noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW
noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW
noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Lifestyle ~ Kultur ~ Titelthema ~ Porträt ~ Reportage ~ Wissen ~ Reise ~ Sport ~ Noir-Intern ~ Politik ~ Querbeet<br />
NUR DIE BIBEL ZÄHLT<br />
Religiöse Vielfalt kann nur dann eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sein, wenn<br />
wir miteinander darüber sprechen. Einige Gedanken zum Thema von Maren Ochs<br />
Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig<br />
und beladen seid; ich will euch erquicken.“<br />
Dieser Vers aus dem Matthäus-Evangelium<br />
prangt in himmelblauen Buchstaben auf dem<br />
Gebäude der Evangeliums-Christen in einem<br />
Hohenloher Wohngebiet. Einladend klingen<br />
diese Worte, freundlich und warmherzig. Entstanden<br />
ist dort jedoch eine Parallelgesellschaft,<br />
deren strenggläubige Mitglieder meist Spätaussiedler<br />
sind. Viele von ihnen zeigen kaum Willen<br />
zur Integration und kapseln sich vom gesellschaftlichen<br />
Leben ab.<br />
Besonders die staatlichen Schulen, auf deren<br />
Lehrplan Sexualkunde und die Evolutionstheorie<br />
stehen, widersprechen den radikalen<br />
Überzeugungen der Evangeliums-Christen von<br />
gottesfürchtiger Kindererziehung. Schon lange<br />
kämpfen sie deshalb um die Genehmigung<br />
ihrer umstrittenen Bekenntnisschulen. Und<br />
während ihre Schule in Künzelsau schon kurz<br />
vor der Schließung steht, feiern sie nur wenige<br />
Kilometer entfernt ihren ersten großen Erfolg:<br />
Im Fall einer Öhringer Privatschule konnten<br />
sie die Bedingungen des Regierungspräsidiums<br />
erfüllen. Der örtliche Schulamtsleiter bestätigt,<br />
ausgebildete Lehrer seien eingestellt und ein am<br />
Bildungsplan ausgerichtetes Konzept erarbeitet<br />
worden. So besuchen die Töchter und Söhne<br />
der dortigen Evangeliums-Christen ihren eigenen<br />
Unterricht seit wenigen Wochen ganz rechtmäßig.<br />
Skepsis und Zweifel bleiben trotzdem: Die Philosophie<br />
der freikirchlichen Splittergruppe ist<br />
noch immer die gleiche, ist noch immer jene,<br />
gegen die man sich jahrelang beharrlich wehrte.<br />
Entscheiden also nur die Erfüllung einiger Vorschriften,<br />
nur etwas Papierkram über Sinn und<br />
Unsinn einer Genehmigung? Das Presseecho<br />
war groß. Im Ringen mit bibeltreuen Schulverweigerern<br />
wurde durch diese Entscheidung ein<br />
neuer Maßstab angelegt.<br />
Nach Schätzungen sollen deutschlandweit<br />
immerhin mehrere hundert Kinder in nicht<br />
genehmigten Privatschulen oder direkt von ihren<br />
Eltern unterrichtet werden – oft aus religiösen<br />
Gründen. Doch Gerichtsurteile des Bundesverfassungsgerichts<br />
und des Europäischen<br />
Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigten<br />
nochmals ausdrücklich die gesetzliche Schulpflicht.<br />
Die Begründung: In der Schule werden<br />
Kinder zu toleranten Bürgern erzogen, indem<br />
sie auf Gleichaltrige anderen kulturellen Hintergrunds<br />
treffen. Die Schulpflicht ist darum nicht<br />
nur Pflicht, sondern auch Recht. Ein Recht auf<br />
die Mannigfaltigkeit, für die unsere Demokratie<br />
steht. Ob die Evangeliums-Christen dieses Recht<br />
tatsächlich gewährleisten wollen?<br />
Jedenfalls spricht eine evangelische Dekanin<br />
von „Gräben“ zwischen den Religionsgemeinschaften.<br />
„Wir haben überhaupt keinen Kontakt<br />
zu ihnen, der einzige Versuch vor vier Jahren<br />
scheiterte“, erzählt sie bedrückt. „Uns wurde<br />
deutlich gemacht, dass dies nicht gewünscht ist.“<br />
Integration und Toleranz sehen anders aus.<br />
Das ist besonders schade für die Kinder, denen<br />
die religiöse Überzeugung ihrer Eltern geradezu<br />
aufgezwungen wird. Muss denn wahre Gläubigkeit<br />
nicht auf einer bewussten und vor allem<br />
zwanglosen Entscheidung beruhen? Muss in einer<br />
aufgeklärten Gesellschaft nicht jede Wahrheit<br />
überprüft werden dürfen?<br />
Die bewusste Abschottung Weniger kann und<br />
darf nicht durch die Generationen weitergereicht<br />
werden. Für den Kreationismus ist an staatlichen<br />
Schulen, die sich der Rationalität und der<br />
Wissenschaft verpflichtet fühlen, tatsächlich<br />
kein Platz.<br />
Die verschiedenen Jugendlichen dieser Welt,<br />
ihre Gedanken und Gefühle, sind trotzdem<br />
stets willkommen. Denn nur wenn Dialog stattfindet,<br />
kann es auch eine Gemeinschaft geben,<br />
in der die unterschiedlichen Gruppen mit ihren<br />
unterschiedlichen Lebensstilen einander friedlich<br />
und vorurteilsfrei begegnen.<br />
Noir <strong>Nr</strong>. 9 (Februar 2009) 9