noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW
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BALIK EKMEK ODER BUTTERBROT?<br />
Die Türkei ist mehr als nur ein beliebtes Ferienziel. Auf einer Recherchefahrt der <strong>Jugendpresse</strong> konnte Ann-<br />
Katrin Siekemeier hinter die Fassade der alltäglichen Berichterstattungen schauen und entdeckte ein vielfältiges,<br />
aber auch zwiespältiges Land im Spagat zwischen Tradition und Moderne. Da bietet sich ein Vergleich<br />
mit Deutschland an<br />
Disziplin, Sauberkeit, blonde Mädchen<br />
und Bier zum Frühstück – fragt man<br />
junge Türken in Istanbul nach „den Deutschen“,<br />
bleibt ein Griff in die Klischeekiste<br />
nicht aus.<br />
Max Mustermann ist ehrlich, ordentlich<br />
und pflichtbewusst. Jeden morgen geht er<br />
pünktlich zur Arbeit, abends hilft er beim<br />
Abwasch. Als besonders humorvoll gilt<br />
Max nicht, aber nach Feierabend gibt er<br />
beim wöchentlichen Stammtisch schon<br />
mal eine Runde aus. Überhaupt: Bier und<br />
Fußball sind seine großen Leidenschaften.<br />
Dass Max außerdem gerne Weißwürste<br />
isst, sieht man seinem Bauch an. Max Mustermann<br />
– der Prototyp eines Deutschen?<br />
Was kann typisch sein für ein Land, in<br />
dem mehr als 80 Millionen Menschen leben?<br />
Und was denkt man in Istanbul über<br />
„die Deutschen“?<br />
Sybille Çizenel weiß, wovon sie spricht.<br />
Seit gut 25 Jahren lebt sie nun in der<br />
Türkei, war mit einem Türken verheiratet<br />
und lehrt an der Bosporus Universität<br />
Englisch und Deutsch. „In den achtziger<br />
Jahren wurde händeringend nach deutschen<br />
Muttersprachlern gesucht“, erzählt<br />
sie. Nach ihrem Studium in Tübingen ist<br />
die heutige Lehrbeauftragte deshalb in die<br />
Türkei gereist.<br />
Mit Vorurteilen wird sie immer wieder<br />
konfrontiert: „In Deutschland trinkt man<br />
Bier zum Frühstück“ oder „Deutsche sind<br />
aufrichtig, da weiß man, woran man ist“<br />
– Sätze, die Sybille Çizenel oft zu hören<br />
bekommt. Die meisten Türken verbänden<br />
12<br />
Noir <strong>Nr</strong>. 9 (Februar 2009)<br />
das Land der Dichter und Denker außerdem<br />
mit technischem Fortschritt und<br />
modernen Erfindungen. Die Reaktionen<br />
auf ihre Herkunft seien bisher durchweg<br />
positiv gewesen. „Rassismus habe ich nie<br />
erlebt“, bekräftigt sie.<br />
Wo liegen die Unterschiede?<br />
Aber was genau unterscheidet Deutsche<br />
von Türken? Sybille Çizenel fährt sich<br />
durch das Haar und schaut nachdenklich<br />
durch die Gläser ihrer roten Brille. „In<br />
Deutschland packen wir die Leute viel<br />
schneller in Schubladen. Das ist bei den<br />
meisten Türken anders.“ Außerdem gelten<br />
in der Türkei andere Begriffsdefinitionen.<br />
„Wer sich von dem Grundsatz ‚versprochen<br />
ist versprochen und wird auch nicht gebrochen’<br />
leiten lässt, wird in der Türkei früher<br />
oder später eines Besseren belehrt.“<br />
Sybille Çizenel erzählt: „Wenn dir ein<br />
Türke etwas verspricht, dann drückt er damit<br />
nur aus, dass er ehrlich und aufrichtig<br />
bemüht ist, dir zu helfen.“ Ob diese Hilfsbereitschaft<br />
auch zum gewünschten Resultat<br />
führt, sei zweitrangig. Hier zähle nicht<br />
das Ergebnis, sondern die Art und Weise,<br />
meint die Schwäbin, die sich inzwischen<br />
als Teil der türkischen Gesellschaft sieht.<br />
Ein älterer Mann ruft etwas von der<br />
gegenüberliegenden Straßenseite, Sybille<br />
Çizenel dreht sich um und grüßt. Sie hat<br />
viele Freunde in der Türkei und weiß die<br />
türkische Gastfreundschaft sehr zu schätzen.<br />
Könnte sie sich trotzdem vorstellen,<br />
nach Deutschland zurückzukehren? „Später<br />
vielleicht, aber nach so vielen Jahren<br />
fühle ich mich schon fast als Türkin.“<br />
Über einen Besuch in der Heimat freut sie<br />
sich trotzdem jedes Mal. „Manche Dinge“,<br />
sagt sie, „vermisst man eben doch.“<br />
Gemüsehändler statt Supermarkt<br />
Im Istanbuler Stadtteil Beyolu kann man<br />
auf einer der bekanntesten Einkaufsstraßen,<br />
der Istiklal Caddesi, schlendern, ehrwürdige<br />
Moscheen besichtigen und auf<br />
dem Ägyptischen Bazar traditionelle Spezialitäten<br />
probieren. Oder aber man schaut<br />
nahe der Galata-Brücke den Fischern beim<br />
Angeln zu. So auch Ali Aba. Der 22-jährige<br />
Student lebt und studiert im letzten<br />
Semester <strong>BW</strong>L an der Bosporus Universität,<br />
einer der schönsten Hochschulen des<br />
Landes.<br />
Fragt man ihn nach seinem Bild von den<br />
Deutschen, so seien diese vor allem eines:<br />
sehr diszipliniert. „Bei euch ist alles geregelt,<br />
nichts wird dem Zufall überlassen“,<br />
meint Ali und beißt genüsslich in sein<br />
balik ekmek, ein Fladenbrot mit frisch<br />
gegrilltem Fisch. In der Türkei, erzählt<br />
er, mache man nicht so viele Pläne: „Die<br />
meisten Menschen hier leben von einem<br />
Tag in den anderen. Keiner spricht davon,<br />
was er in fünf Jahren vorhat.“ Diesen Unterschied<br />
sehe man sogar beim Einkaufen:<br />
Statt Shoppen im großen Supermarkt, gehen<br />
türkische Familien lieber mehrmals<br />
pro Woche zum Gemüsehändler um die<br />
Ecke.