noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW
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FRÖNT DEN FREAKS<br />
Als Bastian Boger klein war, muss er sich gedacht haben: „Sei kein Frosch, sei ein Freak!“. Was auch immer<br />
seine Gedanken waren, in ein Muster passt er nicht. Dafür denkt er zu quer und lacht zu schräg<br />
Ein erstes Anzeichen mag seine frühe<br />
Vorliebe gewesen sein, Babyweinbergschnecken<br />
aufzuziehen. Heute<br />
ist Basti 20 Jahre alt und das,<br />
was man als alternativ bezeichnen<br />
könnte. Seine<br />
Dreads sind zusammengebunden,<br />
und<br />
in den Taschen<br />
seines Parkas hat<br />
er das Nötigste<br />
immer bei sich.<br />
„Freaks interessieren<br />
sich<br />
für Dinge,<br />
für die sich<br />
andere nicht<br />
interessieren“,<br />
startet<br />
Basti einen<br />
Definitionsversuch,<br />
der<br />
auch ihn und<br />
seine Bandkollegen<br />
zu Freaks<br />
erklärt. Ihre<br />
ungewöhnliche<br />
Leidenschaft ist die<br />
Mittelaltermusik. Es<br />
ist Mittwochabend, und<br />
„Cantus Levitas“ hat gerade<br />
aufgehört zu proben. Eine gute<br />
Gelegenheit, um mit ihnen über ihre<br />
Musik und das Anderssein zu reden.<br />
Im Proberaum springt mir ein merkwürdiges<br />
Stück Bühnendeko ins Auge: zwei<br />
zusammengeklebte Holzstäbe mit einem<br />
Stierkopf in der Mitte und einem Trinkhorn.<br />
Kilian, 20 und Dudelsackpfeifer,<br />
springt hinter den Stierkopf, legt den Kopf<br />
schief wie ein Hund, hüpft auf und ab und<br />
klappert dabei mit den Zähnen.<br />
Doch warum machen „Cantus Levitas“<br />
Mittelaltermusik und nicht wie<br />
andere Jungs Rockmusik oder bösen<br />
Sprechgesang? „Als ich klein war, habe ich<br />
am liebsten mit Ritterlego gespielt“, meint<br />
Dudelsackpfeifer Kilian. So einfach ist<br />
das. Basti taucht mit einem Holzstück auf,<br />
das einer kleinwüchsigen Geige ähnelt.<br />
„Das ist eine Rebec, ein mittelalterliches<br />
Instrument aus einem einzigen Holzstück“,<br />
erklärt er. Man darf nicht kleben<br />
oder schrauben, nur schnitzen. Und das<br />
tut Basti seit letztem Monat, als er zum<br />
ersten Mal auf einen Entwurf der mittelalterlichen<br />
Geige gestoßen ist. In der<br />
Band spielt er „Landsknechtbass“,<br />
wie er seine Trommel liebevoll<br />
nennt.<br />
Was fasziniert die<br />
Musiker denn so am<br />
Mittelalter? „Da war<br />
das Leben noch<br />
unkompliziert.<br />
Man konnte<br />
ohne Auflagen<br />
in den Fußgängerzonen<br />
spielen“, meinen<br />
sie.<br />
Aber auch<br />
heute ist<br />
Straßenmusik<br />
nicht<br />
unmöglich.<br />
Und so<br />
kann es passieren,<br />
dass<br />
einem nichtsahnendenPassanten<br />
mitten in<br />
der Stadt Klänge<br />
von "Cantus Levitas"<br />
entgegenschallen.<br />
Wer dann seinen Ohren<br />
folgt, wird Zeuge eines Spektakels.<br />
Sven, 20, pumpt unter großer<br />
Anstrengung und mit gerunzelter<br />
Stirn Luft in seinen Dudelsack, bis bald<br />
die ganze Band einstimmt. Ihre Musik ist<br />
alles andere als schüchtern und in erster<br />
Linie laut. Mönchskutte, Jonglieren und<br />
Feuerspucken sind Teil ihres Alleskönner-<br />
Programms. In ihren selbstgemachten<br />
Kostümen scheinen sie wie verwandelt.<br />
„Als Freak sehe ich es als meine Aufgabe,<br />
zu unterhalten“, meint Kilian. Das gelingt<br />
ihnen. Die Auftritte der Band bugsieren<br />
das Publikum in eine längst vergangen<br />
4 Noir <strong>Nr</strong>. 9 (Februar 2009) Illustration: Simon Staib