Lifestyle ~ Kultur ~ Titelthema ~ Porträt ~ Reportage ~ Wissen ~ Reise ~ Sport ~ Noir-Intern ~ Politik ~ Querbeet 8 Noir <strong>Nr</strong>. 9 (Februar 2009) Foto: XXX
Lifestyle ~ Kultur ~ Titelthema ~ Porträt ~ Reportage ~ Wissen ~ Reise ~ Sport ~ Noir-Intern ~ Politik ~ Querbeet NUR DIE BIBEL ZÄHLT Religiöse Vielfalt kann nur dann eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sein, wenn wir miteinander darüber sprechen. Einige Gedanken zum Thema von Maren Ochs Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Dieser Vers aus dem Matthäus-Evangelium prangt in himmelblauen Buchstaben auf dem Gebäude der Evangeliums-Christen in einem Hohenloher Wohngebiet. Einladend klingen diese Worte, freundlich und warmherzig. Entstanden ist dort jedoch eine Parallelgesellschaft, deren strenggläubige Mitglieder meist Spätaussiedler sind. Viele von ihnen zeigen kaum Willen zur Integration und kapseln sich vom gesellschaftlichen Leben ab. Besonders die staatlichen Schulen, auf deren Lehrplan Sexualkunde und die Evolutionstheorie stehen, widersprechen den radikalen Überzeugungen der Evangeliums-Christen von gottesfürchtiger Kindererziehung. Schon lange kämpfen sie deshalb um die Genehmigung ihrer umstrittenen Bekenntnisschulen. Und während ihre Schule in Künzelsau schon kurz vor der Schließung steht, feiern sie nur wenige Kilometer entfernt ihren ersten großen Erfolg: Im Fall einer Öhringer Privatschule konnten sie die Bedingungen des Regierungspräsidiums erfüllen. Der örtliche Schulamtsleiter bestätigt, ausgebildete Lehrer seien eingestellt und ein am Bildungsplan ausgerichtetes Konzept erarbeitet worden. So besuchen die Töchter und Söhne der dortigen Evangeliums-Christen ihren eigenen Unterricht seit wenigen Wochen ganz rechtmäßig. Skepsis und Zweifel bleiben trotzdem: Die Philosophie der freikirchlichen Splittergruppe ist noch immer die gleiche, ist noch immer jene, gegen die man sich jahrelang beharrlich wehrte. Entscheiden also nur die Erfüllung einiger Vorschriften, nur etwas Papierkram über Sinn und Unsinn einer Genehmigung? Das Presseecho war groß. Im Ringen mit bibeltreuen Schulverweigerern wurde durch diese Entscheidung ein neuer Maßstab angelegt. Nach Schätzungen sollen deutschlandweit immerhin mehrere hundert Kinder in nicht genehmigten Privatschulen oder direkt von ihren Eltern unterrichtet werden – oft aus religiösen Gründen. Doch Gerichtsurteile des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigten nochmals ausdrücklich die gesetzliche Schulpflicht. Die Begründung: In der Schule werden Kinder zu toleranten Bürgern erzogen, indem sie auf Gleichaltrige anderen kulturellen Hintergrunds treffen. Die Schulpflicht ist darum nicht nur Pflicht, sondern auch Recht. Ein Recht auf die Mannigfaltigkeit, für die unsere Demokratie steht. Ob die Evangeliums-Christen dieses Recht tatsächlich gewährleisten wollen? Jedenfalls spricht eine evangelische Dekanin von „Gräben“ zwischen den Religionsgemeinschaften. „Wir haben überhaupt keinen Kontakt zu ihnen, der einzige Versuch vor vier Jahren scheiterte“, erzählt sie bedrückt. „Uns wurde deutlich gemacht, dass dies nicht gewünscht ist.“ Integration und Toleranz sehen anders aus. Das ist besonders schade für die Kinder, denen die religiöse Überzeugung ihrer Eltern geradezu aufgezwungen wird. Muss denn wahre Gläubigkeit nicht auf einer bewussten und vor allem zwanglosen Entscheidung beruhen? Muss in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht jede Wahrheit überprüft werden dürfen? Die bewusste Abschottung Weniger kann und darf nicht durch die Generationen weitergereicht werden. Für den Kreationismus ist an staatlichen Schulen, die sich der Rationalität und der Wissenschaft verpflichtet fühlen, tatsächlich kein Platz. Die verschiedenen Jugendlichen dieser Welt, ihre Gedanken und Gefühle, sind trotzdem stets willkommen. Denn nur wenn Dialog stattfindet, kann es auch eine Gemeinschaft geben, in der die unterschiedlichen Gruppen mit ihren unterschiedlichen Lebensstilen einander friedlich und vorurteilsfrei begegnen. Noir <strong>Nr</strong>. 9 (Februar 2009) 9