswärtige. Die Mine ist jetzt im ersten Betriebsjahr;<br />

nach zehn Jahren Ausbeute soll sie<br />

geschlossen und der Krater von 800 m Durchmesser<br />

und 600 m Tiefe<br />

rekultiviert werden.<br />

Das wird von den Lokalen<br />

aber stark bezweifelt.<br />

Am 18. Juni 2005 hat<br />

die Gemeinde Sipacapa<br />

ohne Unterstützung<br />

von Bürgermeister und<br />

Regierung eine Volksbefragungdurchgeführt.<br />

Dabei stimmten<br />

11 Dörfer gegen die<br />

Mine und eines dafür<br />

(bei einer Stimmenthaltung).<br />

Die Regierung<br />

klärt immer noch<br />

ab, ob diese Abstimmung<br />

legal war… (unterdessen<br />

hat das Verfassungsgericht<br />

ihre<br />

Legalität bestätigt).<br />

Zudem kam es im Januar<br />

2005 bei Sololá<br />

zu einem gewalttätigen Zusammenstoss zwischen<br />

den 1500 Polizisten und 150 Soldaten,<br />

die den Transport des für die Mine bestimmten<br />

Zylinders begleiteten, und den Lokalen, die<br />

den Transport verhindern wollten. Obwohl eine<br />

Person getötet und 20 verletzt wurden, hat die<br />

Regierung keine Untersuchung veranlasst. Man<br />

nimmt an, dass sowohl Präsident wie Vizepräsident<br />

wirtschaftliche Interessen an der Mine<br />

haben.<br />

Nach dem ausgedehnten Briefing bringt uns<br />

der Bus über eine kurvenreiche Strasse mit<br />

fantastischen Ausblicken Richtung Pazifik in die<br />

Bocacosta. Immer wieder schrecken die Spuren<br />

von Hurrikan «Stan»; helle Furchen in den<br />

steilen, dicht bewachsenen Abhängen zeigen,<br />

wie extrem die Niederschläge im letzten Oktober<br />

waren. Plötzlich eine Umleitung auf eine<br />

Staubstrasse: Sie führt zu einem gigantisch<br />

breiten Flussbett voller riesiger abgeschliffener<br />

Steine. Von der Notbrücke über einen heute<br />

wieder bescheidenen Wasserlauf sehen wir die<br />

vom hochgegangenen Fluss weggerissene,<br />

16<br />

jetzt im Leeren endende Asphaltstrasse – alles<br />

vermittelt einen tiefen Eindruck von der Wucht<br />

der Wassergewalten. Dann holpert der Bus<br />

über verlottertes Kopfsteinpflaster durch die<br />

grüne Wildnis der Bocacosta. Hier wachsen die<br />

Kaffeepflanzen im Halbschatten hoher Bäume<br />

und üppiger Bananenstauden.<br />

Endlich Ankunft auf der Finca «Las Delicias» –<br />

wo wir sogleich zum Mittagessen in eine Holzhütte<br />

mit Wellblechdach geführt werden, halb<br />

Wohn-, halb Schlafraum.<br />

Etwas später, draussen im Halbrund unter hohen<br />

Bananenstauden, begrüsst uns Salvador<br />

Fuentes im Namen der 26 Familien, die hier<br />

für ihre Rechte kämpfen und einen Teil der Finca<br />

besetzt halten. Nach einleitenden Gebeten<br />

erklären uns verschiedene RednerInnen die Situation.<br />

Die ArbeiterInnen wurden im Januar<br />

2001 wegen der Kaffeekrise entlassen, und<br />

fordern seither die ihnen zustehenden und<br />

auch gerichtlich zugesprochenen Entschädigungszahlungen.<br />

Würden diese bezahlt, so<br />

hätten sie ganze 30 Tage Zeit, um das Gelände<br />

zu verlassen – aber wohin? Sie haben ihr Leben<br />

hier verbracht, schon ihre Grosseltern haben<br />

hier gelebt. Diese Familien mit ihren 185<br />

Kindern brauchen eigenes Land. Sie fordern<br />

die Hälfte der ihnen zustehenden Entschädigung<br />

in Form von 1500 cuerdas flachem Land<br />

– das würde ihnen ermöglichen, den Lebensunterhalt<br />

zu sichern.<br />

Die Landbesitzerin war nur einmal hier, um mit<br />

den entlassenen ArbeiterInnen zu verhandeln;<br />

der nicht besetzte Teil der Finca wird nicht<br />

mehr von ihr, sondern von einem Vertreter der


Bank, wo offene Hypothekarschulden bestehen,<br />

verwaltet.<br />

Die unsichere Situation belastet die Familien<br />

stark. Wichtig wäre Weiterbildung, damit die<br />

entlassenen ArbeiterInnen alternative Arbeitsmöglichkeiten<br />

hätten, etwa im Bereich Maurer-<br />

In, SanitärIn, KonditorIn oder SchneiderIn, um<br />

aus der auswegslosen Situation der campesinos/-as<br />

herauszufinden. Die Folgen der Entlassungen<br />

waren auch für die Kinder sehr hart,<br />

weil die Finca-Schule geschlossen wurde. Die<br />

Kinder gingen danach zwei Jahre überhaupt<br />

nicht zur Schule – jetzt besuchen sie wieder<br />

den Unterricht, aber in verschiedenen, zum<br />

Teil weit entfernt gelegenen Schulen. Denn nur<br />

mit besserer Bildung werden sie in der Lage<br />

sein, irgendwann aus dem Teufelskreis der Existenz<br />

als landlose LandarbeiterInnen auszubrechen.<br />

Heute bestreiten die Familien den Lebensunterhalt<br />

durch Taglohn- und Gelegenheitsarbeiten;<br />

zudem leistet die Diözese Nahrungsmittelhilfe.<br />

17<br />

Die Leute von Las Delicias drücken auf ganz<br />

verschiedene Weise aus, dass unser Besuch sie<br />

erfreut, aber auch erstaunt hat. Julio spricht<br />

gar von einem Opfer, das wir mit unserem Besuch<br />

gebracht hätten.<br />

Auf der Fahrt zurück nach San Marcos besuchen<br />

wir kurz eine vom MTC neu geschaffene<br />

Produktion von Bausteinen, la bloquera. Hier<br />

werden täglich 650 Lochbausteine hergestellt<br />

– was vier Männern von der Finca eine Beschäftigung<br />

verschafft. Sie arbeiten abwechselnd,<br />

verdienen aber mit Ausnahme des Maschinisten<br />

nichts dabei. Die Steine sind sehr<br />

gefragt, denn die Gemeinden bauen zurzeit<br />

viele Häuser für die Opfer des Hurrikans. Allerdings<br />

hat es Probleme gegeben, weil die Steine<br />

billiger sind als der aktuelle Marktpreis.<br />

Die Landschaft ist grandios; wilde Wolkenbilder<br />

und dramatische Beleuchtung gegen Westen<br />

machen die Rückfahrt in die Höhe und in den<br />

Abend unvergesslich.


20. 02. 06: Gespräch mit Bischof Ramazzini<br />

und Besuch in San Miguel Ixtahuacán<br />

Gespräch mit Bischof Ramazzini in San<br />

Marcos<br />

Nach gut 1/3 der Reise haben wir wieder einen<br />

besonderen Höhepunkt. Bischof Alvaro Ramazzini<br />

(seit 17 Jahren Bischof der Diözese San<br />

Marcos und seit kurzem Vorsitzender der Bischofskonferenz<br />

der katholischen Bischöfe in<br />

Guatemala) macht auf uns alle einen starken<br />

Eindruck. Seine Persönlichkeit hat eine Ausstrahlung,<br />

seine Klarheit ist überzeugend, seine<br />

Offenheit gewinnend. Nach einer Einführung<br />

in die Situation kommt es zu einem engagierten<br />

Gespräch.<br />

San Marcos ist die von Armut am stärksten betroffene<br />

Diözese. Im Augenblick gibt es für Ramazzini<br />

drei besonders aktuelle Probleme:<br />

1. In der Küstenregion nimmt die Gewalt erschreckend<br />

zu; der Grund liegt in starkem<br />

Masse am Drogenhandel.<br />

2. Vor kurzem ist es zu einem Konflikt zwischen<br />

zwei Mam-Dörfern gekommen. Bewohner<br />

des einen haben 15 Häuser des anderen<br />

Dorfes abgebrannt; durch ihre starke<br />

Bewaffnung waren sie überaus bedrohlich;<br />

es gab keine toten Menschen, aber mehrere<br />

verletzte. Und es gibt neue Angst.<br />

3. Der Bergbau der ersten Goldmine in San<br />

Marcos seit Herbst 2005 spaltet die Bevölkerung<br />

und zerstört die Natur verheerend<br />

nachhaltig.<br />

Zum andern ist die Diözese das durch den<br />

Hurrican «Stan» am schlimmsten betroffene<br />

Gebiet. Die Armen trifft es wieder am schwersten.<br />

Was kann die Kirche in dieser Situation tun?<br />

Der Bischof spricht von einer Krise des Christentums.<br />

95 % der ChristInnen seien nicht<br />

«christlich», d.h. leben nicht nach der Bergpredigt.<br />

Die Bischofskonferenz sucht Kontakt<br />

und führt Gespräche mit der Regierung, tut<br />

dies aber nicht um jeden Preis. Zur katholischen<br />

politischen Klasse hält sie deutlich Distanz.<br />

Gegebenenfalls stellt sie sich klar auf<br />

die Seite der Armen – und auch des Widerstands.<br />

Dabei erhält sie (bislang) die Unterstützung<br />

durch den Nuntius aus Rom. Vor kurzem<br />

hat die Bischofskonferenz einen Brief an<br />

die Bischofskonferenz der USA geschrieben.<br />

Eindringlich trägt sie die Bitte um deren Unterstützung<br />

vor, gegen die Gesetzesvorlagen im<br />

amerikanischen Kongress zur Verschärfung der<br />

Migrationspolitik zu lobbyieren. Zu anstehenden<br />

Verträgen eines Freihandelsabkommens<br />

mit den USA übergab die Bischofskonferenz an<br />

18<br />

die eigene Regierung eine 10-Punkte-Forderung<br />

gegen die Ungerechtigkeit und Unrechtmässigkeit<br />

eines solchen Abkommens. Dazu<br />

sollen in nächster Zeit Gespräche stattfinden.<br />

(Noch während unseres Aufenthaltes hat ein<br />

solches Gespräch mit Präsident Berger und Vizepräsident<br />

Stein stattgefunden. Auf konstruktive<br />

Auswirkungen müssen wir warten.)<br />

Zum ungelösten Problem einer angemessenen<br />

Landverteilung äussert sich der Bischof dahingehend,<br />

dass eine ständige Landverteilung und<br />

«Landzerteilung an alle» nicht die Lösung des<br />

Problems sein kann. Seine Forderung ist die<br />

Schaffung neuer Arbeitplätze. Bei den Kirchen<br />

gibt es auch eine ökumenische Gemeinschaft<br />

zwischen KatholikInnen, LutheranerInnen,<br />

AnglikanerInnen und PresbyterianerInnen. Von<br />

den Pfingstkirchen und evangelikalen Bewegungen<br />

grenzt sich Ramazzini scharf ab: deren<br />

Führer seien auf eigene Bereicherung und Vertröstung<br />

der anderen aus. Seine Hauptkritik<br />

richtet sich gegen die Ignoranz dieser Gruppen<br />

bei der Aufarbeitung der bösen Folgen des<br />

Bürgerkrieges. Dennoch sucht er immer wieder<br />

Gespräche und Kontakte, um sich nicht gegenseitig<br />

zu isolieren. Gegenüber der stark<br />

wachsenden Zahl dieser aus den USA finanzierten<br />

«evangelischen Kirchen» setzt er auf<br />

das authentische Zeugnis des Glaubens im<br />

Sinne der Bergpredigt auf der Seite der Armen.<br />

(Ich erinnere mich an die «Option für die<br />

Armen» der Befreiungstheologen vor 40 Jahren.)<br />

Fazit:<br />

• Aufgabe der Kirche ist das Gemeinwohl des<br />

Volkes und der Einsatz für soziale Gerechtigkeit.<br />

• Diese geschieht wesentlich durch Bildung<br />

und die Authentizität gelebten Glaubens.<br />

• Bei den politischen Parteien habe «keiner»<br />

das Gemeinwohl auf dem Programm.<br />

• Mit Blick auf die Neuwahlen 2007 sieht der<br />

Bischof noch keine Konturen.<br />

• Es gibt keine gemeinsame Idee!<br />

Siehe auch "Die katholische Kirche stärkt ihre soziale<br />

Linie" (Anhang S. 4)<br />

Besuch in San Miguel Ixtahuacán<br />

Eine stundenlange Fahrt durch die Diözese von<br />

Bischof Ramazzini über Berg und Tal und Stock<br />

und Stein durch das Hochland mit wunderschönen<br />

weiten Ausblicken zeigt uns unter-


wegs: Felder der Bauern an den Steilhängen<br />

der Berge, grüne Wälder ringsum auf den Hügeln,<br />

überall dazwischen die Wellblechdächer<br />

der kleinen Hütten, Spuren von Erdrutschen,<br />

Blumen und leuchtend bunte Blüten und immer<br />

wieder Menschen und Tiere am Wegesrand:<br />

Kinder und Alte, Schülergruppen und Arbeiter<br />

und Hühner, Schweine, Schafe, Kühe,<br />

Ziegen, Pferde, Hunde, Katzen, Gänse – und<br />

ein Aasgeier.<br />

Eusebio Juárez Díaz (Mitarbeiter des<br />

Movimiento de Trabajadores Campesinos<br />

MTC) begrüsst uns alle als hermanos<br />

y hermanas – Brüder und<br />

Schwestern. So wie die Mam sich alle<br />

als Kinder Gottes verstehen, gehören<br />

wir dazu. Er betet mit uns zum gemeinsamen<br />

Mittagessen – gastfreundlich<br />

sind sie – und schliesst mit<br />

dem gemeinsamen «Unser Vater».<br />

Heute ist das bedrängende Thema:<br />

Die Gold-Mine, die seit Herbst 2005<br />

im Gebiet von San Miguel in Betrieb<br />

genommen ist. 13 VertreterInnen der<br />

indigenen Bevölkerung erwarten und<br />

erzählen uns. Wir hören den Zeugnissen<br />

persönlicher Erfahrungen seit Ankunft<br />

der Minenvertreter der kanadischen<br />

Minengesellschaft «Montana» gespannt<br />

zu.<br />

Eusebio: Das Volk fühlt sich betrogen: Es war<br />

nicht bekannt gegeben, dass es beim Land-Ankauf<br />

um «Gold-Land» ging. Das hat das Volk<br />

gespalten. Persönliche Bedrohungen verbreiteten<br />

erneut Angst und Schrecken bei dem<br />

Volk der Indigene (=Eingeborene, ursprüngliche<br />

Landbesitzer). Von 10’000 zugesagten Arbeitsplätzen<br />

sind es etwa 1000 (zumeist für<br />

Auswärtige!) geworden. Der Alkoholismus hat<br />

sich sprunghaft ausgebreitet unter den Minenarbeitern,<br />

die dann im Dorf randalieren. Alle<br />

Gespräche mit der Mine, mit dem Präsidenten<br />

Berger (der zur Einweihung dabei war), mit<br />

Bürgermeister und Pfarrer waren erfolglos. Sie<br />

fühlten sich von niemandem ernst genommen.<br />

Junger Mann: Er fühlt sich im Stich gelassen.<br />

Er hat nie Aufklärung über die Bodenschätze<br />

Gold und Silber in seinem Land erhalten. Die<br />

Spaltungen zwischen denen, die Arbeit haben<br />

und denen, die keine haben, führen bis zu Todes-Drohungen.<br />

Die Polizei nimmt seine Klage<br />

nicht an. In San Marcos konnte er seine Klage<br />

bei der Menschenrechtskommission wenigstens<br />

hinterlegen.<br />

Junge Frau: Bei Landaufkauf haben die Käufer<br />

das Unwissen der Indigenen bewusst ausgespielt,<br />

obwohl sie dreimal so viel Geld bezahlt<br />

haben. Die Frau hat keine Arbeit bekommen.<br />

Die Ausländer treten diskriminierend auf. Es ist<br />

19<br />

ein großer Betrug: Durch vage Versprechungen<br />

wurden Hoffnungen geweckt und enttäuscht.<br />

Angesichts des grossen Gewinns sind<br />

es Hungerlöhne, die gezahlt werden.<br />

Frau: Früher haben sie hier friedlich gelebt.<br />

Die grossen Versprechungen – Bau von Strassen,<br />

Plätzen, Spital – sind nicht eingehalten<br />

worden. Frauen, die jetzt hier als Prostituierte<br />

arbeiten, sind von ausserhalb geholt worden.<br />

Viele Minenarbeiter tragen Waffen und verbreiten<br />

Angst.<br />

Ein ehemaliger Bürgermeister ergänzt: Die<br />

Minengesellschaft beutet ihr Land aus – und<br />

zahlt nicht einmal Steuern an den Staat (der<br />

Staat ist selbst korrupt). Der versprochene<br />

Fortschritt wird nicht kommen. Das Zyanid,<br />

mit dem das Gold ausgewaschen wird, wird die<br />

gesamte Region vergiften. Über Nachfolgeschäden<br />

und etwaige Renaturierung wird gar<br />

nicht gesprochen.<br />

Sie alle wollen mit ihrem Protest und Widerstand<br />

nicht nachlassen! Ihr Vorhaben ist es,<br />

mit einem internationalen Manifest Aufmerksamkeit<br />

zu erzwingen – zumal in San Miguel<br />

keine consulta popular (Volkbefragung) wie in<br />

Sipakapa stattgefunden hat.<br />

Leider ist die Frage der Besitzverhältnisse historisch<br />

und juristisch sehr kompliziert und ungeklärt.<br />

Dennoch ist das Verfahren nicht hinzunehmen.<br />

Wer sein Land nicht verkaufen<br />

wollte, wurde bedroht. Die Einschüchterungen<br />

vergiften jetzt schon das menschliche Klima.<br />

-> Movimiento de Trabajadores Campesinos (MTC):<br />

http://www.mtcguatemala.com/<br />

-> E-mail MTC: diocesismtc@itelgua.com<br />

-> offizielle Webseite der Minenbetreiberin Glamis<br />

Gold: http://www.glamis.com/spanish/properties/guatemala/marlin.html<br />

Siehe auch "Volksbefragungen: Ein Sieg der (oder<br />

über die) Demokratie?" (Anhang S. 7)


21. 02. 06: Von Huehuetenango nach Nebaj<br />

Sämtliche Gepäckstücke, angereichert durch<br />

etliche grössere Tontöpfe und Comales werden<br />

wieder im Bus verstaut. Ab jetzt geht die Fahrt<br />

von Huehuetenango (1900 m.ü.M.) Richtung<br />

Osten hügelauf und hügelab – hauptsächlich<br />

letzteres! – nach Aguacatán. Heute ist Natur<br />

angesagt, keine Treffen oder Begegnungen,<br />

eher Sehen (leider viel beim Fahren vom Bus<br />

aus, aber selbst so ist die Landschaft oft überwältigend!).<br />

Nach ca. 25 Kilometern erreichen<br />

wir Aguacatán und erkämpfen 20 Minuten<br />

Aussteigen, um Strassen, Markt, Gerüche auf<br />

uns wirken zu lassen. Aguacatán leitet seinen<br />

Namen vom «Überfluss an Aguacates» (= Avocados)<br />

ab. Die Frauen tragen einen quergestreiften<br />

roten oder dunklen corte, wunderschöne<br />

weisse, reich bestickte huipiles und<br />

sind sehr fotoabgeneigt – was man durchaus<br />

verstehen kann. Gleich hinter dem Dorf kommen<br />

wir zum Nacimiento del Río San Juan,<br />

sprich zur Quelle des Río Blanco. Das Wasser<br />

kommt eiskalt und wasserfallartig aus dem<br />

Gestein, wir staunen über die eher exotische<br />

Vegetation mit riesigen Farnen und grossen<br />

Schattenbäumen. Ein wunderschöner Ort, eine<br />

wahre Oase der Ruhe nach allem, was wir kurz<br />

davor über den Goldabbau zu hören bekommen<br />

haben. Toni liest uns sehr passend Gedichte<br />

von Humberto Ak`abal (K`iché) aus<br />

dem Band «Trommel aus Stein» vor.<br />

Weiter geht es, die fruchtbare Erde und der<br />

Wasserreichtum erlauben hier unten den Anbau<br />

von Gemüse, von Zwiebeln und Knoblauch.<br />

Sobald wir wieder höhere Regionen erreichen,<br />

wird es jetzt in der Trockenzeit sehr<br />

staubig, karge, spärlich besiedelte Gegenden,<br />

die im Regenschatten der Cuchumatanes liegen,<br />

eher ein deprimierender Anblick, ich frage<br />

20<br />

mich, wovon die Menschen hier leben können!<br />

Dann erreichen wir Sacapulas, im Tal des Río<br />

Negro, auch Río Chixoy genannt. Sacapulas ist<br />

berühmt wegen der «friedlichen Missionierung»<br />

der Indígenas durch Fray Bartolomé de<br />

Las Casas im 16. Jahrhundert. Bezeichnend<br />

dagegen für die blutige Geschichte der 80er-<br />

Jahre gerade in dieser Gegend ist, dass jetzt<br />

erst, zum 25. Jahrestag im Februar 2006, in<br />

dieser Kirche ein Gedenkgottesdienst für den<br />

1981 ermordeten spanischen Padre Juan Alonso<br />

López gefeiert werden konnte, unter grosser<br />

Beteiligung der Bevölkerung, die ihn nicht<br />

vergessen hat.<br />

Nach kurzer Stärkung folgt die letzte Etappe<br />

unserer heutigen Reise, hinauf in die Cuchumatanes<br />

Richtung Ixildreieck. Vor acht Jahren<br />

bin ich diese Strecke zum letzten Mal gefahren<br />

(in total überfülltem uraltem Landbus),<br />

und ich traue meinen Augen nicht: statt<br />

schrecklichster löchriger, staubiger, gefährlicher<br />

Strasse fährt unser Turismo-Bus zügig<br />

eine neue Asphaltstrasse entlang, steil, kurvig,<br />

aber höchst bequem! Nun, durchgängig ist die<br />

neue Trasse zwar noch nicht, aber Dutzende<br />

von Arbeitern sind hier beschäftigt. Ein kurzer<br />

Halt, ein Fotoblick zurück in das tief eingeschnittene<br />

Chixoytal – das ist eines der unvergesslichen<br />

Bilder von der Schönheit Guatemalas!<br />

Kurz darauf ebenfalls ein starker<br />

Eindruck: die gerade noch staubtrockene<br />

Landschaft wird plötzlich grün und<br />

feucht, innerhalb weniger Kilometer erleben<br />

wir eine überraschende Klimagrenze,<br />

die Nordseite der Cuchumatanes.<br />

Bald darauf wird in einer Talmulde<br />

noch weit unten Nebaj sichtbar, das<br />

mit San Juan Cotzal und Chajul zusammen<br />

das bereits erwähnte Ixildreieck<br />

bildet, ein sehr abgelegenes, fast<br />

nur von Indígenas mit eigener Sprache<br />

(eben Ixil) bewohntes Gebiet.<br />

Am Spätnachmittag laufen wir in unserem<br />

hübschen Quartier mit Innenhof<br />

ein – und alsbald beginnt eine rege<br />

Wäschewaschaktion, dann ein Bummel<br />

durch das Dorf Nebaj.<br />

Am Abend – wir haben ungefähr Halbzeit<br />

– folgt eine Feedback-Runde über Eindrükke,<br />

Gefühle und Empfindungen der bisherigen<br />

Reise. Fast durchgängig wird das Programm<br />

als sehr gut vorbereitet erlebt, auch als sehr<br />

voll und intensiv – andererseits: was wollten<br />

wir missen und wer weiss, was noch alles auf<br />

uns wartet! Wir sind gespannt und voller Erwartungen.


22. 02. 06: Nebaj<br />

Nach dem gestrigen «Ausruhetag» wird es<br />

heute – und generell im Ixildreieck – eher zu<br />

emotional belastenden Begegnungen kommen.<br />

Ich habe mich bewusst für diesen Teil des Reiseberichts<br />

gemeldet, weil ich die Region seit<br />

1993 kenne, und in sehr verschiedenen Phasen<br />

– vor und nach der Unterzeichnung der<br />

Friedensverträge – besucht und von hier lebenden<br />

Freunden viel erfahren habe.<br />

Wir treffen uns im Gemeindesaal mit Padre Rigoberto<br />

Pérez C. und MitarbeiterInnen. Padre<br />

Rigoberto kommt ursprünglich aus dem Osten<br />

von Guatemala, arbeitet aber seit 15 Jahren<br />

im Quiché und seit fünf Jahren in Nebaj, gezielt<br />

aus Interesse an der Arbeit mit REMHI<br />

(Recuperación de la Memoria Histórica – Projekt<br />

der kath. Kirche zur «Wiedererlangung<br />

des historischen Gedächtnisses», also Aufarbeitung<br />

des Bürgerkriegs).Was uns erwartet:<br />

1) Spezielle Geschichte der Gegend hier, Kontext<br />

im Ixil<br />

2) Marcelino aus La Pista (siehe später) lebte<br />

17 Jahre in den CPR (Geheime Widerstandsdörfer),<br />

arbeitet seit nun zehn Jahren<br />

in der Gemeinde Nebaj, seit drei Jahren<br />

im Radio der Kirchengemeinde<br />

3) Emilia, Schwester von Padre Rigoberto, ist<br />

für die Exhumaciones zuständig.<br />

Sie werden uns einen Einblick in die Verarbeitung<br />

des Geschehenen geben, posguerra genannt,<br />

also Nachkriegszeit, denn «die Gegenwart<br />

kann man nur aus der Vergangenheit verstehen».<br />

Noch in den 50er-Jahren war das Ixildreieck<br />

sehr isoliert, der einzige Zugang führte durch<br />

die Berge, mindestens zwölf Stunden von der<br />

Hauptstadt, nur zweimal wöchentlich fuhr ein<br />

Bus, die Bevölkerung, Ixiles, war extrem arm.<br />

Diese Isolierung, die Entfernung zur Hauptstadt<br />

und das Desinteresse der Regierung hatten<br />

zur Folge, dass kein Bezug zum Staat existierte.<br />

Noch heute werden Geburten und Heiraten<br />

nicht aus Einsicht, BürgerInnen des Landes<br />

zu sein, sondern nur durch Druck registriert.<br />

Wirklich schlechte Erfahrungen mit dem Staat<br />

gab es schon früher: ca. 1930, unter dem<br />

grössenwahnsinnigen Diktator Ubico, reichten<br />

einige mutige Männer Nebajs eine Klage wegen<br />

ungerechtester Lohnarbeit ein. Sie wurden<br />

an der Kirchenmauer erschossen.<br />

Die verstreut lebenden Ixiles waren, um überleben<br />

zu können, gezwungen als Saisonarbeiter<br />

an die Küste zu gehen, oft ohne Transportmittel,<br />

zu Fuss, viele starben schon unterwegs,<br />

21<br />

andere ertrugen den extremen Klimawechsel<br />

und die harten Arbeitsbedingungen nicht.<br />

In den 60er-Jahren entstanden erste bewaffnete<br />

Aufstandsbewegungen in Guatemala,<br />

wurden jedoch niedergeschlagen. Die Aufständischen<br />

flohen nach Mexiko ins Exil, kamen<br />

später über den Ixcán (Urwaldgebiete) wieder<br />

zurück und von dort auch ins Ixildreieck.<br />

Nach dem 2. Vatikanischen Konzil kamen viele<br />

ausländische Priester ins Land. Sie waren entsetzt<br />

über die Armut und die miserablen Lebensbedingungen<br />

der Menschen. Es kam zu einem<br />

«Erwachen», zu Veränderungen sozialer<br />

Art, Evangelisation praktisch. Gemeindearbeit,<br />

produktiverer Anbau (auch mit Düngemitteln),<br />

sogar Fussballplätze entstanden, kurz: sie<br />

setzten sich ein für ein besseres Leben der<br />

Menschen. Das heisst: nicht etwa durch den<br />

Staat, sondern dank Aktivierung der Gemeinden,<br />

z. B. durch die Acción Católica wird eine<br />

Verbesserung im täglichen Leben erreicht.<br />

Es gab also 2 Bewegungen: die bewaffneten<br />

Gruppen und der Aufbruch in den Gemeinden.<br />

Klar, die Motive waren zwar verschieden – die<br />

Guerilla wollte den Staat stürzen, die Acción<br />

Católica die Lebensumstände der Bevölkerung<br />

verbessern –, aber die Auswirkungen wurden<br />

gleich gesetzt, beides wurde als subversiv eingestuft.<br />

Wer sich dafür einsetzte (promotores<br />

de salud, catequistas, profesores, padres...),<br />

war verdächtig!<br />

Wenige Gruppierungen, die untereinander zusammenhängen,<br />

beherrschen Guatemala:<br />

die Oberschicht (manche sprechen von 20 Familien)<br />

d.h. Reichtum, Regierung, Militär, Justiz,<br />

Grossgrundbesitzer etc. Das bedeutet<br />

Macht!<br />

Guatemala ist landwirtschaftlich stark (Kaffee,<br />

Baumwolle, Zuckerrohr, Bananen...), nicht industriell.<br />

La tierra ist Symbol! Landbesitz führt<br />

zu Reichtum, das ist so seit der Ankunft der<br />

Spanier. Die Landverteilung ist ein bereits historischer<br />

Kampf, führte aber ab ca. 1980 zur<br />

Eskalation. Der Vorwand war gegeben: sozialer<br />

Einsatz = Kommunismus und Terrorismus.<br />

«Krieg» bedeutet eigentlich, dass zwei bewaffnete<br />

Gruppen gegeneinander kämpfen, aber:<br />

Von zehn Menschen, die im bewaffneten Konflikt<br />

starben, waren nur zwei Guerilleros, alle<br />

anderen waren Mitglieder der Zivilbevölkerung.<br />

Überliefert sind heute ca. 600 Massaker mit<br />

zwischen drei und 300 Toten am selben Tag!<br />

1988 gab die Bischofskonferenz den Hirtenbrief<br />

Clamor por la Tierra, (Schrei nach Land)<br />

heraus, Bischof Gerardi veröffentlichte Busquéda<br />

de la Verdad, den Wahrheitsbericht, und


wurde kurz darauf ermordet. Und was macht<br />

die Regierung? Laut Rigoberto no pasa nada,<br />

absolutes Schweigen auch nach Unterzeichnung<br />

der Friedensverträge. REMHI versuchte,<br />

internationales Völkerrecht anzuwenden, aber<br />

das greift nicht, was hier passierte kommt dort<br />

nicht vor.<br />

1996 wurden die letzten Friedensverträge unterzeichnet.<br />

Aber: Jetzt werden Kaibíles (Elitetruppen<br />

des Militärs = «Tötungsmaschinen»)<br />

als «Friedenstruppe» nach Afrika entsandt,<br />

um an den Friedenseinsätzen der UNO teilzunehmen.<br />

Absurd!<br />

Das Ixildreieck war ein Epizentrum damals im<br />

Bürgerkrieg. Rigoberto: Hay mucho que hacer,<br />

es gibt so viele Herausforderungen die angegangen<br />

werden müssten. Was bis jetzt geschah,<br />

ist etwas Lack über die Geschichte gepinselt.<br />

Die Ursachen des Krieges sind nicht<br />

gelöst, die heutige abnorme Gewalt in Guatemala,<br />

die als «normale» Delinquenz, Drogenhandel,<br />

Bandenkriminalität usw. bezeichnet<br />

wird, hat weithin dieselben Ursachen wie damals:<br />

extreme Armut, ungerechte Landverteilung,<br />

Mangel an Zukunftschancen...<br />

Rigoberto möchte nicht bei einer frustrierten<br />

Sicht der Lage stehen bleiben, er sieht wichtige<br />

Anhaltspunkte, mutige Personen wie z. B.<br />

Bischof Ramazzini, der unerschrocken seine<br />

(unbequeme) Position verteidigt trotz Morddrohungen,<br />

ebenso viele Menschen der einfachen<br />

Bevölkerung, die Zeugenaussagen machen<br />

und für ein besseres Miteinander sich<br />

einsetzen. Wir sind ziemlich betroffen und<br />

deshalb gibt es eine Fragerunde im Anschluss:<br />

Wie wird die Vergangenheit angegangen? Ist<br />

sie ein Thema in den Familien? – Es gibt viel<br />

Betroffenheit, viele Traumata, manches kann<br />

(noch) nicht angesprochen werden, aber es<br />

gibt Initiativen und psychosoziale Betreuungsangebote,<br />

meist von der Kirche.<br />

Wie sieht das international aus? – Im Ausland<br />

vertritt Bischof Ramazzini bei den heiklen Themen<br />

(Goldabbau, Migration, Drogenanbau<br />

etc.) die engagierten Leute und nicht der Präsident<br />

bzw. Regierungsvertreter.<br />

Ein authentischer Friede wäre nur möglich als<br />

nationale Bewegung mit internationaler Unterstützung,<br />

dem ¡Nunca Más! entsprechend.<br />

Wie steht es mit der Verarbeitung von offizieller<br />

Seite, z. B. in den Schulen, im Geschichtsunterricht?<br />

– Es wird darüber geredet auch an<br />

den Unis. Aber: fundierte Ergebnisse des REM-<br />

HI werden nicht akzeptiert, es hat offiziell keine<br />

Umkehr stattgefunden.<br />

22<br />

Problem Tierra: Enteignungen gab es seit der<br />

Ankunft der Spanier, dann 1871 unter Rufino-<br />

Barrios. Oder wenn das Land des Nachbarn<br />

grösser oder besser war, wurde er umgebracht,<br />

und damit hatte sich die Landaneignung<br />

erledigt. Wobei es auch Finqueros gibt,<br />

die tatsächlich durch eigene harte Arbeit zu<br />

Besitz gekommen sind. In Nebaj wurden 90%<br />

der BewohnerInnen im Krieg vertrieben – wer<br />

weiss, wer heute auf seinem ursprünglichen<br />

Land wohnt und wie er es wiederbekommen<br />

hat? So viele sind nie mehr zurückgekommen<br />

und Landtitel gab es nicht, oder sie existieren<br />

auch nicht mehr.<br />

Die «Verschwundenen»: Man weiss oft, dass<br />

sie ermordet wurden (es gibt etwa Augenzeugen),<br />

aber das ist kein Beweis und wird nicht<br />

anerkannt. Rosalina Tuyuc (von Conavigua =<br />

Coordinadora Nacional de Viudas, Witwenvereinigung<br />

Guatemalas) sagt, mit Entschädigungen<br />

hätte nicht begonnen werden können, weil<br />

absichtlich die Anforderungen zu hoch seien,<br />

man müsste z. B. einen Totenschein vorlegen<br />

können. So sind jedoch aus dieser Zeit in der<br />

Klinik von Santa Cruz del Quiché die Totenscheine<br />

nur auf «natürliche Todesursache»<br />

ausgestellt.<br />

Marcelino kann als direkt Beteiligter und Betroffener<br />

noch konkreter über die Vergangenheit<br />

und über REMHI sprechen. Zwei Fragen<br />

stehen an:<br />

1) Warum kam es zur Verfolgung innerhalb<br />

der Kirche?<br />

2) Wie erlebte er den bewaffneten Konflikt?<br />

Nebaj liegt in einer armen Gegend, es gibt fast<br />

nur Mais und Bohnen. Daher war die Bevölkerung<br />

gezwungen, Saisonarbeit an der Küste zu<br />

suchen. Um 1970 kamen die Padres del Sagrado<br />

Corazón hierher, damit die Acción Catolica,<br />

und die Idee, sich zusammenzuschliessen, um<br />

eine Verbesserung der Lebenssituation zu erreichen<br />

– nicht mehr jeder seine kleine Parzelle<br />

individuell zu beackern. Es entstanden Cooperativas,<br />

Schulen, Puestos de Salud, sogar<br />

Bienenzucht, Fussballplätze, und die Basisarbeit<br />

der KatechetInnen wurde aufgebaut. Ab<br />

dieser Zeit hörte man auch verborgen über die<br />

Guerilla im Ixcán, ab 1978/79 konkret im<br />

Ixildreieck. Bei Versammlungen und in Informationsrunden<br />

stellte man erstaunt fest, dass<br />

die Aussagen sehr verwandt klangen zwischen<br />

dem, was die Guerilla und dem, was die Padres<br />

und die catequistas sagten. Das alles wurde<br />

alsbald als subversiv eingestuft, es kam zu<br />

starker Militärpräsenz, der Ermordung von drei<br />

Padres und sehr vielen KatechetInnen (als


líderes und lideresas), viele wurden nachts<br />

entführt, man hörte nie wieder von ihnen. Es<br />

wurden zuerst also selektive Ermordungen<br />

verübt, um «der Schlange den Kopf zu zertreten».<br />

Aber dann wurde einfach alles zerstört,<br />

ermordet, wurden Ernten verbrannt, Tiere abgeschlachtet.<br />

Einige konnten in die Berge fliehen.<br />

Die Grausamkeiten kann man sich unter<br />

menschlichen Wesen gar nicht vorstellen. Nur<br />

ein Beispiel: Mehrere Menschen hatten sich in<br />

die Kirche gerettet und wurden dort lebendig<br />

verbrannt, Männer, Frauen, Kinder, Alte ohne<br />

jeden Unterschied. In der ersten Hälfte der<br />

80er-Jahre wurde hier alles zerstört, manche<br />

konnten schnell über die Grenze nach Mexiko<br />

fliehen, andere in die Berge und Wälder als interne<br />

Vertriebene, wo sie CPR (Comunidades<br />

de Población en Resistencia, Geheime Widerstandsdörfer)<br />

aufbauten. Es gibt hier keine<br />

einzige Familie ohne Ermordete oder Verschwundene,<br />

in Marcelinos Familie sind es 9<br />

Personen, 7 durch das Militär, 2 durch die Guerilla!<br />

Marcelino konnte fliehen.<br />

Wie war das Leben in den CPR? Marcelino lebte<br />

von 1980 bis 1996, also bis zur Unterzeichnung<br />

der Friedensverträge, total im Verborgenen,<br />

in den Bergen, hatte kaum Kontakte mit<br />

der Aussenwelt, kaum Nahrungsmittel, spärlichste<br />

Maisfeldchen, keine Ersatzkleidung, weil<br />

sie nie solange an einem Ort bleiben konnten,<br />

immer auf der Flucht vor dem Militär waren...<br />

Er erlebte die tägliche Bedrohung durch Mili-<br />

23<br />

tärpatrouillen, Hubschrauberbeschuss, vergiftetes<br />

Salz unter den Toten, die sie begraben<br />

wollten. Keine Zeit mehr zu haben zum Innehalten,<br />

zum Beten, um Gottesdienste zu feiern,<br />

zermürbte, es war der Kampf ums nackte<br />

Überleben. Wer gefangen wurde und am Leben<br />

blieb, wurde in die Modelldörfer zwangseingeliefert.<br />

Eine Bibel im Haus oder bei sich zu tragen,<br />

galt als «Waffe», also war der- oder diejenige<br />

einE RevolutionärIn und musste «ausser Gefecht»<br />

gesetzt werden. Zwei Katecheten begannen<br />

ohne autorización zu taufen, Ehen zu<br />

schliessen unter diesen Ausnahmebedingungen,<br />

geweihte Hostien trugen sie versteckt bei<br />

sich. Zu ihrer Erleichterung bedankte sich der<br />

Bischof (Julio Cabrera) später bei ihnen und<br />

ermächtigte sie noch nachträglich.<br />

1991 gab es eine Resolution aller Menschen<br />

der CPR. Sie wurde verschiedenen Gruppen,<br />

Menschenrechtsorganisationen, JournalistInnen,<br />

JuristInnen, Internationalen...in der<br />

Hauptstadt übergeben. Die CPR starteten eine<br />

Offensive aparecer a la luz, traten ans Licht<br />

der Öffentlichkeit über Radio, Zeitung, denn<br />

offiziell gab es keine interne Flüchtlinge. Die<br />

Botschaft war: Wir als campesinos und campesinas<br />

werden seit Jahren vom eigenen Militär<br />

verfolgt, aber entregarnos (como subversivos)<br />

nunca (uns als Subversive zu ergeben, nie)!<br />

Die angebotene Amnestie von Ríos Montt<br />

mussten sie ablehnen, sonst wären sie der<br />

Guerilla gleichgestellt worden. Nach den Frie-


densverträgen erhielten die CPR de la Sierra<br />

vier Fincas, drei davon an der Südküste, eine<br />

in der Gegend von Nebaj, dazu fünf Siedlungen<br />

(asentamientos), so zum Beispiel La Pista,<br />

wo Marcelino wohnt. Das Leben dort ist immer<br />

noch extrem hart, die Leute sehr arm – geändert<br />

oder gar gebessert hat sich eigentlich<br />

nichts.<br />

Emilia, Schwester von Padre Rigoberto, ist Ansprechperson<br />

für die Exhumaciones. Sie arbeitet<br />

innerhalb der Kirche – p or la verdad, la justicia<br />

y el perdón, la reconciliación y la paz (für<br />

die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Vergebung,<br />

für Versöhnung und Frieden).<br />

Als REMHI mit der Arbeit begann, waren zunächst<br />

nur wenige der Überlebenden bereit,<br />

Zeugnis abzulegen, die Angst war immer noch<br />

viel zu gegenwärtig. Aber der Wunsch, ihre Toten<br />

zu finden und in geweihter Erde beizusetzen,<br />

war stärker. Erst 1998 begannen Exhumierungen<br />

der Geheimen Friedhöfe im Quiché.<br />

Dies war das Jahr der Ermordung von Monseñor<br />

Gerardi, was erneut grosse Angst auslöste<br />

und der Bewegung einen empfindlichen<br />

Rückschlag versetzte. Trotzdem fand am 1. Juli<br />

1998 die erste Exhumierung statt, zum Auftakt<br />

eine Maya-Zeremonie mit vielen Blumen, Kerzen<br />

in den zeremoniellen Farben, Weihrauch<br />

und Gebeten.<br />

Der Hintergrund wird deutlich am Beispiel von<br />

Las Hoyas: Die Guerilla hatte einen Unterschlupf<br />

in der Nähe, was einem Comisionado<br />

Militar zu Ohren gekommen war. Eine Gruppe<br />

der PAC (Patrullas de Autodefensa Civil, Zivilpatrouillen)<br />

erschien mit weissen Fahnen, wurde<br />

gefesselt, andere PAC mussten sie umbringen.<br />

Darauf wurden die Guerilleros erschossen,<br />

32 Männer und Jungen insgesamt. Erst<br />

nach drei Tagen durften Angehörige an diese<br />

Stätte – mit viel Angst vor einer Falle. 1998<br />

24<br />

kam es zur Exhumierung, also 15 Jahre nach<br />

dem Massaker. Dabei konnten etliche Fotos gemacht<br />

werden, die jetzt im Gemeindesaal ausgestellt<br />

sind.<br />

Ein anderes Beispiel ist Chol bei Chajul: 42<br />

Menschen, und zwar ausschliesslich Alte, Frauen<br />

und Kinder, wurden im Dorf umgebracht,<br />

11 aus einer Familie – die Männer waren beim<br />

Maispflanzen in den Bergen gewesen! Bei der<br />

Exhumierung konnten die Überreste von 38<br />

Personen geborgen werden.<br />

Die Ausstellung im Gemeindesaal von Nebaj<br />

gibt ein eindrückliches Zeugnis der grausamen<br />

Vergangenheit.<br />

Don Antonio, Mitarbeiter in der Kirchengemeinde<br />

und Betroffener sagt: «Wir wollen,<br />

dass die Welt weiss, dass wir keine Guerilleros<br />

sind, dass unsere Familienangehörigen ermordet<br />

worden wurden, obwohl sie unschuldig waren!<br />

Wir waren weder Diebe noch kriminell,<br />

sondern ehrlich und fleissig, wir sind arm, aber<br />

sie taten nichts Schlechtes, trotzdem wurden<br />

sie umgebracht.»<br />

Im Februar 2002 wurde in Nebaj das Pfarrhaus<br />

angezündet, Gott sei Dank kamen keine Personen<br />

zu Schaden! Padre Rigoberto und seine<br />

Mitarbeiter geben nicht auf. Am 18. Februar<br />

2006 wurde der Grundstein für das neue Pfarrhaus<br />

gelegt.<br />

¡La esperanza del futuro se refleja en los<br />

rostros de los niños sonrientes del Triangulo<br />

Ixil! (In den lachenden Gesichtern der Kinder<br />

des Ixildreiecks erscheint die Hoffnung für die<br />

Zukunft!)<br />

Siehe auch "CPR: Comunidades de Población en Resistencia"<br />

(Anhang S. 3)


23. 02. 06: Xix (APDK, AMDI, Instituto «Nuevos Mayas»)<br />

Beneficio «Asociación de Poblaciones<br />

Desarraigadas K‘iche» (APDK)<br />

Wir werden vom Präsident und dem Schatzmeister<br />

des Beneficios empfangen. Organisationsform<br />

des Beneficios ist eine asociación, ein<br />

Verein, und ist während der Zeit der Aufstandsbekämpfung<br />

entstanden. Die Leute von<br />

Xix mussten damals in die Berge fliehen, daher<br />

der Name «Verein Entwurzelter Quiché-Bevölkerung».<br />

Nach dem Krieg hatten sie insofern<br />

Glück, als sie auf ihr eigenes Land zurückkehren<br />

konnten. Da sie sich gezwungen sahen,<br />

den Kaffee besser zu produzieren und zu vermarkten,<br />

gründeten sie APDK und produzierten<br />

Biokaffee. Der Verein zählt 230 Mitglieder<br />

aus 32 umliegenden Gemeinden, darunter<br />

auch Ixiles, die ihren Kaffee ins Beneficio der<br />

APDK bringen. Hier in Xix sind die Leute<br />

Quiché, teilweise sind ihre Grosseltern von<br />

Xela (Quetzaltenango) und anderen Orten auf<br />

der Suche nach Land und Arbeit hierher gekommen.<br />

Deshalb leben sie als Quiché hier im<br />

Ixil-Dreieck.<br />

Vor einem Jahr überprüfte eine kolumbianische<br />

Biolabel-Organisation, die auch eine Niederlassung<br />

in Nicaragua hat, ob die Kaffeeproduktion<br />

der APDK-Mitglieder die Kriterien des biologischen<br />

Anbaus erfüllte. Diese Prüfung ist positiv<br />

ausgefallen, doch wartet die APDK noch immer<br />

auf die offizielle Zertifizierung, um von der<br />

nächsten Ernte an Biokaffee verkaufen zu können.<br />

Die Zertifizierung kostet die asociación<br />

etwa 35‘000 Q. und muss jährlich wiederholt<br />

werden. Diese Ausgaben belasten sie sehr.<br />

Die Mitglieder sollen befähigt werden, den Kaf-<br />

25<br />

feeanbau und die biologische Produktion noch<br />

zu verbessern. Um selbst solche Weiterbildungen<br />

hier in Xix durchführen zu können, möchte<br />

die APDK ein Gebäude einrichten.<br />

Die asociación hat einst auch Kardamom angebaut.<br />

Doch weil dessen Preis in den Keller gefallen<br />

ist, konzentriert sie sich nun ganz auf<br />

Kaffee. Diesen musste sie bisher an nationale<br />

Zwischenhändler verkaufen. Mit der Zertifizierung<br />

ändert sich dies, und sie kann ihren Kaffee<br />

auch zu einem besseren Preis verkaufen.<br />

Der direkte Verkauf ins Ausland bringt aber<br />

auch Probleme mit sich, die APDK benötigt<br />

noch weitere Papiere (z.B. eine Exportlizenz<br />

von ANACAFE, dem nationalen Kaffeeinstitut),<br />

Stempel und Zertifizierungen, damit ihr Kaffee<br />

im Abnehmerland mit dem gewünschten Label<br />

(bio, fair trade) verkauft werden kann. Und<br />

wie für das Bio-, so muss auch für das Fair<br />

Trade-Zertifikat jährlich ein bestimmter Betrag<br />

hingeblättert werden. Die APDK möchte auch<br />

dieses Zertifikat erwerben, um ihren Kaffee zu<br />

einem besseren und<br />

von Kaffeemarkt-Krisen<br />

unabhängigeren Preis<br />

verkaufen zu können.<br />

Die genauen Kriterien,<br />

die für die Fair Trade-<br />

Zertifizierung nötig<br />

sind, können uns die<br />

Vertreter der APDK<br />

nicht nennen – vieles<br />

rund um den internationalen<br />

Kaffeemarkt<br />

und die verschiedenen<br />

Labels ist den KaffeebäuerInnen<br />

noch<br />

fremd. Sie erzählen<br />

uns aber, dass darauf<br />

geschaut werde, wie<br />

ein Verein oder eine<br />

Kooperative organisiert<br />

sei und welchen Preis<br />

die BäuerInnen für den<br />

Kaffee erhielten. Auch müsse der Verein seine<br />

Buchhaltung einreichen.<br />

Die BäuerInnen trocknen den Kaffee selbst,<br />

bevor sie ihn mit Maultieren und Lastwagen<br />

hierher ins Beneficio bringen. Wenn die Kaffeebohnen<br />

gepflückt werden, sind sie rot. Dann<br />

werden die weissen Bohnen aus den Kirschen<br />

herausgeschält und an der Sonne getrocknet.<br />

Jene Bohnen, die wieder ausgesät werden,<br />

dürfen nur zwei Stunden getrocknet werden<br />

und werden deshalb bereits bei der Ernte aus-


sortiert. Die getrockneten weissen Kaffeebohnen<br />

nennt man «Pergamino», weil sie noch in<br />

ein feines Häutchen gehüllt sind. Wenn das<br />

Häutchen entfernt ist, spricht man von «Oro».<br />

Die APDK hat bisher Pergamino produziert,<br />

möchte nun aber den zusätzlichen Arbeitsgang,<br />

um Oro herstellen zu können, selbst<br />

durchführen. Die Rigoberta Menchú-Stiftung<br />

hat ihr über eine baskische Organisation die<br />

dafür nötige Maschine und den Bau des Beneficios<br />

finanziert – sich aber darüber hinaus um<br />

nichts gekümmert. So ist die asociación zwar<br />

im Besitz der Maschine, darf sie aber nicht benutzen,<br />

da es für die Herstellung von Oro eine<br />

entsprechende Bewilligung braucht (wahrscheinlich<br />

die Exportlizenz).<br />

Für einen 50kg-Sack Pergamino erhält die<br />

APDK von den coyotes 650 Q. Wenn sie Oro<br />

direkt an einen Exporteur verkaufen kann, erhält<br />

sie dafür einen besseren Preis. Im Moment<br />

verkauft sie ihren Kaffee (Pergamino) an<br />

einen Grosshändler und erhält dafür 700 Q.<br />

Die Mitglieder müssen nun etwas ausharren,<br />

bis die asociación im Besitz des Bio- und des<br />

Fair Trade-Zertifikats ist und den Kaffee gegen<br />

Dollars verkaufen kann. Obwohl sie auch noch<br />

über keinen Fonds (Eigenmittel) verfügt und<br />

von den 700 Q. pro Sack noch etwas für die<br />

asociación abfällt, lohnt es sich für die Mitgliederfamilien,<br />

ihren Kaffee an die APDK und<br />

nicht direkt an einen coyote zu verkaufen.<br />

Wieviel die Familien schlussendlich pro Sack<br />

Kaffee erhalten, erfahren wir nicht.<br />

Im Moment stehen die BäuerInnen der APDK<br />

am Anfang der diesjährigen Kaffee-Ernte (es<br />

stehen erst wenige gefüllte Säcke in der grossen<br />

Halle). Die asociación rechnet mit etwa<br />

2000 Säcken, das wären doppelt so viele wie<br />

vor einem Jahr.<br />

Nebst dem Beneficio betreibt die APDK eine<br />

Baumschule, wo pinos (Fichten) und Erlen gezüchtet<br />

werden, insgesamt 10‘000 Pflanzen.<br />

Diese gibt sie den soci@s (Mitglieder der asociación)<br />

als Holzlieferanten für Bretter, Möbel<br />

etc. ab. Ein Vorteil dieser Pflanzen besteht darin,<br />

dass sie nicht gegossen werden müssen.<br />

-> Lorenzo Acabal Hernández (Presidente y Representante)<br />

E-mail: apdk_xix@yahoo.com<br />

26<br />

Asociación de Mujeres para el Desarrollo<br />

Integral (AMDI)<br />

Nach dem Mittagessen (Suppe mit Fleisch und<br />

Gemüse, Tortillas) werden wir von folgenden<br />

Frauen begrüsst: Cristina López (Rechtsvertreterin),<br />

Juana (erste Sprecherin), Marcela (Mitglied<br />

der junta directiva), Maria (Beirätin), Juana<br />

(Sekretärin). Die Frauen haben die AMDI<br />

im Jahr 2002 gegründet. Die EU hat sie bei der<br />

Legalisierung der Organisation unterstützt und<br />

ihr ein paar kleinere Dinge wie Stühle, Tische<br />

und Stacheldraht finanziert. Im ersten Jahr haben<br />

die Frauen mittels Krediten Kühe gekauft.<br />

Seit den beiden letzten Jahren betreiben 65<br />

Frauen ein neues Projekt mit Schafen, das sie<br />

dank der Unterstützung des Bürgermeisters<br />

von Chajúl starten konnten. Sie erhielten das<br />

Geld dafür geschenkt, müssen also nichts zurückbezahlen.<br />

Bei den Kühen war das anders,<br />

da mussten sie mit dem Gewinn aus dem Projekt<br />

den Kredit abzahlen. Trotzdem blieb auch<br />

damals ein kleiner Gewinn, mit dem sie neue<br />

Kühe kaufen konnten. Das Projekt haben sie<br />

heute noch. Wie bei den Kühen, so geht es ihnen<br />

auch bei den Schafen v.a. ums Fleisch,<br />

nicht um die Wolle. Ihre Grossmütter hatten<br />

noch gesponnen, sie selbst tun das nicht mehr.<br />

Jede Frau hat zwei Schafe, einen Bock und<br />

eine Kuh erhalten. Die Aufgabe der Männer ist<br />

es, die Weiden zu pflegen und sauber zu halten.<br />

Zum Projekt gehört auch, dass jede Frau<br />

einen Stall hat für die Tiere.<br />

Die AMDI ist eine reine Frauengruppe – da sich<br />

die Frauen in gemischten Gruppen oft nicht zu<br />

sprechen trauen.<br />

Die asociación wollte auch ein Projekt mit Medizinalpflanzen<br />

aufziehen, doch da sie keine<br />

Trocknungsanlage kriegte, scheiterte es. Nun<br />

hat jede Frau bei sich im Garten einige Kräuter.<br />

Wahrscheinlich, so die Frauen der AMDI, ist es<br />

ein Überbleibsel der CPR, dass die Leute hier<br />

so gut organisiert sind. Jene, die aus den CPR<br />

(comunidades de población en resistencia) zurückgekommen<br />

sind, haben ihre Organisationen<br />

beibehalten, wer später dazugekommen<br />

ist, hat sich ebenfalls organisiert. Auch hier<br />

waren die Männer in die PAC (patrullas de autodefensa<br />

civil) gezwungen worden – auch diese<br />

Organisationen sind erhalten geblieben. Die<br />

verschiedenen Organisationen haben nun unterschiedliche<br />

Aufgaben (z.B. Kaffee: APDK;<br />

Schafe: AMDI etc.). In den CPR hatte es keine<br />

Frauenorganisation gegeben, aber ein Frauenkomitee.<br />

Die Frauen in der AMDI werden von<br />

ihren Männern unterstützt.<br />

Seit ihrer Gründung arbeitet die Asociación<br />

auch mit Kindern. Sie hatten schon 28 Fälle


unterernährter Kinder aufs Mal, im Moment<br />

sind es «nur» 10. Die Frauen der Umgebung<br />

werden hierher eingeladen, wo sie von einer<br />

Fachfrau über Ernährung, Stillen und Familienplanung<br />

informiert werden. Unterdessen sind<br />

die Frauen von AMDI<br />

selbst zu Promotorinnen<br />

geworden. Die<br />

«Technikerinnen» von<br />

aussen sprechen oft<br />

nur Spanisch, was aber<br />

viele Frauen hier nicht<br />

verstehen. Unter den<br />

Gesundheitspromotorinnen<br />

sind auch Hebammen.<br />

Das Hauptproblem in<br />

Bezug auf die Kinder<br />

ist weniger fehlende<br />

Ernährung als viel<br />

mehr die mangelnde<br />

Hygiene, wegen der<br />

die Kinder Durchfall<br />

bekommen. Hygiene<br />

ist deshalb ein wichtiges<br />

Thema in den Kursen<br />

der AMDI.<br />

Es hat hier im Dorf eine Schule für die ersten<br />

sechs Jahre. Danach müssen die Kinder eine<br />

entferntere Schule besuchen, was aber wegen<br />

der Unterkunft und des Essens teuer ist. Trotzdem<br />

gibt es hier in Xix einige, deren Kinder<br />

weiter studieren, so z.B. auch der Sohn von<br />

Cristina.<br />

Die Primarschule ist obligatorisch. Für die weiterführende<br />

Schule stellt das hier ansässige<br />

Institut «Nuevos Mayas» (s. unten) Stipendien<br />

zur Verfügung. In der öffentlichen Schule erhalten<br />

die Kinder in der Pause einen Atól<br />

(Maisgetränk) o.ä., aber keine Milch. Im Institut<br />

dagegen kriegen die unterernährten Kinder<br />

jeden Morgen ein Glas Ziegenmilch.<br />

Arbeit gibt es in Xix nicht viel. Die meisten<br />

Leute sind gezwungen, für Arbeit an die Küste<br />

zu fahren. Daneben haben sie noch die Selbstversorgung.<br />

Dank der Projekte geht es den Frauen besser:<br />

Sie haben auf einem bestimmten Gebiet Erfahrungen<br />

gesammelt und auch nicht mehr so<br />

grosse Scheu, in einer Gruppe oder gar auf<br />

Spanisch zu sprechen. Cristina hat Spanisch<br />

aus Notwendigkeit gelernt, z.T. von ihrer Mutter.<br />

Wenn eine Organisation die AMDI mit dem nötigen<br />

Geld unterstützen würde, würde sie ihren<br />

Mitgliedern gerne Kleinkredite zur Verfügung<br />

stellen, damit diese ein kleines Geschäft eröff-<br />

27<br />

nen oder zusätzliche Tiere kaufen könnten.<br />

Kredite auf der Bank zu erhalten, ist schwierig,<br />

und den meisten Frauen wird der Zugang zu<br />

Krediten zusätzlich durch die Sprache (Spanisch)<br />

verwehrt. Zudem müssen die Kredit-<br />

nehmerInnen ihre Papiere auf der Bank abgeben,<br />

was viele nicht tun wollen – aus Angst,<br />

sie nicht mehr zurückzuerhalten. Die asociación<br />

hat unterdessen ein kleines Kapital von<br />

5000 Q., das sie für Kleinkredite einsetzt. Anfangs<br />

hat sie von einem Projekt in Ixil Beratung<br />

erhalten, unterdessen haben die Frauen<br />

eigene Erfahrungen gemacht und schreiten<br />

langsam vorwärts, lernen stetig dazu.<br />

Die asociación hätte auch gerne ein Vereinslokal.<br />

Der Raum, in dem sie uns empfangen haben<br />

und in dem sie ihre Treffen und Kurse abhalten,<br />

gehört Cristina, die ihn dafür zur Verfügung<br />

stellt.<br />

Erwachsenenbildung kann die AMDI nicht anbieten,<br />

obwohl der Bürgermeister ihnen dafür<br />

eine Lehrperson zur Verfügung gestellt hätte.<br />

Dem Verein fehlt das Geld, um diese Person<br />

bezahlen zu können.<br />

Zum Schluss erzählen die Frauen noch von ihrem<br />

Aufforstungsprojekt. Nur jene Frauen können<br />

bei der Aufforstung mitarbeiten, die ein<br />

Stück eigenes Land haben, wo sie die Bäume<br />

anpflanzen können. Da es nicht genug Land<br />

für alle hat, können also nicht alle Frauen in<br />

diesem Projekt mitmachen.


«Centro de Formación Nuevos Mayas»<br />

Wir werden vom Direktor des Zentrums, Don<br />

José, empfangen. Er erzählt uns, dass das Institut<br />

im Jahr 2002 gegründet wurde. José war<br />

während der Aufstandsbekämpfung drei Jahre<br />

in den Bergen gewesen. Danach hatte er die<br />

Gelegenheit, bei Schwestern zu studieren. Bereits<br />

in den Bergen hatte ihn der Gedanke verfolgt,<br />

dass die Kinder auf dem Land das lernen<br />

können sollten, was sie hier brauchen. Deshalb<br />

gründete er nach seiner Rückkehr eine asociación,<br />

die dann diese Schule gründen sollte. Zuerst<br />

führte die asociación aber eine Umfrage<br />

zur Bedürfnisabklärung durch. Dabei hatten er<br />

und seine compañer@s herausgefunden, dass<br />

nur fünf von zehn Kindern bis über die 5. Klasse<br />

hinauskommen und dass von diesen fünf<br />

vier Knaben sind. Hier im Ixil gab es noch<br />

2002 eine AnalphabetInnenrate von 70%.<br />

Gründe dafür sind die Armut der Leute und die<br />

weite Entfernung der Ausbildungsmöglichkeiten<br />

von ihren Wohnorten. Deshalb entschlossen<br />

sich José und seine compas, dieses Institut<br />

«Nuevos Mayas» zu gründen, das ausschliesslich<br />

für Indígenas ist.<br />

Die Schule soll selbsttragend sein, was ein<br />

hoch gestecktes Ziel ist. Es ist den BetreiberInnen<br />

deshalb wichtig, weil der Staat keine<br />

Schulen finanziert, die über die Primarschulstufe<br />

hinausgehen. Der Staat, so José, baue<br />

Strassen u.ä., gebe aber viel zuwenig Geld für<br />

Bildung aus.<br />

Die Idee von «Nuevos Mayas» ist es, dass die<br />

SchülerInnen nach ihrer Ausbildung entweder<br />

weiter studieren oder wieder in ihre Dörfer zu-<br />

28<br />

rückkehren und dort als PromotorInnen für<br />

Entwicklung arbeiten. Somit geht es dem Institut<br />

nicht nur um die individuelle Förderung<br />

einzelner Kinder. Auf der Sekundarstufe (basico)<br />

beschäftigen sich die SchülerInnen nicht<br />

nur mit Allgemeinbildung, sondern auch mit<br />

der Landwirtschaft. Sie lernen z.B., wie man<br />

Samen gewinnt, den Boden fruchtbar hält etc.<br />

Dieses Wissen sollen sie dann als PromotorInnen<br />

in ihre Dörfer tragen. Sie lernen auch, vor<br />

Leute hinzustehen, zu sprechen und Vorträge<br />

zu halten.<br />

Hier in der Schule werden Versuche durchgeführt,<br />

um herauszufinden, was gut wächst,<br />

was funktioniert und was nicht. Nur diese Dinge,<br />

die in der Praxis erfolgreich sind (also kein<br />

abstrakt-theoretisches Wissen, das vielleicht<br />

für die Praxis in dieser Umgebung unnütz ist),<br />

tragen die SchülerInnen in ihre Dörfer zurück.<br />

Die SchülerInnen der<br />

Sekundarstufe sollen<br />

auch hier in Xix und in<br />

den umliegenden comunidades<br />

als HilfslehrerInnenÜbersetzungsarbeit<br />

leisten, da die LehrerInnen<br />

oft die Sprache<br />

der Kinder (eine Mayasprache)<br />

nicht verstehen.<br />

Von Januar bis Oktober<br />

findet im «Nuevos Mayas»<br />

der Unterricht statt<br />

(für die PrimarschülerInnen<br />

jeweils nachmittags,<br />

für die SekundarschülerInnen<br />

ganztags – morgens<br />

Schule, nachmittags<br />

LdW), im November<br />

und Dezember sollen die<br />

SchülerInnen in ihren<br />

comunidades Nachhilfeunterricht<br />

für Kinder und auch für Erwachsene<br />

erteilen. Dies tun sie während zwanzig Stunden,<br />

der Rest dieser zwei Monate steht ihnen<br />

als Ferien zur Verfügung. Der Bürgermeister<br />

oder eine andere zuständige Person stellt ihnen<br />

danach eine entsprechende Bestätigung<br />

aus.<br />

Der Unterricht im Institut ist zweisprachig, damit<br />

die Kinder auch die Mayasprachen schätzen.<br />

Nebst dem spanischsprachigen Unterricht<br />

erhalten die SekundarschülerInnen, je nach<br />

Muttersprache, Unterricht in Quiché oder Ixil,<br />

in nach Sprachen getrennten Klassen. Auf der<br />

Primarstufe wird kein Ixil unterrichtet, da die<br />

Kinder auf dieser Stufe alle von hier und also


Quichés sind. Die Kinder sollen ihre Sprache<br />

nicht nur sprechen, sondern auch lernen, sie<br />

zu lesen und zu schreiben. Dazu haben die<br />

LehrerInnen hier, zusammen mit einem Zentrum<br />

in Chichicastenango, ein Computerprogramm<br />

entwickelt.<br />

Da die Umfrage vor der Gründung des «Nuevos<br />

Mayas» gezeigt hat, dass nur sehr wenige<br />

Mädchen länger als fünf Jahre zur Schule gehen,<br />

möchte das Institut Mädchen gezielt fördern,<br />

indem es mehr Mädchen als Knaben aufnimmt.<br />

Fürs Internat wird nur zugelassen, wer<br />

mehr als zehn Fussstunden von einer Schule<br />

entfernt wohnt. Auch werden Kinder bevorzugt,<br />

deren Familien während der Zeit der violencia<br />

von Repression betroffen waren.<br />

Die Kinder aus der Umgebung bezahlen pro<br />

Monat 60 Q., jene von weiter her, die im Internat<br />

wohnen, bezahlen 200 Q., v.a. für Essen<br />

und Unterkunft. Wenn die Eltern diesen Betrag<br />

nicht bezahlen können, kann der Vater ein<br />

paar Tage hier auf dem Schulgelände arbeiten,<br />

wofür er 30 Q. pro Tag erhält. Diese Möglichkeit<br />

ist in Guatemala einzigartig.<br />

Für den Bau der Schule erhielt das Institut<br />

eine zusätzliche Unterstützung, eine Art Patenschaft,<br />

von Schweden.<br />

Jene sechs LehrerInnen, die auf der Primarstufe<br />

unterrichten, werden vom Staat bezahlt.<br />

Von den vier LehrerInnen der Sekundarschule<br />

werden zwei von den Beiträgen der Familien<br />

bezahlt. Alle LehrerInnen waren an der Uni<br />

oder sind noch immer dort und führen ihr Studium<br />

weiter (jeweils samstags). Die meisten<br />

werden im Jahr 2008 ihr Pädagogik-Studium<br />

abschliessen. Dann möchten sie dieses Wissen<br />

auch hier an der Schule vermitteln.<br />

Momentan werden hier 120 Kinder auf der Primar-,<br />

60 auf der Sekundarstufe unterrichtet.<br />

Die Primarschule gibt es erst seit diesem Jahr,<br />

seither leidet die Schule an Platzmangel: Es<br />

gibt lediglich drei Schulzimmer, unterrichtet<br />

wird z.B. auch im Essraum. Nun sollen sechs<br />

Schulräume angebaut werden, die von internationalen<br />

Organisationen finanziert werden.<br />

Die Nachhaltigkeit ist dem Institut sehr wichtig.<br />

Don José hat z.B. die Idee, eine Fabrik für<br />

Atól aufzubauen, den er übers Erziehungsministerium<br />

verkaufen möchte. Denn dieses ist<br />

verpflichtet, den SchülerInnen eine Pausenver-<br />

29<br />

pflegung anzubieten.<br />

Die Schule möchte auch persönliche Patenschaften<br />

für einzelne SchülerInnen fördern,<br />

um den Kindern die Ausbildung hier zu ermöglichen.<br />

V.a. für Mädchen sollen PatInnen gesucht<br />

werden. Die Patenkinder müssen pro<br />

Jahr drei Briefe an ihre Patin oder ihren Paten<br />

schreiben: einen im Januar, in dem sie über<br />

die Ferien, über die Festtage und ihre Familie<br />

berichten, einen im Juni, in dem sie erzählen,<br />

was sie im ersten Halbjahr gelernt haben, was<br />

sie gerne machen und was ihnen Schwierigkeiten<br />

bereitet und einen im November, in dem<br />

sie die Themen des zweiten Briefs aufs zweite<br />

Halbjahr bezogen erläutern. Don José bittet<br />

uns, bei uns zu Hause von der Möglichkeit,<br />

eine Patenschaft zu übernehmen, zu berichten.<br />

Das Schulmaterial, das in den öffentlichen<br />

Schulen verwendet wird, hat nichts mit der<br />

Realität der Kinder zu tun. Deshalb arbeiten<br />

sie hier im «Nuevos Mayas» auch mit anderem<br />

Material. Für die Kinder im Kindergarten gibt<br />

es vier thematische Ecken, in denen sie sich<br />

mit unterschiedlichen Materialien (z.B. mit<br />

Malutensilien) und mit unterschiedlichen Themen<br />

beschäftigen können. Das Erziehungsministerium<br />

besteht darauf, dass an allen Schulen<br />

mit den üblichen Schulbüchern gearbeitet<br />

wird. Die Schule hat dem Ministerium nun einen<br />

Brief geschrieben, dass diese Bücher nicht<br />

der Realität der Kinder hier entsprächen. Sie<br />

möchte nun mit Unterstützung einer US-Organisation<br />

eigenes Schulmaterial erarbeiten.<br />

Auch bei der Wahl der LehrerInnen hat das Institut<br />

einen ständigen Kampf mit dem Erziehungsministerium<br />

auszufechten, da das «Nuevos<br />

Mayas» LehrerInnen aus der Region anstellen<br />

möchte. Nun beschäftigt es drei fest<br />

angestellte LehrerInnen von hier und drei aus<br />

Quiché, die jedes Jahr neu eingestellt werden<br />

müssen.<br />

Die Schule arbeitet mit den Kindern auch zur<br />

jüngsten Geschichte Guatemalas. Sie hat ein<br />

Denkmal errichtet, das an die schlimmen Ereignisse<br />

während der Aufstandsbekämpfung<br />

erinnert. Jeweils am 16. Februar organisiert<br />

sie einen Tag der Erinnerung – an jenem Tag<br />

hatte das grösste Massaker in der Umgebung<br />

stattgefunden. Deswegen hat die Schule bereits<br />

Drohungen erhalten.


24. 02. 06: San Bartolomé Jocotenango – San Pedro Jocotenango<br />

Abschied von Nebaj – ein letzter Blick in das<br />

idyllische Tal hinunter zeigt die Grösse des Kirchengevierts<br />

inmitten der Strassenquadrate.<br />

Antonio lenkt den Bus sicher durch die heiklen<br />

Passagen der zum Teil engen Passstrasse; die<br />

Landschaft ist grün, in dieser Gegend gibt es<br />

genug Wasser. Wieder die schmalen, bis hoch<br />

hinauf und extrem steil angelegten Felder.<br />

Beim Fotostopp mit Blick über die Bergketten<br />

entpuppt sich ein grosses Insekt an einem<br />

Busch plötzlich als Kolibri!<br />

Wir durchqueren wieder Sacapulas und fahren<br />

nach San Bartolomé Jocotenango. Die<br />

Staubstrasse windet sich endlos entlang einer<br />

dunkel bewaldeten Bergkette; San Bartolome<br />

liegt am Ende der Welt. Hier gibt es 13 evangelikale<br />

Kirchen – die wenigen Gebäude, die<br />

frisch bemalt und in gutem Zustand sind.<br />

Offenbar sind viele KatechetInnen gezwungen<br />

worden, zu den Evangelikalen überzutreten.<br />

Bei der Fahrt durch die Ortschaft<br />

fallen uns auch die überaus zahlreichen<br />

Parteiparolen und Parteikürzel auf den<br />

Hausmauern auf.<br />

Ulrike Morsell, eine Deutsche, die 1972 mit<br />

der katholischen Entwicklungshilfe nach<br />

Guatemala gekommen ist, ein Jahr in San<br />

Bartolomé verbracht hat und heute den diözesanen<br />

Caritas-Verband in Quiché leitet,<br />

trifft uns hier. Sie hat die betagte Manuela<br />

Makzoy und ihre Tochter Margarita ins Kloster<br />

der kolumbianischen Suoras de Madre<br />

Laura mitgebracht, wo wir das Mittagessen<br />

zusammen mit den vier Klosterschwestern<br />

einnehmen.<br />

Manuelas Mann und ihre drei Söhne wurden<br />

im Krieg umgebracht. Margarita erzählt,<br />

dass die Bevölkerung hier und ganz speziell<br />

die Frauen unter der violencia extrem gelitten<br />

haben. Hier gab es keine Rechte für<br />

Frauen; eine Frau konnte auch kein Land<br />

erben. Marguerita erkämpfte sich dann mit<br />

Hilfe der Caritas vor dem Gericht in Quiché<br />

nach einer rund 6-jährigen Prozessdauer<br />

das Recht auf das Land ihres Vaters.<br />

San Bartolomé hinterlässt einen desolaten<br />

Eindruck – eine Ortschaft voll drückender<br />

Hoffnungslosigkeit, weit abgelegen und vergessen.<br />

Der Klosterhof mit den Blumen darin<br />

hat etwas Irreales, die Klosterfrauen scheinen<br />

auf einer Insel zu leben, mit wenig Bezug zur<br />

Aussenrealität.<br />

Auf der Weiterfahrt Richtung Quiché machen<br />

wir in San Pedro Jocotenango Halt. In einem<br />

an den Kirchhof grenzenden Gemeinde-<br />

30<br />

saal gibt uns die Gruppe «Xocopila» ein begeisterndes<br />

und nach dem Besuch in San Bartolomé<br />

besonders wohltuendes Marimba-Konzert.<br />

Gleichzeitig findet eine Hochzeit statt –<br />

es ist amüsant, zuzuschauen, wie der Zug mit<br />

der Braut sich auf die Zeremonie vorbereitet<br />

und schliesslich Richtung Kirche entschwindet.<br />

Mit Hingabe lassen die Schüler der Basico-Stufe<br />

die Schlagstäbe mit den Gummiköpfen auf<br />

die Holzstücke niedersausen. Dazu kommen<br />

auch ein Piccolo, Perkussion, auch auf einem<br />

Schildkrötenpanzer, und Schlagzeug.<br />

Die Marimba ist das typische Landesinstrument:<br />

Ein riesiges Xylophon, der Klangkörper<br />

aus Ameisenbaum, darunter hölzerne Resonanzkästen.<br />

Ein eingesetztes Stück Schweinedarm<br />

verstärkt die hölzernen Nachklänge zusätzlich.<br />

In dieser Gegend sind die Häuser hauptsächlich<br />

aus Lehm, mit Ziegeldächern – im Gegensatz<br />

zu San Marcos, wo die Behausungen vor<br />

allem aus Zementbacksteinen und Wellblechdächern<br />

bestehen. Auf der Weiterfahrt halten<br />

wir kurz in Quiché und treffen dann schon<br />

nach dem Eindunkeln in Chichicastenango<br />

ein, wo uns ein Schild am Strassenrand mit Bienvenidos<br />

en el Mecca del Turismo begrüsst.


25. 02. 06: Chichicastenango, Pastoral de la Tierra Quiché<br />

Felipe Zapeta von Caritas Quiché besucht uns<br />

im Hotel und erzählt uns von den Problemen,<br />

mit denen er bei seiner Arbeit konfrontiert ist.<br />

Viele der gegenwärtigen Probleme sind älter<br />

als 100 Jahre. Das Landproblem hat mit der<br />

Kolonialisierung begonnen. Mit immer wieder<br />

neuen Gesetzen wurden die Indígenas um ihr<br />

Land gebracht.<br />

Das beste Land ist an der Pazifikküste, wo es<br />

flach ist. Dort gibt es grosse Fincas für Exportprodukte<br />

wie Zucker oder Baumwolle. Daneben<br />

gibt es das Hochland sowie die Ebene im<br />

Petén, die nicht sehr fruchtbar ist und wo bis<br />

vor kurzem Urwald stand (und zum Teil immer<br />

noch steht). Die Ländereien an der Küste werden<br />

von wenigen Familien beansprucht: viel<br />

Land gehört einigen wenigen Leuten.<br />

Das Landproblem ist ein historisches und<br />

strukturelles Problem – strukturell deshalb, da<br />

die Enteignungen juristisch legalisiert wurden.<br />

Viele Leute besitzen ein wenig Land, haben<br />

ihre Besitzrechte aber nicht juristisch abgesichert.<br />

Oft fehlen ihnen auch die Mittel, um das<br />

Land richtig fruchtbar machen zu können.<br />

Verschiedene comunidades haben angefangen,<br />

das Land, das ihnen weggenommen wurde,<br />

zurückzufordern. Keine der bisherigen Regierungen<br />

hat das Landproblem gelöst.<br />

Das Departement Quiché zählt ca. 650‘000<br />

EinwohnerInnen, davon sind rund 55% Frauen<br />

und über die Hälfte unter 18 Jahren alt. 85%<br />

der EinwohnerInnen leben auf dem Land, 87%<br />

sind Mayas, davon ein Grossteil Quiché. Nach<br />

den Departementen von San Marcos und Alta<br />

Verapaz ist Quiché das drittärmste Departement<br />

Guatemalas. 65% der Leute hier sind<br />

arm.<br />

In Bezug auf das Land stellen sich den Leuten<br />

v.a. drei Fragen: Wem gehört das Land? Was<br />

produzieren wir darauf? Was machen wir mit<br />

den Produkten?<br />

Der Staat kümmert sich kaum um die Landwirtschaft<br />

im Quiché. In den letzten Jahren hat<br />

er ein paar Strassen gebaut, das war alles. Die<br />

jetzige Regierung (Oscar Berger) handelt im<br />

Interesse der grossen Unternehmen. Zwei Beispiele<br />

dafür sind der Bergbau und der Freihandel.<br />

Der Quiché war schon immer ein Reservoir für<br />

Arbeitskräfte. Im Süden des Departements migrierten<br />

jeweils 85% während der Erntezeit<br />

auf die Fincas an der Küste. Wegen der seit<br />

etwa vier Jahren andauernden Kaffeekrise sind<br />

es heute weniger. Einige fanden auf den Zuckerrohrfincas<br />

Arbeit, andere migrieren in die<br />

31<br />

Stadt, wo sie als StrassenverkäuferInnen arbeiten,<br />

wieder andere gehen in den Norden.<br />

Seit 1984 führt die Caritas im Quiché Projekte<br />

durch. In den ersten ging es darum, die Leute<br />

zu unterstützen, dass sie wieder zu Tieren kamen.<br />

1988 zog sie ein Kreditprojekt auf, damit<br />

die Leute Land kaufen konnten. Die Pastoral<br />

de la Tierra unterstützt die BäuerInnen darin,<br />

selbst biologischen Dünger herzustellen und<br />

auf der nicht sehr fruchtbaren Erde eine nachhaltige<br />

Produktion zu betreiben. Denn die Leu-<br />

te arbeiten z.T. von morgens 4 Uhr bis abends<br />

18 Uhr, um das Geld für die chemischen Düngemittel<br />

zu verdienen. Caritas möchte die Leute<br />

auch davon überzeugen, die Produktion zu<br />

diversifizieren, nicht nur Mais und Bohnen anzubauen.<br />

Ein weiterer Bereich der Caritas-Arbeit sind die<br />

juristischen Probleme des Landbesitzes. Hier<br />

im Quiché gibt es nur sehr wenige Fincas. Das<br />

Problem der Landbesetzung (vgl. 14. 02. 06:<br />

Colomba) gibt es deshalb hier nicht. Das Problem<br />

ist, dass die Leute keine juristische Besitzbescheinigung<br />

für ihr Land haben.


Vor zwei Jahren begann die Caritas Quiché, in<br />

einem dritten Bereich zu arbeiten: in der Vermarktung<br />

der Produkte. Damit möchte sie den<br />

gerechten Handel fördern, nicht einfach nach<br />

Marktprinzipien arbeiten. Ihr Ziel ist es, unter<br />

den BäuerInnen das Bewusstsein zu schärfen<br />

für die Bedeutung von Organisation und Solidarität,<br />

und die Zwischenhändler hier auf dem<br />

Land umgehen zu können. Die Leute sollen<br />

nicht unbedingt mehr Mais produzieren, sondern<br />

sie sollen unabhängiger werden von äusseren<br />

Umständen, wie z.B. billigen US-Importen<br />

oder teuren Düngemitteln. Gegen Freihandelsabkommen<br />

beispielsweise mit Taiwan oder<br />

Kolumbien hat Felipe nichts einzuwenden,<br />

doch jenes mit den USA macht die KleinbäuerInnen<br />

abhängig. Die USA produzieren mit 4%<br />

der Bevölkerung 21% der Güter weltweit und<br />

wollen sie den anderen aufdrängen. Es geht<br />

ihnen nicht um einen partnerschaftlichen Handel,<br />

sondern um die natürlichen Ressourcen<br />

(Öl, Edelmetalle etc.) und darum, ihre Überproduktion<br />

loszuwerden.<br />

In beiden Fällen – Minen und Freihandelsabkommen<br />

– wurde die Bevölkerung weder informiert<br />

noch befragt. Nur 23 von 158 Kongressabgeordneten<br />

waren überhaupt interessiert,<br />

mehr über das Freihandelsabkommen mit den<br />

USA zu erfahren. Alle anderen haben einfach<br />

abgestimmt. Das Abkommen wurde im März<br />

2005 vom Kongress ratifiziert. Da die Politiker-<br />

Innen wussten, dass sie damit eine Protestwelle<br />

auslösen würden, haben sie im Vorfeld zwölf<br />

sozialpolitische Gesetze versprochen. Davon<br />

wurden unterdessen gerade mal vier verabschiedet<br />

– und gleichzeitig verhandelt der Kongress<br />

neue neoliberale Gesetze. Der Druck der<br />

USA, diese Gesetze durchzubringen, ist natürlich<br />

um einiges grösser als der Druck der Bevölkerung,<br />

die sozialen Gesetze zu realisieren.<br />

Alle zentralamerikanischen Staaten ausser<br />

Costa Rica haben CAFTA, das Freihandelsabkommen<br />

zwischen Zentralamerika und den<br />

USA, ratifiziert. Doch für die Inkraftsetzung<br />

braucht es in den einzelnen Ländern noch verschiedene<br />

Gesetze. Deshalb verhandeln die<br />

USA nun einzeln mit den jeweiligen Staaten.<br />

Das Abkommen berücksichtigt keine Organisationen<br />

und keine lokalen Besonderheiten. Es<br />

bringt z.B. einen Grossgrundbesitzer in den direkten<br />

Wettbewerb mit einem Landarbeiter,<br />

der 400 Q. im Monat verdient.<br />

Felipe ist der Meinung, dass man in Guatemala<br />

einsehen müsse, nicht ewig von der Landwirtschaft<br />

leben zu können. Man müsse die Produktion<br />

erweitern und auch veredelte Produkte<br />

32<br />

verkaufen (z.B. Kaffee, Kardamom). Auch birgt<br />

die Förderung des Binnenhandels, nebst dem<br />

Aussenhandel, ein grosses Potential, das bislang<br />

weitgehend ausser Acht gelassen wurde.<br />

Vier Wirtschaftsbereiche könnten für Guatemala<br />

und die Leute im Quiché interessant sein:<br />

Ökotourismus, Weiterentwicklung der LdW für<br />

den Export (Veredelung der Produkte), Textilindustrie,<br />

Waldwirtschaft und Aufforstung.<br />

In den Ländern des Nordens braucht es verstärkte<br />

Aufklärung über die Kaffeeproduktion,<br />

über Arbeitsbedingungen etc. Den hohen Preis,<br />

den wir in der Schweiz für eine Tasse Kaffee<br />

bezahlen, kommt nicht den KleinbäuerInnen<br />

zugute…<br />

Zum Schluss kommen wir noch auf das Thema<br />

Wasser zu sprechen. Felipe erzählt, dass es<br />

momentan noch keine internationale TNCs<br />

(transnationale Konzerne) gibt, die im Wassergeschäft<br />

Guatemalas mitmischen. Aber es gibt<br />

guatemaltekische Firmen, denen die Wasserleitungen/Zulieferungssysteme<br />

z.T. gehören<br />

und die z.B. hier im Quiché, wo Wasser knapp<br />

ist, abgefülltes Wasser verkaufen.<br />

In CAFTA kommt das Thema Wasser im Artikel<br />

«natürliche Ressourcen» vor. Das Problem ist –<br />

wie immer –, dass niemand genau weiss, was<br />

in diesem Artikel drin steht.<br />

Weitere Informationen zur Wasserproblematik<br />

in Guatemala:<br />

-> Centro de Acción para el Desarrollo y el<br />

Derecho: Información sobre ley de Agua<br />

en Guatemala: http://homepage3.nifty.com/<br />

CADE/Espanol/Agua/agua.html<br />

-> Evaluación de Recursos de Agua de Guatemala:<br />

http://www.sam.usace.army.mil/en/<br />

wra/Guatemala/Guatemala%20WRA%20Spanish.pdf


26. 02. 06: Panabaj (Santiago Atitlán)<br />

Panabaj ein halbes Jahr nach «Stan»<br />

Die Berge rund um den Atitlán-See sind von<br />

Narben gezeichnet. Narben von Erdrutschen<br />

und Schlammlawinen, die im letzten Oktober<br />

in Folge der Regenfälle des Hurrikan Stan herunterbrachen<br />

und Strassen, Häuser, Anpflanzungen<br />

und Menschen verschütteten. «Vor<br />

Stan» bzw. «nach Stan» ist zu einem Referenzpunkt<br />

in fast allen Erzählungen der GuatemaltekInnen<br />

geworden.<br />

Ein Besuch in Panabaj und Tzanchaj ein halbes<br />

Jahr nach «Stan» zeigt die unterschiedlichen,<br />

persönlichen oder politischen Bedürfnisse<br />

und Interessen, welche die Diskussion um<br />

den Wiederaufbau prägen. Panabaj und Tzanchaj<br />

sind Vororte von Santiago Atitlán und<br />

gehören zu den von Stan am stärksten betroffenen<br />

Orten überhaupt.<br />

Bereits vor «Stan» zusammengeschlossene<br />

Leute fanden in ihren Organisationen eine<br />

wichtige Unterstützung, andere schlossen sich<br />

in der Stunde der Not zu als Selbsthilfegruppen<br />

funktionierenden Nachbarschaftskomitees<br />

zusammen. Nochmals andere warten darauf,<br />

von einem Hilfsprojekt der guatemaltekischen<br />

Regierung oder einer internationalen Nichtregierungsorganisation<br />

begünstigt zu werden.<br />

Ängstlich-angespannt warte ich auf den Moment,<br />

wo unser Boot in die Bucht von Santiago<br />

Atitlán einbiegt und ich den Vulkan Tolimán<br />

von der Seite zu sehen bekomme, auf der am<br />

5. Oktober 2005 eine Schlammlawine herunterkam,<br />

sich über Kilometer durch die Land-<br />

33<br />

schaft schob und im Dorf Panabaj rund 150<br />

Häuser und rund 700 Personen (600 davon<br />

konnten bisher nicht geborgen werden und<br />

gelten als vermisst) unter sich begrub.<br />

Unser Besuch gilt der Asociación Maya Nuevo<br />

Sembrador Integral (AMNSI), die im an Panabaj<br />

angrenzenden Tzanchaj ein Beneficio de<br />

Café, eine Kaffeeverarbeitungsanlage betreibt.<br />

Als wir im letzten Oktober von der Verschüttung<br />

von Panabaj und Tzanchaj lasen, warteten<br />

wir zwei bange Wochen lang auf Nachrichten<br />

von den FreundInnen aus Tzanchaj, deren<br />

Projekt vom Guatemala-Komitee seit Jahren<br />

unterstützt wird. Als wir dann von ihnen hörten,<br />

klangen ihre Berichte nach Schrecken und<br />

Trauer.<br />

Auf dem Weg nach Tzanchaj machen wir Halt<br />

beim Parque de la Paz, einer Gedenkstätte für<br />

die 13 Personen, die im Jahr 1991 bei einem<br />

der letzten Massaker des Krieges vom Militär<br />

erschossen wurden. Die Bevölkerung von Santiago<br />

Atitlán setzte sich vehement für einen<br />

Abzug des Militärs aus ihrem Dorf ein, was<br />

nach dem Massaker auch tatsächlich geschah,<br />

weshalb die 13 Toten als eine Art Heilige gelten.<br />

Der Parque de la Paz ist von der<br />

Schlammlawine verschont geblieben. «Er ist<br />

für uns ein heiliger Ort,<br />

auf dem die Gräber<br />

von 13 HeldInnen liegen.<br />

Weil es ein heiliger<br />

Ort ist, blieb er<br />

verschont», erklärt unsere<br />

Begleiterin Luisa<br />

Tacaxoy Coquix.<br />

Gleich hinter dem Parque<br />

beginnt Panabaj.<br />

Links und rechts der<br />

Strasse stehen bereits<br />

wieder die ersten Häuser,<br />

dazwischen lassen<br />

Trümmer und eingestürzte<br />

Hausteile eine<br />

Vorstellung aufkommen,<br />

wie es im Oktober<br />

hier ausgesehen<br />

haben muss. Zwischen<br />

alten und neuen Häusern<br />

kann man einen<br />

Blick darauf erhaschen,<br />

was einmal der Kern<br />

von Panabaj war: Eine grosse Wüste aus Erde<br />

und Steinen.<br />

Stärkung der Organisation<br />

In Tzanchaj werden wir von den Leuten von<br />

AMNSI erwartet. Die Organisation wurde 1999


gegründet, zwei Jahre nach den Friedensabkommen.<br />

Die Mitglieder sind in ihrer Mehrheit<br />

ehemalige KämpferInnen der URNG oder deren<br />

Familienangehörige. Ihr Ziel ist, gegen die<br />

Armut und den Ausschluss der Maya-Tzutujil-<br />

Bevölkerung in der Gemeinde Santiago Atitlán<br />

zu kämpfen. Auf den ersten Blick sieht es bei<br />

ihnen aus wie bei früheren Besuchen, doch bei<br />

einem Rundgang auf ihrem Gelände erklären<br />

sie uns, dass sich auf dem ganzen Gelände das<br />

Niveau des Bodens um rund einen Meter angehoben<br />

und alles unter sich begraben hat: Die<br />

Maschinen der Kaffeeverarbeitungsanlage, die<br />

Betonbecken, in denen der Kaffee gewaschen<br />

und geschält wird, die Hühner- und Schweinezucht,<br />

die der Organisation zu zusätzlichen<br />

Einkünften verhalf und die Kaffee- und Gemüseanpflanzungen,<br />

die den Organisationsmitgliedern<br />

zur Selbstversorgung dienten.<br />

«Stan hat unsere Organisation gestärkt», erklärt<br />

Juan Tacaxoy Botán, Präsident von AMN-<br />

SI. «Arbeit war die beste Therapie gegen die<br />

Verzweiflung und Trauer, die wir alle verspürten.»<br />

Tatsächlich ist es beeindruckend, was<br />

hier bereits an Wiederaufbauarbeit geleistet<br />

wurde. Anstatt den meterhohen Schlamm aus<br />

der riesigen Lagerhalle zu schaufeln, und diese<br />

somit um einen Meter tiefer als das Aussengelände<br />

zu setzen, wurde kurzerhand die Türe<br />

um einen Meter hinaufgesetzt, der Boden ausnivelliert<br />

und ein neuer Betonüberzug daraufgegossen.<br />

Der einzige Unterschied zu früher<br />

ist, dass der Lichtschalter nun auf Kniehöhe<br />

ist.<br />

Die zugeschüttete Anlage wurde ausgebuddelt,<br />

kaputte Maschinen geflickt, die «Höfe», auf<br />

denen der Kaffee zum Trocknen ausgebreitet<br />

wird, neu betoniert. Zur Kaffeeernte, die im<br />

Dezember begann, war das Beneficio der AMN-<br />

SI bereits wieder funktionsfähig.<br />

Was bleibt, sind die Narben in der Landschaft<br />

und in der Seele. Das Land der AMNSI erstreckt<br />

sich bis zum Ufer des Atitlán-Sees.<br />

Normalerweise gleicht es einem grossen Gemüsegarten,<br />

jetzt einem Sandbadestrand. Da<br />

es sich bei der Schlammlawine um Lava-Erde<br />

handelt, die schwefelhaltig ist, erstickt sie den<br />

Boden und die Pflanzen, die darin wachsen.<br />

Ganze Bäume und die Kaffeepflanzungen hätten<br />

keinen Sauerstoff mehr gekriegt und seien<br />

vertrocknet, erklären die Leute von AMNSI. Es<br />

würde wohl etwa sieben Jahre dauern, bis sich<br />

der Boden erholt habe. Dort wo Gemüse angepflanzt<br />

wird, bleibt nichts anderes übrig, als<br />

diese Erde wegzuschaufeln, eine Arbeit, mit<br />

der bereits begonnen wurde.<br />

So stolz sie auf ihr eigenes Wiederaufbau-Werk<br />

34<br />

sind, umso trauriger werden die Leute, wenn<br />

sie von ihren persönlichen Schicksalen erzählen.<br />

Sie habe im Hospitalito von Panabaj gearbeitet,<br />

erzählt Luisa Tacaxoy Coquix, einem<br />

vor kurzem fertiggestellten gemeinnützigen<br />

Projekt, das den PatientInnen Gesundheitsversorgung<br />

zu günstigen Preisen anbieten will.<br />

Das Hospitalito wurde gänzlich unter dem<br />

Schlamm begraben, ein Arzt konnte sich mit<br />

den letzten PatientInnen gerade noch auf das<br />

Dach retten. Jetzt musste sich das Hospitalito<br />

provisorisch in einem Haus in Santiago Atitlán<br />

einmieten. Da das Projekt mit ausländischen<br />

Spendengeldern finanziert wurde und unklar<br />

ist, ob solche für einen Wiederaufbau erneut<br />

fliessen werden, befürchtet Luisa, dass der soziale<br />

Aspekt des Projekts aufgegeben werden<br />

muss und normale, sprich für die meisten<br />

Menschen unerschwingliche Preise für die Behandlungen<br />

verlangt werden müssen.<br />

Sein Haus stehe zwar noch, erzählt Luisas Vater<br />

Juan Tacaxoy Botán, doch stehe es auf<br />

dem vom «Nationalen Komitee zur Reduktion<br />

von Katastrophen» (CONRED) als Risikozone<br />

erklärten Gebiet. Es sei für ihn als Maya unmöglich,<br />

an einen Ort zurückzukehren, an dem<br />

noch Hunderte von Menschen unter der Erde<br />

begraben seien. Doch die Regierung wolle kein<br />

anderes Land zur Verfügung stellen. Juan<br />

wohnt im Moment mit seiner Familie in einem<br />

gemieteten Zimmer in Santiago Atitlán. Die


Allerwenigsten, die ihre Unterkünfte in Panabaj<br />

verloren haben oder nicht dorthin zurück wollen<br />

oder können, haben eine neue feste Bleibe<br />

gefunden. Viele leben in Provisorien, einige<br />

immer noch in den Notherbergen. Zwischen<br />

den Regierungsplänen und den unterschiedlichen<br />

Interessen der Bevölkerung gibt es eine<br />

grosse Diskrepanz.<br />

Nachbarschaftliche Selbthilfe<br />

Panabaj wurde von der guatemaltekischen Regierung<br />

zum «Symbol des Wiederaufbaus» erklärt.<br />

Anfänglich lief alles Bestens: Auf einem<br />

von der Kirche zur Verfügung gestellten Gelände<br />

wurden temporäre Notunterkünfte aufgebaut,<br />

es wurden Pläne für die neuen Häuser<br />

gezeichnet, es fehlte nur noch die Auftragsvergabe.<br />

Nicht gerechnet wurde hingegen damit,<br />

dass die Geschädigten ihre traditionelle Rolle<br />

als NothilfeempfängerInnen durchbrechen,<br />

sich in einer Organisation zusammenschliessen<br />

und ihre eigenen Forderungen aufstellen.<br />

Noch während der Tragödie gründeten die<br />

NachbarInnen, die bei der Bergung von Toten<br />

und Verletzten halfen, das «Notkomitee zur<br />

Unterstützung der Maya-Tzutujil-Bevölkerung».<br />

Es wurden Gemeinschaftsküchen aufgebaut,<br />

Statistiken über die Zerstörung geführt und<br />

Antworten auf die dringendsten Fragen der unter<br />

Schock stehenden Bevölkerung gesucht.<br />

Schnell merkte das Notkomitee, dass, wenn<br />

erst mal die Nothilfe vorbei ist, an einen Wiederaufbau<br />

gedacht werden musste, der eine<br />

mittel- und längerfristige Perspektive haben<br />

und eine reale Verbesserung ihrer Lebenssituation<br />

einschliessen musste. So wurde das Notkomitee<br />

in den «Verein zur Gemeindeentwicklung<br />

von Panabaj» (ADECCAP) umgewandelt,<br />

eine gemeinnützige Organisation mit legalem<br />

Status, die schnell 480 Mitglieder zählte.<br />

ADECCAP hat kurz- und langfristige Ziele im<br />

Auge, will sich in einer partizipativen Gemeindepolitik<br />

üben, Einfluss auf die kommunalen<br />

Entwicklungsräte (COCODE) nehmen, eine soziale<br />

Kontrolle über die Gemeindegelder und<br />

die Tätigkeiten der Gemeindebehörden ausüben<br />

sowie die Interessen der betroffenen Bevölkerung<br />

im Wiederaufbau und bei der längerfristigen<br />

Gemeindeentwicklung vertreten.<br />

Am 13. Januar veranstaltete ADECCAP ein öffentliches<br />

Forum, um unter breiter nationaler<br />

und internationaler Präsenz seine bisherige Arbeit<br />

und zukünftigen Ziele bekannt zu geben.<br />

Dabei wurde u.a. gefordert, dass die für den<br />

Wiederaufbau zuständige nationale Institution<br />

FONAPAZ mit dem Bau von Häusern wartete,<br />

bis eine Risikoanalyse gemacht war. FONAPAZ<br />

hat nämlich vor, die neuen Häuser in Panabaj<br />

35<br />

genau an dem Ort aufzustellen, wo der Erdrutsch<br />

niederkam und wo noch Hunderte von<br />

Leichen unter dem unterdessen eingetrockneten<br />

Schlamm liegen. ADECCAP hingegen fordert<br />

die Regierung auf, je nach Ergebnis der<br />

Risikoanalyse, die nahegelegene Finca La Providencia<br />

zu kaufen und für den Häuserbau zur<br />

Verfügung zu stellen. Das Resumée des Präsidenten<br />

von ADECCAP nach diesem Forum:<br />

«Wir haben eine Tür geöffnet zu einem Thema,<br />

das bisher nie öffentlich und unter Beteiligung<br />

der Bevölkerung diskutiert wurde.»<br />

Unterschiedliche Interessen<br />

Die Forderung nach einer Risikoanalyse vor<br />

dem Wiederaufbau wurde von CONRED, dem<br />

«Nationalen Komitee zur Reduktion von Katastrophen»,<br />

aufgenommen, von den Lokalbehörden<br />

von Santiago Atitlán jedoch nicht. Man<br />

wolle Häuser, keine Studien, war die Meinung<br />

des Bürgermeisters, unterstützt vom Hilfsbürgermeister<br />

von Panabaj und dem Leiter der<br />

Notunterkünfte.<br />

So hat man sich gegenseitig in eine Pattsituation<br />

manövriert: Die Regierung vertritt die Position,<br />

man könne nicht mit dem Wiederaufbau<br />

beginnen, solange sich die Bevölkerung uneinig<br />

sei, VertreterInnen von ADECCAP werfen<br />

der Regierung vor, ihre Bedürfnisse und längerfristig<br />

angelegten Vorschläge nicht zu berücksichtigen,<br />

während die dritte Gruppe den<br />

sofortigen Hausbau fordert, egal wo. An einer<br />

Volksversammlung vom 21. Januar, die eigentlich<br />

zu einer Klärung des Konflikts beitragen<br />

sollte, wurden die beiden Gruppen noch mehr<br />

gespalten, der Präsident von ADECCAP verliess<br />

unter Protest und in Begleitung von 300 Personen<br />

die Versammlung. CONRED hat sich unterdessen<br />

klar für eine Risikoanalyse ausgesprochen,<br />

FONAPAZ erklärte sich bereit, mit CON-<br />

RED zusammenzuarbeiten, ob aber die Familien,<br />

die sich weigern, in die Risikozone zurückzukehren,<br />

von der Regierung irgendeine Unterstützung<br />

bekommen, ist unklar.<br />

Soweit der Stand der Dinge Anfang März. Es<br />

wird sich zeigen, ob Santiago Atitlán zu einem<br />

«Symbol des Wiederaufbaus» wird und ob sich<br />

die Regierung an ihren selbst proklamierten<br />

Grundsatz hält, der heisst: «Förderung der<br />

Kommunikation, Konsenssuche und Koordination<br />

zwischen den Arbeiten der Bevölkerung und<br />

der Regierung, Stärkung der BürgerInneninitiativen<br />

sowie Transparenz seitens der Regierung,<br />

Einbezug einer sozialen Kontrolle und lokaler<br />

Bedürfnisse bei den Wiederaufbauplänen.»<br />

Entrevista con el arquitecto Luis Alberto Palacio.<br />

En la entrevista participaron también dos<br />

alcaldes de comunidades cercanas.


27. 02. 06: Sololá<br />

Luis Alberto Palacios dirige una organización<br />

sin ánimo de lucro, dedicada a la construcción<br />

de escuelas. A la organización se la conoce<br />

como «Amigos de Alemania» por estar financiada<br />

por tres ONGs alemanas, llamadas La Esperanza,<br />

Oyak y Freundeskreis. El proyecto,<br />

cuyo ámbito geográfico se limita actualmente<br />

al Departamento de Solalá, funciona desde<br />

hace 20 años y tiene como principal objetivo la<br />

construcción de escuelas y en segundo lugar el<br />

intercambio profesional intercultural. Los padres<br />

de los alumnos ayudan en la ejecución material<br />

de las construcciones. Hasta el momento<br />

de producirse la catástrofe del Stan, se habían<br />

construído 20 escuelas, de las cuales todas excepto<br />

una resistieron el huracán, lo cual es un<br />

indicador de la calidad de la obra. Todos los<br />

años, voluntarios de alemania pasan una<br />

estancia de dos meses en Sololá visitando las<br />

obras e intercambiando experiencias.<br />

El impacto del huracán Stan<br />

El Stan, huracán de grado 1, puso de manifiesto<br />

la extrema vulnerabilidad del país, tanto por<br />

los déficits de infraestructuras como por la incapacidad<br />

de la maquinaria del Estado para<br />

dar una respuesta rápida y proporcionada a la<br />

magnitud de la emergencia.<br />

La institución de Luis Alberto Palacios intentó<br />

ponerse, al producirse la catástrofe, a disposición<br />

de la representación departamental del<br />

Gobierno para colaborar voluntariamente. Pero<br />

no fue posible, ya que los funcionarios no<br />

estaban en sus puestos y sólo empezaron a<br />

aparecer al cabo de tres días. Con ellos llegaron<br />

a la zona representantes del Comité Nacional<br />

de Emergencia, quienes no tenían una idea<br />

clara del proceso a seguir. A falta de directrices<br />

gubernamentales, la población se autoorganizó<br />

a través de las radios comunitarias.<br />

Las organizaciones alemanas patrocinadoras<br />

de «Amigos de Alemania» establecieron contacto<br />

con Luis Alberto Palacios y enviaron<br />

22.000 euros. Para aplicarlos, se hizo una evaluación<br />

de las necesidades más urgentes y se<br />

optó como medida prioritaria por restablecer el<br />

suministro de agua corriente a fin de garantizar<br />

la supervivencia de la población y de los<br />

cultivos de verduras, pilares a su vez de la<br />

economía de subsistencia de gran parte del<br />

campesinado afectado. En esa línea, las comunidades<br />

presentaron proyectos a los que se<br />

asignaron materiales y asesoramiento técnico<br />

en función de su viabilidad. De los dos alcaldes<br />

36<br />

comunitarios presentes en la entrevista, la<br />

comunidad de uno obtuvo por esta vía los recursos<br />

para reparar sus conducciones de agua<br />

potable, tarea hoy día ya finalizada; la comunidad<br />

del otro tramitó su solicitud de reparación<br />

de infraestructuras a través de un proyecto<br />

gubernamental, del cual había recibido<br />

hasta la fecha sólo una parte del material, por<br />

lo cual funciona la reconstrucción más lentamente.<br />

En los días críticos de la catástrofe se presentaron<br />

ONGs desconocidas que solicitaban informes<br />

de la municipalidad a la vez que ofrecían<br />

subvenciones y que de la noche a la mañana<br />

desaparecieron. Con sus demandas sobrecargaron<br />

el trabajo de las instituciones.<br />

La reconstrucción<br />

Pasados los momentos agudos de la crisis, la<br />

realización de la reconstrucción fue muy cuestionada.<br />

La municipalidad de Sololá estimó en<br />

150.000 euros el presupuesto de reconstrucción.<br />

En opinión de Luis Alberto Palacios, con<br />

la ayuda internacional, que llegó inmediatamente,<br />

se podrían haber cubierto los gastos.<br />

Había proyectos de reconstrucción cuyo monto<br />

no pasaba de 350 euros y cuya mano de obra<br />

la aportaban los propios vecinos. Sin embargo,<br />

subrayan los alcaldes comunitarios, hubo factores<br />

que entorpecieron el proceso. La respuesta<br />

a las necesidades de los habitantes fue en<br />

primer lugar demasiado lenta: (por ejemplo<br />

150 familias se quedaron treinta días sin<br />

agua); además, se calcula que de la ayuda<br />

destinada a los afectados, llegó a sus manos<br />

menos de un 50% y, aunque la ayuda fue donada,<br />

la administró Fonapaz (Fondo para la<br />

Paz) canalizándola en forma de préstamos;<br />

tampoco se entregó a los Municipios la gestión<br />

de los recursos concedidos, sino que éstos se<br />

administraron de manera centralizada desde la<br />

Secretaría de la Presidencia con el aumento<br />

consiguiente de burocracia y la falta de conocimiento<br />

de la realidad concreta; por último, a<br />

veces se recibieron los materiales pero sin<br />

acompañarlos del apoyo técnico necesario para<br />

la optimización del resultado.<br />

En el tema de obras públicas, situaciones corregibles<br />

como reconstrucción de puentes y asfaltado<br />

de calzadas no se habían abordado<br />

hasta dos semanas antes del momento de la<br />

entrevista. Y entretanto la próxima estación de<br />

lluvias ya estaba a la puerta.<br />

Existe el sentimiento de que las víctimas fueron<br />

utilizadas políticamente. Dicen que en<br />

Sololá fueron especialmente importantes los


daños humanos y que el Gobierno utilizó las<br />

cifras para „dar lástima“ y recaudar más ayuda<br />

internacional. Por otra parte, cuando se habla<br />

de víctimas se manejan sólo cifras, pero los<br />

casos personales se olvidan o ni se mencionan<br />

porque no son rentables políticamente. Qué<br />

pasa, por ejemplo con las mujeres solas o con<br />

los huérfanos?<br />

Mirando al futuro<br />

Según el arquitecto, no se ha detectado una<br />

mejora notable en la atención a la región por<br />

parte del Gobierno en los años que han seguido<br />

a los Acuerdos de Paz. Cada cuatro años<br />

llega un nuevo equipo gubernamental que trabaja<br />

sin continuidad con el anterior. Lo fundamental,<br />

dice, es que hace falta una planificación<br />

territorial que no existe. Después del huracán,<br />

la gente se sigue instalando en lugares<br />

de alto riesgo, en parte porque no saben a<br />

37<br />

dónde ir y en parte porque carecen de formación<br />

para comprender que el peligro no depende<br />

sólo de la casualidad. De esta manera,<br />

la repetición de semejantes catástrofes está<br />

casi programada de antemano. La diseminación<br />

de las viviendas sin orden ni concierto incrementa,<br />

por otra parte, los gastos de infraestructura.<br />

Es el Estado quien debiera planificar<br />

dónde y cómo se ubican los asentamientos<br />

para reducir riesgos y gastos.<br />

Por otra parte, los donantes debieran<br />

controlar mejor el uso y destino de los<br />

fondos donados. Habría también que<br />

otorgar más competencias a las Municipalidades<br />

para que a través de los Comités<br />

Comunitarios de Desarrollo organicen<br />

y controlen el empleo de las ayudas.<br />

La tarea que está por delante es el empoderamiento<br />

de la población para que<br />

haga uso de sus derechos. La eficaz organización<br />

desarrollada por los vecinos<br />

para hacer frente a los efectos del huracán<br />

no parece haberse traducido en<br />

una toma de conciencia de sus capacidades.<br />

Los alcaldes comunitarios cuando<br />

hablan de la pérdida de los cultivos dicen<br />

„la gente aguantó“ o como conclusión:<br />

„Si uno solicita al gobierno o municipalidad,<br />

se tarda mucho; mejor se dirige<br />

uno a otra parte“. Es decir a las ONGs<br />

que atienden a las necesidades más urgentes<br />

de la población y suplen a un<br />

estado que ha dimitido de sus funciones<br />

Los Comités Comunitarios de Desarrollo<br />

son en este momento la vía disponible<br />

para la participación y el empoderamiento.<br />

Creados bajo el gobierno de Portillo<br />

como parte de los Acuerdos de Paz tienen reconocimiento<br />

legal y en esa medida pueden<br />

constituir una fuerza política y presionar. Su<br />

impulso y fortalecimiento parecen ser una de<br />

las tareas prioritarias de los proyectos de desarrollo.<br />

Siehe auch "Der erste Winter nach Hurrikan Stan"<br />

(Anhang S. 8)


28. 02. 06: La Libertad, Petén<br />

CPR Santa Rita<br />

Juan Carlos, der in der Junta Directiva<br />

(Vorstand) der comunidad und im Bildungsbereich<br />

arbeitet, empfängt uns in einem Zimmer<br />

der Schule, die sie in Santa Rita haben, und<br />

führt uns danach durch die Siedlung.<br />

Ab 1980 lebte ein Teil der Leute, die heute in<br />

Santa Rita wohnen, als CPR (Comunidad de<br />

Población en Resistencia – s. 22. 02. 06: Nebaj)<br />

während 17 Jahren versteckt im Urwald.<br />

Erst 1997 sind sie aus dem Wald hierher in<br />

diese Gemeinde gekommen, die sie aus Eigeninitiative<br />

aufgebaut haben. Sie bauen auf drei<br />

Pfeiler, die ihnen bereits im Krieg wichtig waren:<br />

- Bildung: Ein Ziel der CPR von Santa Rita ist<br />

es, die politische Bildung wiederzubeleben.<br />

- Gesundheit: Sie haben in Santa Rita ein Gesundheitszentrum<br />

aufgebaut, das auch Leute<br />

aus den umliegenden Gemeinden behandelt.<br />

Besonderen Wert legen sie auf Prävention.<br />

Sie praktizieren auch Alternativmedizin,<br />

z.B. Akupunktur.<br />

- Organisation: Alle in der Gemeinde sind auf<br />

irgendeine Weise in die Organisationsstrukturen<br />

eingebunden, sind Teil einer Gruppe.<br />

Dies ist ihnen sehr wichtig.<br />

Das oberste Organ der Gemeinde ist die Vollversammlung,<br />

in der sich die Mitglieder regelmässig<br />

treffen. Es gibt auch eine VV der SchülerInnen,<br />

damit sie frühzeitig lernen, ihre<br />

Rechte zu vertreten. Nebst der VV gibt es die<br />

Junta Directiva (Vorstand) und verschiedene<br />

Komitees, z.B. ein Frauenkomitee, ein Jugendkomitee,<br />

ein Komitee, das für die Kontakte gegen<br />

aussen zuständig ist etc. Zwar gibt es einen<br />

Hilfsbürgermeister in der Gemeinde, doch<br />

hat er lediglich eine repräsentative Funktion<br />

gegen aussen. In der Gemeinde spielt er keine<br />

wichtige Rolle.<br />

Die Gemeinde zählt etwa 300 Stimmberechtigte.<br />

Für Entscheide, die «legal» sein müssen,<br />

sind es ca. 70 Personen. Viele Leute wollen in<br />

die asociación aufgenommen werden, um auch<br />

bei den «legalen» Entscheiden mitbestimmen<br />

zu können. Für die Mitgliedschaft genügt es,<br />

einen Antrag zu stellen. Nur für Leute von ausserhalb<br />

gibt es höhere Hürden, sie müssen einen<br />

Beitrag bezahlen und eine Art Probezeit<br />

bestehen.<br />

Die Leute in Santa Rita versuchen, ihre Probleme<br />

mittels Dialog zu lösen, zuerst mit den involvierten<br />

Personen, danach wenn nötig in der<br />

Vollversammlung. Darüber hinaus verfügen sie<br />

über ein Sanktionssystem für Personen, die<br />

38<br />

sich nicht an die Regeln halten.<br />

Diese Organisationsform ist historisch bedingt.<br />

Die Leute von Santa Rita (bzw. ein Grossteil<br />

von ihnen) waren schon im Urwald als CPR organisiert.<br />

Sie hatten über zwei Jahre lang mit<br />

der Regierung über die Umsiedlung verhandelt.<br />

Damals lebten sie noch im lakandonischen<br />

Urwald – einem Naturschutzgebiet –, wo<br />

eigentlich keine Menschen wohnen dürfen.<br />

Schlussendlich bekamen sie dieses Land hier<br />

von der Regierung geschenkt, sie haben also<br />

keine Schulden und müssen auch nicht fürchten,<br />

wegen Zahlungsunfähigkeit vertrieben zu<br />

werden.<br />

Ihre gemeinsamen Ziele bei der Gründung dieser<br />

Gemeinde waren der Widerstand gegenüber<br />

der Armee und der Wunsch, eine andere<br />

Form des Zusammenlebens zu finden. Einige<br />

waren zuvor z.B. Mitglieder einer Kooperative<br />

gewesen. Dort ist es so, dass nur jene, die<br />

Mitglieder sind und einen Beitrag bezahlen,<br />

Stimmrecht haben. Solche Defizite sollten mit<br />

der Organisationsform von Santa Rita überwunden<br />

werden. Juan Carlos findet es nach<br />

wie vor wichtig, diese alternative Lebensform<br />

zu thematisieren. Innerhalb der Gemeinde ist<br />

dies allerdings schwierig, da die meisten mit<br />

ihren alltäglichen Problemen beschäftigt sind.<br />

Auch hatten sie, als sie aus dem Urwald hierher<br />

kamen, plötzlich mit neuen Problemen zu<br />

kämpfen. Sie mussten z.B. plötzlich ein Einkommen<br />

erwirtschaften, um am Markt teilnehmen<br />

zu können.<br />

Im Moment werden in der Region jene Projekte<br />

unterstützt, die in die neoliberale Regierungspolitik<br />

passen und die man dann auch<br />

ausbeuten kann (z.B. landwirtschaftliche Produktion<br />

für den Export). Projekte wie das Gesundheitszentrum<br />

von Santa Rita, das die Gemeinde<br />

zur Unterstützung eingereicht hat, haben<br />

es schwer. Die Gemeinde möchte das Zentrum<br />

ausbauen. Denn es fehlt sowohl der Platz<br />

für den grossen Andrang an PatientInnen als<br />

auch für die praktisch komplett vorhandene<br />

technische Ausrüstung für Zahnbehandlungen.<br />

Im Gesundheitszentrum arbeiten keine ÄrztInnen,<br />

sondern GesundheitspromotorInnen. Die<br />

Prävention besteht zu einem Grossteil im<br />

Schaffen hygienischer Verhältnisse hier in der<br />

Gemeinde, in Zahnkontrollen bei den Kindern<br />

und in Malariaprävention.<br />

Es gibt auch zwei tiendas (kleine, kioskähnliche<br />

Läden) in der Gemeinde. Diese werden<br />

nicht, wie gemeinhin üblich, von Privatpersonen<br />

betrieben, sondern eine von der asocia-


ción, die andere vom Frauenkomitee.<br />

Ein weiteres Projekt ist der eigene Radiosender,<br />

über den die Gemeinde verfügt. Dieser<br />

sendet zu Themen rund um Bildung, Gesundheit,<br />

Menschenrechte, Geschichte (z.B. zur<br />

Aufarbeitung der Geschichte des Krieges und<br />

der CPR). Der Sender nennt sich Radio Libertad<br />

und versteht sich als offenes Radio, über<br />

das die Leute wichtige Informationen verbreiten<br />

können. Es ist kein «legales», sondern ein<br />

«Piratenradio». Einmal war auch die Polizei<br />

hier und wollte wissen, ob über das Radio<br />

kommerzielle Werbung gesendet würde – was<br />

nicht der Fall ist. Ursprünglich<br />

erreichte es<br />

eine Sendeweite von<br />

100 km. Nachdem<br />

aber ein Sender verbrannt<br />

ist, können die<br />

RadiomacherInnen nur<br />

noch 10 km weit senden.<br />

Für die BewohnerInnen<br />

von Santa<br />

Rita ist der Radiosender<br />

sehr wichtig, um<br />

eine eigene Kommunikation<br />

zu entwickeln<br />

und zu pflegen und die<br />

Leute auch der Umgebung<br />

gut zu informieren.<br />

Das Radio soll ein<br />

Gegengewicht zu den<br />

öffentlichen Medien bilden,<br />

die falsch informieren<br />

und Propaganda<br />

betreiben. Auch internationale Nachrichten<br />

sollen aus einer anderen Perspektive betrachtet<br />

werden, z.B. zum Irakkrieg oder dem Konflikt<br />

in Palästina und Israel. Radio Libertad versteht<br />

sich als Brücke zwischen anderen alternativen<br />

Medien, z.B. im Internet, und den Leuten<br />

hier.<br />

Die Kinder und Jugendlichen können in Santa<br />

Rita die Primar- und Sekundarschule besuchen<br />

und wandern deshalb nicht ab. Nun sind Gemüseanbau-Projekte<br />

geplant, die Arbeitsplätze<br />

für die Jugendlichen schaffen sollen. Die Gemeinde<br />

möchte mit einer Art Schulgarten beginnen,<br />

wo das angepflanzt wird, was die Leute<br />

wünschen und wo ausprobiert wird, ob es<br />

funktioniert.<br />

Die BewohnerInnen von Santa Rita sind nicht<br />

gezwungen, ausserhalb der Gemeinde zu arbeiten.<br />

Es gibt hier Arbeitsplätze in der Landwirtschaft,<br />

dem Gesundheitszentrum, der Bildung<br />

oder in anderen Projekten. Der Lohn,<br />

den sie dafür erhalten, ist allerdings sehr klein,<br />

das Geld stammt aus dem Verkauf von landwirtschaftlichen<br />

Erzeugnissen wie Fleisch oder<br />

39<br />

Gemüse. Vor allem jene Leute, die im Bildungs-<br />

oder im Gesundheitsbereich arbeiten,<br />

können ausserhalb Weiterbildungen besuchen.<br />

Ein junger Mann aus Santa Rita studiert zur<br />

Zeit Medizin in Kuba.<br />

Vor zwei Jahren sind zwei Projekte – die Hühnerfarm<br />

der Frauen und die Bäckerei – v.a. an<br />

administrativen Problemen gescheitert, da die<br />

Leute hier kaum administrative Erfahrung haben.<br />

Natürlich gibt es auch immer wieder ideologische<br />

Probleme. Ein Beispiel ist das Land:<br />

In Santa Rita ist das Land nicht in Privatbesitz,<br />

sondern die Leute erhalten ein Stück zur Verfügung<br />

gestellt, damit sie es bebauen können.<br />

Wenn sie älter werden, geschieht es des öftern,<br />

dass sie das Land als Privatbesitz überschrieben<br />

haben wollen, um ihren Kindern etwas<br />

vererben zu können. Es braucht dann jeweils<br />

viel Überzeugungsarbeit im Rahmen der<br />

Vollversammlungen, um den Leuten klar zu<br />

machen, weshalb diese Organisationsform so<br />

wichtig ist.<br />

In der Gemeinde gibt es eine katholische Kirche.<br />

Die evangelikalen Sekten dürfen nicht<br />

physisch mit einem Tempel o.ä. in der Gemeinde<br />

präsent sein. Dadurch soll eine Spaltung<br />

der Gemeinde verhindert werden.<br />

Im Viehprojekt von Santa Rita werden Kälber<br />

und Mastvieh aufgezogen, momentan sind es<br />

91 Mutterkühe und 72 Masttiere. Die nicht<br />

kastrierten männlichen Tiere werden nach Mexiko<br />

verkauft. Die Gemeinde verfügt über ca.<br />

zwei caballerías Weideland, Futter muss sie<br />

keines kaufen.<br />

Zwei der Bauern erzählen uns, dass sie ur-


sprünglich gar nicht aus dem Urwald weg wollten.<br />

Sie hatten 17 Jahre lang dort gelebt, ohne<br />

die Umwelt zu zerstören. Sie schlugen deshalb<br />

der Regierung vor, dass sie dort bleiben und<br />

als WärterInnen des Naturschutzgebietes arbeiten<br />

könnten. Die Regierung ging aber nicht<br />

darauf ein. Später erfuhren sie, dass die Regierung<br />

bereits damals mit einer US-Organisation<br />

(verbandelt mit US-Aid) in Verhandlungen<br />

war. Diese Organisation bekam dann die Aufgabe<br />

der Wartung des Naturschutzgebietes zugeschanzt.<br />

Gründe, warum die Regierung eine<br />

US-Organisation dort und die Bevölkerung weg<br />

haben wollte, sind sicher auch das vorhandene<br />

Holz und das Wasser sowie der Drogenhandel,<br />

der dort durch geht.<br />

Alianza por la Vida y la Paz<br />

Nach dem Mittagessen in Santa Rita wurden<br />

wir in der Kirche der Gemeinde La Libertad<br />

von VertreterInnen der «Alianza por la Vida y<br />

la Paz» empfangen. Die Alianza ist ein Zusammenschluss<br />

von 32 Organisationen und engagiert<br />

sich gegen den «Plan Puebla Panama»<br />

(PPP).<br />

Der Grossteil der Bevölkerung des Petén besteht<br />

aus ArmutsmigrantInnen, die in den letzten<br />

50 Jahren hierher gekommen sind. Die<br />

MitarbeiterInnen der katholischen Kirche hier –<br />

die ein Mitglied der Alianza ist – arbeiten am<br />

REMHI (Recuperación de la Memoria Histórica<br />

– Wiedererlangen der historischen Erinnerung)<br />

mit und wollen in den Dörfern die Geschichte<br />

aufarbeiten. In der Gemeinde wurden<br />

drei Friedhöfe mit Toten aus der Zeit der violencia<br />

gefunden. In jeder comunidad ist eine<br />

Person zuständig für die Aufarbeitung der Geschichte.<br />

Dadurch soll verhindert werden, dass<br />

die Geschichte sich wiederholt. Nebst dieser<br />

Person, die für das REMHI arbeitet, gibt es<br />

auch in jeder comunidad drei Personen, die je<br />

beauftragt sind mit Menschenrechten, Landund<br />

Agrarfragen. Die Gemeinde (Pfarrei)<br />

möchte sich möglichst gut organisieren und<br />

vernetzen, um den neoliberalem Angriff Widerstand<br />

leisten zu können.<br />

Am Río Usumacinta sind fünf Staudämme geplant,<br />

in ganz Guatemala sind es 60. Falls die<br />

Staudämme hier am Río Usumacinta gebaut<br />

werden, müssen 24 Dörfer umgesiedelt werden,<br />

da sie überschwemmt würden. Und durch<br />

den TLC (Freihandelsvertrag mit den USA)<br />

würde die lokale Landwirtschaftsproduktion<br />

mit subventionierten Exporten aus den Vereinigten<br />

Staaten konkurrenziert.<br />

Der PPP wurde von den Regierungen Mexikos<br />

und Guatemalas ausgearbeitet. Es geht dabei<br />

um Infrastruktur (Strassen, Häfen, Flughäfen,<br />

40<br />

Kanäle), die den Transport von Gütern aus<br />

ganz Zentralamerika ermöglichen soll. Die<br />

guatemaltekische Regierung informiert nicht<br />

über den PPP oder den TLC. Deshalb hat es<br />

sich die «Alianza por la Vida y la Paz» zur Aufgabe<br />

gemacht, die Leute in den Dörfern über<br />

diese Themen zu informieren. Am 9. März<br />

2005 hat die Alianza eine Demonstration gegen<br />

den TLC in der Hauptstadt durchgeführt.<br />

Unterdessen ist der Vertrag unterschrieben, allerdings<br />

noch nicht umgesetzt.<br />

Organisationen innerhalb der Alianza, die die<br />

Leute darin unterstützen, offizielle Landtitel zu<br />

erlangen, leisten gleichzeitig auch Bewusstseinsarbeit<br />

– über die landwirtschaftliche Produktion,<br />

die Präsenz von Militärs und Panzern,<br />

über den Drogenhandel. Sie möchten gerne<br />

auch juristische Arbeit leisten, doch sind die<br />

vorhandenen Studien, auf die sie sich dabei<br />

stützen könnten, veraltet. Heute gibt es viel<br />

mehr Gemeinden, die von den Staudämmen<br />

betroffen wären, als vor dem Krieg. Hinzu<br />

kommen die beschränkten Ressourcen der Organisationen:<br />

die Arbeit wird ehrenamtlich geleistet.<br />

Guatemala produziert genug Energie für den<br />

Eigengebrauch, exportiert sogar einen Teil davon<br />

nach El Salvador und hat Pläne für den Export<br />

nach Belize in der Schublade. Das Interesse<br />

nach mehr Energie ist also kein guatemaltekisches,<br />

sondern ein internationales. Es<br />

geht einmal mehr um fette Geschäfte. Das<br />

grosse Interesse der USA am PPP besteht im<br />

Bestreben, den Atlantik und den Pazifik mit einer<br />

Landbrücke in Zentralamerika zu verbinden<br />

und so den Weg zwischen den beiden<br />

Meeren zu verkürzen. Ein weiteres Interesse<br />

besteht in einem Stromnetz von Panama bis<br />

Mexiko (Mexiko ist über NAFTA mit den USA<br />

verbunden). Es geht also um einen riesigen<br />

Strommarkt, in dem die Stromversorgung vom<br />

Süden in den Norden, Richtung USA geht.<br />

Unterdessen werden Fincas im Petén bereits<br />

wieder verkauft – an Leute, von denen man<br />

nicht genau weiss, was sie mit dem Land vorhaben.<br />

Möglicherweise stehen diese Käufe im<br />

Zusammenhang mit den geplanten Wasserkraftwerken<br />

oder den ebenfalls geplanten Maquilas<br />

(«sweat shops»).<br />

-> Alianza por la Vida y la Paz:<br />

http://www.vidaypaz.org/<br />

-> Indymedia Chiapas: Bericht über das II. Encuentro<br />

Nacional Guatemalteco contra Represas<br />

vom 8. Mai 2006: http://chiapas.indymedia.org/<br />

index.php?category=4<br />

Siehe auch "Razzien bei Kommunalradios"<br />

(Anhang S. 7)


02. 03. 06: Guatemala Stadt: CAFCA und «De Víctimas a Actoras del Cambio»<br />

CAFCA (Zentrum für forensische Analyse<br />

und angewandte Wissenschaften)<br />

Wir werden von Jesús Hernández (Theologe,<br />

Direktor von CAFCA), Sergio Castro (Soziales),<br />

Héctor Soto (Juristisches) und Erwin Melgar<br />

(Technisches betr. Exhumierungen) empfangen.<br />

CAFCA ist als anthropologische und Menschenrechts-Organisation<br />

entstanden. Nach den<br />

Friedensabkommen fehlte jeglicher politische<br />

Wille, die Kriegsgeschehnisse aufzuklären und<br />

aufzuarbeiten. Deshalb braucht es NGOs wie<br />

CAFCA. Die von Repression und Massakern betroffenen<br />

Bevölkerungsgruppen werden weiterhin<br />

marginalisiert, sie haben weiterhin Angst<br />

vor den administrativen und juristischen Apparaten.<br />

Es ist daher wichtig, dass zum rein<br />

Technischen der Exhumationen die juristische<br />

Begleitung dazukommt. CAFCA arbeitet in drei<br />

Aufgabenbereichen:<br />

- sozialer Bereich: Begleitung der Angehörigen,<br />

da es in den Dörfern aufgrund des Zusammenlebens<br />

von Opfern und Tätern viel<br />

Spaltung gibt.<br />

- politischer Bereich: thematisieren und<br />

durchsetzen der Interessen der Opfer in der<br />

Öffentlichkeit<br />

- juristischer Bereich: juristische Begleitung<br />

der Angehörigen<br />

Die Männer erzählen uns, dass die Massaker<br />

während der Zeit der violencia auch einen Genozid-Charakter<br />

hatten, indem sie v.a. gegen<br />

die Mayas gerichtet waren. Diese Bemerkung<br />

löst in der Gruppe eine Diskussion zum Begriff<br />

Genozid und seinem Gebrauch aus. Die<br />

CAFCA-Leute erklären: Der Begriff Genozid<br />

umfasst eine juristische und eine politische Dimension.<br />

Die politische Dimension hat nicht<br />

nur eine innenpolitische, sondern auch eine internationale<br />

Bedeutung. Politisch spricht man<br />

in Guatemala schnell von Völkermord, da der<br />

Begriff nicht klar definiert ist. Während der<br />

schlimmsten Zeit der violencia (1982-84) bestand<br />

klar die Absicht, bestimmte Bevölkerungsgruppen<br />

umzubringen. Juristisch ist es<br />

schwierig, diese Absicht zu beweisen. Die Regierung<br />

wollte mit der Armee die soziale Basis<br />

der Guerilla auslöschen, von der diese sich<br />

auch ein Stück weit ernährte und von der aus<br />

sie ihren Kampf führte. Diese Bevölkerungsgruppen<br />

waren indigen. Gleichzeitig wurden<br />

die Indígenas schon immer marginalisiert. Die<br />

Armeeoperationen erhielten dadurch einen klar<br />

rassistischen Charakter. Die Indígenas hatten<br />

natürlich ein Interesse daran, dass sich etwas<br />

41<br />

verändert. Dies rechtfertigt aber in keiner Weise<br />

die brutale Reaktion der Armee, unzählige<br />

Morde unter der Zivilbevölkerung zu begehen.<br />

In den Wahrheitsberichten wurde nicht von<br />

Genozid gesprochen, sondern von «genozidähnlichen<br />

Handlungen» (offizieller Bericht),<br />

bzw. von «Massakern» und «Ermordungen»<br />

(REMHI). Die Armee hat nicht nur die Leute<br />

umgebracht, sondern auch Gemeinden gespalten<br />

und dadurch deren soziales Zusammenleben<br />

zerstört.<br />

Es ist sehr wichtig, dass der technische Teil einer<br />

Exhumierung nicht isoliert dasteht. Die soziale<br />

Begleitung ist zentral: Was ist geschehen?<br />

Wie haben wir damals gelebt? Warum hat<br />

es gerade uns getroffen? Wie können wir hier<br />

weiterleben und die Gemeinschaft wieder versöhnen?<br />

Auch die juristische Dimension ist wichtig: Die<br />

Leute haben ein Recht darauf, zu wissen, dass<br />

hier Verbrechen vorliegen, wer sie begangen<br />

hat, und dass es Rechtsmittel gibt, mit denen<br />

sie gegen diese Verbrechen vorgehen können.<br />

Dies ist die politische Arbeit, die CAFCA als<br />

eine ihrer Aufgaben betrachtet.<br />

Sich solchen Fragen zu stellen, öffnet immer<br />

auch Wunden bei den Betroffenen. Trotzdem<br />

ist es wichtig für die Arbeit von CAFCA. Es<br />

geht dabei sehr stark um menschliche und soziale<br />

Aspekte. Wer eine Exhumierung beantragt,<br />

muss über die Rechtsfragen informiert<br />

werden. Einerseits ist die Exhumierung an sich<br />

ein juristischer Akt. Es braucht einen Antrag<br />

an die Staatsanwaltschaft, die die Erlaubnis für<br />

eine Exhumierung geben muss. Andererseits<br />

sollen die Leute wissen, dass sie dadurch Beweise<br />

in die Hand kriegen, z.B. Fakten darüber,<br />

wer wo wann umgebracht wurde. Vieles wird<br />

durch die begleitenden Interviews aufgearbeitet,<br />

Fragen über die Identität von Ermordeten,<br />

über die Umstände (z.B., ob eine Ermordete<br />

schwanger war) etc.<br />

Meistens wissen oder vermuten Angehörige<br />

oder Nachbarn, wo Tote verscharrt wurden.<br />

Wenn sie eine Exhumierung durchführen wollen,<br />

können sie sich an lokale Organisationen<br />

wenden, z.B. an die Sozialpastoral oder an Opferorganisationen.<br />

Diese nehmen dann Kontakt<br />

auf mit CAFCA.<br />

Exhumierungen gab es bereits vor dem Abschluss<br />

aller Friedensverträge. Die ersten fanden<br />

1991 statt. 1994 wurde das Abkommen<br />

über die Menschenrechte unterzeichnet. Darin<br />

geht es u.a. um die Aufklärung und Aufarbeitung<br />

der Geschehnisse. Als eines der Mittel<br />

dazu werden Exhumierungen genannt. Doch


die Regierung hat sich in der Folge überhaupt<br />

nicht interessiert gezeigt, Exhumierungen<br />

durchzuführen. Laut den Friedensverträgen<br />

müssen die Organisationen, die Exhumierungen<br />

durchführen, unabhängig sein. Deshalb<br />

gibt es keine entsprechende staatliche Organisation.<br />

Nach Schätzungen sind 75% der Verscharrten<br />

noch nicht exhumiert worden. CAFCA hat bisher<br />

115 Exhumierungen durchgeführt. 60%<br />

davon sind in den Wahrheitsberichten gar nicht<br />

erwähnt, weil die Leute damals z.T. einfach gesagt<br />

haben, es sei etwas passiert – was genau,<br />

haben sie nicht erzählt.<br />

Die Angehörigen haben ein inneres Bedürfnis,<br />

die Überreste ihrer Angehörigen zu finden.<br />

Deshalb gelangen sie an CAFCA. Der Staat<br />

müsste ein Interesse daran haben, dass diese<br />

Arbeit gemacht wird. Hier kommt auch die<br />

Wiedergutmachung ins<br />

Spiel, juristisch wie<br />

ökonomisch. Viele dieser<br />

Fragen sind nach<br />

wie vor offen, doch der<br />

Staat trägt nicht dazu<br />

bei, sie zu klären, gibt<br />

keine moralische Unterstützung<br />

und beteiligt<br />

sich auch nicht an<br />

der Finanzierung von<br />

Exhumierungen. Diese<br />

werden durch ausländische<br />

Organisationen<br />

und Staaten finanziert,<br />

darunter die EU, die<br />

Schweiz, Irland, die<br />

USA.<br />

Anfänglich wurden die<br />

Exhumierungen von<br />

argentinischen Ärzten<br />

begleitet. Heute werden<br />

sie von GuatemaltekInnen durchgeführt,<br />

die unterdessen viele Erfahrungen gesammelt<br />

und Expertise entwickelt haben.<br />

Im Zusammenhang mit Exhumierungen<br />

kommt es immer wieder zu Drohungen. Bedroht<br />

werden nicht primär die Ausgrabungsequipen,<br />

sondern jene Personen, die eine Exhumierung<br />

verlangen und bereit sind zu erzählen,<br />

was geschehen ist. Die für die Morde Verantwortlichen<br />

kümmern sich nicht um die Exhumierungen<br />

und haben auch nichts dagegen,<br />

dass die Leute ihre Angehörigen ausgraben<br />

und ihnen ein würdiges Begräbnis ausrichten.<br />

Sobald jedoch eine Person einen juristischen<br />

Prozess anstrebt und die Verantwortlichen zur<br />

Rechenschaft ziehen will, wird‘s gefährlich.<br />

Seit einigen Jahren werden Leute, die sich für<br />

42<br />

Veränderungen engagieren in die Ecke gedrängt,<br />

als Gueriller@s bezeichnet, stigmatisiert.<br />

Héctor dagegen ist stolz, einer revolutionären<br />

Organisation angehört und für Veränderungen<br />

in diesem Land gekämpft zu haben.<br />

CAFCA ist der Wahrheit verpflichtet, es geht<br />

dem Zentrum nicht darum, die Interessen der<br />

einen oder der anderen Seite zu vertreten. Es<br />

ist einfach so, dass 93% der Menschenrechtsverbrechen<br />

von der Armee und paramilitärischen<br />

Organisationen ausgeübt wurden (gemäss<br />

dem offiziellen Wahrheitsbericht).<br />

Die Soldaten der Armee hatten in der Regel<br />

die Möglichkeit, ihre Toten abzutransportieren.<br />

Sie brachten sie jedoch nicht gerne zu deren<br />

Familien, sondern begruben sie und erzählten,<br />

sie seien verschwunden oder zur Guerilla übergelaufen.<br />

So mussten sie nicht öffentlich dazu<br />

stehen, dass so viele Soldaten umgekommen<br />

waren. Bisher wurden auch diese Fälle nicht<br />

aufgearbeitet. Das hat u.a. damit zu tun, dass<br />

es nach dem Krieg keinen Machtwechsel gegeben<br />

hat. Es sind noch immer die gleichen Leute<br />

an der Macht wie damals (z.B. Ríos Montt).<br />

CAFCA hat keine SpezialistInnen für mentale<br />

Gesundheit und psychosoziale Begleitung. Das<br />

Zentrum leitet die Leute an Organisationen in<br />

ihrem Umfeld weiter, die in diesen Bereichen<br />

arbeiten. Die Angehörigen der exhumierten Ermordeten<br />

werden von diesen Organisationen<br />

psychosozial begleitet. Dies ist nötig, da der<br />

ganze Prozess viele Wunden wieder aufreisst<br />

und auch für die comunidad eine soziale Belastung<br />

darstellt. Es braucht viel Vertrauen, damit<br />

die Leute das jahrelange Schweigen brechen<br />

und von den Ereignissen während des Kriegs


zu sprechen beginnen. Die Erinnerungsarbeit<br />

ist ein langwieriger Prozess und muss bereits<br />

eingeleitet werden, lange bevor die Überreste<br />

der Ermordeten ausgegraben werden.<br />

Oft arbeiten in der katholischen Pastoral SpezialistInnen<br />

für mentale Gesundheit, wie z.B. im<br />

Ixcán. Dort gibt es in jeder comunidad eine<br />

entsprechende Person. Im Ixil, in Nebaj, gibt<br />

es zwei Organisationen für mentale Gesundheit,<br />

die ihre Büros in Santa Cruz del Quiché<br />

und in der Hauptstadt und lokale Mitarbeitende<br />

vor Ort haben. Diese sind die Vertrauenspersonen<br />

der Leute bei der Erinnerungsarbeit.<br />

Die evangelistas sind in der Regel nicht an Exhumierungen<br />

interessiert. Die meisten Anfragen<br />

für Exhumierungen kommen von KatholikInnen.<br />

Vor dem Krieg waren die meisten Leute<br />

katholisch und hatten eine Nähe zur katholischen<br />

Kirche. Während der Präsidentschaft<br />

von Ríos Montt sind viele zu den evangelistas<br />

übergelaufen. Diese wollen jetzt die Geschichte<br />

vergessen und neu anfangen.<br />

-> www.cafcaguatemala.org<br />

CAFCA<br />

2 calle 6-77 zona 1<br />

ciudad de Guatemala<br />

Tel.: 22 53 20 80<br />

E-mail: cafca@hushmail.com<br />

Yolanda Aguilar, Projekt «De Víctimas de<br />

Violencia Sexual a Actoras de Cambio»<br />

Yolanda Aguilar, Mit-Gründerin des Projekts<br />

«De Víctimas de Violencia Sexual a Actoras de<br />

Cambio» (von Opfern sexueller Gewalt zu Akteurinnen<br />

des Wandels) besucht uns in «unserem»<br />

Gästehaus, um uns über das Projekt zu<br />

erzählen. Sie bezeichnet sich als Feministin, ist<br />

Ethnologin und arbeitet mit Frauen, die im<br />

Krieg Opfer von sexueller Gewalt geworden<br />

sind.<br />

Sie hat am Wahrheitsbericht der katholischen<br />

Kirche, «Guatemala: nunca más» (Guatemala:<br />

nie wieder), mitgearbeitet und dabei erfahren,<br />

dass während des Kriegs 25-50‘000 Frauen<br />

vergewaltigt worden waren. Das war 1998. Die<br />

Leute haben damals die ersten Erfahrungen<br />

darin gemacht, über die Geschehnisse während<br />

der Zeit der violencia zu sprechen. Ein<br />

Grossteil der Interviewten waren Frauen. Sie<br />

sprachen v.a. darüber, was den anderen geschehen<br />

war, nicht ihnen selbst. In Guatemala<br />

glaubt eine vergewaltigte Frau – und es wird<br />

ihr von der Gesellschaft auch entsprechend zu<br />

verstehen gegeben –, sie selbst trage die<br />

Schuld, sie sei schuldig. Sie versteht die Vergewaltigung<br />

nicht als Verletzung ihrer Rechte<br />

43<br />

als Frau.<br />

Im Bericht «Nunca más» gibt es ein eigenes<br />

Kapitel über die Erlebnisse von Frauen. Es gab<br />

aber in diesem Kapitel – im Gegensatz zu allen<br />

anderen Kapiteln – keine Empfehlungen an die<br />

Regierung. Die InterviewerInnen, die die testimonios<br />

aufgenommen hatten, waren bei der<br />

Verfassung der Empfehlungen nicht dabei, die<br />

wurden von anderen Leuten geschrieben.<br />

Ohne Empfehlungen gab es auch keine koordinierten<br />

Handlungen bezüglich sexuelle Gewalt,<br />

die Frauen erlitten hatten.<br />

In Guatemala wird viel über die toten Männer<br />

gesprochen, weniger über die toten Frauen<br />

und noch viel weniger über die überlebenden<br />

Frauen. Dies hat damit zu tun, dass Vergewaltigung<br />

als eine Angelegenheit in der Beziehung<br />

zwischen Mann und Frau angesehen wird anstatt<br />

als Verletzung der Menschenrechte von<br />

Frauen. Mädchen werden oft sehr jung verheiratet<br />

oder gar verkauft. Ihr Mann bestimmt die<br />

Beziehung zwischen ihnen und das Leben des<br />

Mädchens. Viele Frauen haben also bereits vor<br />

dem Krieg sexuelle Gewalt erlebt, während des<br />

Kriegs dann durch die Soldaten und auch die<br />

Guerilleros. Und jetzt, zehn Jahre nach dem<br />

Krieg, geht die sexuelle Gewalt gegen Frauen<br />

weiter. Es gab Dörfer, aus denen Frauen ausgestossen<br />

wurden, als nach dem Krieg öffentlich<br />

geworden war, dass sie vergewaltigt worden<br />

waren.<br />

Als erster Schritt muss klar werden dass die<br />

Frauen nicht selber schuld, sondern Opfer<br />

sind. Als zweiter müsste die Anklage folgen,<br />

als dritter die Wiedergutmachung.<br />

Es ist einfacher, Opfer zu sein und in diesem<br />

Status zu verharren, als aus der Opferrolle herauszutreten.<br />

Entscheidend ist deshalb zu sehen,<br />

wie die Frauen aus ihrem Opfer- und Objektstatus<br />

herausgekommen und zu Subjekten<br />

geworden sind.<br />

Yolanda und andere Frauen in Guatemala stellten<br />

plötzlich fest, dass die Vergewaltigungen<br />

im Krieg nicht ihr spezifisches Problem waren,<br />

sondern dass sie es mit Frauen weltweit, die<br />

einen Krieg erlebt haben, teilen. Sie haben<br />

dann in Tokio an einem Tribunal zu diesem<br />

Thema teilgenommen – zusammen mit Frauen<br />

aus verschiedenen Ländern, in denen ein Krieg<br />

geführt und Frauen vergewaltigt worden waren.<br />

Als sie von diesem Tribunal zurückkamen,<br />

hatten Yolanda und eine Freundin von ihr die<br />

Vision, hier in Guatemala ebenfalls etwas zu<br />

unternehmen, um die Würde von im Krieg vergewaltigten<br />

Frauen wieder herzustellen. So<br />

gründeten sie im Jahr 2002 das Projekt «De<br />

Víctimas de Violencia Sexual a Actoras de<br />

Cambio».


95% der im Krieg vergewaltigten Frauen sind<br />

Indígenas. Zu Beginn des Projekts ging es darum,<br />

diese Frauen in den Dörfern und Gemeinden<br />

überhaupt zu finden und zu schauen, ob<br />

sie von ihren Erlebnissen erzählen wollten/<br />

konnten. Dann musste geklärt werden, ob sie<br />

auch zu einem Gruppenprozess bereit waren.<br />

Während der ersten zwei Jahre waren Yolanda<br />

und ihre Mitarbeiterinnen damit beschäftigt,<br />

solche Frauen ausfindig zu machen. Die heute<br />

25 Mitarbeiterinnen arbeiten in drei Departementen<br />

mit 65 Frauen, die grösstenteils zwischen<br />

35 und 60 Jahre alt sind. Die meisten<br />

dieser Frauen sprechen kein Spanisch. Über<br />

die Gewalterlebnisse im Krieg haben sie nie<br />

gesprochen, auch nicht mit ihrem Ehemann<br />

oder ihren Kindern. Viele sind deshalb psychisch<br />

krank. Im Gegensatz zu anderen Gewaltopfern<br />

haben sie auch keinerlei Unterstützung<br />

erhalten.<br />

Das Projekt arbeitet mit zwei anderen Organisationen<br />

zusammen, mit je einer in den Bereichen<br />

psychosoziale Begleitung und Frauenrechte.<br />

Einige der Frauen in den Dörfern wurden<br />

zu Promotorinnen ausgebildet und leiten<br />

nun die sechs Selbsthilfegruppen. Im letzten<br />

Jahr haben sich alle Gruppen an einem Kongress<br />

getroffen und sich gegenseitig ihre Geschichten<br />

erzählt. Ein besonderer Erfolg war,<br />

dass sich die Frauen der Hindernisse in den<br />

comunidades, die sie davon abhielten, von ihren<br />

Geschichten zu sprechen, bewusst geworden<br />

waren. Zu diesen Hindernissen gehören<br />

z.B. die Schuldzuweisungen sowie die Verantwortung<br />

für das Überleben und Wohlergehen<br />

ihrer Kinder. Diese Frauen befinden sich in einer<br />

widersprüchlichen Situation: Einerseits<br />

wissen sie, dass die Familie auf sie angewiesen<br />

ist, und es ist schön, in ihrer Nähe zu sein. Andererseits<br />

erhalten sie aber keine Unterstützung<br />

von ihren Familien zurück.<br />

Unterdessen geht es an den Zusammenkünften<br />

der Gruppen nicht mehr nur um das Erzählen<br />

ihrer eigenen Geschichten, sondern auch<br />

um Frauenrechte im Allgemeinen. Auch sind<br />

die Treffen ein Widerstandsakt der Frauen, indem<br />

sie dort offen über ein gesellschaftliches<br />

Tabu sprechen. Im Moment sind die Mitarbeiterinnen<br />

des Projekts dabei zu erkunden, wie<br />

die Gerechtigkeitsvorstellungen der Frauen,<br />

mit denen sie arbeiten, aussehen und ob es<br />

Frauen gibt, die bereit sind, rechtliche Schritte<br />

in Angriff zu nehmen – entweder hier in Guatemala<br />

oder am interamerikanischen Gerichtshof.<br />

Dies ist ein sehr langwieriger Prozess,<br />

doch es ist äusserst wichtig, dass die Frauen<br />

selbst bestimmen, was sie wollen und wann<br />

sie es wollen. Yolanda und ihre Mitarbeiterin-<br />

44<br />

nen hoffen, dass einige Frauen zum Jahresende<br />

diesen Prozess abgeschlossen und sich entschieden<br />

haben, ob sie rechtliche Schritte unternehmen<br />

wollen oder nicht. Sie wünschen<br />

sich, im nächsten Jahr mit dem ersten juristischen<br />

Prozess beginnen zu können. Bis dann<br />

wollen sie politische Bewusstseinsarbeit leisten,<br />

u.a. in der Frauenbewegung und bei RichterInnen.<br />

Denn sie sind sich bewusst, dass sie<br />

für die Prozesse eine grosse nationale und internationale<br />

Unterstützung benötigen.<br />

Für die Mitarbeiterinnen des Projekts ist ein<br />

Ziel erreicht, wenn Frauen in der Öffentlichkeit<br />

über ihre Erlebnisse im Krieg sprechen können.<br />

Sie verstehen sich als Wegbereiterinnen<br />

für das Bewusstsein, dass solche Dinge hier in<br />

Guatemala geschehen. Diese Arbeit möchten<br />

sie 2008 mit einem Tribunal wie in Tokio abschliessen:<br />

Es soll ein lateinamerikanisches<br />

Tribunal sein, nicht nur eines zu Guatemala.<br />

Das Thema soll dadurch an die Öffentlichkeit<br />

getragen und Frauen sollen befähigt werden,<br />

Akteurinnen zu werden und selbst zu sprechen.<br />

Der internationale Strafgerichtshof kümmert<br />

sich nicht um diese Fälle, weil er nicht<br />

rückwirkend arbeitet. Auch der Gerichtshof für<br />

Menschenrechte kümmert sich nicht darum.<br />

Ziel dieses Projekts ist es, eine öffentliche Diskussion<br />

über sexuelle Gewalt gegen Frauen in<br />

Gang zu bringen. In Guatemala ist bereits das<br />

Sprechen über Sexualität ein Tabu, umso mehr<br />

das Sprechen über sexuelle Gewalt. Mit einem<br />

Buch wollen die Mitarbeiterinnen des Projekts<br />

«De Víctimas de Violencia Sexual a Actoras de<br />

Cambio» aufzeigen, wie im Krieg vergewaltigte<br />

Frauen aus ihrer Opferhaltung herausgetreten<br />

und zu Akteurinnen geworden sind. In diesem<br />

Buch sollen die psychosoziale, die juristische<br />

und die politische Ebene beleuchtet werden.<br />

Yolanda arbeitet seit bald vier Jahren an diesem<br />

Projekt – eine Arbeit, die sehr schmerzhaft<br />

ist. Sie möchte deshalb nun ein Jahr Pause<br />

machen und sich erholen. Es hat sich unterdessen<br />

ein Team gebildet, das ihre Arbeit während<br />

dieser Zeit weiterführen wird.<br />

Den Ausführungen von Yolanda folgt eine angeregte<br />

Diskussion mit der Gruppe:<br />

Arbeitet das Projekt auch mit den Tätern? –<br />

Nein, das ist nicht das primäre Interesse dieses<br />

Projekts. Die Arbeit mit den Frauen<br />

braucht sehr viele Ressourcen. Die Gesellschaft<br />

in Guatemala ist extrem machistisch, es<br />

gibt sowohl staatliche als auch innerfamiliäre<br />

Gewalt. Das Wirkungsvollste ist, wenn die Ehe-


frauen sagen, wann eine Grenze erreicht ist,<br />

dass sie sich nicht alles von ihren Männern gefallen<br />

lassen.<br />

Gibt es auch in der Mayakultur Machismo? –<br />

Die Kolonisierung Lateinamerikas hat mit einer<br />

Vergewaltigung begonnen (Malinche). Die Vermischung<br />

von Mayakultur und spanischer Kultur<br />

ist typisch für Guatemala. Die Mayas sind<br />

bezüglich Frauendiskriminierung auch nicht<br />

besser als andere Völker. Die eigentliche Kosmovision<br />

der Mayas unterscheidet sich von<br />

dem, was die meisten Männer in sie hinein interpretieren.<br />

Bis heute sind zwei ganz unterschiedliche<br />

Vorstellungen über die Rollen von<br />

Frauen und Männern vorhanden. Es gibt eine<br />

Gruppe von feministischen Mayafrauen, die<br />

sich damit auseinandersetzen.<br />

Was geschah mit Kindern, die im Krieg durch<br />

eine Vergewaltigung gezeugt worden waren? –<br />

Viele Frauen brachten solche Kinder zu Nonnen.<br />

Andere behielten sie, haben den Kindern<br />

aber nie etwas von diesen Ereignissen erzählt.<br />

Es gibt auch Fälle, in denen die ehemaligen<br />

Soldaten die Kinder wollten, die Mütter sie<br />

aber nicht hergaben. Die Situation dieser Kinder<br />

ist sehr schwierig. Als bei einer Selbstmordwelle<br />

unter Jugendlichen im Ixcán nach<br />

den Gründen geforscht wurde, fand man heraus,<br />

dass viele dieser Jugendlichen Kinder<br />

von im Krieg vergewaltigten Frauen waren.<br />

Vier Jahre sind eine kurze Zeit für ein Projekt<br />

wie «De Víctimas de Violencia Sexual a Actoras<br />

de Cambio». Es sind nicht nur indigene Frauen,<br />

die sich nicht trauen, über sexuelle Gewalt<br />

zu sprechen. Es gibt auch Ladinofrauen, die<br />

nun zum ersten Mal über die Gewalt reden, die<br />

sie zu Hause von ihren Ehemännern erleben.<br />

Ein Beispiel für die Komplexität dieser Thematik:<br />

In einer der Gruppen des Projekts wurde<br />

die Frage aufgeworfen, weshalb nur Frauen<br />

vergewaltigt worden waren. Die Antwort der<br />

Frauen war: Weil die Soldaten ihre eigenen<br />

Frauen nicht dabei hatten. – Es geht hier u.a.<br />

um die Internalisierung des Täters: Die Frauen<br />

denken sich in die Täter hinein, machen sich<br />

seine Interessen zu eigen und finden es selbstverständlich,<br />

Opfer zu sein. Yolanda und ihre<br />

Mitarbeiterinnen arbeiten nun mit einer Maya-<br />

Frauengruppe daran, diese Denkweise zu dekonstruieren.<br />

Wie ist es möglich, dass Männer Frauen systematisch<br />

vergewaltigen? – Das ganze patriarchale<br />

System basiert auf der Kontrolle der<br />

weiblichen Sexualität. Im Krieg potenziert sich<br />

das, der Höhepunkt dieser potenzierten Männ-<br />

45<br />

lichkeit drückt sich in systematischer Vergewaltigung<br />

aus. In den PAC (Zivilpatrouillen)<br />

gab es z.B. eine Hymne über den patrouillierenden<br />

Macho, welche die Männer sangen,<br />

wenn sie Tiere töteten, lebende Tiere assen<br />

oder compañeros folterten (solche Handlungen<br />

gehörten zur Ausbildung der PAC). Es gibt eine<br />

Analogie zwischen Männlichkeit und Militär, das<br />

eine potenziert sich mit dem anderen.<br />

Es gibt aber auch Frauen im Militär (z.B. in<br />

den deutschen Konzentrationslagern während<br />

des Zweiten Weltkriegs oder momentan im<br />

Irak)… – Weder Frauen noch Männer haben die<br />

Gewalt gepachtet. Um sich im Militär behaupten<br />

zu können, stehen den Frauen zwei Rollen<br />

zur Verfügung: jene des weiblichen Opfers und<br />

jene der «vermännlichten» Frau. Diese Rollen<br />

sind kulturelle und soziale Konstruktionen. In<br />

diesem System ist es genauso schwierig, Mann<br />

zu sein, wie Frau zu sein. Auch den Männern<br />

werden Rollen aufgezwungen (Familienernährer,<br />

starker Mann etc.), die sie erfüllen müssen<br />

– ob sie wollen oder nicht. Beide Geschlechter<br />

müssen in der patriarchalen Gesellschaft gleichermassen<br />

zeigen, dass sie die ihnen zugedachten<br />

Rollen erfüllen. Es gibt nicht nur eine<br />

Frauen-, sondern auch eine Männerbewegung,<br />

die sich für alternative Männlichkeitsbilder einsetzt.<br />

Wir wird Schwangerschaftsabbruch in Guatemala<br />

gehandhabt, wie war es speziell während<br />

des Kriegs? – Wir gehen davon aus, dass die<br />

meisten im Krieg vergewaltigten Frauen ihre<br />

mit Gewalt gezeugten Kinder geboren haben.<br />

Sichere Daten dazu gibt es aber nicht. Abtreibung<br />

ist in Guatemala illegal, obwohl der Staat<br />

behauptet, laizistisch zu sein. Tatsächlich ist<br />

das Verhältnis von Staat und katholischer Kirche<br />

in Fragen der Familie und der Familienplanung<br />

sehr eng. Erst vor ein paar Monaten hat<br />

der Kongress ein Gesetz verabschiedet, das<br />

den Frauen das Recht zuspricht, Verhütungsmittel<br />

und Kondome zu gebrauchen sowie<br />

selbst über die Anzahl Kinder, die sie gebären<br />

wollen, zu entscheiden. Als dieses Gesetz den<br />

Kongress passiert hatte, feierten viele Frauen<br />

auf der Strasse. In der Folge erklärte die katholische<br />

Kirche, sie sei gegen dieses Gesetz.<br />

Deshalb legte schliesslich Präsident Berger<br />

sein Veto gegen das Gesetz ein, so dass es<br />

dann doch nicht zustande kam.<br />

Die Doppelmoral der katholischen Kirche wird<br />

z.B. darin sichtbar, dass der Zölibat u.a. ein<br />

Mittel ist um zu verhindern, dass der ganze<br />

Reichtum der Kirche in den Unterhalt der Familien<br />

der Priester fliesst.


Welches Gericht könnte am ehesten einen Fall<br />

von sexueller Gewalt im Krieg durchziehen? –<br />

Das Problem besteht darin, dass sich sowohl<br />

die anklagenden Frauen als auch die sie unterstützenden<br />

Organisationen einer Gefahr aussetzen,<br />

wenn sie juristische Schritte unternehmen.<br />

Das Projekt «De Víctimas de Violencia<br />

Sexual a Actoras de Cambio» möchte nächstes<br />

Jahr einen Präzedenzfall schaffen: Eine 83-jährige<br />

Frau, die mittlerweile in Mexiko lebt, ist<br />

ev. bereit, einen Prozess anzustreben. Die<br />

Chance, hier in Guatemala einen solchen Fall<br />

durchziehen zu können, ist minim. Wenn man<br />

hier einen Fall eingibt und sechs Monate lang<br />

nichts geschieht, wird er an den interamerikanischen<br />

Gerichtshof weitergezogen. Guatemala<br />

hat im internationalen Vergleich relativ viele<br />

Konventionen – z.B. auch die Frauenrechtskonvention<br />

CEDAW – unterschrieben und<br />

macht auch Fortschritte in Sachen Frauengesetze.<br />

Doch wenn es zu einem juristischen Fall<br />

kommt, sieht alles wieder anders aus.<br />

46<br />

-> Projektkoordination:<br />

UNAMG (Unión Nacional de Mujeres Guatemaltecas):<br />

unamg@terra.com.gt<br />

http://www.unamg.org/<br />

http://wwwfp.mccneb.edu/mayanliterature/<br />

kaqla.htm<br />

IXQIK (Asociación de Mujeres de Petén Ixqik):<br />

ixqik@itelgua.com<br />

ECAP (Equipo de Estudios Comunitarios y Acción<br />

Psicosocial): ecap@guate.net<br />

http://www.ecapguatemala.org/<br />

Yolanda Aguilar: yolandaau@intelnet.net.gt<br />

PCS (Consejería en Proyectos – Project Counselling<br />

Service) pcincidencia@terra.com.gt<br />

http://www.pcslatin.org/<br />

Siehe auch "Familienplanung ist Gesetz"<br />

(Anhang S. 9)


02. 03. 06: Archive der Nationalen Polizei gefunden: 100 Jahre Geschichte<br />

Während die Gruppe bei CAFCA zu Besuch war,<br />

hatte ich die Gelegenheit, an der ersten öffentlichen<br />

Präsentation der Arbeit in den im letzten<br />

Jahr zum Vorschein gekommenen Archiven der<br />

Nationalen Polizei dabei zu sein.<br />

Der Fund<br />

Im Juni 2005 stiess das Menschenrechtsprokurat<br />

(PDH) bei der Untersuchung einer Explosion<br />

in einem polizeieigenen Sprengstofflager<br />

mitten in der Hauptstadt «zufälligerweise» auf<br />

ein Archiv der Nationalen Polizei. Inmitten von<br />

polizeilichem Autoschrott und Sprengstoff lag<br />

während Jahren ein wahrer Schatz an Dokumenten<br />

verborgen, aus denen man nun in akribischer<br />

Arbeit Bruchstücke fehlender Geschichte<br />

von Hunderten während dem Krieg<br />

«verschwundener» Personen wiederzufinden<br />

hofft.<br />

Der Fund dieser Archive ist ein Meilenstein in<br />

der Geschichte der Wahrheitssuche in Guatemala,<br />

wurde doch die Existenz solcher Archive<br />

systematisch geleugnet, sowohl gegenüber der<br />

Wahrheitskommission (CEH) wie auch gegenüber<br />

von (Staats-) AnwältInnen, die Beweismaterial<br />

für die Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen<br />

suchten.<br />

Zurückhaltende Schätzungen gehen von 50 bis<br />

60 Millionen Dokumenten aus (aneinandergereiht<br />

sind das 24,5 km), welche die Geschichte<br />

der Nationalen Polizei seit Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

bis zur Unterzeichnung der Friedensabkommen<br />

1996 dokumentieren. Die ältesten<br />

Dokumente datieren aus dem Jahr 1902. Kriminalistische<br />

Untersuchungen, offizielle Kommunikation<br />

zwischen den verschiedenen Polizeieinheiten,<br />

administrative Informationen,<br />

Zeitungsausschnitte, interne Memoranden, Fotos<br />

von Kadavern, Gesuche um Fahrausweise<br />

und weitere Informationen im Zusammenhang<br />

polizeilicher Tätigkeiten während quasi 100<br />

Jahren wurden in Stapeln, in Archivschubladen<br />

oder in wirrem Durcheinander auf dem Fussboden<br />

in insgesamt 37 Räumen gefunden. Die<br />

47<br />

meisten dieser Dokumente waren während<br />

Jahren dem Regen, dem Schimmel und den<br />

Fledermäusen ausgesetzt. Das Gebäude, in<br />

dem der grösste Teil der Dokumente gefunden<br />

wurde, hat ein Flachdach, das absolut nicht<br />

wasserdicht ist, da das Gebäude eigentlich als<br />

mehrstöckiges Polizeispital geplant war, aber<br />

nie über das Parterre hinausgebaut wurde.<br />

Entsprechend war das Dach dieses einen<br />

Stockwerks nicht als Dach sondern als Zwischenboden<br />

konzipiert und ist deshalb nur bedingt<br />

wasserdicht. Überhaupt ist es schwierig<br />

zu glauben, dass dieses Gebäude ein Spital<br />

hätte werden sollen – bei einem Rundgang<br />

trifft man auf Dutzende von (ebenfalls unfertigen<br />

und deshalb schwierig zu definierenden)<br />

2,5 m 2 kleinen Räumen ohne Lichtquelle.<br />

Retten, was zu retten ist<br />

Die PDH reagierte schnell. Innerhalb von Stunden<br />

wurden ausländische Botschaften über<br />

den Fund informiert, um zu garantieren, dass<br />

die internationale Gemeinschaft diesem Fund<br />

die notwendige Wichtigkeit zukommen liess.<br />

Guatemaltekische Menschenrechtsorganisationen<br />

stellten sofort Freiwillige zur Verfügung,<br />

die das Gelände und die darin gelagerten Dokumente<br />

schützten und mit ersten Aufräumarbeiten<br />

begannen, sobald die entsprechende<br />

richterliche Verfügung vorlag. Dies ging erstaunlich<br />

rasch und reibungslos: Die PDH bekam<br />

die Erlaubnis, ein Inventar der vorgefundenen<br />

Dokumente zu erstellen und es wurde<br />

richterlich entschieden, dass zum Schutz der<br />

Dokumente das Archiv nicht verlegt werden<br />

darf.<br />

Nachdem die Existenz des Archivs in der<br />

Hauptstadt bekannt wurde, machte sich die<br />

PDH auch in den Departments auf die Suche<br />

und wurde in verschiedenen Polizeistationen<br />

fündig. Aus rund 30 Polizeiarchiven unterschiedlicher<br />

Grösse (hier muss man davon<br />

ausgehen, dass diverses Material zerstört wurde)<br />

aus dem Landesinnern wurden noch einmal<br />

etwa 6 Mio. Dokumente zusammengetragen.<br />

Unterdessen sind diverse Fachleute sowie über<br />

hundert von guatemaltekischen Menschenrechtsorganisationen<br />

bezahlte oder freiwillig<br />

aufgebotene Personen daran, eine erste Systematisierung<br />

der Dokumente durchzuführen.<br />

In erster Linie geht es darum, die Papiere von<br />

Schmutz und Schimmel zu reinigen, Fotos wieder<br />

aufzukleben und die metallenen Büro- und<br />

Heftklammern durch solche aus Plastik zu ersetzen,<br />

um weitere Rostschäden zu verhin-


dern. Alle im Archiv arbeitenden Leute tragen<br />

Handschuhe und Mundschutz, da der Schimmelpilz<br />

giftige Substanzen enthält.<br />

Die Arbeit verläuft in vier Phasen: Sicherstellen,<br />

Bewahren, Analysieren, Erhalten. In den<br />

ersten drei Phasen werden Dokumente aus<br />

dem Zeitraum 1975 bis 1985 prioritär gesichtet,<br />

es handelt sich dabei um die Jahre, in denen<br />

am meisten Personen «verschwunden»<br />

wurden. Dabei geht es darum, sowohl den Ansprüchen<br />

der HistorikerInnen, der ArchivarInnen,<br />

der AnwältInnen wie der Familienangehörigen<br />

gerecht zu werden, Ansprüche, die sich<br />

zum Teil aus beruflichen oder persönlichen Interessen<br />

widersprechen.<br />

Sergio Morales von der PDH erklärt, man habe<br />

noch nicht einmal 1% der Dokumente klassifizieren<br />

können. Entsprechend sei es noch zu<br />

früh, um die Strukturen und das Funktionieren<br />

der Polizei beschreiben zu können. «Unterdessen<br />

haben wir zwar erste Bilder über verschiedene<br />

historische Momente, die nach einem<br />

komplexen und enormen Puzzle ausschauen.<br />

Beim Zusammensetzen dieses Puzzles hat man<br />

manchmal das Gefühl, dass gewisse Teile zusammengehören,<br />

aber dann gibt es wieder<br />

Momente der Unklarheit und der Widersprüche,<br />

die zur Vorsicht mahnen», heisst es in einer<br />

ersten Evaluation der PDH über die ersten<br />

drei Monate Arbeit in den Archiven.<br />

Die PDH rechnet mit mehreren Jahren Arbeit,<br />

bis die Dokumente so geordnet und so aufbereitet<br />

sind, dass sie öffentlich zugänglich gemacht<br />

werden können. Im Moment wird kein<br />

einziges Dokument herausgegeben und keinem<br />

der «Fälle» explizit nachgegangen. Zwar<br />

können Menschenrechtsorganisationen, AnwältInnen<br />

oder Familienangehörige bereits Anträge<br />

für die Herausgabe von eventuell im Archiv<br />

vorhandener Dokumente stellen, doch müssen<br />

alle Dossiers zuerst gesichtet, registriert und<br />

digitalisiert werden, bevor sie freigegeben<br />

werden.<br />

Und dann beginnt die schwierige Arbeit der<br />

Menschenrechtsorganisationen, die darin bes-<br />

48<br />

teht, aus den gefundenen Dokumenten Beweise<br />

dafür zu finden, dass der Befehl, eine Person<br />

zu verfolgen, verschwinden zu lassen, zu<br />

foltern, umzubringen, von einer der Polizeistationen<br />

ausging, deren Archive man jetzt gefunden<br />

hat. Laut Mario Polanco, von der Menschenrechtsorganisation<br />

GAM («Gruppe gegenseitiger<br />

Hilfe») wird dies nicht einfach sein.<br />

Man habe zwar in den Archiven die Beweise,<br />

dass Leute überwacht, verfolgt und möglicherweise<br />

sogar vorübergehend festgenommen<br />

wurden. Viele der Fichen endeten mit dem Befehl<br />

proseguir (weiterverfolgen). Doch wenn<br />

man dann endlich Zugang zu den Dokumenten<br />

habe, müsse erst nachgeprüft und bewiesen<br />

werden, dass alle Dossiers/Personen, die ein<br />

proseguir hätten, identisch sind mit den Dossiers,<br />

welche die Menschenrechtsorganisationen<br />

über die Verschwundenen und Ermordeten<br />

haben, so Polanco.<br />

Eine weitere Frage, die vor der Veröffentlichung<br />

der Dokumente geklärt werden muss,<br />

ist das Problem der individuellen versus der<br />

kollektiven Rechte. Die guatemaltekische Bevölkerung<br />

hat ein Recht auf die Wahrheit (kollektives<br />

Recht), die Familienangehörigen derjenigen<br />

Personen, die in den Archiven fichiert<br />

sind, haben das Recht auf Persönlichkeitsschutz<br />

ihrer Liebsten, auch wenn diese bereits<br />

tot sein sollten (persönliches Recht).<br />

Die guatemaltekische Regierung<br />

Die Reaktion der guatemaltekischen Regierung<br />

auf den historischen Fund ist geprägt<br />

von Zurückhaltung und dem Versuch, das<br />

ganze herunterzuspielen. Was man jetzt<br />

plötzlich für ein Aufheben um diese Archive<br />

machen würde, die seien ja immer da gewesen,<br />

ist der offizielle Kommentar. Entsprechend<br />

stellt die Regierung auch keine<br />

finanziellen Mittel zur Verfügung, um das<br />

Datenmaterial zu sichten und aufzuarbeiten.<br />

Immerhin macht der Sprecher des Vizepräsidenten<br />

das Versprechen, dass in<br />

den selben Räumlichkeiten, in denen das<br />

Archiv gefunden wurde, ein Museo de la Memoria,<br />

ein Museum der Erinnerung eingerichtet<br />

werden soll.<br />

Die Geschichte der Nationalen Polizei<br />

Die im Polizeiarchiv gefundenen Dokumente<br />

umfassen verschiedene historische Perioden in<br />

der Geschichte der Polizei und werden bei der<br />

Aufarbeitung entsprechend gruppiert.<br />

In ihren Anfängen war die guatemaltekische<br />

Polizei eine Art Nachbarschaftshilfe, die autonom<br />

funktionierte und keinen spezifischen Auftrag<br />

des Staates erfüllte. Am 7. Dezember<br />

1872 wurde per Dekret die Guardia Civil ge-


gründet, und am 12. September 1881 wurde<br />

ein Polizeireglement für «Sicherheit und Hygiene»<br />

erlassen.<br />

Eine nächste Phase in der Geschichte der Polizei<br />

umfasst den Zeitraum 1900 bis 1930, in<br />

der eine zahlenmässige Vergrösserung und<br />

territoriale Ausweitung polizeilicher Tätigkeiten<br />

stattfand. Sie bekam den Namen Nationale Polizei<br />

und übernahm immer mehr Überwachungsfunktionen.<br />

Die nächste Periode umfasst die Jahre 1931<br />

bis 1944, die Zeit des Diktators Jorge Ubico, in<br />

der die Polizei mehr und mehr Kontrollfunktionen<br />

übernahm. Es wurde eine nichtuniformierte,<br />

sprich Geheimpolizei ins Leben gerufen, die<br />

einen ausgesprochen militärischen Charakter<br />

hatte und deren Aufgabe die Kontrolle der Zivilbevölkerung<br />

war. Eine Arbeit bei der Polizei<br />

fand nur, wer vorher Militärdienst geleistet hatte.<br />

In dieser Zeit waren die Polizeiaufgaben<br />

unterteilt in «öffentliche Ordnung», «Gesundheit<br />

und Hygiene» und «Soziale Verteidigung».<br />

In der Zeit der Revolution von 1944 bis 1954<br />

änderte man den Namen der Polizei wieder auf<br />

Guardia Civil, um ihren repressiven Ruf und ihren<br />

Imageverlust unter Ubico etwas aufzubessern.<br />

Es wurde auch versucht, die Polizei zu<br />

entmilitarisieren.<br />

Mit der Konterrevolution unter der Regierung<br />

von Carlos Castillo Armas (1954) ergab sich<br />

wieder eine völlige Umstrukturierung der Polizei.<br />

Im Rahmen der «Kommunismusbekämpfung»<br />

wurde das Komitee zur Nationalen Verteidigung<br />

gegründet, dem auch die berühmtberüchtigten<br />

judiciales angehörten, deren Aufgabe<br />

die Jagd auf KommunistInnen war.<br />

Ein weiter historische Zeitspanne, die bei der<br />

Untersuchung der Archive von Bedeutung sein<br />

wird, sind die Jahre zwischen 1963 und 1986.<br />

Nach dem Staatsstreich von 1963 übernahm<br />

das Militär die Vormachtstellung über die anderen<br />

Institutionen, inklusive die Polizei, die<br />

sich in ein Instrument der Aufstandsbekämpfung<br />

wandelt, deren Chefs in enger Beziehung<br />

mit dem Militär standen. Die Unterordnung<br />

und Militarisierung wurde durch die Ernennung<br />

diverser Militärs in hohe Polizeiränge institutionalisiert.<br />

Während der 70er-Jahre wurden landesweit<br />

Polizeiposten und -stationen eingerich-<br />

49<br />

tet. Unter der De-facto-Regierung von Ríos<br />

Montt wurde im Jahr 1982 eine neue Einheit<br />

(DIT) gebildet, deren Aufgabe die Verfolgung<br />

und Untersuchung von «Delinquenten» war,<br />

sowie deren Überstellung an spezielle Gerichte.<br />

Die letzte Zeitspanne umfasst die Jahre von<br />

1986 bis 1997. Sie beginnt mit der Regierung<br />

von Vinico Cerezo, der die DIT abschaffte, die<br />

im Verlauf der Jahre in das umwandelt wird,<br />

was heute die guatemaltekische Kriminalpolizei<br />

(SIC) ist. 1997 wurde im Rahmen der Friedensabkommen<br />

die Zivile Nationalpolizei gegründet,<br />

mit dem Ziel, die Praktiken der menschenrechtsverletzenden<br />

Nationalen Polizei<br />

und der Finanzpolizei ein für alle Mal hinter<br />

sich zu lassen.<br />

Was die Struktur der Polizei betrifft, ist es noch<br />

zu früh, um aus den gesichteten Dokumenten<br />

definitive Schlüsse zu ziehen. Was jedoch klar<br />

hervorkommt, ist eine systematische Unterordnung<br />

der Polizei unter das Militär. Die bisher<br />

gefundenen Organigramme der Nationalen<br />

Polizei lassen noch kein genaues Bild zu über<br />

die interne Hierarchie bzw. über eine Parallele<br />

zwischen den jeweiligen Polizeigesetzen und<br />

der Polizeihierarchie. Gefunden hat man bisher<br />

Organigramme aus den Jahren 1936, 1982<br />

und 1997, die darauf hinweisen, dass über die<br />

Jahre eine Veränderung von hierarchischen zu<br />

horizontaleren Strukturen stattgefunden hat.<br />

Abschliessend kann gesagt werden, dass mit<br />

den bereits gefundenen internen Polizeidokumenten<br />

und mit denen, die die PDH im Verlauf<br />

der Aufarbeitung des Archivs zu finden hofft,<br />

ein ziemlich genaues Abbild der Strukturen<br />

und des Funktionierens der Polizei im letzten<br />

Jahrhundert gemacht werden kann.<br />

-> Artikel «Heiss her geht es um PN- und EMP-Archive»<br />

vom Mai 2006:<br />

http://www.guatemala.de/Fijate/index.html<br />

(¡Fijate! No. 360)<br />

Siehe auch "Heiss her geht es um PN- und EMP-Archive"<br />

(Anhang S. 3)


03. 03. 06: Besuch in der Schweizer Botschaft<br />

Kurz vor Ende der Studienreise erleben wir einen<br />

neuen Höhepunkt: ein Gespräch mit Michael<br />

Moerth, ein Deutscher, der seit 11 Jahren<br />

in Guatemala lebt, im Augenblick in der<br />

Schweizer Botschaft angestellt ist, lange als<br />

Strafverteidiger in Deutschland gearbeitet hat,<br />

mit Bischof Gerardi (am 26.4.1998 ermordet)<br />

bei REMHI (Projekt der katholischen Kirche zur<br />

Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses<br />

und der Erarbeitung des Wahrheitsberichts<br />

Nunca Más) gearbeitet und CAFCA (Zentrum<br />

für forensische Analyse und angewandte Wissenschaften<br />

– s. 02. 03. 06) mit aufgebaut<br />

hat. Dieser überaus kompetente Gesprächspartner<br />

und Informant deutet seine jetzige Arbeit<br />

an:<br />

- Friedensförderungsprogramm der Schweiz in<br />

Guatemala / politische Aktion<br />

- Hilfsprojekte für bis zu 700’000 CHF pro<br />

Jahr<br />

- CAFCA-Unterstützung<br />

- Mitarbeit in nationaler Entschädigungskommission<br />

- Kontakte zu Menschenrechtsbeauftragten<br />

und -Kommissionen<br />

- Kontakte zur Staatsanwaltschaft<br />

- UNO-Programm: Untersuchung der kriminellen<br />

mafiösen Strukturen zur Aufklärung in<br />

der Zivilgesellschaft<br />

- Lobby-Arbeit im Kongress<br />

Welche Botschaften müssen nach 36 Jahren<br />

Bürgerkrieg (1960 – 1996) ausgesandt werden?<br />

- Den Opfern muss ihre Würde wiedergegeben<br />

werden (Exhumierungen…).<br />

- Die Justiz muss in der Aufarbeitung der Unrechtsstrukturen<br />

gestärkt werden (keine<br />

Straffreiheit…).<br />

- Entschädigung für die Opfer muss durchgesetzt<br />

werden (moralisch und finanziell – ein<br />

Programm von 300 Millionen ist aufgelegt<br />

worden).<br />

- Konfliktlösung zwischen organisierter Gesellschaft<br />

und Zivilgesellschaft ist vordringliche<br />

Aufgabe des Staates.<br />

Michael Moerth führt weiter aus.<br />

- Die ehemals dominante Rolle des Militärs ist<br />

deutlich schwächer geworden.<br />

- Der Staat ist «unheimlich» schwach.<br />

- 15 Familien haben «sagenhaft» viel Geld<br />

und Besitz.<br />

Vordringliche Forderungen und Fragen sind:<br />

- Der Staat/ Land muss eine «ökonomische<br />

Nische» finden.<br />

50<br />

- Wie kommt es zu einem Umdenken der Elite/<br />

Unternehmer?<br />

- Wie wächst ein Umdenken der sozialen Organisationen<br />

hin zu klarerer Bestimmung<br />

und Koordination?<br />

- Wie entsteht eine neue Industrie?<br />

- Es muss einen gemeinsamen Willen zur Änderung<br />

der Steuerpolitik und Steuerbereitschaft<br />

geben.<br />

Strukturelle Probleme behindern zusätzlich einen<br />

nachhaltigen Fortschritt:<br />

- Guatemala ist keine Nation – es gibt keine<br />

allgemeine Identität mit dem eigenen Volk.<br />

- Das «Gemeinwohl» ist kein Thema – obwohl<br />

die Parolen aller Parteien propagieren:<br />

«Guatemala für alle».<br />

- Es gibt einen schwachen Staat, eine starke<br />

Oligarchie, eine schwache Zivilgesellschaft<br />

(NGOs …Obwohl es einer unserer/meiner<br />

stärksten Eindrücke durch unsere Begegnungen<br />

in diesem Land war, wie viele aktive<br />

Kommunen, Kooperativen, Vereine, kreative<br />

Gruppen… es gibt.)<br />

Welche Perspektive sieht Michael Moerth?<br />

- Die «Friedensabkommen» von 1996 sind<br />

noch kaum mehr als ein relativer Waffenstillstand.<br />

- Die Gefahr von Gewalt-Konflikten wächst erneut<br />

auf beiden Seiten.<br />

- Auch und gerade angesichts der 2007 anstehenden<br />

Neuwahlen (bisher ist noch nie eine<br />

Regierung wiedergewählt worden, obwohl es<br />

im Grunde keine Opposition gibt) verstärkt<br />

sich die allgemeine Unsicherheit und die offene<br />

Frage nach einer Perspektive.<br />

Beeindruckt verabschieden wir uns von einem<br />

überaus engagierten und kompetenten Gesprächspartner.<br />

Anschliessend erweist sich Antonio auf einer<br />

Stadtrundfahrt mit seinem «Tourismo» als ein<br />

informierter Führer durch seine Hauptstadt mit<br />

ihren Licht- und Schattenseiten.<br />

-> Michael Moehrt: soluna@amigo.net.gt


03. 03. 06: Acoguate<br />

Estéban besucht uns im Gästehaus und erzählt<br />

von der Arbeit von Acoguate:<br />

In den 1980er-Jahren hat PBI (Peace Brigades<br />

International) begonnen, hier in Guatemala zu<br />

arbeiten, d.h. bedrohte MenschenrechtsaktivistInnen<br />

zu begleiten. In den 1990er-Jahren,<br />

als viele Flüchtlinge aus Mexiko zurückkehrten,<br />

kamen weitere Organisationen aus verschiedenen<br />

Ländern hinzu.<br />

Acoguate begleitet Menschen, die der Gefahr<br />

von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt<br />

sind. Nebst dem Schutz versteht es die Organisation<br />

auch als ihre Aufgabe, Menschenrechtsverletzungen<br />

öffentlich zu machen. Diese<br />

Öffentlichkeit, die die internationale Begleitung<br />

schafft, kann z.T. Menschenrechtsverletzungen<br />

verhindern.<br />

Die Demokratisierung in den 1980er-Jahren<br />

war ein Kompromiss mit dem Militär, das die<br />

wirkliche Macht in den eigenen Händen behielt.<br />

Trotzdem wurden damals auch neue Spielräume<br />

geschaffen. Aufgabe der internationalen<br />

Präsenz war es, einen Keil in diese Ritzen zu<br />

treiben. Im Justizwesen z.B. zeigt sich, wie<br />

klein diese Spielräume noch immer sind. Straflosigkeit<br />

ist weit verbreitet, nur 1 Promille der<br />

Mordfälle wird überhaupt aufgeklärt. Dies ist<br />

u.a. eine Nachwirkung der Militärherrschaft. In<br />

den 1980ern war die Gewalt vom Staat ausgegangen,<br />

heute gelingt es dem Staat nicht, gegen<br />

die Gewalt von Drogenkartellen, Oligarchien,<br />

Jugendbanden und klandestinen Mächten<br />

vorzugehen. Insofern hat eine grundlegende<br />

Verschiebung stattgefunden. Die Oligarchie<br />

und die Mafia besitzen sehr viel Macht in Guatemala<br />

und hindern den Rechtsstaat daran, die<br />

Kontrolle auszuüben. Deshalb ist es sehr<br />

schwierig, Militärs vor Gericht zu bringen.<br />

Wenn trotzdem solche Prozesse angerissen<br />

werden, werden die ZeugInnen bedroht oder<br />

umgebracht, Richter und Staatsanwälte werden<br />

ebenfalls bedroht, anderweitig involvierte<br />

Personen verschwinden, es wird in die Büros<br />

von unterstützenden Organisationen eingebrochen,<br />

ihre Computer gestohlen, ihre Mitarbeitenden<br />

werden bedroht oder gar ermordet.<br />

Dies macht solche Prozesse natürlich sehr<br />

schwierig.<br />

Trotzdem haben sich 22 Gemeinden in der<br />

«Vereinigung für Gerechtigkeit und Versöhnung»<br />

zusammengeschlossen und streben einen<br />

Prozess gegen die ehemaligen Generäle<br />

und Präsidenten Fernando Romeo Lucas García<br />

(1978-82) und José Efraín Ríos Montt (1982-<br />

83) an. Dieser Prozess wird primär von der<br />

51<br />

Menschenrechtsorganisation CALDH vorangetrieben.<br />

Internationale Freiwillige begleiten die<br />

130 ZeugInnen aus den Departementen Chimaltenango,<br />

Ixil, Huehuetenango und Ixcán,<br />

die gegen die beiden Generäle ausgesagt haben.<br />

Acoguate koordiniert diese Begleiteinsätze<br />

vor Ort. Verschiedene Menschenrechtsgruppen<br />

und -organisationen oder Solidaritätskomitees<br />

in den USA und Europa suchen in ihren<br />

Ländern die Freiwilligen und bereiten diese auf<br />

ihren Einsatz vor. Die Schweizer Partnerorganisation<br />

von Acoguate ist «Peace Watch<br />

Switzerland». Die Freiwilligen verpflichten sich<br />

für eine Mindestdauer von drei Monaten. Einige<br />

bleiben auch länger, sechs Monate oder ein<br />

Jahr. Je länger die Freiwilligen bleiben, desto<br />

grösser wird die psychische Belastung. Die<br />

meisten erhalten für ihre Arbeit keine finanzielle<br />

Entschädigung, bekommen aber einen<br />

Teil der Spesen bezahlt, bzw. können z.B. gratis<br />

wohnen.<br />

Der Prozess gegen Lucas García und Ríos<br />

Montt wurde in den Jahren 2000 bzw. 2001<br />

eingeleitet. Trotzdem befindet er sich noch immer<br />

im Stadium der Abklärungen, es ist noch<br />

immer nicht zur Anklage gekommen – denn<br />

die Staatsanwaltschaft will diesen Prozess eigentlich<br />

nicht. Die ZeugInnen haben bereits<br />

vor dem Staatsanwalt ausgesagt. Die Staatsanwaltschaft<br />

hat aber schlechte Frage gestellt,<br />

so dass die ZeugInnen gar nicht dazu kamen,<br />

auf Hintergründe einzugehen. Auch einige<br />

Richter verhalten sich nicht korrekt, bzw. weigern<br />

sich, für den Prozess nötige Exhumierungen<br />

voranzutreiben. Oder sie fällen Urteile, die<br />

den Prozess verhindern. Z.T. mussten Fälle bis<br />

ans Verfassungsgericht weitergezogen werden,<br />

weil die unteren Instanzen uneffizient oder gar<br />

behindernd arbeiteten. In der Regel ist es allerdings<br />

so, dass die verschiedenen Instanzen<br />

sich gegenseitig decken. So schliesst sich der<br />

Kreis: Z.B. hätte Ríos Montt gemäss Verfassung<br />

im Jahr 2003 nicht fürs Präsidentenamt<br />

kandidieren dürfen, doch schlussendlich qualifizierte<br />

das Verfassungsgericht die Kandidatur<br />

als verfassungskonform.<br />

In Guatemala gibt es die Möglichkeit, dass die<br />

Opfer selbst als NebenklägerInnen, als dritte<br />

Partei nebst der Staatsanwaltschaft und den<br />

Angeklagten auftreten und so im Prozess Fragen<br />

stellen können. Den ZeugInnen kommt<br />

deshalb eine sehr wichtige Funktion zu.<br />

Schliesslich kann nicht damit gerechnet werden,<br />

dass sich die Staatsanwaltschaft ernsthaft<br />

für die Opfer ins Zeug legt.


Mitarbeitende von Menschenrechtsorganisationen<br />

wie Acoguate oder CALDH, welche die<br />

ZeugInnen begleiten oder mit ihnen arbeiten,<br />

haben bereits Morddrohungen erhalten oder<br />

sind überfallen worden. Auch wurden ZeugInnen<br />

und internationale BegleiterInnen eingeschüchtert<br />

oder mit dem Tod bedroht. In den<br />

1980er-Jahren wurde gar eine Granate ins<br />

Büro von PBI geworfen.<br />

CALDH arbeitet mit den ZeugInnen, damit sie<br />

sich im Prozess richtig verhalten und über das<br />

nötige Know-how verfügen, um klar machen<br />

zu können, dass es sich bei dieser Sache um<br />

Genozid handelt. Dies ist eine schwierige und<br />

gleichzeitig sehr wichtige Arbeit. Ohne diese<br />

Schulung könnten die Leute vor Gericht nicht<br />

so sprechen, dass ihre Voten die Anklage unterstützen.<br />

Der Prozess wird wohl absichtlich hinausgezögert,<br />

damit er schlussendlich gar nie stattfinden<br />

wird: Lucas García ist bereits krank, hat<br />

den Verstand verloren und weilt im Ausland.<br />

Die übrigen Angeklagten befinden sich hingegen<br />

in gutem Gesundheitszustand. Die ZeugInnen<br />

werden aber auch älter, viele von ihnen<br />

leben in extremer Armut und müssen mit 1<br />

US-Dollar pro Tag auskommen. Trotzdem verlieren<br />

sie den Mut nicht. Sie sind dankbar für<br />

die internationale Begleitung und fühlen sich<br />

durch sie gestärkt. Estéban meint, dass eher<br />

die begleitenden Organisationen mutlos werden<br />

und manchmal resignieren, weil es nicht<br />

vorwärts geht und es gar Stimmen gibt, die<br />

Guatemala eine Zukunft wie die Gegenwart<br />

Kolumbiens voraussagen.<br />

Acoguate arbeitet nun schon seit vier, fünf<br />

Jahren in dieser Sache, ohne dass die Organisation<br />

viel verändern konnte. Andererseits darf<br />

man aber nicht vergessen, dass die ZeugInnen<br />

sich ohne die Begleitung und den Schutz nicht<br />

zusammengeschlossen hätten. Auch anderes<br />

wäre ohne die Arbeit von Acoguate und ähnlichen<br />

Organisationen nicht möglich – sie bewirken<br />

also durchaus etwas.<br />

Die Armee hat nie nur die Guerilla bekämpft,<br />

die war militärisch sowieso schwach. Sondern<br />

sie wollte die Mayagesellschaft zerstören.<br />

Denn sie fürchtete, die Mayas könnten sich organisieren,<br />

von den Bergen runter kommen<br />

und die Macht übernehmen. Deshalb hat die<br />

Armee die Mayas gegeneinander ausgespielt,<br />

gespalten und die einen Mayas andere Mayas<br />

umbringen lassen. Sie hatte Angst vor einer<br />

Bewegung von «Indios» (das ist in Guatemala<br />

ein Schimpfwort) – ein Ausdruck des in Guatemala<br />

herrschenden Rassismus.<br />

Zum Schluss wollen wir noch etwas genauer<br />

wissen, wie die konkrete Arbeit der internatio-<br />

52<br />

nalen BegleiterInnen aussieht. Estéban erzählt:<br />

Bevor die BegleiterInnen nach Guatemala<br />

kommen, werden sie von den Partnerorganisationen<br />

in ihrem Herkunftsland ein Stück<br />

weit vorbereitet. Zudem müssen sie bestimmte<br />

Bedingungen erfüllen: Sie waren bereits<br />

einmal in einem Land des Südens und hatten<br />

dort Basiskontakte, sie sprechen Spanisch etc.<br />

Nach ihrer Ankunft absolvieren sie einen 1-wöchigen<br />

Kurs über Guatemala, die Justiz, den<br />

Prozess, die Mayakultur sowie über die Theorie<br />

und Praxis der Begleitarbeit. Nach dieser Woche<br />

entscheidet Acoguate, wer als BegleiterIn<br />

arbeiten kann und wer wohin kommt.<br />

Für die ZeugInnen ist es auch eine Zumutung,<br />

dass die BegleiterInnen alle drei Monate wechseln<br />

(im Schnitt bleiben sie jedoch länger als<br />

vier Monate). Andererseits darf nicht vergessen<br />

werden, dass die BegleiterInnen für diese<br />

Arbeit von zu Hause weggehen, nichts verdienen<br />

etc. Acoguate überlegt sich deshalb Möglichkeiten,<br />

diese «Ausfälle» der Freiwilligen irgendwie<br />

zu kompensieren.<br />

-> E-mail Acoguate: acoguate@gmx.net<br />

-> Menschenrechtsorganisation CALDH: http://<br />

www.caldh.org/<br />

-> Informationen zu Freiwilligeneinsätzen in Guatemala:<br />

Peace Watch Switzerland: www.peacewatch.ch<br />

Peace Brigades International: www.pbi.ch<br />

Siehe auch "Muere Romeo Lucas" und "Erste Anhörung<br />

wegen Genozids" (Anhang S.1 resp. S. 2)


04. 03. 06: Centro de Estudios de Guatemala (CEG)<br />

Wir werden von Eduardo Márquez und Sandino<br />

Asturias Valenzuela, Enkel des Schriftstellers<br />

Miguel Angel Asturias und Leiter des CEG,<br />

empfangen. Asturias erzählt uns über die Arbeit<br />

des CEG und v.a. über die aktuelle Situation<br />

in Guatemala.<br />

Das CEG arbeitet in zwei Bereichen: Es berät<br />

und unterstützt den Kongress in der Erarbeitung<br />

von Gesetzen zur Umsetzung der Friedensabkommen<br />

und es fertigt Analysen zum<br />

Thema Sicherheit in Guatemala an.<br />

Wenn man in Guatemala heute von Sicherheit<br />

spricht, meint man v.a. «innere Sicherheit».<br />

Früher war das anders, da ging es z.B. um territoriale<br />

Sicherheit. Gemäss Asturias ist die<br />

heutige Unsicherheitssituation in Guatemala<br />

darauf zurückzuführen, dass die Friedensabkommen<br />

nicht umgesetzt werden. Das Ziel<br />

dieser Abkommen war es, das Land in eine<br />

Demokratie überzuführen. Andererseits haben<br />

neoliberale Politiken zum Ziel, den Staat zu<br />

schwächen. Der Staat hätte sich von einem<br />

autoritären zu einem integrativen Staat verändern<br />

müssen. Auf den Sicherheitsbereich bezogen<br />

heisst das, dass zivile Kräfte gestärkt<br />

und die Polizei entmilitarisiert werden müssten.<br />

Den Staat müsste man stärken, in einem<br />

ersten Schritt finanziell: Eine Steuerreform<br />

wäre dringend nötig.<br />

Der Hurrikan «Stan» hat gezeigt, dass der<br />

Staat nicht in der Lage ist, eine solche Situation<br />

zu bewältigen, weder finanziell noch politisch,<br />

noch infrastrukturell. Diese Bedrohung<br />

genügte bereits, ein riesiges Chaos anzurichten,<br />

das den Staat überfordert.<br />

Ein Neudenken der Rolle des Staates wäre nötig<br />

gewesen, um die sozialen und politischen<br />

Probleme nach der Unterzeichnung der Friedensabkommen<br />

in den Griff zu kriegen. Das<br />

Kräfteverhältnis von Militär und Polizei hätte<br />

umgekehrt werden und die Sicherheitskräfte<br />

hätten gestärkt werden müssen. So, wie die<br />

Sicherheitskräfte in Guatemala momentan organisiert<br />

sind, sind sie einem Sicherheitsproblem<br />

wie «Stan» nicht gewachsen.<br />

In der lateinamerikanischen «Rangliste» von<br />

Mord und Totschlag war Guatemala bis anhin<br />

auf Platz 2, seit Januar dieses Jahres hat es<br />

Kolumbien überholt und ist auf Platz 1 vorgerückt.<br />

Dies hängt eng mit der Sozialpolitik des<br />

Staates und den fehlenden Perspektiven für<br />

Jugendliche zusammen. In Guatemala herrscht<br />

eine Kultur der Gewalt, die historisch bedingt<br />

ist und durch das Geschäft mit der Gewalt aufrecht<br />

erhalten wird. Es kann z.B. jedeR ganz<br />

legal eine Waffe erwerben. Pro Jahr werden in<br />

53<br />

Guatemala 43‘000 Stück Munition verkauft. Es<br />

gibt 80‘000 Angestellte von privaten Sicherheitsfirmen,<br />

davon sind 30‘000 legal registriert.<br />

Die Medien haben in diesem Geschäft<br />

eine ganz wichtige Funktion: Die «Prensa Libre»<br />

wird täglich 35‘000mal verkauft. Die beiden<br />

Zeitungen, die sich auf Morde und andere<br />

Verbrechen spezialisiert haben, werden hingegen<br />

800‘000mal verkauft. Auf der einen Seite<br />

gibt es also dieses Geschäft mit der Gewalt,<br />

auf der anderen einen schwachen Staat, der<br />

dieses gewalttätige Denken ebenfalls internalisiert<br />

hat.<br />

In den letzten Jahren ist die Gewalt gegen Jugendliche<br />

stark angestiegen. Es wird mit ständig<br />

grösserer Härte und Gewalt gegen jegliche<br />

Delinquenz vorgegangen – eine Entwicklung,<br />

die in die gleiche Richtung zeigt wie in El Salvador.<br />

Dieses repressive Denken hat hier in<br />

Guatemala zu einer zusätzlichen Welle von Gewalt<br />

und Morden geführt. In El Salvador sind<br />

40‘000 Mitglieder von Jugendbanden eingesperrt,<br />

täglich werden auch welche ermordet.<br />

Guatemala schwenkt nun ebenfalls auf diese<br />

harte Tour gegen Delinquenten ein – eine Entwicklung<br />

mit ganz klar wahltaktischem Hintergrund.<br />

Durch die Militarisierung der Sicherheitspolitik<br />

werden die zivilen Sicherheitskräfte geschwächt,<br />

v.a. auch die Strafjustiz. Zudem<br />

überlässt die Regierung bestimmte Sicherheitsfragen,<br />

z.B. die Drogenbekämpfung, den<br />

USA. Zur Guatemala-internen Militarisierung<br />

kommt also noch das US-Militär hinzu. Ebenfalls<br />

nicht zu unterschätzen sind in diesem Zusammenhang<br />

die Politik der Administration<br />

Bush und die Folgen des 11. Septembers<br />

2001. Die Sicherheitsagenda der USA hat auch<br />

das Sicherheitssystem Guatemalas verschärft.<br />

Die neue Trinität von Oligarchie, USA und Militär<br />

stärkt die Militarisierung der Sicherheitspolitik.<br />

So ist es beispielsweise wieder völlig akzeptabel,<br />

dass das Militär an Demonstrationen<br />

eingesetzt wird.<br />

Die Kaibiles, Spezialeinheiten der Armee, begingen<br />

die grössten Massaker während der<br />

Zeit der violencia. Sie existieren heute noch,<br />

und sie werden noch immer auf die gleiche<br />

Weise ausgebildet wie damals. Jene, die als<br />

UNO-Soldaten im Kongo umgekommen sind,<br />

gehörten dieser Einheit an. Sie hatten dort im<br />

Kongo genau die gleiche Aufgabe, wie anno<br />

dazumal in Guatemala: Aufstandsbekämpfung.<br />

Wäre ihre Aktion – die nicht zu ihrem Mandat<br />

gehörte – nicht gescheitert und wären die beteiligten<br />

Soldaten dabei nicht umgekommen,<br />

wären sie in Guatemala als Helden gefeiert


worden.<br />

Die momentanen Ermordungen und aussergerichtlichen<br />

Hinrichtungen in Guatemala nehmen<br />

z.T. den Charakter «sozialer Säuberungen»<br />

an. Das System spezifischer Ermordungen<br />

wurde wieder belebt und ist nun gegen<br />

Delinquenz im Allgemeinen gerichtet. In einem<br />

Fall in Sololá wurde eine Bürgerwehr gegründet,<br />

die Delinquente mit dem Einverständnis<br />

aller Mitglieder umgebracht hat. In der Folge<br />

wurde der Kreis der «Delinquenten» auf andere<br />

Gruppen, wie z.B. Homosexuelle, ausgeweitet.<br />

Damit erreichen diese aussergerichtlichen<br />

Hinrichtungen definitiv eine Qualität, die es<br />

hier in Guatemala bereits einmal gegeben<br />

hat…<br />

In den letzten zwei Jahren<br />

wurden 10‘000 Menschen<br />

umgebracht, 95%<br />

dieser Morde blieben unaufgeklärt.<br />

Wenn man<br />

z.B. ein Handy klauen<br />

will, ist es einfacher, einen<br />

Raubmord als «nur»<br />

einen Raub zu begehen,<br />

da der Fall dann nicht<br />

aufgeklärt wird.<br />

Mit den Friedensabkommen<br />

waren die Morde<br />

zwischenzeitlich zurückgegangen.<br />

Drei Entwicklungen<br />

haben aber dazu<br />

geführt, dass sie nun<br />

wieder zugenommen haben:<br />

Die Politik der USA,<br />

der Rückzug der UNO<br />

aus dem Land und die<br />

zunehmende Militarisierung<br />

der Sicherheitspolitik<br />

in Guatemala.<br />

Auf der weltweiten «Rangliste» der Unfähigen<br />

ins Sachen Nahrungsmittelsicherheit liegt Guatemala<br />

momentan nach zwei afrikanischen<br />

Staaten auf dem dritten Platz (gemäss Jean<br />

Ziegler). Man spricht in Guatemala bereits von<br />

einem «gescheiterten Staat», der nicht in der<br />

Lage ist, die Grundbedürfnisse seiner Bevölkerung<br />

zu decken. Eine Steuerreform, die auch<br />

die Oligarchie auf ihre Abgaben verpflichtet, ist<br />

etwas vom Wichtigsten, was das Land braucht.<br />

Nur so kann eine andere Sozialpolitik überhaupt<br />

finanziert werden. In Guatemala gibt es<br />

etwa 100 Familien, die – wenn sie ihre Steuern<br />

tatsächlich bezahlen würden – 70% der Steuern<br />

liefern müssten. Doch sind es gerade diese<br />

Leute, die Steuerhinterziehung betreiben. Die<br />

MigrantInnen, die in den USA arbeiten, schicken<br />

jährlich 1.3 Millionen US-Dollars nach<br />

Guatemala. Dieses Geld geht v.a. in drei Sektoren:<br />

Zement, Lebensmittel (u.a. in die Fast-<br />

54<br />

food-Kette «Pollo Campero») und Haushaltgeräte.<br />

Genau diese Sektoren gehören zu den<br />

grossen Steuerhinterziehern. Gleichzeitig sind<br />

die Geldsendungen der MigrantInnen die<br />

grössten Deviseneinnahmen des Landes.<br />

Die Regierung arbeitet mit ihrer Politik auf einen<br />

sozialen Kollaps hin. Der sozialpolitische<br />

Diskurs und die tatsächliche Sozialpolitik passen<br />

überhaupt nicht zusammen. Während z.B.<br />

der Gefängnisdirektor durchaus eine Politik in<br />

Richtung soziale Integration betreiben möchte,<br />

spricht sein Chef, der Innenminister, öffentlich<br />

davon, die Todesstrafe, anonyme Richter und<br />

juristische Schnellverfahren einzuführen. Die<br />

autoritäre, repressive, anti-kommunistische<br />

Mentalität der Regierung ist<br />

an einem Punkt, an dem sie<br />

verändert werden muss – so<br />

kann es jedenfalls nicht mehr<br />

weitergehen. Doch im Hinblick<br />

auf die Wahlen 2007 gibt es<br />

v.a. rechte Projekte mit enorm<br />

viel Geld.<br />

Gleichzeitig besteht v.a. in<br />

Südamerika ein Trend hin zu<br />

linken Regierungen mit einer<br />

integrativen Politik. In Zentralamerika<br />

gibt es ebenfalls<br />

Veränderungen: In Nicaragua<br />

sind 80% der Bürgermeisterämter<br />

von SandinistInnen besetzt,<br />

in El Salvador wird im<br />

Hinblick auf die Wahlen vom<br />

nächsten Sonntag (12. März)<br />

erwartet, dass die Linken 70-<br />

80% der Bürgermeisterämter<br />

und der Sitze des Kongresses<br />

für sich entscheiden. (Nachtrag:<br />

Die politische Wende haben<br />

diese Wahlen nicht gebracht.<br />

Zwar konnte die aus der linken Guerilla<br />

hervorgegangene FMLN bei den Parlamentswahlen<br />

einen Sitz zulegen, doch bleibt sie mit<br />

32 Mandaten weiterhin knapp hinter der rechten<br />

Partei Arena, die 34 Abgeordnete in die<br />

Nationalversammlung (insgesamt 84 Sitze)<br />

entsenden kann. Mit einem denkbar knappen<br />

Vorsprung von gut 100 Stimmen sicherte sich<br />

dafür die FMLN-Kandidatin Violeta Menjívar<br />

für die nächsten drei Jahre das Bürgermeisteramt<br />

der Hauptstadt.) Zwar haben diese Projekte<br />

auch ihre Fehler, trotzdem handelt es<br />

sich hier um einen klaren Richtungswechsel. In<br />

Guatemala gibt es zur Zeit Bestrebungen, die<br />

linken Kräfte zusammenzuführen.<br />

-> CEG – Centro de Estudios de Guatemala<br />

10a. Calle «A» 6-26 zona 2<br />

Ciudad Guatemala<br />

E-mail: ceg@c.net.gt<br />

http://www.c.net.gt/ceg


Anhang<br />

Muere Romeo Lucas<br />

Falleció en Venezuela el sábado por la noche, a<br />

consecuencia de una atrofia cerebral, sin haber<br />

enfrentado a la justicia<br />

Por: Jennyffer Paredes, Lorena Seijo, Ana<br />

Lucía Blas<br />

Grupos sociales lamentan que el ex gobernante Fernando<br />

Romeo Lucas García no haya sido sentenciado.<br />

Tras una larga agonía, el ex presidente Fernando<br />

Romeo Lucas García –1978-1982–, a quien la Audiencia<br />

Nacional Española le seguía un proceso por<br />

genocidio, falleció el sábado en Venezuela a consecuencia<br />

de una atrofia cerebral; grupos de derechos<br />

humanos lamentaron que la muerte le haya ganado<br />

la batalla a la justicia.<br />

“Murió de un paro respiratorio el sábado por la<br />

noche, en la cama de su casa. Estaban con él<br />

familiares y amigos” , dijo vía telefónica Eduardo<br />

Vallejas, amigo de la familia de la esposa<br />

del ex presidente.<br />

Lucas García vivía en la ciudad de Puerto la<br />

Cruz, en el estado Anzoátegui, a 230 kilómetros<br />

al este de Caracas. Estaba casado con la<br />

venezolana Elsa Cirigliano, de una familia de<br />

empresarios de la construcción, de equipos deportivos<br />

y de medios de comunicación.<br />

Vallejas dijo que el funeral se realizó ayer por<br />

la tarde en un pequeño cementerio de la ciudad<br />

en una “ceremonia sencilla”, en la que se<br />

interpretó el Himno de Guatemala y a la que<br />

asistieron familiares y amigos. Fue sepultado<br />

en un pequeño cementerio de la ciudad.<br />

Las numerosas dolencias que padecía desde<br />

1991 (diabetes, infección urinaria, atrofia cerebral<br />

y Alzheimer) provocaron que sus últimos<br />

años permaneciera en cama.<br />

En los últimos días, la salud del ex presidente<br />

había empeorado, por lo que fue trasladado a<br />

un hospital venezolano para recibir atención<br />

médica, donde murió.<br />

Su hermana Delia Lucas García, y su hija, Ana<br />

María de Rivera, viajaron al país sudamericano<br />

para acompañarle. Su hermano, Benedicto<br />

Lucas García, jefe del Estado Mayor Presiden-<br />

1<br />

cial durante su mandato, prefirió permanecer<br />

en Guatemala, según comentó María Elena<br />

Nana Winter, esposa de éste.<br />

Proceso judicial<br />

La muerte causó cierta decepción en los grupos<br />

de derechos humanos que esperaban que<br />

fuera juzgado por genocidio, mientras que antiguos<br />

líderes de extrema derecha –como Leonel<br />

Sisniega Otero– lamentaron su muerte.<br />

“Durante su mandato el país avanzó notablemente.<br />

Se construyó la represa de Chixoy, el<br />

Puerto Quetzal y la carretera a Antigua Guatemala”,<br />

detalló Sisniega.<br />

Lucas García es uno de los seis acusados de<br />

genocidio por la Audiencia Nacional Española,<br />

tras una denuncia interpuesta por la Fundación<br />

Rigoberta Menchú en el 2001.<br />

El 19 de julio una comisión del tribunal<br />

español llegará al país para interrogar al resto<br />

de los acusados, entre los que figuraba Romeo<br />

Lucas.<br />

Efraín Ríos Montt, Óscar Mejía Víctores,<br />

Germán Chupina Barahona, Donaldo Álvarez<br />

Ruiz y Pedro García Arredondo están citados a<br />

declarar.<br />

En el caso de Ríos Montt, sus abogados han interpuesto<br />

varios recursos para evitar que se<br />

siente en el banquillo, lo que perjudicaría su<br />

imagen como precandidato presidencial del<br />

FRG.<br />

Masacres<br />

La Comisión para el Esclarecimiento Histórico<br />

(CEH), señala que entre 1978 y 1985 “el Estado<br />

guatemalteco cometió numerosas y brutales<br />

violaciones a los derechos humanos”.<br />

También responsabiliza a la Policía Nacional,<br />

del gobierno de Lucas García, de quemar la<br />

Embajada de España en 1980, donde fallecieron<br />

38 personas.<br />

Carmen Aída Ibarra, de la Fundación Myrna<br />

Mack dijo que “debe ser frustrante para los familiares<br />

de las víctimas de un gobierno cuyas<br />

políticas cobraron tantas vidas, no haber podido<br />

ver al responsable en el banquillo de los<br />

acusados”.<br />

De las más de 200 mil personas asesinadas<br />

durante los 36 años de conflicto interno, la<br />

CEH estimó que 132 mil perecieron durante los<br />

gobiernos de Lucas García y Ríos Montt.<br />

Anhang


Biografía<br />

Esta es una síntesis sobre la vida de Fernando<br />

Romeo Lucas García:<br />

Nació en San Juan Chamelco, Alta Verapaz, el<br />

4 de julio de 1924, hijo de Fernando Lucas<br />

Juárez y Concepción García.<br />

En 1978, apoyado por los partidos de extrema<br />

derecha Institucional Democrático y Revolucionario,<br />

ganó la Presidencia. Las elecciones fueron<br />

calificadas de fraudulentas por sus opositores.<br />

Mientras estuvo al frente del Gobierno, el país<br />

conoció un período de violencia y represión tan<br />

alarmante que el vicepresidente, Francisco<br />

Villagrán Kramer, renunció a su cargo en 1981.<br />

En marzo de 1982 fue derrocado por un golpe<br />

de Estado promovido por el general José Efraín<br />

Ríos Montt, lo que motivó su exilio a Venezuela.<br />

En el 2001, la Audiencia Nacional Española inició<br />

un proceso penal en su contra, por los cargos<br />

de genocidio, terrorismo de Estado, torturas,<br />

múltiples secuestros y asesinatos cometidos<br />

en el país durante su mandato.<br />

Postura: Que lo juzgue Dios<br />

“Ojalá que en el más allá la justicia esté a favor<br />

de las víctimas y los huérfanos”, deseó<br />

ayer Rigoberta Menchú, Premio Nobel de la<br />

Paz 1992, tras conocer el fallecimiento del Romeo<br />

Lucas García.<br />

Menchú recordó que Lucas García gobernaba<br />

el país cuando en 1980 la Policía Nacional provocó<br />

presuntamente el incendio de la Embajada<br />

de España, donde murió su padre, Vicente<br />

Menchú.<br />

“Es lamentable que la ley terrenal no lo haya<br />

alcanzado y sus crímenes queden en total impunidad”,<br />

lamentó.<br />

La Nobel espera que la justicia actúe contra el<br />

resto de implicados, todos mayores de 60<br />

años, antes de que sea tarde.<br />

Sobrevivientes de la represión y testigos del<br />

caso también han fallecido antes de lograr<br />

justicia.<br />

Aus: Prensa Libre, 29. Mai 2006<br />

Erste Anhörung wegen Genozids<br />

Guatemala, 29. März 2006. Der zuständige<br />

guatemaltekische Strafrichter Saúl Álvarez<br />

hat auf Geheiss des Spanischen Gerichtshofes<br />

beschlossen, die Vorladungen der mutmasslichen<br />

Involvierten in das Massaker in der<br />

Spanischen Botschaft 1980 einzuleiten. Die<br />

Anhörungen der elf ZeugInnen und der beschuldigten<br />

Militärs sollen ab kommenden Juni<br />

stattfinden. Für die Ermittlungen wird die Anwesenheit<br />

eines anleitenden Richters und einer<br />

Anwalts-Equipe aus Spanien erwartet.<br />

Im Jahr 2005 hat die Spanische Justiz die<br />

Klage wegen Genozids angenommen, die die<br />

Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú<br />

eingereicht hat. Daraufhin stellte Spanien einen<br />

Antrag an Guatemala, Efraín Ríos Montt,<br />

Romeo Lucas García, Germán Chupina Barahona,<br />

Donaldo Álvarez Ruiz und Pedro García Arredondo<br />

wegen des Mordes an sieben Spaniern<br />

zu vernehmen, von denen drei bei dem Brand<br />

der Botschaft ums Leben kamen.<br />

Ende Februar bestätigte die spanische<br />

Strafinstanz ihre Kompetenz, die Verbrechen<br />

des Genozids, die in Guatemala zwischen 1978<br />

und 1986 begangen wurden, strafrechtlich zu<br />

verfolgen, eine Entscheidung, die von den<br />

guatemaltekischen Opfern begrüsst wurde,<br />

stellt sie doch eine erste Hoffnung auf Gerechtigkeit<br />

dar.<br />

Aus: ¡Fijáte! 257<br />

2 Anhang


CPR: Comunidades de Población en<br />

Resistencia<br />

Die Leute, mit denen wir hier in Nebaj/La Pista<br />

gesprochen haben, lebten aus religiösen und<br />

aus Gründen des praktischen Überlebens in<br />

den CPR. Als die Armee anfangs 1980er-Jahre<br />

begann, Massaker in der Region durchzuführen,<br />

flohen sie in die Berge. Sie wollten mit ihren<br />

Familien in Sicherheit leben, etwas zu essen<br />

und ein Dach über dem Kopf haben. Und<br />

sie wollten nicht zwangsrekrutiert werden für<br />

die PAC (Patrullas de Autodefensa Civil – Patrouillen<br />

für zivile Selbstverteidigung). Doch<br />

wo immer diese Menschen sich niederliessen<br />

und etwas Bescheidenes aufbauten – z.B. einfachste<br />

Behausungen aus Blättern und kleine<br />

Maispflanzungen –, wurde wieder alles von der<br />

Armee zerstört, sie wurden erneut vertrieben.<br />

Der Grund dafür war, dass sie in der katholischen<br />

Kirche organisiert waren. Jegliche Organisation<br />

war der Regierung, der Armee und der<br />

CIA suspekt, organisierte Leute wurden beschuldigt,<br />

der Guerilla anzugehören.<br />

Die Leute, die heute in La Pista wohnen, erzählten,<br />

dass sie während ihrem Leben in den<br />

CPR kaum Zeit und Gelegenheit hatten, um<br />

gemeinsam zu beten, in der Bibel zu lesen<br />

oder Gottesdienst zu feiern, da sie ständig auf<br />

der Flucht waren. Es gab Zeiten, in denen sie<br />

nicht einmal mehr etwas zum Anziehen hatten.<br />

Diese Leute betonten, dass sie in den CPR<br />

Heiss her geht es um PN- und<br />

EMP-Archive<br />

Guatemala, 12. Mai 2006. In der Nacht<br />

zum Donnerstag, 11. Mai, wurde eine Brandbombe<br />

in den mit Fahrzeugwracks zugestellten<br />

Hof des Polizeigebäudes geworfen, in dem die<br />

Archive der Nationalen Polizei (PN) aufbewahrt<br />

werden. Ein Wachmann entdeckte den Qualm<br />

rechtzeitig und konnte das Feuer löschen. Die<br />

im letzten Juli gefundenen Dokumente sind<br />

Beweismaterial für die während des internen<br />

bewaffneten Konflikts verübten Menschenrechtsverletzungen.<br />

(siehe ¡Fijáte! 359) Menschenrechtsombudsmann<br />

Sergio Morales, dessen<br />

Institution für die Archive zuständig ist,<br />

schliesst nicht aus, dass es sich um ein Attentat<br />

handelt, um das Dokumentarsenal zu zerstören.<br />

Während er das Gebäude für den sichersten<br />

Platz zur Aufbewahrung der Aktensammlung<br />

hält und somit eine Verlegung derselben<br />

nicht zur Diskussion stellt, wird vielmehr<br />

ein Rechtsantrag in Erwägung gezogen,<br />

3<br />

nicht subversiv gewesen seien. D.h. dass sie<br />

zwar sehr wohl andere Verhältnisse, jedoch<br />

nicht – wie die Guerilla – die politische Macht<br />

erobern wollten. Andernorts, z.B. im Petén,<br />

gab es CPR, die viel stärker politisch motiviert<br />

waren und teilweise auch der Guerilla als Unterstützungsbasis<br />

dienten. Einige von ihnen leben<br />

nun auch nach dem Krieg weiterhin als<br />

CPR im Kollektiv (s. 28. 02. 06: Santa Rita).<br />

1991 wandten sich die CPR mit einem Communiqué<br />

an die Öffentlichkeit. Sie wiesen auf ihre<br />

Existenz hin und riefen die Leute dazu auf, sie<br />

wahrzunehmen. Von diesem Moment an erhielten<br />

die Menschen in den CPR einen gewissen<br />

internationalen Schutz. Sie konnten sich an einem<br />

Ort niederlassen, ohne ständig wieder<br />

von neuem fliehen zu müssen.<br />

«Wir kämpfen gegen Gefangenschaft, Verfolgung,<br />

Bombardierung, Beschuss im Tiefflug<br />

und die Auferlegung der Militarisierung durch<br />

die Armee. Wir sind hier im Widerstand und<br />

dabei, eine neue Lebensform in Freiheit und<br />

Gleichheit zu schaffen, bis in allen unseren Gemeinden<br />

und dem ganzen Land eine wahre<br />

Demokratie erreicht worden ist.» Koordinierungskommission<br />

der CPR, 1991<br />

aus: Frank Herrmann: Guatemala. Stefan Loose<br />

Travelhandbücher, Berlin 2006: 96<br />

damit der Autoschrott vom Gelände geschafft<br />

wird.<br />

Verdächtig ist die Tatsache, dass zwar am<br />

Tag darauf direkt von dem Vorfall berichtet<br />

und auch darauf hingewiesen wurde, dass gegen<br />

zwei Personen, die für das Menschenrechtsprokurat<br />

(PDH) in den Archiven arbeiten,<br />

sowie gegen die Wachdiensthabenden PolizistInnen<br />

in dem Fall ermittelt wird, doch seit<br />

dem wurde der Vorfall in der Presse nicht wieder<br />

erwähnt.<br />

Einzig wird, ebenfalls am folgenden Tag,<br />

berichtet, dass die Richterin, die die PDH mit<br />

der Untersuchung des PN-Archivs betraut hat<br />

und offenbar immer noch für den Fall zuständig<br />

ist, zahlreiche und vielfältige Drohungen<br />

erhält. Die letzte Einschüchterung fand ebenfalls<br />

zur Abendzeit am selben Mittwoch statt,<br />

als Unbekannte in ihre Kanzlei eindrangen und<br />

in ihren Akten herumwühlten. Ebenso zeigte<br />

die Betroffene, María Ester Roldán, persönliche<br />

Bedrohungen an, zum einen von Seiten eines<br />

vermeintlichen Delegierten der Nationalen Zivilpolizei<br />

(PNC), zum anderen von der Präsidentin<br />

des Höchsten Gerichtshofs (CSJ).<br />

Roldán berichtet, dass der Anwalt Carlos<br />

Anhang


Humberto Rosales Mendizábal, der angeblich<br />

für die PNC arbeitet, in ihrer Kanzlei aufgetaucht<br />

sei und ihr Geld angeboten habe, um<br />

die Resolution der Beschlagnahmung und Verwahrung<br />

der PN-Archive zu ändern. Gemäss<br />

der Bedrohten soll er hinzugefügt haben, dass<br />

es für ihn einfach sei, dafür zu sorgen, dass<br />

eine Richterin getötet würde.<br />

Daneben habe die CSJ-Präsidentin, Beatriz<br />

de León, rechtswidrige Resolutionen erlassen,<br />

ihr die Schlüssel vom Gerichtsgebäude abgenommen<br />

und sie verbal bedroht. De León soll<br />

ausserdem versucht haben, die Richterin<br />

Roldán körperlich anzugreifen, da diese ein Internetprogramm<br />

geschaffen hat, mittels dessen<br />

man die Fälle des Justizapparats konsultieren<br />

kann.<br />

Derweil hat das Verfassungsgericht einem<br />

Einspruch im Zusammenhang mit den Archiven<br />

des aufgelösten Präsidialen Generalstabs<br />

(EMP) stattgegeben, den die Menschenrechtsorganisation<br />

Gruppe gegenseitiger Hilfe (GAM)<br />

im Dezember 2003 eingereicht hatte. Somit<br />

wurde nun eine von Ex-Präsident Alfonso Portillo<br />

getroffene Entscheidung rückgängig gemacht<br />

und entschieden, dass diese Dokumentation<br />

anstatt in die Hände der Streitkräfte,<br />

dem Obersten Gerichtshof übergeben werden<br />

soll. Die Dokumente datieren von 1954 bis zur<br />

EMP-Auflösung im September 2003.<br />

Mario Polanco von der GAM erklärte, dass<br />

die Akten, die seine Organisation interessieren,<br />

diejenigen aus den 80ger Jahren seien,<br />

„der schlimmsten Zeit der Repression“. Bereits<br />

im Januar 2004 verlieh das Verfassungsgericht<br />

eine provisorische Schutzmassnahme, mittels<br />

derer die GAM immerhin den Teil der Akten<br />

durchsehen konnte, der die Ausgaben der ehemaligen<br />

Staatschefs offenbart. Jorge Serrano<br />

Elías hat demnach beispielsweise Mengen an<br />

Bargeld aus den Kassen des EMP genommen.<br />

Doch schon ist der Gerichtsentscheid zur<br />

Polemik zwischen Militär und GAM geworden,<br />

meint doch der Verteidigungsminister Francisco<br />

Bermúdez, dass die Armee das Urteil wohl<br />

befolgen werde, was aber nicht so einfach<br />

wäre, stünden die besagten Archive doch unter<br />

Obhut der PDH und seien versiegelt. Polanco<br />

dagegen wertet Bermúdez Einwand als Täuschungsmanöver,<br />

seien die Akten, auf die sich<br />

das Urteil bezieht, nämlich andere, und zwar<br />

die, in denen Hinweise auf Bewachungen, Bedrohungen,<br />

Einschüchterungen, Geiselnamen,<br />

Morde und andere Verbrechen schriftlich festgehalten<br />

sind, die vom EMP gegen die politische<br />

Opposition und sonstige BürgerInnen begangen<br />

wurden. Die Archive im Gewahrsam<br />

der PDH seien tatsächlich versiegelt, jedoch<br />

bereits digitalisiert. Ausserdem seien dies „die<br />

unrelevantesten Dokumente des EMP“.<br />

Aus: ¡Fijáte! 360<br />

Die katholische Kirche stärkt ihre<br />

soziale Linie<br />

Auch wenn die katholische Kirche in Guatemala<br />

einen Grossteil ihrer Hegemonie eingebüsst<br />

hat, ist sie nach wie vor eine wichtige<br />

soziale und politische Akteurin. Schon immer<br />

haben in Guatemala zwei Kirchen unter einem<br />

Dach gelebt: Die eine konservativ und wenig<br />

konfrontativ, die andere den sozialen Kämpfen<br />

und den Basisgemeinden verpflichtet. Eine interne<br />

Dichotomie, die sich in unterschiedlicher<br />

Intensität über Jahre die Waage hielt und die<br />

sich nun mit der Wahl von Bischof Ramazzini<br />

zum Präsidenten der guatemaltekischen Bischofskonferenz<br />

(CEG) auf die Seite der sozial<br />

engagierten Kirche zu neigen scheint. Vertreter<br />

verschiedener Strömungen innerhalb der<br />

katholischen Kirche erklärten gegenüber Inforpress<br />

(Nr. 1647) die aktuelle Lage des Katholizismus,<br />

seine verschiedenen Visionen und seine<br />

soziale Position und Beteiligung im guatemaltekischen<br />

Gesellschaftsgefüge.<br />

Ramazzini: Garant für das Soziale<br />

In einem Moment zunehmender sozialer<br />

Probleme hat sich die katholische Kirche mit<br />

der Wahl von Alvaro Ramazzini zum Präsidenten<br />

der Bischofskonferenz, konsequent für die<br />

soziale Linie entschieden (siehe ¡Fijáte! 353).<br />

Ramazzini ist Bischof von San Marcos und bekannt<br />

für seine dezidierten Positionen und seinen<br />

Aktivismus in Themen wie dem Minenabbau,<br />

der Migration, der Landverteilung und der<br />

Freihandelsabkommen. Die Wahl Ramazzinis<br />

rief erwartungsgemäss Stimmen auf den Plan,<br />

die eine Radikalisierung und Stärkung des Sozialen<br />

innerhalb der katholischen Kirche vorhersagen<br />

bzw. befürchten.<br />

Sämtliche von Inforpress befragten Quellen<br />

zeigen sich zufrieden mit der Wahl Ramazzinis,<br />

selbst der Opus Dei, der im Prinzip der<br />

Linie der Diözese von San Marcos weit entfernt<br />

steht. Die Meinungen gehen jedoch auseinander<br />

bei der Frage, ob Ramazzini die Geschäfte<br />

der Bischofskonferenz wie bisher weiterführt<br />

oder ob eine Stärkung der sozialen und progressiven<br />

Kräfte innerhalb der Kirche zu erwarten<br />

ist.<br />

Für den Jesuiten Ricardo Falla ist die Wahl<br />

von Ramazzini ein Zeichen des Vertrauens in<br />

eine neue Generation von Bischöfen, denen die<br />

Veteranen langsam das Spielfeld räumen.<br />

Santiago Otero, ehemaliger Hilfssekretär<br />

der Bischofskonferenz sieht in der Wahl von<br />

Ramazzini die Weiterführung der bisherigen Linie<br />

der CEG. Bereits sein Vorgänger Rodolfo<br />

Quezada Toruño habe immer aktiv und realitätsbezogen<br />

Position eingenommen und sich<br />

sehr bestimmt für soziale Belange eingesetzt.<br />

Diese Meinung vertritt auch der Bischof von<br />

Quetzaltenango und ebenfalls Ex-Präsident der<br />

4 Anhang


CEG, Víctor Hugo Martínez: „Es wird keine<br />

Richtungsänderung geben, sondern die bereits<br />

eingeschlagene Richtung wird mit mehr Engagement<br />

weiter verfolgt“.<br />

Nicht alle teilen diese Meinung. Tomás<br />

García, Pfarrer in der Diözese von Martínez, ist<br />

der Meinung, die Kirche sei mit der Wahl Ramazzinis<br />

in Sachen Soziales und Progressivität<br />

zu weit gegangen.<br />

Für Pfarrer Ricardo Bendaña, Jesuit und<br />

Historiker, bedeutet die Wahl Ramazzinis das<br />

Wiederaufnehmen einer Initiative, die mit der<br />

strategischen Ermordung von Bischof Gerardi<br />

verloren ging.<br />

Weiterführung oder Bruch mit der bisherigen<br />

Linie der Bischofskonferenz, Tatsache ist,<br />

dass die Wahl von Ramazzini das Abbild einer<br />

Kurie ist, die laut Bendaña, politisch links oder<br />

mitte-links steht. Einer Kurie, in der es kaum<br />

einen Vertreter der konservativen Linie gäbe,<br />

alle hätten ein soziales Bewusstsein, meint der<br />

Jesuit.<br />

Politisch-Religiöse Debatte<br />

Das aktive Engagement der katholischen<br />

Kirche in konfliktiven Themen wie kürzlich die<br />

Mediation im Streit der LehrerInnen mit der<br />

Erziehungsministerin, oder im Minenabbau, die<br />

klare Positionierung in sozialpolitischen Fragen<br />

wie beispielsweise der Migration oder den Freihandelsabkommen,<br />

hat in gewissen Kreisen<br />

zur Kritik geführt, die Kirche würde ihr Mandat<br />

überschreiten und sich in politische Themen<br />

einmischen. Diese Kritik ist nicht neu, ebenso<br />

wenig die Debatte über die Grenzen des kirchlichen<br />

Engagements. Alle von Inforpress befragten<br />

Personen, unabhängig ihrer religiösen<br />

Tendenz, sind sich jedoch darin einig, dass jeder<br />

Aspekt, der mit der Würde des Menschen<br />

zu tun hat, zum Auftrag der Kirche gehöre.<br />

Fernando Bermúdez, Theologe, Laienmissionar<br />

und Koordinator des Menschenrechtsprogramms<br />

der Diözese San Marcos, erklärt in<br />

diesem Zusammenhang, dass die Einmischung<br />

der Kirche in solche Fragen nicht eine politische<br />

Angelegenheit sei sondern Teil des Evangeliums<br />

und somit Teil der sozialen Doktrin der<br />

Kirche. Die Rechte habe Christus in die Sakristei<br />

sperren, sein soziales Engagement zunichte<br />

machen und sein Wirken allein aufs Spirituelle<br />

reduzieren wollen, kritisiert Bermúdez.<br />

Selbst Sektoren wie der Opus Dei, die traditionellerweise<br />

im sozialen Bereich weniger<br />

aktiv sind, erklären gegenüber Inforpress: Die<br />

Bischöfe haben die Verpflichtung, die Menschen<br />

in zivilen Fragen zu beraten und zu orientieren,<br />

vor allem wenn es um die Gerechtigkeit<br />

und Würde der Gläubigen geht. Pedro Vinicio<br />

Donis, Direktor des Informationsbüros<br />

von Opus Dei in Guatemala, hebt speziell die<br />

Beteiligung von Kardinal Rodolfo Quezada als<br />

Vermittler bei den Friedensverhandlungen zwischen<br />

der Guerilla und der Regierung hervor.<br />

Ebenso die Rolle von Ramazzini bei der Verteidigung<br />

der menschlichen Würde der am meisten<br />

Benachteiligten. „Das Problem ist der Pro-<br />

tagonismus, den viele Menschen den Pfarrern<br />

vorwerfen. Doch was Ramazzini macht ist<br />

nichts anderes, als seine Aufgabe als Pfarrer<br />

zu erfüllen. Wenn ihm jemand vorwirft, er mische<br />

sich in die Politik ein, dann soll diese Person<br />

zuerst die Dokumente der Kirche über die<br />

Aufgaben eines Bischofs lesen und sie wird sehen,<br />

dass Ramazzini das macht, was er machen<br />

muss, nämlich die soziale Doktrin der<br />

Kirche umsetzen“, ergänzt Donis.<br />

In eine ähnliche Richtung spricht auch Víctor<br />

Ruano, ehemaliger Direktor des Priesterseminars:<br />

„Ich finde es hervorragend, mehr<br />

noch, ich finde es richtig und notwendig, dass<br />

sich die Kirche in politische Themen einmischt.<br />

Politische Themen sind immer menschliche<br />

Themen und alles, was den Menschen betrifft,<br />

ist für die Kirche von Interesse. Die Kirche<br />

mischt sich ein, um die Würde des Menschen<br />

zu verteidigen, vor allem dann, wenn es offensichtlich<br />

ist, dass die Regierung sich nicht um<br />

die Würde der Menschen kümmert und nur im<br />

Dienste der Mächtigen steht.“<br />

Konservative Moral<br />

Gegenüber der aktiven und progressiven<br />

Einstellung in sozialen Themen, welche die<br />

guatemaltekische und überhaupt die lateinamerikanische<br />

Kirche auszeichnet, ist die<br />

kirchliche Position in moralischen Fragen nicht<br />

gerade fortschrittlich. Dies geben auch alle von<br />

Inforpress befragten Kirchenmänner zu, vor<br />

allem, wie Tomás García konkretisiert, wenn es<br />

ums Thema Sexualität geht. Dies hat sich in<br />

der jüngsten Debatte um das Familienplanungsgesetz<br />

gezeigt, gegen das sich die Bischofskonferenz<br />

vehement ausgesprochen hat.<br />

„Im Sozialen ist die Kirche offen, engagiert,<br />

aber im moralischen ist sie konservativer.<br />

Ich habe sogar festgestellt, dass die KatholikInnen,<br />

die im sozialen Bereich am engagiertesten<br />

sind, in moralischen Fragen oft am<br />

verschlossensten sind. Für mich ist das fragwürdig.<br />

Wir dürfen nicht dogmatisch sein, wir<br />

dürfen nicht einer Diktatur der Dogmen verfallen“,<br />

erklärt Fernando Bermúdez.<br />

Ricardo Bedaña dazu: „Wir sind TraditionalistInnen.<br />

Es gibt eine Art geistigen Konvervatismus.<br />

Es gibt Dinge, über die nicht verhandelt<br />

werden kann, wie zum Beispiel Abtreibung,<br />

aber auch hier findet eine gewisse Öffnung<br />

statt, z.B. beim Thema Scheidung. Hier<br />

scheinen die Bischöfe fortschrittlicher zu sein<br />

als die Gläubigen. Junge SeminaristInnen haben<br />

heute die Tendenz, konservativer zu sein<br />

als frühere Generationen.“<br />

Und die Befreiungstheologie?<br />

1976 haben die Bischöfe in Guatemala ihr<br />

traditionelles Schweigen gebrochen und mit ihrem<br />

Hirtenbrief „Gemeinsam für Hoffnung“<br />

eine anklägerische Richtung eingeschlagen.<br />

Damit brachen sie die konservative und traditionelle<br />

Allianz mit der Macht, verkörpert bislang<br />

durch Bischof Rossell, der den Sturz von<br />

Jacobo Arbenz befürwortete, und Bischof<br />

5 Anhang


Casariego, der explizit verbot, über irgend etwas<br />

im Zusammenhang mit „sozialer Gerechtigkeit“<br />

zu sprechen.<br />

Seit 1976 und speziell seit dem Tod von<br />

Casariego im Jahr 1983, erhebt die Kirche immer<br />

und immer wieder ihr Wort zur Situation<br />

des Landes. Ein Höhepunkt ist der Hirtenbrief<br />

im Jahr 1988, „Clamor por la Tierra“, wo sie<br />

das Landthema aufnimmt und die ungerechte<br />

Landverteilung anprangert.<br />

Diesen Bewusstseinsprozess musste die<br />

guatemaltekische katholische Kirche in Form<br />

von Verfolgungen und Ermordungen von Pfarrern<br />

und Katecheten teuer bezahlen. Die Anzahl<br />

der wegen ihres christlichen Glaubens Ermordeten<br />

führte dazu, dass die Kirche als eine<br />

Märtyrerkirche bezeichnet wurde. Durch Gewalt<br />

zum Schweigen gebracht und wegen der<br />

Verfolgung, der diese Doktrin durch den Vatikan<br />

ausgesetzt ist, verliert die Befreiungstheologie<br />

an Kraft und wird in den Hintergrund verdrängt.<br />

Als ein „Thema vergangener Jahre“ bezeichnet<br />

der Bischof von Escuintla, Víctor Hugo<br />

Palma, diese Linie. Heute habe sich das Konzept<br />

der Befreiungstheologie weiterentwickelt,<br />

man spreche von einer Theologie der Solidarität.<br />

Viele der Befragten sind der Meinung, die<br />

Befreiungstheologie sei überhaupt nicht verschwunden,<br />

im Gegenteil, sie sei noch sehr<br />

präsent im Gedankengut der lateinamerikanischen<br />

Kirche. Gemäss Santiago Otero gehört<br />

sie zu den wichtigsten Prinzipien vieler Kirchen.<br />

Wenn die Realität sich nicht verändert,<br />

ist die Befreiungstheologie aktueller denn je,<br />

auch wenn man sie nicht so nennt“, erklärt<br />

Otero.<br />

„Der Name ist das Geringste. Wir sprechen<br />

nicht von Befreiungstheologie, wir leben sie“,<br />

bestätigt Ramazzini.<br />

Unterschiede und Gemeinsamkeiten<br />

Während Jahrzehnten, während Jahrhunderten,<br />

gab es innerhalb der katholischen Kirche<br />

verschiedene Tendenzen und Arten, die<br />

Religion zu verstehen. Es sind Strömungen,<br />

die in groben Zügen in „progressiv“ und „konservativ“<br />

unterteilt werden können. Unterschiede<br />

die, wie einige Theologen gegenüber<br />

Inforpress erklären, auch heute nicht ganz<br />

verschwunden sind, die sich aber im Laufe der<br />

Zeit angeglichen und ausgeglichen haben.<br />

Heutzutage würden die Gemeinsamkeiten<br />

mehr gewichtet als die Unterschiede. Uneinigkeit<br />

herrscht darüber, wie viele Vertreter der<br />

Kirchenhierarchie die Linie der Bischofskonferenz<br />

wirklich gutheissen.<br />

Víctor Hugo Palma spricht von Haltungen,<br />

nicht von Tendenzen. Die Unterteilung in progressiv<br />

und konservativ genüge nicht als Erklärung,<br />

einige Kirchenleute seien in gewissen<br />

Fragen offener, in anderen nicht. Man dürfe<br />

das nicht verallgemeinern. Als Beispiel nennt<br />

er Bischof Romero aus El Salvador, der dem<br />

Opus Dei nahe gestanden habe.<br />

Gemäss Víctor Ruano zeichnet sich die aktuelle<br />

Bischofskonferenz durch die Vielfalt der<br />

darin vertretenen Tendenzen aus, auch wenn<br />

sich diese nicht öffentlich ausdrücken. Dasselbe<br />

könne man von der Vereinigung der Religiösen<br />

Guatemalas (COFREGUA) sagen, ebenso<br />

von den laizistischen Vereinigungen. Einige<br />

verfolgen mehr die Doktrin, andere machen<br />

sich für die Benachteiligten stark, wieder andere<br />

konzentrieren sich auf die Inkulturation<br />

oder auf Befreiungsprozesse.<br />

Bendaña ergänzt, dass die guatemaltekische<br />

Kirche stark, aber gleichzeitig sehr zersplittert<br />

sei. Der konservative Sektor sei gewichtig,<br />

aber wenig einflussreich in der Bischofskonferenz.<br />

Als konservativer Sektor werden u.a. Bewegungen<br />

wie der Opus Dei, die Heraldos de<br />

Díos („Herolde Gottes“) und die Neokatechumen<br />

(Kikos, nach ihrem Begründer Kiko Argüello<br />

benannt, die überwiegend die Erwachsenentaufe<br />

vornehmen), ebenso die Charismatische<br />

Erneuerung.<br />

Zu den einigenden Gemeinsamkeiten der<br />

katholischen Kirche gehören laut Bendaña die<br />

gemeinsame 500-jährige Geschichte, die<br />

Papsttreue, die Hierarchie, die Verehrung der<br />

Jungfrau Maria und, zu einem gewissen Grad,<br />

die protestantische Herausforderung. Ein Protestantismus<br />

der sich, in seiner neuapostolischen<br />

Version, in Guatemala stark ausgebreitet<br />

hat mit einer Botschaft, die Erlösung ohne<br />

soziales Engagement verspricht. Diese neuen<br />

Strömungen machen dem Katholizismus ihren<br />

traditionellen Platz streitig und ziehen auch<br />

immer mehr konservative Sektoren an, während<br />

die katholische Kirche mehr die sozial<br />

denkenden Sektoren vereint.<br />

Unabhängig von Tendenzen, Spaltungen<br />

und Widersprüchen kann nicht geleugnet werden,<br />

dass die katholische Kirche in der Lage<br />

gewesen ist, sich den Veränderungen der Zeit<br />

anzupassen und eine enorme Wandlungsfähigkeit<br />

an den Tag zu legen.<br />

Aus: ¡Fijáte! 357, 12. April 2006<br />

6 Anhang


Volksbefragungen: Ein Sieg der<br />

(oder über die) Demokratie?<br />

Guatemala, 20. April 2006. Das guatemaltekische<br />

Verfassungsgericht bestätigte am<br />

4. April die Rechtsgültigkeit der beiden Volksbefragungen<br />

von Río Hondo, Zacapa, und von<br />

Sipakapa, San Marcos, wo sich die Bevölkerung<br />

gegen den Bau eines Wasserkraftwerks<br />

bzw. die Tätigkeit einer Tagebaumine aussprach.<br />

In beiden Fällen berufen sich die InitiantInnen<br />

der Befragungen auf die Umweltschäden,<br />

die von den Unternehmen angerichtet<br />

würden und beschweren sich, dass sie als<br />

betroffene Bevölkerung vor der Lizenzvergabe<br />

an diese Firmen nicht konsultiert wurden, wie<br />

es das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation<br />

(ILO) vorschreibt.<br />

In Sipakapa nahmen rund 600 Personen<br />

aus dreizehn Dörfern an der im letzten Juni<br />

durchgeführten Abstimmung teil, davon sprachen<br />

sich elf Dörfer gegen die Minentätigkeit<br />

aus, eines dafür und eines enthielt sich der<br />

Stimme.<br />

In Río Hondo fand die Befragung ebenfalls<br />

im letzten Juni statt, von den 2’800 teilnehmenden<br />

Personen sprach sich die grosse Mehrheit<br />

gegen den Bau des Wasserkraftwerkes<br />

aus.<br />

An beiden Orten wurde vor den Volksbefragungen<br />

seitens der Unternehmen versucht,<br />

Verwirrung über die Rechtsgültigkeit von solchen,<br />

von den Gemeinden autonom durchgeführten<br />

Abstimmungen zu säen. In Sipakapa<br />

z.B. wurden ein paar Tage vor der Abstimmung<br />

Flugblätter verteilt, die vermeintlicherweise<br />

sagten, die consulta sei abgesagt worden. Und<br />

auch wenn es das Unternehmen abstreitet,<br />

eine Filmequipe, die einen Film über die Volks-<br />

Razzien bei Kommunalradios<br />

Guatemala, 23. März 2006. In Guatemala<br />

spielen Kommunalradios eine Schlüsselrolle<br />

bei der Informationsvermittlung in indigenen<br />

ländlichen Gemeinden. Diese Rolle wird ihnen<br />

bereits in den Friedensabkommen zugestanden,<br />

wo es im Abkommen über die Rechte<br />

und Identität der indigenen Bevölkerung einen<br />

speziellen Paragraphen dazu gibt. Von unschätzbarem<br />

Wert waren die Kommunalradios<br />

z.B. auch während des Hurrican Stan, wo sie<br />

unermüdlich Informationen über die Lage in<br />

den Gemeinden, über eingestürzte Brücken<br />

und verschüttete Strassen übermittelten, Familienangehörige<br />

benachrichtigten, Lebensmittel<br />

und Geld sammelten und auf diese Weise<br />

wichtige Aufgaben übernahmen, die eigentlich<br />

der Staat hätte erfüllen sollen. Auch in den Bereichen<br />

(Bewusstseins-) Bildung und Aufklärung<br />

nehmen viele Kommunalradios im Ver-<br />

7<br />

befragung und überhaupt das Problem der Minenpräsenz<br />

in Sipakapa drehte, sah bei einem<br />

Besuch in der Mine schachtelweise diese Flugblätter<br />

herumstehen.<br />

Der Entscheid des Verfassungsgerichts löste<br />

grosse Freude unter den sozialen Organisationen<br />

aus, die sich zum Thema engagieren.<br />

Als einen historischen Moment bezeichnete die<br />

Nationale BäuerInnenkoordination CNOC dieses<br />

Urteil, mit dem die nationalen und internationalen<br />

Abkommen über die Rechte der indigenen<br />

Bevölkerung über die Partikularinteressen<br />

einiger Weniger gestellt wurden.<br />

Am 18. April übernahmen dann die neugewählten<br />

RichtInnen und ihre respektiven Ersatzrichter<br />

des Verfassungsgerichts ihre Ämter<br />

(siehe ¡Fijáte! 357). Ihre Vorgänger traten jedoch<br />

zurück, nachdem sie zwar die Entscheide<br />

in den Fällen Río Hondo und Sipakapa gefällt<br />

hatten, aber ohne alle notwendigen Dokumente<br />

zu unterzeichnen. Im Fall von Río Hondo soll<br />

es ein unterschriebenes Urteil aber keine<br />

rechtsgültige Verkündung desselben geben. Im<br />

Fall Sipakapa ist es noch schlimmer, da gibt<br />

ein zwar gefälltes, aber nicht von allen Richtern<br />

unterzeichnetes Urteil.<br />

Die (schwindende) Hoffnung der Bevölkerung<br />

der betroffenen Orte besteht nun darin,<br />

dass die NachfolgerInnen der abgetretenen<br />

RichterInnen das Urteil nicht noch einmal revidieren,<br />

sondern so schnell wie möglich ihre<br />

Unterschriften darunter setzen. Ansonsten wären<br />

die nationalen juristischen Möglichkeiten<br />

ausgeschöpft und es bliebe ihnen nur noch die<br />

Variante, ihre Fälle vor den Interamerikanischen<br />

Menschenrechts-Gerichtshof (CIDH) zu<br />

tragen.<br />

Aus: ¡Fijáte! 358<br />

gleich zu ihren kommerziellen Pendants eine<br />

wichtige soziale Rolle wahr.<br />

In einem Land wie Guatemala aber, in dem<br />

Radiofrequenzen zu horrend teuren Preisen<br />

gehandelt werden (bis zu 28’000 US-$), senden<br />

die meisten Kommunalradios ohne eigene<br />

Frequenz, sind also gemäss Gesetz illegal.<br />

Dies führt immer wieder dazu, dass die entsprechenden<br />

Behörden versuchen, solche Radios<br />

zu schliessen oder ihnen die Sendeanlage<br />

zu zerstören.<br />

Laut Informationen des Guatemaltekischen<br />

Rates der Kommunalradios (CGCC) wurden im<br />

Verlauf eines Monats, zwischen Februar und<br />

März 2006, in zwölf kommunalen Radios in<br />

den Departements Jalapa, Jutiapa, Huehuetenango<br />

und Guatemala Razzien durchgeführt und<br />

Personal verhaftet. Dies, obwohl vor einem<br />

Jahr auf Drängen der Weltweiten Vereinigung<br />

der Kommunalradios (AMARC) und Eduardo<br />

Bertoni, Beauftragter für Meinungsfreiheit der<br />

Organisation der Amerikanischen Staaten<br />

Anhang


(OEA), ein sog. Runder Tisch einberufen wurde,<br />

um das Thema zu erläutern. Eingeladen zu<br />

diesem Runden Tisch sind VertreterInnen der<br />

Kommunalradios und der Regierung, namentlich<br />

der Leiter der Präsidialen Menschenrechtskommission<br />

(COPREDEH), Frank LaRue. Bis<br />

dato ist dieser Runde Tisch genau einmal zusammengetroffen.<br />

Eine der Übereinkünfte, die<br />

dabei getroffen wurden, ist die Suspendierung<br />

jeglicher Razzien in den Kommunalradios. Eine<br />

andere, ebenfalls nicht eingehaltene Abmachung<br />

ist, dass die Regierung und die zuständige<br />

Telekommunikationsbehörde (SIT) einen<br />

Gesetzesvorschlag ausarbeiten, um den Kommunalradios<br />

einen legalen Status zu verschaffen.<br />

Ein Gesetzesvorschlag über die Vergabe<br />

von Radiofrequenzen wird seit Jahren zwischen<br />

dem Kongress und der SIT hin und hergeschoben.<br />

Gemäss Marcelino Moscut, Kongressabgeordneter<br />

und Vertreter der Vereinigung der<br />

Der erste Winter nach Hurrikan<br />

Stan<br />

Guatemala, 18. Mai 2006. Die Gelder,<br />

die dafür gedacht waren, denjenigen beizustehen,<br />

die im vergangenen Oktober vom Hurrikan<br />

Stan betroffen wurden, sind in andere,<br />

nicht-priorisierte Munizipien abgezweigt worden,<br />

während die Hilfebedürftigen Familien immer<br />

noch in der Ungewissheit leben, was ihnen<br />

die Regierung zuteil werden lässt, ist doch bislang<br />

nichts bei ihnen angekommen, was ihnen<br />

ihre Situation erleichtern würde. Viele Familien<br />

haben keine feste Arbeit und leben in Herbergen<br />

unter unmenschlichen Bedingungen.<br />

Der Hurrikan hat vor bald acht Monaten<br />

1´500 Opfer gefordert, darunter Tote und Verschwundene,<br />

1´158 Dörfer sind beeinträchtigt,<br />

35´000 Wohnhäuser beschädigt oder zerstört,<br />

hunderte von Kilometern Strasse und zahlreiche<br />

Brücken kollabiert.<br />

Trotz des Notstandsplans haben die Wiederaufbauaktivitäten<br />

in den meisten der Dörfer<br />

immer noch nicht begonnen, und dort, wo die<br />

ersten Arbeiten durchgeführt wurden, haben<br />

sie an vielen Orten bereits dem Regen nachgegeben,<br />

der seit Mitte Mai der Regenzeit entsprechend,<br />

das Land überzieht, sind sie zwar<br />

gebaut, aber nicht unbedingt der bekannt-riskanten<br />

Lage angepasst.<br />

Die Organisation Acción Ciudadana veröffentlichte<br />

dieser Tage die Ergebnisse des Monitorings<br />

des Wiederaufbaus mit alarmierenden<br />

Daten: Geldumleitungen in andere Regionen,<br />

die Langsamkeit der Arbeiten, der Mangel an<br />

Fincas für die Wiederansiedlung der in gefährdeten<br />

Gebieten lebenden Bevölkerung und ein<br />

8<br />

guatemaltekischen Kommunalradios (ARCG),<br />

geht es bei der Debatte über die Kommunalradios<br />

nicht um ein technisches Problem, wie<br />

man immer glaubhaft machen wolle, sondern<br />

um eine politische Angelegenheit. Oftmals sind<br />

es tatsächlich die Kommunalradios, die als einzige<br />

Korruptionsfälle und Menschenrechtsverletzungen<br />

in den Gemeinden zur Sprache bringen.<br />

Interessant ist, dass die Razzien in den<br />

Kommunalradios von einer Sonderabteilung<br />

der Staatsanwaltschaft für „Delikte gegen<br />

JournalistInnen und GewerkschafterInnen“ in<br />

Zusammenarbeit mit der Polizei durchgeführt<br />

wurden. Diese Sonderabteilung wurde geschaffen,<br />

um Vergehen am Menschenrecht auf<br />

Meinungsfreiheit zu verfolgen. Paradoxerweise<br />

werden jetzt diejenigen verfolgt, die das Recht<br />

auf Meinungsfreiheit verteidigen.<br />

Aus: ¡Fijáte! 257<br />

fragwürdiges Vorgehen des zuständigen Sozialen<br />

Investitionsfonds (FIS), dem Korruption<br />

vorgeworfen wird, nutzt er doch nicht die offiziellen<br />

Wege für die Vergabe der Bauvorhaben.<br />

Gemäss Acción Ciudadana ist auch der<br />

Kongress in die Machenschaften verwickelt,<br />

schliesslich hat er 1,5 Mio. Quetzales für den<br />

Wiederaufbau in 150 Munizipien vergeben,<br />

doch die Hälfte davon steht nicht auf der Liste<br />

der vorrangigen Projekte.<br />

Unterdessen wurden in dem Dorf Panabaj,<br />

Sololá, das komplett unter einer Schlammlawine<br />

begraben wurde, im Rahmen eines Pilotprojekts<br />

der Regierung die ersten 89 neuen Häuser<br />

gebaut, auf einem Gelände, das von der<br />

Katholischen Kirche zur Verfügung gestellt<br />

wurde. Doch – oh Schreck – eine nun veröffentlichte<br />

Risikoanalyse stellt fest, dass der Ort<br />

unbewohnbar und dem Risiko neuer Lawinen<br />

ausgesetzt ist.<br />

Aus: ¡Fijáte! 360<br />

Anhang


Familienplanung ist Gesetz<br />

Guatemala, 08. Mai 2006. Heute ist das<br />

heiss diskutierte Gesetz zum Universalen und<br />

gleichberechtigten Zugang zu Dienstleistungen<br />

der Familienplanung in Kraft getreten, was der<br />

Exekutive nun ein Ultimatum von 60 Tagen<br />

stellt, um das entsprechende Reglement zu erarbeiten.<br />

Das Gesundheitsministerium ist die<br />

zuständige staatliche Instanz für die Koordinierung<br />

der Arbeitskommission, die die Aufgabe<br />

hat, die normative Theorie in alltägliche und<br />

landesweite Praxis zu verwandeln. Dabei wird<br />

sie vom Bildungsministerium unterstützt, das<br />

sich für Informations-, Bildungs- und Kommunikationstätigkeiten<br />

gegenüber Eltern und<br />

SchülerInnen verantwortlich zeichnet.<br />

Schon im Vorfeld haben sich zahlreiche<br />

Frauenorganisationen in Sachen Informationsverbreitung<br />

stark gemacht. In diesem Rahmen<br />

sind Foren und Workshops in erster Linie mit<br />

Frauenorganisationen geplant sowie die Herausgabe<br />

einer Populärversion des Gesetzes,<br />

um das Verständnis des Inhalts zu vereinfachen.<br />

Besondere Aufmerksamkeit soll der indigenen<br />

Bevölkerung gewidmet werden, ist doch<br />

unter dieser das Wissen um und der Zugang<br />

zu Verhütungsmethoden wesentlich geringer<br />

und die Zahl der Müttersterblichkeit deutlich<br />

höher.<br />

Wichtig ist den organisierten Frauen, die<br />

Verdrehungen richtig zu stellen, die von Sektoren,<br />

die das Gesetz ablehnen, in die Welt gesetzt<br />

wurden. Eine wichtige Rolle spielte dabei<br />

die katholische Kirche, die vor allem durch ihren<br />

Kardinal Quezada Toruño die Familienplanung<br />

diabolisierte, werde diese doch zur Abtreibung<br />

geradezu auffordern und die christlichen<br />

Familienwerte verletzen.<br />

Dass durch den Zugang zu Verhütungsmitteln<br />

gerade ungewollte Schwangerschaften<br />

verhindert werden und somit vielen Frauen in<br />

Guatemala und gerade in den ländlichen Regionen<br />

vor allem vielen jungen Frauen endlich<br />

das Recht zugestanden wird, über ihren eigenen<br />

Körper entscheiden zu können, wollte der<br />

Kirchenoberst bis zuletzt nicht verstehen.<br />

Aus: ¡Fijáte! 359<br />

9 Anhang

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