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Neue Herausforderungen in der Pflege und wie wir uns ihnen ...

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<strong>Neue</strong> <strong>Herausfor<strong>der</strong>ungen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>und</strong> <strong>wie</strong> <strong>wir</strong> <strong>uns</strong> <strong>ihnen</strong> stellen können<br />

Gesellschaftliche Erfor<strong>der</strong>nisse<br />

Mart<strong>in</strong>a Böhmer<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich sieht das <strong>Pflege</strong>weiterentwicklungsgesetz vor:<br />

„Die <strong>Pflege</strong>versicherung noch besser auf die Bedürfnisse <strong>und</strong> Wünsche <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong>bedürftigen so<strong>wie</strong> ihrer Angehörigen auszurichten.“<br />

Die zum<strong>in</strong>dest ambulante <strong>Pflege</strong> an sich ist aber aufgebaut auf <strong>der</strong> Opferbereitschaft von<br />

<strong>Pflege</strong>nden. So heißt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begründung zum §37, Absatz 1 <strong>Pflege</strong>geld für selbst<br />

beschaffte <strong>Pflege</strong>hilfen:<br />

„Das <strong>Pflege</strong>geld soll ke<strong>in</strong> Entgelt für die von <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>person o<strong>der</strong> den<br />

<strong>Pflege</strong>personen erbrachten <strong>Pflege</strong>leistungen darstellen. Es setzt vielmehr den<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftigen <strong>in</strong> den Stand, Angehörigen <strong>und</strong> sonstigen <strong>Pflege</strong>personen e<strong>in</strong>e<br />

materielle Anerkennung für die mit großem E<strong>in</strong>satz <strong>und</strong> Opferbereitschaft im<br />

häuslichen Bereich sichergestellte <strong>Pflege</strong> zukommen zu lassen. Das <strong>Pflege</strong>geld bietet<br />

somit e<strong>in</strong>en Anreiz zur Erhaltung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>bereitschaft <strong>der</strong> Angehörigen, Fre<strong>und</strong>e<br />

o<strong>der</strong> Nachbarn.“<br />

Da 68 Prozent aller <strong>Pflege</strong>bedürftigen, 73 Prozent aller pflegenden Angehörigen <strong>und</strong> ca. 85<br />

Prozent aller professionell <strong>Pflege</strong>nden Frauen s<strong>in</strong>d, <strong>wir</strong>d diese Opferbereitschaft eben<br />

mehrheitlich von Frauen erwarten <strong>und</strong> geleistet.<br />

Ich möchte schauen, <strong>wie</strong> diese drei Gruppen von Frauen von dieser Opferbereitschaft<br />

betroffen s<strong>in</strong>d. Wo braucht es Verbesserungen für sie, kommen sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>reform<br />

überhaupt vor?<br />

Mir sche<strong>in</strong>t, dass bei aller Diskussion zur <strong>Pflege</strong>reform um Freistellung von <strong>der</strong> Arbeit,<br />

<strong>Pflege</strong>urlaub, Rentenregelung, <strong>Pflege</strong>stützpunkte <strong>und</strong> Erhöhung von <strong>Pflege</strong>geld <strong>der</strong> Blick auf<br />

die Bedürfnisse <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>bedürftigen selbst etwas zu kurz kommt. So möchte ich hier zu<br />

allererst von <strong>ihnen</strong> sprechen.<br />

Von den <strong>in</strong>sgesamt 2,13 Mill. <strong>Pflege</strong>bedürftigen s<strong>in</strong>d 68 Prozent - also r<strong>und</strong> 1,4 Mill. –<br />

Frauen. 820.790 Frauen werden ambulant <strong>und</strong> 492.827 Frauen stationär versorgt, 82<br />

Prozent aller <strong>Pflege</strong>bedürftigen s<strong>in</strong>d 65 Jahre o<strong>der</strong> älter.<br />

Diejenigen von Ihnen, die den Bericht 2007 des MDS (Mediz<strong>in</strong>ischer Dienst <strong>der</strong><br />

Spitzenverbände <strong>der</strong> Krankenkassen) zur Qualität <strong>in</strong> <strong>der</strong> ambulanten <strong>und</strong> stationären <strong>Pflege</strong><br />

kennen, wissen, dass u. a.<br />

bei 34,4 Prozent <strong>der</strong> überprüften stationären <strong>und</strong> bei 29,6 Prozent <strong>der</strong> ambulanten<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftigen „Defizite an <strong>der</strong> angemessenen Ernährung <strong>und</strong> Flüssigkeitsversorgung<br />

vorlagen“. (Es wurden 14.925 ambulante <strong>Pflege</strong>bedürftige <strong>und</strong> 24.648 stationäre „Bewohner“<br />

überprüft)<br />

Hochgerechnet auf alle pflegebedürftigen Frauen, die stationär <strong>und</strong> ambulant versorgt<br />

werden, bedeutet dies, dass stationär 155.156 Frauen <strong>und</strong> ambulant 198.970 Frauen<br />

defizitär ernährt s<strong>in</strong>d.<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 1 von 11


Ich möchte Ihnen dazu Bil<strong>der</strong> zeigen, weil die nackten Zahlen alle<strong>in</strong>e ke<strong>in</strong>e Vorstellung<br />

davon geben, was das <strong>wir</strong>klich bedeutet.<br />

Defizitärer Ernährungszustand kann ungefähr so aussehen:<br />

Und: bei 15,5 Prozent <strong>der</strong> stationär versorgten <strong>und</strong> bei 21,5 Prozent <strong>der</strong> ambulant<br />

versorgten <strong>Pflege</strong>bedürftigen gab es Defizite im Bereich <strong>der</strong> Inkont<strong>in</strong>enzversorgung<br />

Das kann dann so aussehen:<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 2 von 11


Bei 35,5 Prozent <strong>der</strong> stationären <strong>und</strong> bei 42,4 Prozent <strong>der</strong> ambulant gepflegten Menschen<br />

gab es Defizite bei e<strong>in</strong>er angemessenen Dekubitusprophylaxe (Dekubitus ist e<strong>in</strong><br />

Druckgeschwür).<br />

Und das kann so aussehen:<br />

Es ist sicherlich schockierend, sich solche Fotos anzuschauen. Das f<strong>in</strong>de ich auch, aus<br />

vielerlei Gründen.<br />

Hier im letzten Foto kann es <strong>der</strong> Fuß e<strong>in</strong>er alten Frau se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Dekubitus entsteht übrigens<br />

häufig bei Menschen, die lange im Bett liegen.<br />

Versuchen Sie sich e<strong>in</strong>mal für e<strong>in</strong>en Moment <strong>in</strong> die Lage dieser Frau zu versetzen:<br />

Sie haben also e<strong>in</strong>en Dekubitus, e<strong>in</strong> Druckgeschwür vom Liegen am Fuß <strong>und</strong> vielleicht auch<br />

noch e<strong>in</strong>en am Steißbe<strong>in</strong> bis <strong>in</strong> die Analfalte <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d vielleicht auch <strong>in</strong> ihrem sonstigen<br />

Ges<strong>und</strong>heitszustand reduziert (solch e<strong>in</strong> Foto möchte ich hier bewusst nicht zeigen).<br />

Zu all dem kommen jetzt zwei Personen zu <strong>ihnen</strong>. Die e<strong>in</strong>e Person hält <strong>ihnen</strong> die Pobacken<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, damit die an<strong>der</strong>e Person e<strong>in</strong> Foto von dem Dekubitus, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> ihrer<br />

Analfalte bef<strong>in</strong>det, machen kann. Dieses Foto liegt dann <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel <strong>in</strong> Ihrer Akte <strong>und</strong> <strong>wir</strong>d<br />

von vielen Menschen gesehen. Druckstellen, Rötungen <strong>der</strong> Haut fotografisch zu<br />

dokumentieren ist aus haftungsrelevanten Gründen zw<strong>in</strong>gend vorgeschrieben.<br />

Die qualitative fachliche Bewertung <strong>der</strong> Versorgung umfasst laut MDS ja <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die<br />

Erhebung des <strong>Pflege</strong>zustands <strong>und</strong> den Umgang mit konkreten <strong>Pflege</strong>problemen. Was<br />

bedeutet das?<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 3 von 11


Mit <strong>Pflege</strong>zustand ist geme<strong>in</strong>t <strong>und</strong> <strong>wir</strong>d begutachtet z.B.<br />

<strong>der</strong> Hautzustand<br />

<strong>der</strong> M<strong>und</strong>zustand<br />

die Versorgung mit Sonden, Kathetern <strong>und</strong> Inkont<strong>in</strong>enzprodukten<br />

Bei konkreten <strong>Pflege</strong>problemen <strong>wir</strong>d nach <strong>der</strong> Dekubitusprophylaxe, Ernährung <strong>und</strong><br />

Flüssigkeitsversorgung, Inkont<strong>in</strong>enzversorgung <strong>und</strong> auf die Versorgung von Personen mit<br />

gerontopsychiatrischen Bee<strong>in</strong>trächtigungen geschaut.<br />

Das bedeutet, dass Qualität mehrheitlich gemessen <strong>wir</strong>d an <strong>der</strong> körperlichen Versorgung.<br />

In e<strong>in</strong>er Frauengruppe, die sich <strong>in</strong> Köln mit dem Thema <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />

ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat, wurde u. a. diskutiert, <strong>wie</strong> sich jede selbst <strong>Pflege</strong> vorstellt, was ihr<br />

beson<strong>der</strong>s wichtig ist. Dass <strong>der</strong> Haut- <strong>und</strong> M<strong>und</strong>zustand, die Ernährung usw. <strong>in</strong> Ordnung ist,<br />

wurde natürlich als Gr<strong>und</strong>voraussetzung gesehen. Wichtig war den Frauen, dass sie ke<strong>in</strong>e<br />

Männer im Wohnbereich haben, dass sie sich ihre Zimmernachbar<strong>in</strong> <strong>und</strong> Tischnachbar<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

diejenigen, von denen sie gepflegt werden, selbst aussuchen <strong>und</strong> täglich an die frische Luft<br />

wollen, am täglichen politischen Leben teilhaben wollen u.v.a.m.<br />

Ich b<strong>in</strong> überzeugt davon, dass <strong>der</strong> Qualitätsbegriff <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> zum<strong>in</strong>dest erweitert, wenn<br />

nicht gar verän<strong>der</strong>t werden muss.<br />

Es fehlt bisher das Verständnis dafür, was es speziell für Frauen bedeutet, pflegebedürftig zu<br />

se<strong>in</strong>. <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit ist ja e<strong>in</strong>e Situation, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die meisten dann abhängig s<strong>in</strong>d von<br />

an<strong>der</strong>en. Was brauchen Frauen, die aus <strong>der</strong> Generation s<strong>in</strong>d, die den Krieg mit all ihren<br />

Folgen erlebt hat? Was brauchen Frauen, <strong>der</strong>en Lebensgeschichte häufig von Gewalt<br />

geprägt ist? Was brauchen Frauen, die aus e<strong>in</strong>er Generation kommen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacktheit,<br />

Körperpflege, Umgang mit persönlichen <strong>und</strong> <strong>in</strong>timen Situationen so völlig an<strong>der</strong>s empf<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> gehandhabt wurde als heute?<br />

Es <strong>wir</strong>d <strong>in</strong> dieser Gesellschaft kaum darüber nachgedacht, dass viele <strong>der</strong> heute alten Frauen<br />

<strong>in</strong> ihrem Leben neben den Kriegs- <strong>und</strong> Nachkriegserlebnissen <strong>wie</strong> Bombenangriffe, Verlust<br />

<strong>der</strong> Heimat <strong>und</strong> ihrer Angehörigen, Hungersnot usw. geschlechtsspezifische Gewalt erleben<br />

mussten <strong>und</strong> u. U. noch müssen <strong>und</strong> was dies für sie nun <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />

bedeutet.<br />

Dazu erst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>ige Zahlen:<br />

E<strong>in</strong>er Studie zufolge ist jede 4 Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren von häuslicher<br />

Gewalt betroffen o<strong>der</strong> betroffen gewesen.<br />

Häusliche Gewalt ist weltweit das größte Ges<strong>und</strong>heitsrisiko für Frauen <strong>und</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />

Häusliche Gewalt endet nicht mit dem Erreichen e<strong>in</strong>es bestimmten Lebensalters,<br />

son<strong>der</strong>n kann sich <strong>in</strong>s höhere Alter h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> fortsetzen.<br />

Dies ist nachzulesen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Broschüre Lebenssituation, Sicherheit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit von<br />

Frauen <strong>in</strong> Deutschland, die das B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isterium für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong><br />

Jugend <strong>in</strong> diesem Jahr veröffentlicht hat.<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 4 von 11


So muss also auch bei e<strong>in</strong>er alten Frau, die z. B. mit e<strong>in</strong>em Oberschenkelhalsbruch <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Krankenhaus e<strong>in</strong>ge<strong>wie</strong>sen <strong>wir</strong>d, über häusliche Gewalt als Ursache nachgedacht <strong>und</strong><br />

nachgefragt werden. Bei alten Frauen <strong>wir</strong>d aber stets von „Sturz im Alter“ gesprochen. In<br />

dem entsprechenden Expertenstandard ist Gewalt als mögliche Ursache von Stürzen nicht<br />

mit berücksichtigt.<br />

Wir wissen, dass <strong>in</strong> je<strong>der</strong> St<strong>und</strong>e 7-9 Frauen <strong>in</strong> diesem Land vergewaltigt werden <strong>und</strong><br />

jährlich ca.170.000 bis 255.000 Mädchen alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> den alten B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n sexuell<br />

traumatisiert werden.<br />

All dies ist genauso im Leben <strong>der</strong> heute alten Frauen geschehen. Zudem haben die heute<br />

alten Frauen den Zweiten Weltkrieg erlebt <strong>und</strong> <strong>wie</strong> <strong>wir</strong> heute ja wissen, bedeutet je<strong>der</strong> Krieg<br />

<strong>in</strong> sehr hohem Maße sexualisierte Gewalt gegen Frauen. So haben sie<br />

Massenvergewaltigungen <strong>und</strong> Zwangsprostitutionen miterleben o<strong>der</strong> beobachten müssen,<br />

waren zum<strong>in</strong>dest davon bedroht.<br />

Es <strong>wir</strong>d von ca. 1,5.2 Mio. Frauen gesprochen, die während Flucht <strong>und</strong> Vertreibung von<br />

meist russischen Soldaten vergewaltigt wurden <strong>und</strong> alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> waren es nach 1945 ca.<br />

110.000 bis 800.000 Frauen, die vergewaltigt wurden. Weiterh<strong>in</strong> gab es Zwangsprostitution<br />

<strong>in</strong> den Lagerbordellen <strong>der</strong> Konzentrationslager <strong>und</strong> Vergewaltigungen durch westalliierte<br />

Soldaten.<br />

Und auch im Alter s<strong>in</strong>d Frauen jetzt nicht zwangsläufig vor sexualisierter Gewalt geschützt.<br />

Zum Beispiel erstatteten 1999 zwei Heimbewohner<strong>in</strong>nen Strafanzeige gegen den 62-jährigen<br />

Leiter <strong>und</strong> Inhaber e<strong>in</strong>es Heimes <strong>in</strong> Hessen. Dem Heimleiter wurden später 114 Delikte <strong>der</strong><br />

Vergewaltigung <strong>und</strong> des sexuellen Missbrauchs vorgeworfen. Und vielleicht haben Sie von<br />

dem <strong>Pflege</strong>r kürzlich <strong>in</strong> Köln gehört, dessen Sperma im Ur<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bettlägerigen alten Frau<br />

gef<strong>und</strong>en wurde <strong>und</strong> <strong>der</strong> mangels Beweise freigesprochenen wurde! Es gäbe noch viele<br />

weitere Beispiele.<br />

Ich möchte Ihnen nun deutlich machen, welche Folgen dies für die Betroffenen haben kann,<br />

wenn sie nun pflegebedürftig s<strong>in</strong>d. Und <strong>wie</strong> wichtig es ist, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Biographiearbeit diese<br />

Themen mit aufzunehmen.<br />

Dazu möchte ich erzählen von e<strong>in</strong>er alten Frau, die ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er letzten Stelle im Altenheim<br />

kennen lernte. Sie kam <strong>in</strong> diese E<strong>in</strong>richtung, die e<strong>in</strong>en sehr guten Ruf hat, nachdem ihr von<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zugsberater<strong>in</strong> alles Schöne gezeigt <strong>und</strong> sie allerlei zu ihren Wünschen <strong>und</strong><br />

Bedürfnissen gefragt wurde. Sie konnte immerh<strong>in</strong> davon sprechen – was für Frauen ihrer<br />

Generation eher ungewöhnlich ist, dass sie e<strong>in</strong>mal vergewaltigt wurde <strong>und</strong> daher <strong>Pflege</strong> nur<br />

von weiblichen <strong>Pflege</strong>nden ertragen kann. Das wurde ihr zugesagt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dokumentation<br />

schriftlich vermerkt <strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Übergabe dem <strong>Pflege</strong>team weitergegeben. So weit, so gut.<br />

Am ersten Morgen ihres Aufenthalts im Heim ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> männlicher <strong>Pflege</strong>r – übrigens<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige an dem Tag - zu ihr gekommen <strong>und</strong> hat sie versorgt. Er sagte, dass das für die<br />

Frau o. k. gewesen sei, sie hätte ihn nicht des Zimmers ver<strong>wie</strong>sen!! Allerd<strong>in</strong>gs wurde sie, die<br />

ja <strong>in</strong>s Heim gegangen ist, weil sie Unterstützung u. a. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Körperpflege benötigt, seitdem<br />

jeden Morgen <strong>in</strong> ihrer Kleidung angetroffen. Es war nicht klar, ob sie sich abends schon gar<br />

nicht mehr auszog, um <strong>der</strong> männlichen <strong>Pflege</strong> zu entgehen. Das hatte die Konsequenz für<br />

die alte Frau, dass die <strong>Pflege</strong>nden versuchten, sie zur morgendlichen Gr<strong>und</strong>pflege zu<br />

überreden, mit immer <strong>in</strong>tensiveren Maßnahmen, später dann auch zu zweit zu ihr gegangen<br />

s<strong>in</strong>d, um sie zu duschen.<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 5 von 11


Übrigens kostete die <strong>Pflege</strong> <strong>und</strong> Unterbr<strong>in</strong>gung diese alte Frau <strong>in</strong> <strong>Pflege</strong>stufe 1 <strong>in</strong>sgesamt<br />

2.535 Euro pro Monat.<br />

Es könnte se<strong>in</strong>, vielmehr ist es sehr wahrsche<strong>in</strong>lich, dass diese Frau nun Schlafstörungen,<br />

Panikzustände usw. entwickelt, womöglich Schlaf- <strong>und</strong> Beruhigungsmedikamente erhält,<br />

dann womöglich stürzt, sich den Oberschenkelhals bricht, bettlägerig <strong>wir</strong>d, <strong>in</strong> <strong>Pflege</strong>stufe 3<br />

e<strong>in</strong>gestuft werden muss, weil sie jetzt sehr pflegeaufwändig ist, dafür dann 3.600 Euro<br />

bezahlen muss <strong>und</strong> ihr W<strong>uns</strong>ch, nur von weiblichen <strong>Pflege</strong>nden versorgt zu werden, bis<br />

dah<strong>in</strong> längst vergessen wurde <strong>und</strong> sche<strong>in</strong>bar nicht mehr relevant ist. Denn die alte Frau ist<br />

<strong>in</strong>zwischen so depressiv geworden, dass sie alles über sich ergehen lässt, was von den<br />

<strong>Pflege</strong>nden dann als E<strong>in</strong>verständnis gesehen <strong>wir</strong>d.<br />

Natürlich ist es für jede Frau – ob jung o<strong>der</strong> alt - schwer, sich mit den verän<strong>der</strong>ten<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit - sei es Zuhause, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim o<strong>der</strong><br />

Krankenhaus - abzuf<strong>in</strong>den.<br />

Bei Frauen mit sexualisierten <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Gewalterfahrungen aber treffen diese damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Gefühle <strong>wie</strong> Ohnmacht, Hilflosigkeit, ke<strong>in</strong> Entr<strong>in</strong>nen können, auf ihr altes<br />

Trauma. Viele pflegerischen Verrichtungen <strong>und</strong> Umstände durch die <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />

können Trigger – also Auslöser e<strong>in</strong>er Trauma-Aktivierung se<strong>in</strong>. Wir dürfen ja auch nicht<br />

vergessen, dass <strong>Pflege</strong> an sich e<strong>in</strong>fach grenzüberschreitend ist.<br />

Z. B. kann es für e<strong>in</strong>e Frau, die sexualisierte Gewalt erlebt hat, unerträglich se<strong>in</strong>, jeden Tag<br />

ausgezogen <strong>und</strong> gewaschen zu werden. Es kann furchtbar für sie se<strong>in</strong>, dass sie täglich<br />

mehrere Male ihre W<strong>in</strong>delhosen gewechselt bekommt. Offene Türen, geschlossene Türen,<br />

bestimmte Musik, Gerüche, <strong>Pflege</strong> durch mehrere Personen, auch e<strong>in</strong>e Begutachtung durch<br />

fremde Menschen vom MDK kann an sexualisierte Gewalterlebnisse o<strong>der</strong> auch an<br />

Erlebnisse im KZ er<strong>in</strong>nern. Hier müssen Alternativen gef<strong>und</strong>en werden.<br />

Zum Beispiel kann die Frau <strong>in</strong> Unterwäsche gebadet werden, wenn dies für sie besser ist.<br />

Ansonsten sollte ihr „Katzenwäsche“ angeboten werden - möglichst geführt. So werden ihre<br />

Grenzen gewahrt. Und bei <strong>der</strong> Frau, die ur<strong>in</strong><strong>in</strong>kont<strong>in</strong>ent ist, sollte darüber nachgedacht<br />

werden, ob e<strong>in</strong> Katheter durch die Bauchdecke <strong>in</strong> die Blase gelegt werden könnte, damit ihr<br />

nicht ständig fremde Menschen <strong>in</strong> ihre Hosen gehen.<br />

Diese Art <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>und</strong> des Überlegens entspricht aber nicht den gängigen<br />

Qualitätsmerkmalen.<br />

Qualität <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> ist aber nicht immer pauschal zu ermitteln. Außerdem s<strong>in</strong>d <strong>Pflege</strong>nde<br />

angehalten, die Körperpflege auch gegen den Willen e<strong>in</strong>er Frau durchzuführen, weil dies die<br />

Leistungen s<strong>in</strong>d, für die die E<strong>in</strong>richtung von <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>kasse bezahlt <strong>wir</strong>d.<br />

Diese gerade angesprochenen Trauma-Aktivierungen können Symptome z. B. <strong>der</strong><br />

posttraumatischen Belastungsstörung hervorrufen, <strong>wie</strong> z. B. Übererregung, Erstarrung,<br />

Flashbacks, Desorientierungen, Halluz<strong>in</strong>ationen, Schmerzen, Schlafstörungen,<br />

Aggressionen, Depressionen <strong>und</strong> sehr vieles mehr. Sie werden dann aber aus Unkenntnis<br />

zu Alterserkrankungen erklärt werden, <strong>wie</strong> z.B. Demenz, Altersdepression, o<strong>der</strong> HOPS<br />

(Hirnorganisches Psychosyndrom). Die Konsequenz für die Frauen ist dann meist e<strong>in</strong>e<br />

Symptombehandlung mit Psychopharmaka o<strong>der</strong> so genannten Kommunikationsmodellen<br />

<strong>und</strong> Beschäftigungsmethoden für Demenzerkrankte.<br />

Auch so kann es also zu e<strong>in</strong>er erhöhten <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit <strong>der</strong> Frauen kommen.<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 6 von 11


Ich denke, dass auch e<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong>, dass all diese Themen bei alten Frauen kaum gesehen<br />

werden, dar<strong>in</strong> zu sehen ist, dass dies nicht <strong>uns</strong>erem Bild entspricht, was <strong>wir</strong> von alten<br />

Frauen haben.<br />

Wie <strong>wir</strong>d <strong>in</strong> dieser Gesellschaft denn gesprochen von alten Frauen? Sie s<strong>in</strong>d die Senior<strong>in</strong>,<br />

die ältere Dame, die Oma, die Heimbewohner<strong>in</strong>, die Demente.<br />

Bei all diesen Benennungen kommen <strong>wir</strong> eher nicht auf die Idee, daran zu denken, dass das<br />

alles Frauen s<strong>in</strong>d mit sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten.<br />

Deshalb ist es wichtig auch alte Frauen als Frauen zu benennen, weil dies am ehesten die<br />

Chance zulässt, dass <strong>wir</strong> sehen <strong>und</strong> verstehen können, dass es Frauen s<strong>in</strong>d mit ihren ganz<br />

<strong>in</strong>dividuellen <strong>und</strong> auch geschlechtsspezifischen Geschichten <strong>und</strong> Erlebnissen.<br />

Und diese s<strong>in</strong>d tatsächlich häufig geprägt von z.B. sexualisierter <strong>und</strong> an<strong>der</strong>er Gewalt. Da ist<br />

es das Allerm<strong>in</strong>deste, dass Frauen e<strong>in</strong>en gesetzlichen Anspruch auf gleichgeschlechtliche<br />

<strong>Pflege</strong> <strong>und</strong> Betreuung bekommen. Beson<strong>der</strong>s ist dies natürlich auch bei Frauen zu<br />

berücksichtigen, die frauenbezogen o<strong>der</strong> lesbisch lebten o<strong>der</strong> leben.<br />

Hierzu wurde im Weiterentwicklungsgesetz, § 2 Abs. 2 folgen<strong>der</strong> Satz angefügt:<br />

„Wünsche <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>bedürftigen nach gleichgeschlechtlicher <strong>Pflege</strong> haben<br />

nach Möglichkeit Berücksichtigung zu f<strong>in</strong>den.“<br />

Nach Möglichkeit ist hier allerd<strong>in</strong>gs zu wenig, <strong>wie</strong> Ihnen das genannte Beispiel <strong>der</strong> alten Frau<br />

im Heim deutlich gemacht hat! Und dies ist auch ke<strong>in</strong>e Än<strong>der</strong>ung zu <strong>der</strong> bisher gängigen<br />

Praxis.<br />

Und es kann doch nicht se<strong>in</strong>, dass die KZ-Überlebende mit dem ehemaligen Aufseher am<br />

Tisch sitzen muss <strong>und</strong> die Frau, die Gewalt <strong>in</strong> ihrer Ehe erlebte, nachts von Männern<br />

versorgt <strong>wir</strong>d. Und auch ertragen muss, dass <strong>der</strong> alte Mann vom Nebenzimmer ständig bei<br />

ihr im Zimmer auftaucht, weil er sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tür irrt. Woher soll sie wissen, dass sie jetzt nicht<br />

vergewaltigt <strong>wir</strong>d? Und vielleicht <strong>wir</strong>d sie es aber ja tatsächlich. Dafür gibt es viele Beispiele.<br />

Neulich hörte ich <strong>wie</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal von e<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong> aus dem <strong>Pflege</strong>bereich, dass <strong>in</strong> ihrer<br />

E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>e alte Frau von ihrem Ehemann, <strong>der</strong> sie häufig besuchen kommt, sexualisierte<br />

Gewalt erfährt. Niemand <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung tut etwas dagegen, wohl auch weil es sehr viel<br />

Ängste <strong>und</strong> Unsicherheiten gibt.<br />

Es müssten <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> nicht nur pflegerisch-wissenschaftliche Erkenntnisse über meist<br />

körperliche Versorgungen, son<strong>der</strong>n auch wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Bereich<br />

Trauma, Zeitgeschichte, Frauengeschichte zugr<strong>und</strong>e gelegt werden. Dies <strong>wir</strong>d aber bisher<br />

nicht gefor<strong>der</strong>t. Dann könnte tatsächlich qualitativ hochwertig gepflegt werden <strong>und</strong> so, <strong>wie</strong> es<br />

den Bedürfnissen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen entspricht.<br />

Ich wünsche mir außerdem bei so manchen <strong>Pflege</strong>nden mehr Eignung für diesen Beruf.<br />

Blüm hat ja e<strong>in</strong>mal gesagt, für <strong>Pflege</strong> reiche e<strong>in</strong> gutes Herz <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e sichere Hand. Das ist<br />

natürlich völlig falsch. Es braucht Fachwissen, aber es braucht auch e<strong>in</strong>e hohe<br />

Sozialkompetenz <strong>und</strong> schon e<strong>in</strong> bisschen Herz. Selbst bei exam<strong>in</strong>ierten <strong>Pflege</strong>nden fehlt es<br />

mitunter an Fachwissen. Gehen Sie e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong> beliebiges Altenheim <strong>und</strong> fragen sie die<br />

<strong>Pflege</strong>nden, ob sie nach Bobath o<strong>der</strong> k<strong>in</strong>ästhetisch arbeiten o<strong>der</strong> gar danach, welche <strong>Pflege</strong><strong>und</strong><br />

Betreuungs-Konzepte sie verfolgen mit Frauen, die vergewaltigt o<strong>der</strong> kriegstraumatisiert<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 7 von 11


Es gibt zu vielen Themen haus<strong>in</strong>terne Qualitätsstandards. Auch ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>versicherung<br />

def<strong>in</strong>iert, dass sich Qualitätsmerkmale auf die so genannten Expertenstandards stützen.<br />

Diese Vorgabe böte die Gelegenheit Standards zum Umgehen mit z. B. Gewalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong><br />

<strong>und</strong> mit häuslicher Gewalt auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite <strong>und</strong> Standards zum Umgehen mit Frauen, die<br />

gewalttraumatisiert s<strong>in</strong>d, zu entwickeln <strong>und</strong> verb<strong>in</strong>dlich e<strong>in</strong>zuführen.<br />

Zum Thema Demenz z. B. wurde <strong>und</strong> <strong>wir</strong>d ja zurzeit sehr viel geforscht, es gibt fast täglich<br />

neue Konzepte im Umgang mit den so genannten „Dementen“. Hier wäre es sicherlich<br />

s<strong>in</strong>nvoll, wenn die mittlerweile bekannten Folgen von Traumatisierung – also z. B. die<br />

Diagnose posttraumatische Belastungsstörung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Altenarbeit E<strong>in</strong>zug halten würde. Da<br />

würde sich dann herausstellen, dass so manches – heute sogar im<br />

Weiterentwicklungsgesetz so genanntes – „herausfor<strong>der</strong>ndes Verhalten“ von<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftigen auf e<strong>in</strong>e Trauma-Aktivierung o<strong>der</strong> Re-Traumatisierung durch bestimmte<br />

<strong>Pflege</strong>situationen <strong>und</strong> nicht auf e<strong>in</strong>e Demenzerkrankung zurückzuführen ist. Das hätte dann<br />

natürlich ganz an<strong>der</strong>e therapeutische Prozesse zur Folge. Nämlich mit den Frauen sprechen,<br />

sie verstehen, <strong>und</strong> zu versuchen zu verstehen, was sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Trauma-Aktivierung geführt<br />

hat <strong>und</strong> die Umstände dann entsprechend zu verän<strong>der</strong>n. Dieses an<strong>der</strong>e H<strong>in</strong>sehen kann –<br />

wenn <strong>wir</strong> alle<strong>in</strong> an die Medikamentengabe für Demenzerkrankte denken – lebensrettend für<br />

Frauen se<strong>in</strong>.<br />

Dies wäre e<strong>in</strong>e <strong>Pflege</strong>, die zeitaufwändiger wäre, <strong>und</strong> deshalb nicht zu leisten sei, <strong>wie</strong> fast<br />

alle <strong>Pflege</strong>nden <strong>und</strong> HeimträgerInnen an an<strong>der</strong>en Stellen immer <strong>wie</strong><strong>der</strong> beklagen. Ich<br />

bezweifele sehr, dass es nur an <strong>der</strong> fehlenden Zeit liegt. Es gibt ja e<strong>in</strong>ige wenige stationäre<br />

E<strong>in</strong>richtungen, <strong>wie</strong> zum Beispiel das jüdische Altenheim <strong>in</strong> Frankfurt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> ambulanter<br />

<strong>Pflege</strong>dienst <strong>in</strong> Hamburg, <strong>der</strong> Hilfen für NS-Verfolgte <strong>und</strong> ihre Angehörigen, Flüchtl<strong>in</strong>ge,<br />

MigrantInnen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e gesellschaftliche so genannte Randgruppen leistet. Sie tun dies mit<br />

den bestehenden f<strong>in</strong>anziellen Mitteln.<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftigkeit ist ja ke<strong>in</strong> unverän<strong>der</strong>barer Zustand, <strong>und</strong> es sollen die körperlichen,<br />

geistigen <strong>und</strong> seelischen Kräfte <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>bedürftigen <strong>wie</strong><strong>der</strong> gewonnen bzw. zum<strong>in</strong>dest<br />

erhalten werden. So steht es bisher schon im <strong>Pflege</strong>versicherungsgesetz. Nun <strong>wir</strong>d den<br />

Trägern von <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>versicherung e<strong>in</strong> Anreiz <strong>in</strong> von 1.536 Euro geboten, wenn<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftige durch aktivierende <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> ihrer <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit rückgestuft werden<br />

können.<br />

Ich persönlich glaube nicht, dass über diesen Anreiz – wenn er denn überhaupt e<strong>in</strong>er ist -<br />

das geschaffen <strong>wir</strong>d, was über Gesetze <strong>und</strong> – <strong>wie</strong> soll ich es nennen – über e<strong>in</strong>e normale<br />

Menschlichkeit – bisher nicht erreicht werden wollte o<strong>der</strong> konnte. Es hätte ja große<br />

f<strong>in</strong>anzielle E<strong>in</strong>bussen für die Träger zur Folge. Auch ist es <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Augen absurd <strong>und</strong><br />

zynisch, dass es e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle Belohnung geben soll für qualitativ gute Arbeit, die ja – ich<br />

kann das nicht oft genug betonen – schon def<strong>in</strong>iert ist, <strong>und</strong> von allen doch gewollt <strong>und</strong><br />

letztendlich auch abgeprüft <strong>wir</strong>d.<br />

Das ist, als wenn ich dem Autobauer 1.000 Euro extra bezahlen müsste, wenn me<strong>in</strong> neues<br />

Auto den normalen Anfor<strong>der</strong>ungen entspricht. Und ich an<strong>der</strong>erseits aber auch damit<br />

zufrieden b<strong>in</strong> <strong>und</strong> den vollen Preis zahle, wenn die Bremsen fehlen.<br />

Sicherlich wäre e<strong>in</strong>e Abschaffung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>stufen, e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es pauschalen<br />

<strong>Pflege</strong>geldes nach <strong>in</strong>dividuellem <strong>Pflege</strong>aufwand s<strong>in</strong>nvoller. Hier ist unter <strong>Pflege</strong>aufwand<br />

dann auch die Planung, Aktivierung, Rehabilitierung <strong>und</strong> die psychosoziale Betreuung für<br />

z. B. gewalttraumatisierte Frauen mit e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 8 von 11


Und auch <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>satz <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>versicherung „ambulant vor stationär“ kann nur<br />

gewährleistet werden, wenn ambulante <strong>Pflege</strong> auch dafür bezahlt <strong>wir</strong>d, dazu beizutragen,<br />

dass die <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit reduziert <strong>wir</strong>d, bzw. <strong>der</strong> Stand erhalten werden kann, damit<br />

ke<strong>in</strong>e Heime<strong>in</strong>weisung erfolgen muss. Sie müssten also mehr Geld als stationäre<br />

E<strong>in</strong>richtungen erhalten.<br />

Praxis e<strong>in</strong>iger ambulanter <strong>Pflege</strong>dienste ist es übrigens mittlerweile, dass sie sehr<br />

zeitaufwändige <strong>Pflege</strong>n kündigen, weil sie dafür nicht bezahlt werden <strong>und</strong> sie sich diese nicht<br />

leisten können. Das hat zur Folge, dass diese zeitaufwändigen <strong>Pflege</strong>n <strong>wie</strong><strong>der</strong>um nur von<br />

den Angehörigen geleistet werden können, o<strong>der</strong> die <strong>Pflege</strong>bedürftigen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

<strong>Pflege</strong>e<strong>in</strong>richtung gehen müssen.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>wir</strong>kliche Chance <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>reform sehe ich dar<strong>in</strong>, dass mehrere <strong>Pflege</strong>bedürftige<br />

<strong>Pflege</strong>- <strong>und</strong> Betreuungsleistungen so<strong>wie</strong> haus<strong>wir</strong>tschaftliche Versorgung geme<strong>in</strong>sam als<br />

Sachleistung <strong>in</strong> Anspruch nehmen können. Das birgt die Möglichkeit <strong>der</strong> Ausweitung von<br />

<strong>Pflege</strong>-WGs, <strong>in</strong> denen die <strong>Pflege</strong>bedürftigen sich ihre <strong>Pflege</strong> <strong>wir</strong>klich selbst aussuchen<br />

können. Hier wünsche ich mir, dass genauso viel Mühe <strong>und</strong> Energie <strong>wie</strong> auf den Ausbau von<br />

WGs für so genannte Demenzerkrankte, auf die Schaffung von WGs für traumatisierte<br />

Frauen, für NS-Verfolgte <strong>und</strong> viele weitere Gruppen verwendet <strong>wir</strong>d.<br />

Weiterh<strong>in</strong> heißt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>versicherung, dass die Sicherung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> e<strong>in</strong>e<br />

gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Und trotzdem <strong>wir</strong>d den pflegenden Angehörigen die<br />

wohl größte Opferbereitschaft abverlangt.<br />

Insgesamt beziehen ambulant 672.196 Frauen ab 65 Jahren, <strong>und</strong> 318.751 Männer<br />

Leistungen aus <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>versicherung. Sie werden zu 73 Prozent von Frauen, meist den<br />

Ehefrauen, den Töchtern <strong>und</strong> Sch<strong>wie</strong>gertöchtern gepflegt. Ich selbst leite <strong>in</strong> Köln e<strong>in</strong>e<br />

Gruppe für pflegende Angehörige – zu 90 Prozent Frauen. Sie alle versorgen zu Hause an<br />

Demenz erkrankte Ehemänner <strong>und</strong> Mütter.<br />

Es soll e<strong>in</strong>e Verbesserung für die pflegenden Angehörigen se<strong>in</strong>, dass das <strong>Pflege</strong>geld erhöht<br />

<strong>wir</strong>d. Wir er<strong>in</strong>nern <strong>uns</strong> an die Begründung zum §37, Absatz 1 „<strong>Pflege</strong>geld für selbst<br />

beschaffte <strong>Pflege</strong>hilfen“: Das <strong>Pflege</strong>geld bietet somit e<strong>in</strong>en Anreiz zur Erhaltung <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong>bereitschaft <strong>der</strong> Angehörigen, Fre<strong>und</strong>e o<strong>der</strong> Nachbarn.<br />

Zur Erhaltung <strong>der</strong> Opferbereitschaft wäre hier sicherlich ehrlicher formuliert, aber reichen<br />

dafür 10 Euro mehr ab dem Jahr 2008 <strong>in</strong> allen 3 <strong>Pflege</strong>stufen? Und was machen Frauen, die<br />

länger als e<strong>in</strong> halbes Jahr ihre Angehörigen pflegen, was ja durchaus üblich ist. Oft beträgt<br />

die <strong>Pflege</strong>zeit 5,6 o<strong>der</strong> mehr Jahre. Sie s<strong>in</strong>d dann ohne Arbeit <strong>und</strong> selbst Harz IV-<br />

Empfänger<strong>in</strong>nen.<br />

Auch die Betreuungsleistungen für Personen, die weil sie an e<strong>in</strong>er Demenz erkrankt s<strong>in</strong>d,<br />

e<strong>in</strong>e geistige Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen haben o<strong>der</strong> psychisch so erkrankt s<strong>in</strong>d, dass sie e<strong>in</strong>en<br />

Hilfebedarf im Bereich <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>pflege <strong>und</strong> haus<strong>wir</strong>tschaftlicher Versorgung brauchen,<br />

werden von bisher 460 auf nun 2.400 Euro im Jahr erhöht. Das ist sehr zu begrüßen <strong>und</strong><br />

stellt e<strong>in</strong>e Verbesserung dar. Dieser Hilfebedarf <strong>wir</strong>d allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>in</strong> Geldleistung<br />

ausbezahlt, son<strong>der</strong>n es werden freiwillige Helfer<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Helfer e<strong>in</strong>gesetzt, die die<br />

pflegenden Angehörigen st<strong>und</strong>enweise entlasten.<br />

Ich erachte es als s<strong>in</strong>nvoller, wenn die Leistung wahlweise auch ausgezahlt würde, so<br />

könnten davon Bekannte, Nachbarn, weitere Angehörige, also von <strong>ihnen</strong> selbst ausgesuchte<br />

Menschen e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle Anerkennung für e<strong>in</strong>e Entlastung bekommen.<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 9 von 11


Was die Angehörigen aber dr<strong>in</strong>gend neben e<strong>in</strong>er <strong>wir</strong>klichen f<strong>in</strong>anziellen Absicherung <strong>und</strong><br />

umfangreicher Beratung <strong>in</strong> pflegefachlichen <strong>und</strong> rechtlichen Belangen brauchen, ist e<strong>in</strong>e<br />

psycho-soziale Unterstützung <strong>und</strong> Beratung.<br />

Viele Frauen trauen sich oft nicht, die <strong>Pflege</strong> abzulehnen. Sie fühlen sich verpflichtet, <strong>und</strong><br />

manche von <strong>ihnen</strong> können sich die Heime<strong>in</strong>weisung des pflegebedürftigen Angehörigen gar<br />

nicht leisten. Aber stellen sie sich die Frau vor, die während ihrer gesamten Ehezeit von<br />

ihrem Mann geschlagen <strong>und</strong> vergewaltigt wurde, <strong>und</strong> ihn jetzt pflegen muss! Da braucht es<br />

sicherlich e<strong>in</strong>e spezielle Beratung <strong>und</strong> Unterstützung, damit Frauen die <strong>Pflege</strong> auch abgeben<br />

dürfen.<br />

In me<strong>in</strong>er letzten Angehörigen-Gruppe gab es viele Tränen. Fast alle Frauen s<strong>in</strong>d durch die<br />

<strong>Pflege</strong> völlig überfor<strong>der</strong>t, sie s<strong>in</strong>d zum Teil physisch <strong>und</strong> psychisch über ihren Grenzen, sie<br />

schlafen kaum mehr als drei St<strong>und</strong>en am Stück <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht, <strong>und</strong> fühlen sich daneben auch<br />

von all den Tätigkeiten, die sie sich vorher mit ihren Angehörigen teilten <strong>und</strong> jetzt alle<strong>in</strong><br />

ausführen müssen, überfor<strong>der</strong>t.<br />

Um die <strong>Pflege</strong> leisten zu können, bräuchten sie regelmäßige Auszeiten, regelmäßige freie<br />

Tage. Wenn jede pflegende Angehörige m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> <strong>der</strong> Woche 24 St<strong>und</strong>en Pause<br />

von <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> hätte, wäre <strong>ihnen</strong> sicherlich viel geholfen. Dann könnten sie sich regenerieren<br />

<strong>und</strong> sich e<strong>in</strong>mal komplett um sich selbst kümmern.<br />

Die letzte Gruppe <strong>der</strong> von <strong>Pflege</strong> betroffenen Frauen s<strong>in</strong>d die <strong>der</strong> professionell <strong>Pflege</strong>nden<br />

<strong>der</strong> ambulanten <strong>und</strong> stationären E<strong>in</strong>richtungen. Auch hier <strong>wir</strong>d oftmals e<strong>in</strong>e große<br />

Opferbereitschaft vorausgesetzt, obwohl sie noch diejenigen s<strong>in</strong>d, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nach acht<br />

St<strong>und</strong>en Arbeit am Tag Feierabend haben <strong>und</strong> für ihre Arbeit im Gegensatz zu privat<br />

<strong>Pflege</strong>nden so bezahlt werden, dass sie davon leben können.<br />

Viele <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>nden s<strong>in</strong>d zu psychisch <strong>und</strong> physisch über ihren Grenzen <strong>und</strong> desillusioniert,<br />

weil sie nicht die Zeit zur Verfügung bekommen, die sie für e<strong>in</strong>e würdevolle <strong>Pflege</strong> <strong>und</strong><br />

Betreuung bräuchten. Ich möchte aber beson<strong>der</strong>s betonen, dass sie nicht von dem Beruf <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong> so erschöpft s<strong>in</strong>d, son<strong>der</strong>n von den oft katastrophalen Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen <strong>und</strong><br />

Anfor<strong>der</strong>ungen an sie. Es heißt ja oft, dass es so e<strong>in</strong> schwerer Beruf sei, <strong>und</strong> häufig kommt<br />

<strong>der</strong> Satz: Ne<strong>in</strong>, das könnte ich nicht. Dabei ist es auch e<strong>in</strong> ganz wun<strong>der</strong>schöner Beruf, <strong>der</strong><br />

auch riesigen Spaß macht. Es kann aber nicht se<strong>in</strong>, dass z. B. e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Nachtschwester<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim für 60 <strong>und</strong> mehr <strong>Pflege</strong>bedürftige verantwortlich ist, <strong>wie</strong> es häufig üblich ist.<br />

O<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong> im Frühdienst auf <strong>der</strong> Station für bis zu 15 alte Frauen <strong>und</strong><br />

Männer. Ambulant <strong>Pflege</strong>nde müssen auf ihrer Tour zum Teil bis zu 30 Menschen anfahren<br />

<strong>und</strong> versorgen. (Übrigens müssen sie Strafzettel wegen Falschparkens selbst zahlen!)<br />

Mittlerweile gibt es <strong>in</strong> vielen E<strong>in</strong>richtungen <strong>wie</strong><strong>der</strong> Teildienste <strong>und</strong> 12 Tage Dienst<br />

h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d die Regel. All dies ist wenig sozial-, liebes-, fre<strong>und</strong>Innen <strong>und</strong><br />

familienverträglich.<br />

<strong>Pflege</strong>nde brauchen Supervision zur eigenen Entlastung <strong>und</strong> Supervisionen zur besseren<br />

Versorgung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>bedürftigen. Sie brauchen Ausbildungen, die sie befähigen, auf die<br />

speziellen <strong>und</strong> hier dargelegten Bedürfnisse von Frauen e<strong>in</strong>zugehen. Ich denke, dass Fort<strong>und</strong><br />

Weiterbildungen <strong>wie</strong> „Berater<strong>in</strong> für Psychotraumatologie“ <strong>und</strong> „Fachpflegende <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Arbeit mit traumatisierten alten Frauen <strong>und</strong> Männern“ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kranken- <strong>und</strong> Altenpflege<br />

angeboten <strong>und</strong> bezahlt werden sollte.<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 10 von 11


E<strong>in</strong>ige Schlussbemerkungen<br />

Es <strong>wir</strong>d viel Geld <strong>und</strong> Zeit <strong>in</strong>vestiert <strong>in</strong> <strong>Pflege</strong>stützpunkte, <strong>in</strong> Expertengespräche,<br />

-arbeitskreise <strong>und</strong> Standardentwicklung <strong>und</strong> -implementierung, <strong>in</strong> <strong>Pflege</strong>beraterInnen, <strong>in</strong> den<br />

Mediz<strong>in</strong>ischen Dienst, <strong>in</strong> die Veröffentlichung von Begutachtungen <strong>und</strong> Prüfungen usw.<br />

Dr<strong>in</strong>gend geboten ist, Geld dorth<strong>in</strong> zu geben, wo es so sehr fehlt. Dorth<strong>in</strong>, wo Frauen nicht<br />

nur nicht die Gr<strong>und</strong>bedürfnisse nach frischer Luft, nach erwachsenengerechter<br />

Beschäftigung <strong>und</strong> frauengerechter Versorgung, nach würdevollem Sterben usw. erfüllt<br />

werden, son<strong>der</strong>n sie sogar verhungern, verdursten, <strong>in</strong> Kontrakturen <strong>und</strong> Schmerzen<br />

verenden, im Kot <strong>und</strong> Ur<strong>in</strong> o<strong>der</strong> <strong>in</strong> 2,5 Liter fassenden W<strong>in</strong>delhosen liegen, weil das Personal<br />

fehlt.<br />

Denken Sie e<strong>in</strong>mal an Lea-Sophie, das kle<strong>in</strong>e Mädchen, das vor kurzem 5-jährig verhungert<br />

<strong>und</strong> verdurstet ist. Hier sollen die <strong>in</strong>sgesamt neun k<strong>in</strong><strong>der</strong>ärztlichen Untersuchungen<br />

verpflichtend werden, die <strong>in</strong> den ersten Lebensjahren bisher nur empfohlen s<strong>in</strong>d. Das ist<br />

völlig richtig <strong>und</strong> unterstützenswert. Dasselbe muss aber doch auch für Alte gelten, von<br />

denen so viele <strong>in</strong> „defizitären“ Zuständen leben. Das Skurrile ist ja, dass K<strong>in</strong><strong>der</strong> eher <strong>in</strong><br />

defizitären Zuständen leben, wenn ihre Eltern zuwenig Geld zur Verfügung haben, alte<br />

Menschen aber doch mitunter bis zu 3.000 Euro <strong>und</strong> mehr zahlen <strong>und</strong> dennoch defizitär<br />

versorgt s<strong>in</strong>d.<br />

<strong>Pflege</strong> muss so f<strong>in</strong>anziert werden, dass sich alle e<strong>in</strong>e <strong>Pflege</strong> leisten können, die den realen<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong>dividuell verschiedenen Bedürfnissen <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>bedürftigen, <strong>der</strong> pflegenden<br />

Angehörigen <strong>und</strong> <strong>der</strong> professionell <strong>Pflege</strong>nden entspricht.<br />

Dazu braucht es zusammenfassend:<br />

Mehr Geld für <strong>Pflege</strong> <strong>und</strong> <strong>wir</strong>klich berufliche <strong>und</strong> soziale Absicherung für <strong>Pflege</strong>nde<br />

Angehörige<br />

Abschaffung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>stufen<br />

Prüfung von <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit <strong>und</strong> die Durchführung von <strong>Pflege</strong>, Betreuung,<br />

Beratung <strong>und</strong> Entwicklung <strong>der</strong> entsprechende Maßnahmen unter kultur-, zeit- <strong>und</strong><br />

frauengeschichtlichen, geschlechtsspezifischen <strong>und</strong> traumaorientierten Aspekten<br />

Qualitätsstandards „Umgang mit Gewalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>“, „Häuslicher Gewalt“,<br />

„Umgang mit gewalttraumatisierten Frauen <strong>und</strong> Männer<br />

Die Themen Frauen- <strong>und</strong> Zeitgeschichte, Trauma <strong>und</strong> die Folgen, <strong>in</strong> den Aus-, Fort<strong>und</strong><br />

Weiterbildungen<br />

Und dass das Thema „Gewalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>“ als gesamtgesellschaftliches Problem<br />

von allen angegangen <strong>wir</strong>d.<br />

Gewalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> ist immer auch Gewalt gegen Frauen.<br />

Auf die Frage, wer das alles bezahlen soll, kann die Antwort nur lauten: WIR natürlich!<br />

© Mart<strong>in</strong>a Böhmer, Vortrag Friedrich-Ebert-Stiftung, Berl<strong>in</strong>, 7.12.2007 Seite 11 von 11

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