24.10.2012 Aufrufe

noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW

noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW

noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Lifestyle ~ Kultur ~ Titelthema ~ Porträt ~ Reportage ~ Wissen ~ Reise ~ Sport ~ Noir-Intern ~ Politik ~ Querbeet<br />

Auch Tanja hat etwas gefunden, was sie<br />

zu einem besseren Menschen macht: den<br />

Sport. Sie wirkt nicht ohne Grund<br />

durchtrainiert. Als Triathletin ist<br />

sie gleich dreimal sportlich:<br />

im Wasser, auf dem Sattel<br />

und in ihren<br />

Laufschuhen. <br />

Das--klingt<br />

nach<br />

dreifacher Qual,<br />

aber die 19-Jährige findet<br />

darin ihre Erfüllung.<br />

„Wenn ich im Trainingslager<br />

in Südfrankreich einen Pass mit zwölf<br />

Kilometern Anstieg hochfahre, empfinde<br />

ich ab dem zweiten Kilometer nur noch<br />

Schmerz, aber irgendwann setzt dann die<br />

Euphorie ein. Es ist wie ein Bergrausch,<br />

ich will immer schneller werden. Alles,<br />

was ich denke, ist: ‚Wie weit noch, wie lange<br />

noch?’“<br />

Und wo liegt da der Reiz? „Es ist das<br />

Gefühl, an seine körperlichen Grenzen zu<br />

stoßen, abends nach einem harten Tag im<br />

Trainingslager auf dem Rücken zu liegen,<br />

an die Decke zu starren und vor Erschöpfung<br />

nichts mehr denken zu können. Das<br />

mag sich verrückt anhören, aber es ist eine<br />

Art des Glücksgefühls.“<br />

Für das häufige Training muss sie viel<br />

in Kauf nehmen: ständig unterwegs sein,<br />

das Trainingszeug immer im Schlepptau,<br />

abends nicht so lang feiern, während der<br />

Wettkampfsaison keinen Alkohol trinken.<br />

Einige ihrer Freunde werden das nie ganz<br />

verstehen. „Manche Hobby-Fußballer in<br />

meinem Freundeskreis verstehen nicht,<br />

dass ich das Training nicht einfach ausfallen<br />

lasse. Aber ich mache keine halben<br />

Sachen.“<br />

Die Freaks von heute treten kein leichtes<br />

Erbe an, denn Sonderlinge gab es schon<br />

6<br />

Noir <strong>Nr</strong>. 9 (Februar 2009)<br />

lange vor unserer Zeit, und nicht selten tragen<br />

sie große Namen. Till Eulenspiegel soll<br />

einen Wirt mit einem tiefgefrorenen Wolf<br />

erschrocken haben und Katzen in Hasenfelle<br />

eingenäht haben. Der berühmte<br />

Schriftsteller Honoré de Balzac legte sich<br />

jeden Nachmittag schlafen und begann<br />

um Mitternacht mit seiner Arbeit. Albert<br />

Einstein fand Gefallen daran, ein Jahr<br />

lang winters und sommers ohne Schuhe<br />

durch die Gegend zu laufen. Michael Jackson<br />

kam nicht nur durch seine Musik zu<br />

Ruhm, unzählige Operationen brachten<br />

ihm ein ganz eigenes Aus-<br />

und Ansehen, und das<br />

Seelenleben Kafkas<br />

bleibt bis heute<br />

unergründlich. <br />

Aber--auch<br />

die Literatur<br />

hat schillernde<br />

Charaktere geboren.<br />

Man denke nur an Pippi<br />

Langstrumpf, die das Anderssein<br />

mit Leib und Seele zelebriert.<br />

Freaks gibt es seit Menschengedenken.<br />

Jedoch bezog sich das Freaksein nicht immer<br />

auf ein abgedrehtes Hobby oder einen<br />

auffallenden Lebensstil. Im 19. Jahrhundert<br />

reisten so genannte Freakshows durch<br />

Amerika und Europa. Sie waren eine Art<br />

Wanderzoo, dessen Schausteller aber nicht<br />

aus dem Tierreich stammten. An die Stelle<br />

von Bären und Löwen traten Menschen<br />

mit körperlichen Eigenheiten wie siamesische<br />

Zwillinge, Elefanten-Menschen und<br />

Kleinwüchsige.<br />

Um das Publikum anzuheizen, erfand<br />

man gesponnene Lebensgeschichten, die<br />

die Missbildungen und Besonderheiten<br />

erklären sollten. Schnell wurde der Begriff<br />

„Freak of Nature“ geprägt – Laune der Natur.<br />

Die Ausstellungen waren grotesk und<br />

menschenverachtend, aber sie zeigen die<br />

Faszination, die alles Andersartige auf seine<br />

Umgebung ausübt.<br />

Heute drückt das Wort „Freak“ gewaltig<br />

auf die Klischeetaste und bringt eine bunte<br />

Mischung hervor aus Brillengestellen,<br />

dunklen Kellerzimmern, Bierdeckelsammelsurium,<br />

Mehlwurmzüchter, Fitness-<br />

Fetischisten und Garagentüftler. Sie steigen<br />

in Busse, Straßenbahnen, gehen in<br />

Eckkneipen, auf Lan-Partys oder verlassen<br />

ihre eigenen vier Wände erst gar nicht.<br />

Voller Freaks sind all die unscheinbaren<br />

Häuser in unserer Nachbarschaft: Apple-<br />

Freaks, Solarium-Freaks, Autobastel-<br />

Freaks, Physik-Freaks, Nostalgie-Freaks,<br />

Gothic-Freaks. Oder, wer die amerikanische<br />

Variante bevorzugt: Freaks sind<br />

picklige Highschool-Schüler, die beim<br />

Spint-Aufschließen Drohbriefe finden und<br />

ganzjährig an Chemieversuchen tüfteln.<br />

Aber halt. Stehen Freaks wirklich im<br />

Abseits der Gesellschaft? Ernten sie<br />

Stichelei und Argwohn? Fest<br />

steht: Der Begriff „Freak“<br />

hat einen süß-sauren<br />

Beigeschmack,<br />

wenn er<br />

nicht---schon<br />

komplett<br />

in der Strafzone<br />

steht. Mit dem Freaksein<br />

verhält es sich nämlich wie mit<br />

dem Streiten: Es gehören immer<br />

zwei dazu. Einer, der sich einer Eigenart<br />

verschreibt, und ein anderer, der das als<br />

sonderbar empfindet. Aktion, Reaktion.<br />

Wenn wir allzu stark reagieren, offenbaren<br />

wir damit mehr über uns und unser<br />

Denken, als uns lieb sein kann. Denn<br />

wie leicht ist es, alles Undefinierbare mit<br />

einem abwertenden kleinen Wort zu betiteln:<br />

„Freak“. Das hilft uns, das Leben in<br />

seine schwarzen und weißen Schubladen<br />

zurechtzuweisen. Dahinter stecken unser

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!