Anwaltsblatt 2000/11 - Österreichischer Rechtsanwaltskammertag
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keit, die zunächst als Austriacum nur in Österreich effektiv wirksam<br />
war, wurde nach den Unmenschlichkeiten, die im 2. Weltkrieg<br />
zum Holocaust führten, zunächst für die Staaten des freien Westens<br />
von Europa und nach der Wende von 1989 für die bis dahin<br />
kommunistischen Staaten Osteuropas der Garant für Demokratie<br />
und Freiheit. Adamovich spricht von einem Exportartikel4 ).<br />
Verfassungsgerichte Europas sind letztlich der EuGMR in Strasbourg<br />
und der EuGH in Luxemburg.<br />
Die Präambel der EMRK 1950, also der Charta der Grund- und<br />
Freiheitsrechte, enthält zusätzlich das Wert-Bekenntnis der Staaten<br />
Europas zur gemeinsamen Tradition der Achtung der Meinungsfreiheit,<br />
zur Demokratie, zu einer Pluralität an Parteien sowie dem<br />
Schutz der Menschenrechte durch rechtsstaatliche Garantien als<br />
Voraussetzungen eines freien wirtschaftlichen Wettbewerbs.<br />
3. Einer eingehenderen Betrachtung bedarf es jedoch bei einer<br />
kritischen Gegenüberstellung der konkreten Gegebenheiten, wie<br />
sie bei der Gründung der 1. Republik bestanden und wie sie sich<br />
heute in der 2. Republik darstellen.<br />
Schon dem B-VG 1920 waren 2 Verfassungen im Jahre 1918 und<br />
1919 vorausgegangen.<br />
Auch das B-VG 1920 war in Wahrheit ein Torso, da es keine Kompetenzregelungen<br />
enthielt und keinen Grundrechtskatalog schuf,<br />
sondern sich mit der Rezeption der Grundrechte der Monarchie als<br />
Provisorium behalf.<br />
Im Juni 1927 kam es zu einem Einsatz von Waffengewalt gegen<br />
aufbegehrende Arbeiter, die gegen ein Urteil demonstrierten, mit<br />
dem nach dem Totschlag zweier Arbeiter durch Rechtsradikale ein<br />
Freispruch erfolgte und damit zum Brand des Justizpalastes, eine<br />
politische Konfrontation, die tiefe Wunden schlug.<br />
1927 war Kelsen der Referent des Verfassungsgerichtshofes bei<br />
der Entscheidung über die sogenannten Sever-Ehen, die einen Strudel<br />
politischer Polemiken auslöste, und Kelsen persönlicher Anfeindung<br />
aussetzte5 ).<br />
Wie es um die Verfassung stand, kann man bei Kelsen selbst lesen.<br />
Der Schöpfer der Verfassungsgerichtsbarkeit und maßgebliche<br />
Mitgestalter des B-VG 1920 äußerte sich in einem Beitrag zum Entwurf<br />
der Verfassungsreform 1929 am 1. Oktober 19296 ) skeptisch<br />
wie folgt:<br />
„Wenn der Ruf nach Reform der Verfassung ein Symptom dafür ist,<br />
daß das Gleichgewicht der sozialen Kräfte im Staate gestört ist,<br />
dann hat unsere Republik seit ihrer Entstehung dieses Gleichgewicht<br />
noch immer nicht gewonnen. Und wenn es eines Beweises<br />
bedürfte, daß der unselige Vertrag von St. Germain kein politisch<br />
lebensfähiges Gebilde geschaffen hat, die Tatsache allein müßte<br />
ihn erbringen, daß Österreich während seines elfjährigen Bestandes<br />
schon 5 Verfassungsreformen durchgemacht hat: zwei im<br />
Jahre 1918, eine 1919, eine 1920, eine 1925; und daß es jetzt<br />
vor einer sechsten steht, die beinahe alles bisher Aufgebaute wieder<br />
umstürzen will und daher mehr als alle anderen von krisenhaften<br />
Erscheinungen begleitet ist.“<br />
Abhandlungen<br />
Tatsächlich wurde mit der Novelle 1929 das föderale parlamentarische<br />
System des B-VG 1920 von einem zentralistischer geprägten<br />
parlamentarischen Präsidialsystem abgelöst. Eine Ständekammer<br />
war als dritte Kammer in Aussicht genommen, womit das<br />
schwankende Gleichgewicht zusätzlich belastet wurde.<br />
Mit der Novelle 1929 wurden auch die Mandate der Verfassungsrichter<br />
für erloschen erklärt und die Richterposten neu besetzt unter<br />
dem Vorwand einer Entpolitisierung des Bestellungsmodus. Kelsen,<br />
dem wieder die Mitgliedschaft im VfGH angeboten wurde, lehnte<br />
ab.<br />
1933 kam, wie es sich bereits abzeichnete, der Anfang des Endes<br />
der 1. Republik und mit ihr der Demokratie.<br />
Kurze Zeit nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in<br />
Deutschland am 31. Januar 1933 wurde Dr. Engelbert Dollfuß<br />
österreichischer Bundeskanzler und Außenminister. Dieser lehnte<br />
umgehend einen Anschluss Österreichs an NS-Deutschland mit<br />
Rückendeckung durch Mussolini ab.<br />
In dieser außenpolitisch heißen Phase kam es auch innenpolitisch<br />
zur Krise.<br />
Durch den Rücktritt der Präsidenten des Nationalrates kam es zur<br />
Selbstausschaltung des Parlaments, das hierauf im März 1933 von<br />
Dollfuß für aufgelöst erklärt wurde.<br />
Zwischen 18. und 22. Mai 1933 legten auch mehrere Verfassungsrichter<br />
ihr Mandat nieder, weil sie über eine politisch sensible<br />
Beschwerde nicht entscheiden wollten. Hierauf wurde von der<br />
BRg aufgrund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes<br />
vom 24. Juli 1917 am 23. Mai 1933 eine Verordnung erlassen,<br />
die eine Einberufung der verbliebenen Richter unmöglich machte.<br />
Aufgrund dieser sogenannten Besetzungsverordnung für den VfGH<br />
und weiterer Mandatsniederlegungen zwischen dem 23. und<br />
28. Mai 1933 wurde dieser faktisch lahm gelegt7 ).<br />
Der Bürgerkrieg im Feber 1934 führte sodann zur Ausschaltung<br />
der sozialdemokratischen Partei.<br />
Mit Verordnung der Bundesregierung vom 24. April 1934 wurde<br />
schließlich aufgrund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes<br />
eine ständisch-autoritäre Verfassung des Bundesstaates<br />
Österreich unter Bruch der Verfassungskontinuität, also revolutionär,<br />
erlassen und am 1. Mai 1934 kundgemacht, der – aufgrund<br />
des Übergangsgesetzes vom 19. Juni 1934 – Wirksamkeit mit<br />
1. Juli 1934 verliehen wurde. Dies bedeutete das Ende der Demokratie.<br />
4) Adamovich, 75 Jahre danach – Gedanken zur Entwicklung des österreichischen<br />
Bundesverfassungsrechts, Verfassungstag 1995, 31.<br />
5) Stourzh, 70 Jahre Bundesverfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit und<br />
Grundrechtsdemokratie – die historischen Wurzeln, Verfassungstag<br />
1991, 34.<br />
6) Kelsen, Die Verfassungsreform, JBl 1929, 29. <strong>11</strong>. 1929.<br />
7) Walter, Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes im Jahre<br />
1933, Verfassungstag 1997.<br />
AnwBl <strong>2000</strong>/<strong>11</strong> 653