Ausgabe 9 - IPOS
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Veränderungsmanagement in der Kirche als Leitungsaufgabe<br />
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delt und an die “primäre Aufgabe” von Kirche bindet.<br />
Doch zum einen drängt sich der Eindruck einer Überforderung<br />
auf, weil zu viele solche Prozesse, teilweise<br />
von unterschiedlichen “Kontextgebern” (Baumfeld)<br />
initiiert, nebeneinander laufen, so dass sie tendenziell<br />
nicht mehr steuerbar sind und der Aufwand an Energie<br />
kaum mehr zu vertreten ist. Eine kirchlich-theologische<br />
Version der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen<br />
aber führt dazu, dass grundsätzliche Widerstände<br />
gegen jegliche Modernisierungsanpassung,<br />
die sich aus unterschiedlichen Quellen speisen,<br />
ebenfalls aktualisiert werden. Die Gegenwart und der<br />
Widerstreit dieser unterschiedlichen Impulse haben<br />
selbst theologische Gründe.<br />
Theologie und Kirche haben genuin mit dem Thema<br />
“Veränderung” zu tun, weil ihr Grundthema die Geschichte<br />
Gottes mit den Menschen ist – Geschichte<br />
ist Geschichte von Veränderungen par excellence.<br />
Diese Geschichte wird als eine Geschichte von veränderten<br />
Beziehungen erzählt, von den zwischen Gott<br />
und Menschen und aus diesem Grund auch zwischen<br />
den Menschen je veränderten Beziehungen. Ja, der<br />
christliche Gottesbegriff versteht Gott selbst als Subjekt<br />
in Beziehung.<br />
Zugleich ist diese Geschichte Gottes mit den Menschen<br />
eine visionäre Geschichte, die im Eschaton<br />
mündet, in der Vision, dass Gott alles in allem sein<br />
und alle Tränen abwischen wird. Es ist eine Geschichte<br />
von Grenzen zwischen Gott und Mensch<br />
und immer auch von der Überschreitung dieser Grenzen.<br />
Theologie erzählt, indem sie diese Geschichte<br />
nacherzählt und in unsere Geschichten hinein-erzählt,<br />
immer auch vom Grundmodell gelingenden menschlichen<br />
Weltumgangs überhaupt – vom Umgang mit<br />
Grenzen in einer endlichen und vielfach gebrochenen<br />
Welt.<br />
Die Begleitung von Menschen in seelsorgerlicher Weise,<br />
in Krisensituationen, im Kontext von Kasualien<br />
setzt voraus und hat zur Folge, dass Pfarrer/-innen<br />
um die “emotionalen Erschütterungen” 54 der Menschen<br />
wissen, die sie begleiten, und dass sie damit<br />
professionell umzugehen wissen. Schließlich ist die<br />
evangelische Kirche mit ihren rechtlich selbständigen<br />
Gemeinden, die alle von ihren Kirchenvorständen<br />
geistlich und organisatorisch geleitet werden, eine<br />
schon existierende Netzwerkstruktur.<br />
Wenn sich dies alles so verhält, könnte eigentlich<br />
erwartet werden, dass Kirche und ihre professionellen<br />
Rollenträger als “change agents” geradezu prädestiniert<br />
sind, weil sie in Theorie und Praxis ständig mit<br />
der verantwortlichen und nachhaltigen Gestaltung von<br />
Veränderungen beschäftigt sind. Warum nur, so muss<br />
man fragen, entspricht Kirche dieser Erwartung nicht,<br />
ja, warum drängt sich vielen Außenstehenden der<br />
Eindruck auf, Kirche sei im Gegenteil die Institution<br />
der Beharrung?<br />
Die Antwort ist – in Teilen – auch biblisch begründet:<br />
Ineinander verwoben finden wir in den biblischen Texten<br />
zwei Grundimpulse des Handelns Gottes, die<br />
nach der bekannten Unterscheidung Claus Westermanns<br />
als Gottes “segnendes” und “rettendes” Handeln<br />
Gottes verstanden werden können. Diesen beiden<br />
Grundformen des Handelns Gottes entspricht der<br />
Auftrag an den Menschen, den Garten Eden zu “bebauen<br />
und zu bewahren” bzw. “auszuziehen in ein<br />
Land, das ich dir zeigen werde”. Das Exodusmotiv<br />
und das Motiv des Sesshaftseins im von Gott<br />
verheißenen und geliehenen Land liegen in bleibender<br />
Spannung durch die Geschichte Israels hindurch.<br />
Dazu gehört jeweils ein eher an Bewegungsimpulsen<br />
orientierter bzw. ein stärker an sedentären Elementen<br />
interessierter Frömmigkeitstypus. Der an der Zeitdimension,<br />
dem geschichtlichen Handeln Gottes orientierte<br />
Strang überwiegt und überformt großenteils<br />
den sedentären Frömmigkeitstypus. Vielleicht hat es<br />
jedoch mit der polaren Grundspannung der menschlichen<br />
Psyche zu tun, dass sowohl “schizoide” als<br />
auch “depressive” Anteile (vgl. Riemann) ihr Recht<br />
verlangen – und damit Beharrungskräfte wie Aufbruchsenergien<br />
immer neu austariert werden müssen.<br />
Noch in der Auseinandersetzung der nachösterlichen<br />
Gemeinde über die Frage der zentrifugalen “Heidenmission”<br />
und der zentripetalen Auferbauung der<br />
Jerusalemer Urgemeinde spiegelt sich die Spannung<br />
zwischen beharrenden und nach außen strebenden<br />
Kräften. Die “Ämter” der Kirche haben jeweils Anteil<br />
am “prophetischen” Amt, das eher visionär ausgerichtet<br />
ist, an der Zukunft Gottes mit den Menschen, und<br />
am “priesterlichen” Amt, das eher an der hegenden<br />
und pflegenden Bewahrung des Bestehenden ausgerichtet<br />
ist. Die räumliche Stabilität der Kirchen und<br />
ihrer Ortsgemeinden, die große Bedeutung der organischen<br />
Bilder des Säens, Wachsens und Erntens im