noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW
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eigenes Unverständnis und unsere Intoleranz.<br />
Schlimmer noch, es zeigt, wie sehr<br />
die Angst uns im Nacken sitzt, selbst nicht<br />
gesellschaftlichen Normen zu entsprechen.<br />
Zumal diese Normen mehr sprunghaft als<br />
stetig sind.<br />
Es gab Zeiten, da jagte man Rothaarige<br />
als Hexen auf den Scheiterhaufen und<br />
glaubte an die Erde als Scheibe. Hätte jemand<br />
vor hundert Jahren die Hälfte seines<br />
Lebens vor dem PC verbracht, wäre er<br />
angeeckt, heute liegt er<br />
damit im Durchschnitt.<br />
Läuft ein Mädchen im<br />
Dirndl durch Stuttgart,<br />
erntet es Misstrauen<br />
und Seitenblicke. Aber<br />
auf dem Oktoberfest<br />
fällt es in seiner Tracht<br />
gar nicht erst auf. Wir<br />
ziehen die gesellschaftlichen<br />
Grenzen nach<br />
Lust und Laune, erklären heute für normal,<br />
was schon morgen als seltsam gilt.<br />
Freaks sind also nicht zwangsläufig Freaks,<br />
sondern von einer Reihe an Umständen<br />
zu solchen erkoren.<br />
Die Freak-Titulierung dient als Schutzmaßnahme<br />
für die Scheuklappen um unsere<br />
Augen. Nur nicht sehen, wie groß das<br />
Aquarium des Lebens ist und wie vielfältig<br />
die Fische, die in ihm schwimmen. Was<br />
unsere Beispiel-Freaks unabhängig von<br />
Zeit und Raum verbindet, ist die Begeisterung<br />
am Leben. Sie haben etwas gefunden,<br />
für das sie ihr Herzblut opfern, während<br />
andere umherstreifen, bald dies, bald jenes<br />
probieren und doch nie ein echtes Zuhause<br />
für ihre Seele finden.<br />
Freaks sind die Regenwürmer, die harte<br />
Erde auflockern, fidele Äffchen unter Rep-<br />
Foto: privat<br />
tilien, die Umlaute im Alphabet. Sie gehen<br />
fernab vom Weg, weil sie Spuren hinterlassen<br />
wollen, eine Eigenkreation austüfteln.<br />
Egal, welcher Zeit die komischen Käuze<br />
entstammen, sie hatten ganz eigene Ideen,<br />
wie das Leben anzugehen ist.<br />
Der Freak hat einen Halt im Leben, den<br />
ihm keiner nehmen kann. Er hat eine Konstante,<br />
die ihn auf dem Boden hält und<br />
ihm gleichzeitig Flügel verleiht. „Wenn ich<br />
nicht trainiere, ist mein ganzer Alltag konfus.<br />
Es fehlt etwas,<br />
Angst, den gesellschaftlichenNormen<br />
selbst nicht<br />
zu entsprechen<br />
als hätte ich eine<br />
wichtige Aufgabe<br />
nicht erfüllt“, sagt<br />
Triathletin Tanja<br />
und wird bei dem<br />
bloßen Gedanken<br />
ganz unruhig.<br />
Schon Goethe<br />
hat erkannt: „Begeisterung<br />
ist keine<br />
Heringsware, die man einpökelt auf einige<br />
Jahre.“ Freaks haben das verinnerlicht<br />
und leben in einer bunten Welt. Sie haben<br />
sich etwas bewahrt, das man Leidenschaft<br />
nennt. Freaks laufen nicht auf Trampelpfaden,<br />
sie bahnen sich ihre eigenen Wege.<br />
Ein Leben frei Schnauze, frei Interesse,<br />
frei Talent. Wer sich dafür entscheidet,<br />
wird viel zurücklassen, aber noch viel<br />
mehr bekommen. Denn was wäre unsere<br />
Gesellschaft ohne die innovativen Geister,<br />
die in ihr stecken?<br />
Wer immer die gleichen Wege geht, wird<br />
auf nichts Neues stoßen. Otto Normal<br />
imitiert, der Freak kreiert. Und was lernen<br />
wir daraus? Um den Freak in uns zu entdecken,<br />
ist es nie zu spät, aber auch nie zu<br />
früh. Ein Hoch auf die Leidenschaft – und<br />
die Bizarrerie! Anika Pfisterer<br />
Mal wieder freakig sein!<br />
Ein Freak zu sein ist gar nicht so einfach,<br />
fi ndet Andreas Spengler<br />
Den freakigsten Kommentar<br />
aller Zeiten<br />
wollte ich schreiben.<br />
Einen Text wie ein Vollrausch.<br />
So richtig abgefahren!<br />
Von hyperventilierenden<br />
Hundehäufen,<br />
maskierten Monstermäusen<br />
und geblümten<br />
Gartengurus, von Uromas in osmanischen Koransuren,<br />
von Foxtrott-Kursen im Oxford-Kanal und<br />
schwitzenden Salzstängeln bei Saunagängen. Aber<br />
daraus wurde nichts. Schon bald kamen Selbstzweifel.<br />
Wie sollte ich – ich, in dessen Leben außer<br />
dem Bus zur Uni jeden Morgen überhaupt nichts<br />
abgefahren ist – jemals einen solchen Kommentar<br />
schreiben. Ich, der sich weder für Mittelaltermusik<br />
noch für eine flippige Jesusgemeinde interessiert<br />
und keinerlei Triathlon-Ambitionen hat.<br />
Mein Leben schien mir plötzlich so verdammt<br />
gewöhnlich.<br />
Dabei hatte doch alles so freakig begonnen, bei<br />
meiner Geburt vor 21 Jahren. Im Krankenhaus wurde<br />
ich nur „Schäfchen“ genannt, weil ich statt des<br />
normalen Kinderplärrens ein „mäh, mäh, mäh“<br />
von mir gab. Meine ersten Haare wuchsen als wilde<br />
Strubbel-Locken, und bald ging ich nicht mehr<br />
aus dem Haus, ohne diese mit dem Sonntagshut<br />
meines Großvaters zu bedecken.<br />
Die Sprüche unserer Nachbarn und der übrigen<br />
Dorfbewohner waren mir egal. Die Konventionen<br />
der Erwachsenen gingen mir an der Windel vorbei.<br />
Doch irgendwann kam ich ohne Windeln aus und<br />
mir wurde gesagt, was erlaubt ist in der Gesellschaft,<br />
und was nicht. Als ich in den Kindergarten<br />
kam, stellte ich fest, dass mir Eimer und Schäufelchen<br />
nicht alleine gehören, und in der Grundschule<br />
wurde mir dann erklärt, wie man sich in einer<br />
Klassengemeinschaft anpasst.<br />
Damals wurde sie wohl begraben, meine Freak-<br />
Karriere. Eigentlich trauere ich weder meinen Windeln<br />
noch dem Hut meines Großvaters nach. Aber<br />
etwas Reizvolles hatte es doch, dieses Freaksein:<br />
die Freiheit und die kindliche Unbeschwertheit.<br />
Heute bewundere ich manchmal die Freaks, die<br />
lässig mit allen Konventionen jonglieren, die lachend<br />
aus jeder Reihe tanzen und sich genüsslich<br />
im Meer der Provokation baden, wo andere<br />
nicht einmal einen Fuß ins Wasser setzen. Doch<br />
eigentlich weiß ich: Ein bisschen Freak steckt in<br />
jedem von uns. Spätestens dann, wenn wir uns<br />
wünschen, einfach mal wieder Kind zu sein.<br />
Noir <strong>Nr</strong>. 9 (Februar 2009) 7