24.10.2012 Aufrufe

noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW

noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW

noir | Nr. 9 - Jugendpresse BW

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Lifestyle ~ Kultur ~ Titelthema ~ Porträt ~ Reportage ~ Wissen ~ Reise ~ Sport ~ Noir-Intern ~ Politik ~ Querbeet<br />

NUR DIE BIBEL ZÄHLT<br />

Religiöse Vielfalt kann nur dann eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sein, wenn<br />

wir miteinander darüber sprechen. Einige Gedanken zum Thema von Maren Ochs<br />

Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig<br />

und beladen seid; ich will euch erquicken.“<br />

Dieser Vers aus dem Matthäus-Evangelium<br />

prangt in himmelblauen Buchstaben auf dem<br />

Gebäude der Evangeliums-Christen in einem<br />

Hohenloher Wohngebiet. Einladend klingen<br />

diese Worte, freundlich und warmherzig. Entstanden<br />

ist dort jedoch eine Parallelgesellschaft,<br />

deren strenggläubige Mitglieder meist Spätaussiedler<br />

sind. Viele von ihnen zeigen kaum Willen<br />

zur Integration und kapseln sich vom gesellschaftlichen<br />

Leben ab.<br />

Besonders die staatlichen Schulen, auf deren<br />

Lehrplan Sexualkunde und die Evolutionstheorie<br />

stehen, widersprechen den radikalen<br />

Überzeugungen der Evangeliums-Christen von<br />

gottesfürchtiger Kindererziehung. Schon lange<br />

kämpfen sie deshalb um die Genehmigung<br />

ihrer umstrittenen Bekenntnisschulen. Und<br />

während ihre Schule in Künzelsau schon kurz<br />

vor der Schließung steht, feiern sie nur wenige<br />

Kilometer entfernt ihren ersten großen Erfolg:<br />

Im Fall einer Öhringer Privatschule konnten<br />

sie die Bedingungen des Regierungspräsidiums<br />

erfüllen. Der örtliche Schulamtsleiter bestätigt,<br />

ausgebildete Lehrer seien eingestellt und ein am<br />

Bildungsplan ausgerichtetes Konzept erarbeitet<br />

worden. So besuchen die Töchter und Söhne<br />

der dortigen Evangeliums-Christen ihren eigenen<br />

Unterricht seit wenigen Wochen ganz rechtmäßig.<br />

Skepsis und Zweifel bleiben trotzdem: Die Philosophie<br />

der freikirchlichen Splittergruppe ist<br />

noch immer die gleiche, ist noch immer jene,<br />

gegen die man sich jahrelang beharrlich wehrte.<br />

Entscheiden also nur die Erfüllung einiger Vorschriften,<br />

nur etwas Papierkram über Sinn und<br />

Unsinn einer Genehmigung? Das Presseecho<br />

war groß. Im Ringen mit bibeltreuen Schulverweigerern<br />

wurde durch diese Entscheidung ein<br />

neuer Maßstab angelegt.<br />

Nach Schätzungen sollen deutschlandweit<br />

immerhin mehrere hundert Kinder in nicht<br />

genehmigten Privatschulen oder direkt von ihren<br />

Eltern unterrichtet werden – oft aus religiösen<br />

Gründen. Doch Gerichtsurteile des Bundesverfassungsgerichts<br />

und des Europäischen<br />

Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigten<br />

nochmals ausdrücklich die gesetzliche Schulpflicht.<br />

Die Begründung: In der Schule werden<br />

Kinder zu toleranten Bürgern erzogen, indem<br />

sie auf Gleichaltrige anderen kulturellen Hintergrunds<br />

treffen. Die Schulpflicht ist darum nicht<br />

nur Pflicht, sondern auch Recht. Ein Recht auf<br />

die Mannigfaltigkeit, für die unsere Demokratie<br />

steht. Ob die Evangeliums-Christen dieses Recht<br />

tatsächlich gewährleisten wollen?<br />

Jedenfalls spricht eine evangelische Dekanin<br />

von „Gräben“ zwischen den Religionsgemeinschaften.<br />

„Wir haben überhaupt keinen Kontakt<br />

zu ihnen, der einzige Versuch vor vier Jahren<br />

scheiterte“, erzählt sie bedrückt. „Uns wurde<br />

deutlich gemacht, dass dies nicht gewünscht ist.“<br />

Integration und Toleranz sehen anders aus.<br />

Das ist besonders schade für die Kinder, denen<br />

die religiöse Überzeugung ihrer Eltern geradezu<br />

aufgezwungen wird. Muss denn wahre Gläubigkeit<br />

nicht auf einer bewussten und vor allem<br />

zwanglosen Entscheidung beruhen? Muss in einer<br />

aufgeklärten Gesellschaft nicht jede Wahrheit<br />

überprüft werden dürfen?<br />

Die bewusste Abschottung Weniger kann und<br />

darf nicht durch die Generationen weitergereicht<br />

werden. Für den Kreationismus ist an staatlichen<br />

Schulen, die sich der Rationalität und der<br />

Wissenschaft verpflichtet fühlen, tatsächlich<br />

kein Platz.<br />

Die verschiedenen Jugendlichen dieser Welt,<br />

ihre Gedanken und Gefühle, sind trotzdem<br />

stets willkommen. Denn nur wenn Dialog stattfindet,<br />

kann es auch eine Gemeinschaft geben,<br />

in der die unterschiedlichen Gruppen mit ihren<br />

unterschiedlichen Lebensstilen einander friedlich<br />

und vorurteilsfrei begegnen.<br />

Noir <strong>Nr</strong>. 9 (Februar 2009) 9

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!