noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW
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Auch Tanja hat etwas gefunden, was sie<br />
zu einem besseren Menschen macht: den<br />
Sport. Sie wirkt nicht ohne Grund<br />
durchtrainiert. Als Triathletin ist<br />
sie gleich dreimal sportlich:<br />
im Wasser, auf dem Sattel<br />
und in ihren<br />
Laufschuhen. <br />
Das--klingt<br />
nach<br />
dreifacher Qual,<br />
aber die 19-Jährige findet<br />
darin ihre Erfüllung.<br />
„Wenn ich im Trainingslager<br />
in Südfrankreich einen Pass mit zwölf<br />
Kilometern Anstieg hochfahre, empfinde<br />
ich ab dem zweiten Kilometer nur noch<br />
Schmerz, aber irgendwann setzt dann die<br />
Euphorie ein. Es ist wie ein Bergrausch,<br />
ich will immer schneller werden. Alles,<br />
was ich denke, ist: ‚Wie weit noch, wie lange<br />
noch?’“<br />
Und wo liegt da der Reiz? „Es ist das<br />
Gefühl, an seine körperlichen Grenzen zu<br />
stoßen, abends nach einem harten Tag im<br />
Trainingslager auf dem Rücken zu liegen,<br />
an die Decke zu starren und vor Erschöpfung<br />
nichts mehr denken zu können. Das<br />
mag sich verrückt anhören, aber es ist eine<br />
Art des Glücksgefühls.“<br />
Für das häufige Training muss sie viel<br />
in Kauf nehmen: ständig unterwegs sein,<br />
das Trainingszeug immer im Schlepptau,<br />
abends nicht so lang feiern, während der<br />
Wettkampfsaison keinen Alkohol trinken.<br />
Einige ihrer Freunde werden das nie ganz<br />
verstehen. „Manche Hobby-Fußballer in<br />
meinem Freundeskreis verstehen nicht,<br />
dass ich das Training nicht einfach ausfallen<br />
lasse. Aber ich mache keine halben<br />
Sachen.“<br />
Die Freaks von heute treten kein leichtes<br />
Erbe an, denn Sonderlinge gab es schon<br />
6<br />
Noir <strong>Nr</strong>. 9 (Februar 2009)<br />
lange vor unserer Zeit, und nicht selten tragen<br />
sie große Namen. Till Eulenspiegel soll<br />
einen Wirt mit einem tiefgefrorenen Wolf<br />
erschrocken haben und Katzen in Hasenfelle<br />
eingenäht haben. Der berühmte<br />
Schriftsteller Honoré de Balzac legte sich<br />
jeden Nachmittag schlafen und begann<br />
um Mitternacht mit seiner Arbeit. Albert<br />
Einstein fand Gefallen daran, ein Jahr<br />
lang winters und sommers ohne Schuhe<br />
durch die Gegend zu laufen. Michael Jackson<br />
kam nicht nur durch seine Musik zu<br />
Ruhm, unzählige Operationen brachten<br />
ihm ein ganz eigenes Aus-<br />
und Ansehen, und das<br />
Seelenleben Kafkas<br />
bleibt bis heute<br />
unergründlich. <br />
Aber--auch<br />
die Literatur<br />
hat schillernde<br />
Charaktere geboren.<br />
Man denke nur an Pippi<br />
Langstrumpf, die das Anderssein<br />
mit Leib und Seele zelebriert.<br />
Freaks gibt es seit Menschengedenken.<br />
Jedoch bezog sich das Freaksein nicht immer<br />
auf ein abgedrehtes Hobby oder einen<br />
auffallenden Lebensstil. Im 19. Jahrhundert<br />
reisten so genannte Freakshows durch<br />
Amerika und Europa. Sie waren eine Art<br />
Wanderzoo, dessen Schausteller aber nicht<br />
aus dem Tierreich stammten. An die Stelle<br />
von Bären und Löwen traten Menschen<br />
mit körperlichen Eigenheiten wie siamesische<br />
Zwillinge, Elefanten-Menschen und<br />
Kleinwüchsige.<br />
Um das Publikum anzuheizen, erfand<br />
man gesponnene Lebensgeschichten, die<br />
die Missbildungen und Besonderheiten<br />
erklären sollten. Schnell wurde der Begriff<br />
„Freak of Nature“ geprägt – Laune der Natur.<br />
Die Ausstellungen waren grotesk und<br />
menschenverachtend, aber sie zeigen die<br />
Faszination, die alles Andersartige auf seine<br />
Umgebung ausübt.<br />
Heute drückt das Wort „Freak“ gewaltig<br />
auf die Klischeetaste und bringt eine bunte<br />
Mischung hervor aus Brillengestellen,<br />
dunklen Kellerzimmern, Bierdeckelsammelsurium,<br />
Mehlwurmzüchter, Fitness-<br />
Fetischisten und Garagentüftler. Sie steigen<br />
in Busse, Straßenbahnen, gehen in<br />
Eckkneipen, auf Lan-Partys oder verlassen<br />
ihre eigenen vier Wände erst gar nicht.<br />
Voller Freaks sind all die unscheinbaren<br />
Häuser in unserer Nachbarschaft: Apple-<br />
Freaks, Solarium-Freaks, Autobastel-<br />
Freaks, Physik-Freaks, Nostalgie-Freaks,<br />
Gothic-Freaks. Oder, wer die amerikanische<br />
Variante bevorzugt: Freaks sind<br />
picklige Highschool-Schüler, die beim<br />
Spint-Aufschließen Drohbriefe finden und<br />
ganzjährig an Chemieversuchen tüfteln.<br />
Aber halt. Stehen Freaks wirklich im<br />
Abseits der Gesellschaft? Ernten sie<br />
Stichelei und Argwohn? Fest<br />
steht: Der Begriff „Freak“<br />
hat einen süß-sauren<br />
Beigeschmack,<br />
wenn er<br />
nicht---schon<br />
komplett<br />
in der Strafzone<br />
steht. Mit dem Freaksein<br />
verhält es sich nämlich wie mit<br />
dem Streiten: Es gehören immer<br />
zwei dazu. Einer, der sich einer Eigenart<br />
verschreibt, und ein anderer, der das als<br />
sonderbar empfindet. Aktion, Reaktion.<br />
Wenn wir allzu stark reagieren, offenbaren<br />
wir damit mehr über uns und unser<br />
Denken, als uns lieb sein kann. Denn<br />
wie leicht ist es, alles Undefinierbare mit<br />
einem abwertenden kleinen Wort zu betiteln:<br />
„Freak“. Das hilft uns, das Leben in<br />
seine schwarzen und weißen Schubladen<br />
zurechtzuweisen. Dahinter stecken unser