Ausgabe 9 - IPOS
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Akteure sich dieses Zusammenhangs in der Weise<br />
bewusst sind, dass sie ihn produktiv für das Austarieren<br />
der polaren Spannung von Beheimatung und Aufbruch<br />
nutzen können.<br />
Die theologiegeschichtlich jeweils unterschiedliche<br />
Beantwortung dieser Schlüsselfragen hat nebeneinander<br />
bestehende und gegeneinander agierende Strömungen<br />
in Theologie und Kirche hervorgebracht.<br />
Ohne diese strittigen Schlüsselfragen als solche wenigstens<br />
rudimentär aufzudecken, ist eine transparente<br />
Verständigung über Veränderungsnotwendigkeiten<br />
der Kirche nicht möglich. Die Kirche bedarf der<br />
Selbstaufklärung.<br />
Es ist bekannt, dass die den neben- und z.T. gegeneinander<br />
bestehenden Strömungen zugrunde liegenden<br />
Konflikte die evangelische Kirche in der BRD dauerhaft<br />
begleitet haben und begleiten. Ernst Lange sah<br />
ihre Analyse gar als “Medium kirchlicher Planung” an<br />
(Lange 1981, 285) und meint: “Die Geschichte der<br />
EKD ist reich an solchen Konflikten, die zum Teil<br />
gesamtkirchliche und gesamtgesellschaftliche Bedeutung<br />
hatten: Wiederbewaffnung, atomare Rüstung,<br />
‚moderne Theologie’, Ostdenkschrift, Kirchenreform<br />
und Demokratisierung, Anti-Rassismus-Programm”<br />
(ebd.).<br />
4.1.1 Reformation als Anschlussfähigkeit an den<br />
Grund der Kirche<br />
Die Reformation bedeutete nicht nur eine der größten<br />
Veränderungen der Form der Kirche selbst, sondern<br />
sie beinhaltet das Programm fortwährender Veränderung.<br />
Der ständige Rückbezug der Gemeinde auf den<br />
Grund des Glaubens selbst bieten Grund und Motiv<br />
einer ständigen Veränderung der Gestalt der Kirche.<br />
Historisch hat Kirche dieses Veränderungsmotiv allerdings<br />
nicht immer auf sich selbst angewandt, sondern<br />
ist einerseits immer wieder Bündnisse mit den Mächten<br />
der Beharrung eingegangen, andererseits ist sie<br />
immer wieder von Bewegungen aus ihrer Mitte über<br />
diese historischen Formen hinausgetrieben worden.<br />
Kirchliche Ordnung ist nach reformatorischem Verständnis<br />
kein Selbstzweck, sondern Mittel zum<br />
Zweck der Verkündigung des Evangeliums – ein Instrument,<br />
dessen die Verkündigung des Evangeliums<br />
unter den zweideutigen, gebrochenen Bedingungen<br />
der Geschichte bedarf. Deshalb fiel die Definition des-<br />
sen, was Kirche ausmacht, in CA VII auch so<br />
minimalistisch aus. Insofern haben wir in dem<br />
Konstruktionsprinzip der evangelischen Kirche ein<br />
durchweg “modernes” Vorbild des Organisationsprinzips<br />
“form follows function” vor Augen.<br />
4.1.2 Liberale Theologie schließt sich an bürgerlich-individualistischen<br />
Diskurs an<br />
Der liberalen Theologie im Anschluss an Schleiermacher<br />
oder Hegel war es in jeweils unterschiedlicher<br />
Weise weitgehend gelungen, die grundlegenden Gehalte<br />
der Theologie so umzuformulieren, dass sie<br />
anschlussfähig an den individualistischen Diskurs der<br />
modernen Gesellschaft wurden. Es galt, die einst<br />
supranaturalistisch und objektivistisch verstandenen<br />
Gehalte der Theologie so zu erfassen, dass sie in den<br />
Diskurs der Epoche nach der “kopernikanischen<br />
Wendung” Kants eingebracht werden konnten. Es sei<br />
in Erinnerung gerufen, dass dies zwar von Schleiermacher<br />
bis Harnack und Troeltsch in unterschiedlicher<br />
Weise mehr oder weniger gelang, “liberale” Theologie<br />
jedoch immer an den Universitäten – und noch<br />
viel stärker in den Landeskirchen – in der Minderheit<br />
blieb gegenüber einem von der Erweckungsbewegung<br />
überformten Pietismus und dem erstarkenden politisch<br />
und theologisch konservativen Neuluthertum.<br />
Weil die liberale Theologie als Kind ihrer Zeit sich<br />
jedoch als “bürgerliche” Theologie ausarbeitete, zu<br />
deren Strukturprinzip Konkurrenz, Tauschprinzip und<br />
Wettbewerbsindividualismus wurden (Ritschl, Herrmann),<br />
war sie strukturell nicht in der Lage, die vehement<br />
aufkommende soziale Frage theologisch zu<br />
verstehen und zu integrieren. Es blieb in der liberalen<br />
Theologie wie bei ihren konservativen theologischen<br />
Gegenspielern – bei allem bewundernswürdigen und<br />
aufopfernden persönlichen Engagement z.B. in den<br />
Reihen der entstehenden Inneren Mission – bei der<br />
individualistisch enggeführten Addition von Glaube<br />
und karitativem Handeln, von Dogmatik und Ethik 43 .<br />
Die strukturellen Ursachen des Pauperismus und der<br />
beginnenden Proletarisierung der ehemals bäuerlichen<br />
Massen konnte diese Theologie nicht begreifen.<br />
Daher fand sie auch keine strukturell-politische Antwort<br />
auf die Nöte der Zeit, sondern begann, die unter<br />
die Räder der industriellen und frühkapitalistischen<br />
Maschinerie Geratenen zu verbinden. Insofern über-