Das Vorverfahren
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1. Allgemeines<br />
<strong>Das</strong> Widerspruchsverfahren nach der VwGO ist den beiden wichtigsten verwaltungsgerichtlichen Klagearten zwingend vorgeschaltet.<br />
Man spricht daher auch vom „<strong>Vorverfahren</strong>“ (VV). Anzahl und Bedeutung dieser VV gegen belastende Verwaltungsakte<br />
(VA) aus allen Bereichen der Verwaltung wachsen ständig. Die damit zusammenhängenden Probleme lassen sich<br />
im Interesse aller Beteiligten nur dann zufriedenstellend lösen, wenn die während des VV zur (Selbst-)Kontrolle aufgerufenen<br />
Amtsträger in der Lage sind, ohne vermeidbaren Zeitverlust die jeweils richtige Entscheidung zu treffen. Welcher Art diese<br />
Entscheidung sein kann, welches ihre Voraussetzungen sind und wie sie formell aufzubauen ist – dies soll im folgenden erläutert<br />
werden.<br />
2. Wann fi ndet das <strong>Vorverfahren</strong> (Widerspruchsverfahren) statt?<br />
Artikel 20 Abs. 3 GG normiert das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. <strong>Das</strong> Rechtsstaatsgebot erfordert darüber<br />
hinaus ein verfassungsrechtlich garantiertes Rechtsschutzsystem. In der Bundesrepublik bestehen insoweit verschiedene<br />
Möglichkeiten: Formlose (vgl. Art. 17 GG) und formgebundene (förmliche) Rechtsbehelfe, gerichtliche (vgl. Art. 19 Abs. 4<br />
GG) und außergerichtliche (verwaltungsinterne) Rechtsbehelfe (vgl. §§ 68 ff. VwGO).<br />
Der Widerspruch ist ein förmlicher außergerichtlicher Rechtsbehelf – und zwar der bei weitem wichtigste und häufi gste. Er<br />
ersetzt prinzipiell alle vor Erlass der VwGO möglichen anderen förmlichen Rechtsbehelfe (§ 77 VwGO). Mit dem Widerspruch<br />
wird das VV eingeleitet. Da er nur vor Anfechtungs- und Verpfl ichtungsklage (letztere in der Form der Ablehnungs- oder<br />
Weigerungsgegenklage, § 68 Abs. 2 VwGO) zwingend vorgeschrieben und damit statthaft ist) wird bisweilen begriffl ich<br />
zwischen Anfechtungs- und Verpfl ichtungswiderspruch unterschieden.<br />
3. Rechtsnatur und rechtliche Grundlagen des <strong>Vorverfahren</strong>s<br />
<strong>Das</strong> Widerspruchsverfahren ist ein Rechtsbehelfsverfahren im Bereich der Verwaltung, also Teil des Verwaltungsverfahrens. Es<br />
bereitet das gerichtliche Verfahren vor und ist insoweit in der Verwaltungsgerichtsordnung (§§ 68 – 73 VwGO) bundeseinheitlich<br />
geregelt. Allerdings beschränkt sich die VwGO auf die Regelung einiger wesentlicher Teilfragen zur Zulässigkeit und<br />
Begründetheit des Widerspruchs.<br />
Wichtige Ergänzungsregelungen enthalten insbesondere die landesrechtlichen Ausführungsgesetze. Im übrigen sind Regelungslücken<br />
auszufüllen durch analoge Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften der VwGO und durch Rückgriffe<br />
auf das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht. Gemäß § 79 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) gehen dabei die Regelungen<br />
der VwGO denen des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts vor.<br />
4. Zielsetzung und praktische Bedeutung des <strong>Vorverfahren</strong>s<br />
Wegbeschreibung für die<br />
kommunale Praxis<br />
<strong>Das</strong> <strong>Vorverfahren</strong><br />
(Widerspruchsverfahren)<br />
VS 4<br />
(Verwaltungsrechtsschutz)<br />
<strong>Das</strong> VV hat drei ineinander übergreifende Funktionen:<br />
a) Rechtsschutz für den Bürger: Er hat Gelegenheit, ohne Anrufung der Gerichte sein Ziel zu verfolgen. Dabei ist wichtig, dass<br />
die Entscheidung in vollem Umfang, d.h. auch hinsichtlich Ermessensfragen, überprüft wird.<br />
b) Selbstkontrolle der Verwaltung: Die Behörde kann ihren Standpunkt noch einmal überprüfen, bevor sie mit einem gerichtlichen<br />
Streitverfahren überzogen wird.<br />
c) Entlastung der Gerichte: <strong>Das</strong> VV hilft, unnötige Prozesse zu vermeiden; es hat gleichsam „Filterfunktion“.
Mit dieser Zielsetzung ist das VV vom Gesetzgeber als „Voraussetzung der verwaltungsgerichtlichen Klage“ (§ 68 VwGO)<br />
eingerichtet worden. Bürger und Behörden sollen zunächst versuchen, ihre Meinungsverschiedenheiten untereinander beizulegen.<br />
Erst wenn dies nicht gelingt, soll das Verwaltungsgericht über die Sache entscheiden. Ein erfolglos durchgeführtes VV<br />
gehört damit in den von § 68 VwGO erfassten Fällen grundsätzlich zu den zwingenden Sachurteilsvoraussetzungen im Verwaltungsprozess.<br />
Eine gerichtliche Klage ist als unzulässig abzuweisen, wenn nicht spätestens bis zur letzten mündlichen<br />
Verhandlung ein Widerspruchsbescheid ergangen ist.<br />
5. Notwendigkeit und Entbehrlichkeit des <strong>Vorverfahren</strong>s<br />
5.1 § 68 VwGO schreibt ein VV nur für zwei Klagearten vor: Für die Anfechtungsklage (§ 68 Abs. 1) und für die Ver-<br />
pfl ichtungsklage, wenn der Antrag auf Erlass eines begünstigenden VA abgelehnt wurde(§ 68 Abs. 2). <strong>Das</strong> VV wird<br />
i.d.R. also notwendig in den Fällen, in denen das Verwaltungsverfahren mit einem VA i.S.d. § 35 VwVfG abgeschlos-<br />
sen wurde.<br />
Beachte: Diese Beschränkung ist freilich nicht begriffsnotwendig, wie § 126 Abs. 3 BRRG beweist. Danach ist näm-<br />
lich allen Klagen eines Beamten gegen seinen Dienstherrn ein Widerspruchsverfahren vorzuschalten.<br />
5.2 Im übrigen gibt es Fälle, in denen eine behördliche Selbstkontrolle nicht (mehr) erforderlich ist, weil sie der oben<br />
beschriebenen Zielsetzung des VV nicht (mehr) dient.<br />
5.2.1 § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO trägt dieser Erkenntnis Rechnung. Er nennt mehrere Ausnahmefälle, in denen ein<br />
Widerspruch entbehrlich, also nicht statthaft und deshalb unzulässig ist:<br />
5.2.1.1 Wenn ein formelles Bundes- oder Landesgesetz dies bestimmt, z.B. §§ 70, 74 Abs. 1 Satz VwVfG<br />
( § 68 Abs. 1 Satz 2 Alternative 1 VwGO ).<br />
5.2.1.2 Bei Verwaltungsakten von obersten Bundes- oder Landesbehörden, es sei denn, dass ein Gesetz die<br />
Nachprüfung vorschreibt (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO). Oberste Landesbehörden sind z. B. der<br />
Ministerpräsident, die Minister, die Präsidenten des Landtages und der Rechnungshof; oberste Bun-<br />
desbehörden sind z.B. der Bundespräsident, der Präsident des Bundestages und die Bundesminister.<br />
5.2.1.3 Wenn der Abhilfebescheid oder der Widerspruchsbescheid erstmals eine Beschwerde enthält<br />
(§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO). Gegen die Abhilfe- oder Widerspruchsbescheide soll kein weiteres<br />
zeitaufwendiges Widerspruchsverfahren durchgeführt werden, da insofern bereits eine Selbstkontrolle<br />
erfolgt ist.<br />
6. Ablauf des <strong>Vorverfahren</strong>s<br />
6.1 Beginn:<br />
Gemäß § 69 VwGO beginnt das VV mit der Erhebung des Widerspruchs. <strong>Das</strong> ist der Zeitpunkt, in dem er der zuständigen<br />
Behörde zugeht. Entscheidend ist also nicht etwa, wann dem zuständigen Sachbearbeiter das Widerspruchsschreiben vorgelegt<br />
wird.<br />
6.2 Rechtswirkungen der Widerspruchseinlegung<br />
6.2.1 Suspensiveffekt<br />
Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat ein Anfechtungswiderspruch grundsätzlich aufschiebende Wirkung (vgl. Wegbeschreibung<br />
VS 5).<br />
6.2.2 Devolutiveffekt<br />
Von Devolutivwirkung spricht man, wenn ein Rechtsbehelf oder Rechtsmittel die Streitsache in die höhere Instanz bringt und<br />
deren Zuständigkeit begründet – insbesondere bei Berufung und Revision, §§ 124 ff., 132 ff. VwGO.<br />
Auch im Rahmen des VV gibt es in der Regel diesen Effekt. Im Regelfall sind nämlich Ausgangsbehörde (Abhilfebehörde) und<br />
Widerspruchsbehörde nicht identisch. Die Widerspruchsbehörde gehört entweder zu einer anderen Verwaltungsebene, oder<br />
sie hat zumindest die Stellung eines selbstständigen Sonderorgans innerhalb der Ausgangsbehörde.<br />
Allerdings tritt die Devolutivwirkung gemäß §§ 72, 73 VwGO nicht automatisch und in jedem Fall ein. Sie ist nämlich abhängig<br />
davon, dass die Ausgangsbehörde die Abhilfe verweigert. <strong>Das</strong> bedeutet, dass immer zuerst die Behörde über einen Widerspruch<br />
entscheiden muss, die den VA erlassen hat. Geht der Widerspruch unmittelbar der Widerspruchsbehörde zu, so ist das<br />
gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 VwGO zwar zulässig. Die Widerspruchsbehörde muss dann aber die Akten der Ausgangsbehörde<br />
zuleiten oder sich sonst formlos mit ihr in Verbindung setzen, um ihr Gelegenheit zur Abhilfe zu geben.<br />
6.2.3 <strong>Das</strong> Abhilfeverfahren<br />
Auch dies ist eine unmittelbar aus der Einlegung des Widerspruchs resultierende Konsequenz. Die Ausgangsbehörde ist nämlich<br />
nicht nur verpfl ichtet, einen Widerspruch entgegenzunehmen bzw. seine Einlegung zu beurkunden (§ 70 Abs. 1 Satz 1<br />
Alternativ 2 VwGO), sie muss gemäß § 72 VwGO auch darüber entscheiden, ob sie ihm abzuhelfen vermag.
Abhilfe bedeutet, dass die Ausgangsbehörde selbst – zumindest teilweise – i.S.d. WF entscheidet. Sie erläßt dann den sogenannten<br />
Abhilfebescheid. Dies ist ein VA, der nicht mit dem Widerspruchsbescheid identisch ist. Durch den Abhilfebescheid<br />
wird entweder der angegriffene VA (teilweise) aufgehoben (nach Anfechtungswiderspruch) oder der beantragte VA erlassen<br />
(nach Verpfl ichtungswiderspruch).<br />
6.3 Beendigung des <strong>Vorverfahren</strong>s<br />
6.3.1 Durch Entscheidung über den Widerspruch<br />
Hilft die Ausgangsbehörde dem Widerspruch in vollem Umfang ab, dann endet das VV mit dem Zugang des Abhilfebescheids<br />
an den WF. Entscheidet die Widerspruchsbehörde, dann beendigt der Widerspruchsbescheid, d.h. dessen Zugang an den WF,<br />
das VV.<br />
6.3.2 Ausser durch förmlichen Abschluss kann das VV auch auf andere Weise beendigt werden. Denkbar sind insbesondere:<br />
6.3.2.1 Zurücknahme des Widerspruchs unter Beachtung der Form des § 70 Abs. 1 VwGO. Die Rücknahme ist<br />
möglich bis zur Unanfechtbarkeit des Widerspruchsbescheids (OVG Lüneburg, Urteil vom 14.04.1993,<br />
1 L 34/91, NvWZ 93, 1214).<br />
6.3.2.2 Erledigung in der Hauptsache. Sie tritt ein, wenn der VA hinsichtlich seiner inhaltlichen Regelung gegenstandslos<br />
geworden ist.<br />
Beispiele:<br />
n Ablauf der Frist bei befristeter Erlaubnis,<br />
n Untergang des Regelungsobjekts, etwa: ein seuchenverdächtiger Hund wird überfahren.<br />
Dann ist nach der Rechtssprechung des BVerwG Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4<br />
VwGO möglich ( BVerwG, Urteil vom 17.10.90 – 1 C 12.88, NVWZ 91, 581; so auch BWVGH, Urteil vom<br />
15.03.95 – 3 S 1453/93, NVWZ-RR 95, 621 ).<br />
6.3.2.3 Vergleichsvertrag gemäß § 55 VwVfG<br />
7. Der Widerspruchsbescheid<br />
Hilft die Ausgangsbehörde dem Widerspruch nicht ab, so erlässt die Widerspruchsbehörde einen Widerspruchsbescheid. Er ist<br />
zu begründen, mit Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen und zuzustellen (§ 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Darüber hinaus ist im<br />
Widerspruchsbescheid zu bestimmen, wer die Kosten trägt (Kostengrundentscheidung, § 73 Abs. 3 Satz 3 VwGO.) Weitere<br />
darüber hinausgehende Regelungen über Form und Inhalt enthält die VwGO nicht. Ergänzend sind daher auch hier die<br />
allgemeinen Vorschriften zum Verwaltungsverfahren sowie das AGVwGO heranzuziehen.<br />
Im einzelnen:<br />
Die Widerspruchsbehörde kann den Widerspruch zurückweisen oder ihm stattgeben.<br />
7.1 Zurückweisung erfolgt, wenn der Widerspruch unzulässig oder unbegründet ist. Nach der – umstrittenen – Recht-<br />
sprechung des BVerwG ist die Widerspruchsbehörde aber nicht verpfl ichtet, einen verfristeten Widerspruch als un-<br />
zulässig zurückzuweisen. Sie kann in der Regel trotz Fristversäumung nach ihrem Ermessen zur Sache entscheiden<br />
und damit den Klageweg wiedereröffnen (BVerwG NVWZ 83, 608, NVWZ 89, 85). Gegenteilige Auffassung hierzu<br />
vertritt das OVG RhPf für den Fall, dass Ausgangs- und Widerspruchsbehörde verschiedenen Rechtsträgern angehö-<br />
ren (OVG RhPf, Urteil vom 12.01.93, 6 A 10374/92, KStZ 1995, 196).<br />
7.2 Ist der Widerspruch zulässig und begründet, gibt ihm die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsbescheid statt. <strong>Das</strong><br />
bedeutet im einzelnen:<br />
7.2.1 Beim Anfechtungswiderspruch muss der VA im Widerspruchsbescheid (ganz oder teilweise) aufgehoben<br />
werden. In den Fällen des § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO ist nach heute überwiegender Rechtsmeinung<br />
auch eine Abhilfeentscheidung möglich.<br />
7.2.2 Beim Verpfl ichtungswiderspruch bedeutet „stattgeben“ letztlich Erlass des beantragten VA. Allerdings<br />
scheidet eine Selbstvornahme durch die Widerspruchsbehörde aus.<br />
7.3 Ob der Widerspruchsbescheid die Entscheidung der Ausgangsbehörde auch zum Nachteil des Widerspruchsführers<br />
abändern darf (sog. Verböserung oder reformatio in peius), richtet sich nach den einschlägigen Vorschriften des<br />
jeweiligen Falles. Die VwGO sagt hierüber nichts aus. Die Verböserung ist beispielweise in kommunalabgabenrecht-<br />
lichen Streitverfahren zulässig (so § 3 Abs. 5 Satz 2 KAG RhPf).<br />
7.4 Der Widerspruchsbescheid muss begründet werden (§ 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO). D.h., die Widerspruchsbehörde<br />
muss die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe für ihre Entscheidung bekanntgeben (vgl. § 39 Abs. 1<br />
VwVfG). Inhalt und Umfang dieser Begründung richten sich nach den Umständen des Einzelfalles. Der WF und<br />
etwaige Drittbetroffene müssen jedenfalls die Erfolgsaussichten einer Klage aus den Gründen ermitteln können.
7.5 § 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO schreibt weiterhin eine Rechtsbehelfsbelehrung vor. Inhalt und Form ergeben sich aus § 58<br />
Abs. 1 VwGO. <strong>Das</strong> Fehlen oder ein Mangel der Belehrung berührt allerdings nicht die Rechtmäßigkeit des Wider-<br />
spruchsbescheids, sondern nur die Klagefrist (§ 58 Abs. 2 VwGO).<br />
7.6 Ebenfalls von Amts wegen ist im Widerspruchsbescheid darüber zu entscheiden, wer die Kosten trägt (§ 73 Abs. 3<br />
Satz 3 VwGO). Es handelt sich hierbei um die sogenannte Kostengrundentscheidung. In dieser ist zu bestimmen,<br />
wer die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Die Entscheidung über die Höhe des Streitwertes und die Höhe der<br />
Kosten wird nicht in der Kostengrundentscheidung, sondern im Kostenfestsetzungsbescheid getroffen. In der Kos-<br />
tengrundentscheidung ist auch darüber zu entscheiden, ob die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig<br />
war (§ 80 Abs. 3 Satz 2 VwVfG, § 19 AGVwGO RhPf).<br />
7.7 Der Widerspruchsbescheid ist zuzustellen (§ 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Eine andere Form der Bekanntgabe ist nicht<br />
geeignet, die Klagefrist in Lauf zu setzen (§§ 74, 57 VwGO). Die Zustellung erfolgt gemäß § 73 Abs. 3 Satz 2 VwGO<br />
von Amts wegen nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes des Bundes, und zwar auch dann, wenn<br />
eine Landesbehörde den Widerspruchsbescheid erlässt.<br />
Die Zustellung kann auf verschiedene Arten erfolgen (§ 2 Abs. 1 VwZG). Die Behörde hat insofern Auswahlermessen<br />
(§ 2 Abs. 2 VwZG).<br />
8. Die zuständige Widerspruchsbehörde<br />
Die Frage nach der Widerspruchsbehörde zielt darauf ab, welche Behörde den Widerspruchsbescheid zu erlassen hat. § 73<br />
VwGO enthält insofern zwar eine Grundsatzregelung, erlaubt aber bundes- und landesgesetzliche Ausnahmen.<br />
Der damit angesprochene Problemkreis ist mehrfach bedeutsam: Zum einen wird im Falle des § 70 Abs. 1 Satz 2 VwGO die<br />
Frist nur gewahrt, wenn der Widerspruch bei der zuständigen Widerspruchsbehörde eingelegt wird. Ist er an die falsche<br />
Behörde gerichtet, muss diese ihn zwar i.d.R. weiterleiten (Amtspfl icht), der damit verbundene Zeitverlust kann aber leicht zur<br />
Verfristung führen.<br />
Zum anderen muss der Beamte, der eine Abhilfe i.S.d. § 72 VwGO verweigert, wissen, welcher Behörde er die Akten zur Entscheidung<br />
vorlegen soll.<br />
Im übrigen stellt die Entscheidung einer unzuständigen Behörde einen wesentlichen Verfahrensmangel i.S.d. § 79 Abs. 2 Satz<br />
2 VwGO dar. Die dann mögliche isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids (d.h. ohne VV) führt grundsätzlich zu dessen<br />
Aufhebung.<br />
8.1 Rechtslage nach der VwGO<br />
8.1.1 Zuständigkeit der nächsthöheren Behörde: Nach § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO erlässt den Widerspruchsbe-<br />
scheid grundsätzlich die nächsthöhere Behörde. <strong>Das</strong> ist die Instanz, die der Ausgangsbehörde unmittelbar und<br />
weisungsbefugt übergeordnet ist. Im dreistufi gen Verwaltungsaufbau des Bundes und der großen Flächenländer<br />
sind das im Bereich der allgemeinen inneren Verwaltung die Behörden der Mittelstufe bzw. die Ministerien als<br />
oberste Landesbehörden (Oberstufe).<br />
8.1.2 Ausnahmen:<br />
8.1.2.1 Zuständigkeit der Ausgangsbehörde (§ 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO): Abweichend von Nr. 1 entschei-<br />
det die Ausgangsbehörde selbst, wenn die nächsthöhere Behörde eine oberste Bundes- oder Landes-<br />
behörde ist. Damit sollen Staatskanzleien und Ministerien entlastet werden.<br />
8.1.2.2 Die Ausgangsbehörde hat in Selbstverwaltungsangelegenheiten entschieden (§ 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3<br />
VwGO). Dann gibt es keine nächsthöhere Behörde, da es sich um weisungsfreie Aufgaben des eigenen<br />
Wirkungskreises handelt (vgl. § 2 Abs. 1 GemO RhPf; § 2 Abs. 1 LKrO RhPf).<br />
8.2 Im übrigen sind die Länder ermächtigt, abweichende Regelungen zu erlassen. Von der Ermächtigung haben die<br />
Länder zum Teil Gebrauch gemacht (vgl. § 6 AGVwGO RhPf).<br />
8.3 Schließlich sind vorrangige spezialgesetzliche Regelungen zu beachten, z.B. § 126 Abs. 3 Nr. 2 BRRG, § 126 GemO<br />
RhPf.<br />
9. Zulässigkeit des Widerspruchs<br />
9.1 Auslegung des Rechtsbehelfsbegehrens<br />
Wie die Klage ist der Widerspruch nicht schon allein deswegen erfolgreich, weil er in der Sache begründet ist. Er muss darüber<br />
hinaus auch verfahrensrechtlich (prozessual) zulässig sein. Die damit angesprochenen Sachentscheidungsvoraussetzungen<br />
gelten allerdings nicht für formlose Rechtsbehelfe (Gegenvorstellung, Dienst-, Fachaufsichtsbeschwerde). Da andererseits an<br />
die Widerspruchsschrift kaum inhaltliche Anforderungen gestellt werden, kann es im Einzelfall unklar sein, welchen Rechtsbehelf<br />
der Bürger einlegen will.<br />
Dann müssen Art des Rechtsbehelfs und Umfang des Antrags (z.B. ob nicht lediglich Teilanfechtung) durch Rückfrage bei dem<br />
Betroffenen ermittelt werden. Ist eine solche Kontaktnahme nicht oder kaum möglich, muss das Rechtsbehelfsbegehren im<br />
Wege der sach- und interessengerechten Auslegung ermittelt werden (§§ 133, 157 BGB).
Als Faustregel mag dann gelten: Wendet sich der Bürger gegen einen VA und sind Frist und Form des § 70 VwGO gewahrt,<br />
dann ist von dem für ihn günstigsten Rechtsbehelf auszugehen. <strong>Das</strong> ist wegen § 80 Abs. 1 VwGO und der nachfolgenden<br />
Klagemöglichkeit der Widerspruch.<br />
9.2 Die einzelnen Sachentscheidungsvoraussetzungen<br />
Die Zulässigkeit des Widerspruchs müssen Abhilfe- bzw. Widerspruchsbehörde vor der Begründetheit prüfen. Die dabei zu<br />
beachtenden Punkte wurden zum Teil schon erörtert.<br />
An dieser Stelle sollen die wichtigsten, in der Praxis relevanten Voraussetzungen zusammenfassend dargestellt werden. Sie<br />
werden jedoch – soweit nicht ohnehin schon eingehend erläutert – nur kurz besprochen. <strong>Das</strong> gilt insbesondere für jene Erfordernisse,<br />
die (wie z.B. §§ 40 Abs. 1, 61, 62 VwGO) nicht nur speziell für das VV gelten.<br />
9.2.1 Der Verwaltungsrechtsweg muss gegeben sein (Vgl. Wegbeschreibung VS 3). Es empfi ehlt sich hierbei folgende<br />
Prüfungsfolge:<br />
n Gibt es eine Rechtsvorschrift, die die konkrete Streitigkeit den allgemeinen Verwaltungsgerichten ausdrücklich zur<br />
Entscheidung zuweist (z. B. § 126 BRRG) ? = sog. aufdrängende Sonderzuweisung.<br />
Anmerkung: Gibt es eine spezialgesetzliche Zuweisungsnorm, so erübrigt sich die Prüfung des § 40 Abs. 1 VwGO.<br />
n Existiert eine spezielle Zuweisungsbestimmung nicht, so ist § 40 Abs. 1 VwGO als verwaltungsgerichtliche Generalklausel<br />
analog zu prüfen:<br />
n Es muss eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinne einer verwaltungsgerichtlichen Streitigkeit gegeben sein.<br />
n Negativ: Die Streitigkeit darf nicht verfassungsrechtlicher Art sein.<br />
Anmerkung: Verfassungsrechtliche Streitigkeiten kommen zu den Verfassungsgerichten.<br />
(Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichte der Länder)<br />
n Die Streitigkeit darf nicht durch Bundes- oder Landesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen<br />
sein (z. B. § 40 Abs. 2 VwGO, § 33 FGO, § 217 BauGB, § 51 SGG, Art. 14 Abs. 3 Satz 4 GG, Art. 34 Satz 3<br />
GG, § 23 EGGVG) = sog. abdrängende Sonderzuweisung<br />
9.2.2 Der Widerspruch muß statthaft sein (vgl. § 68 i.V.m. § 42 Abs. 1 VwGO).<br />
Es ist hierbei zwischen dem Anfechtungs- und dem Verpfl ichtungswiderspruch zu unterscheiden.<br />
a) Ein Anfechtungswiderspruch liegt vor, wenn der Widerspruchsführer die Aufhebung eines Verwaltungsaktes im<br />
Sinne des § 35 VwVfG begehrt (vgl. § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 42 Abs. 1 Alternative 1 VwGO).<br />
Beachte: Der VA muss nach § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG äußerlich wirksam (existent) geworden sein.<br />
b) Ein Verpfl ichtungswiderspruch ist gegeben, wenn der Widerspruchsführer den Erlass eines beantragten von der<br />
Behörde aber abgelehnten VA begehrt (vgl. § 68 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 42 Abs. 1 Alternative 2 VwGO).<br />
9.2.3 Der Widerspruchsführer muss nach § 42 Abs. 2 VwGO analog widerspruchsbefugt sein. <strong>Das</strong> ist der Fall, wenn der<br />
Widerspruchsführer geltend machen kann, durch den VA oder seine Ablehnung in seinen Rechten verletzt zu sein.<br />
Beachte: Die Rechtsverletzung muss schlüssig vorgetragen werden, d.h. bei Unterstellung der Richtigkeit der Ausführungen<br />
des Widerspruchsführers muss eine Rechtsverletzung vorliegen.<br />
Unter Rechten im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO sind nur subjektive öffentliche – nicht private – Rechtspositionen zu<br />
verstehen. Die wichtigste Gruppe der subj. öff. Rechte bilden die Grundrechte der Artikel 1 bis 19 GG.<br />
Rechte nach § 42 Abs. 2 VwGO sind daneben alle sich aus öffentlich-rechtlichen Rechtsnormen herleitende rechtlich<br />
geschützte Interessen. Man bezeichnet Rechtsnormen, die derartige Rechtspositionen gewähren, als Schutzbereichsnormen.<br />
Nicht zu den Rechten im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO gehören bloße Rechtsrefl exe. Dies sind Refl exauswirkungen<br />
von Rechten, die nicht im Individualinteresse, sondern ausschließlich oder überwiegend im Interesse der Allgemeinheit<br />
erlassen worden sind.<br />
Die Widerspruchsbefugnis kann unter Heranziehung folgender Theorien gelöst werden:<br />
n Der Adressatentheorie. Danach ist widerspruchsbefugt, wer Adressat eines belastenden VA ist. Hinter der Adressatentheorie<br />
steht das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Artikel 2 Abs. 1 GG. Es besteht die<br />
Vermutung, dass derjenige, der Adressat eines belastenden (Eingriffs-) VA ist, in seinem allgemeinen Freiheitsrecht<br />
eingeschränkt wird.<br />
n Der Möglichkeits- oder Wahrscheinlichkeitstheorie. Nach dieser Theorie ist widerspruchsbefugt, wer schlüssig<br />
geltend machen kann, durch einen VA oder dessen Ablehnung möglicherweise in seinen subjektiven öffentlichen<br />
Rechten oder rechtlich geschützten Interessen betroffen zu sein. Eine solche Rechtsverletzung ist nicht gegeben,<br />
wenn sie bei vernünftiger Betrachtung als ausgeschlossen erscheint.<br />
9.2.4 Der Widerspruch muss innerhalb der vorgeschriebenen Fristen eingelegt werden.<br />
Es sind drei Fristengruppen zu unterscheiden:<br />
a) Die Monatsfrist nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Sie beginnt, wenn dem VA oder der Ablehnungsentscheidung<br />
eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war, mit der Bekanntgabe des VA oder der Ablehnungs-<br />
entscheidung. Die Fristberechnung erfolgt gemäß § 79 VwVfG nach § 31 Abs. 1 VwVfG i.V.m. den §§ 187 ff.<br />
BGB, soweit nicht die Absätze 2 bis 5 des § 31 VwVfG etwas anderes bestimmen.
Nach § 187 BGB bleibt bei der Berechnung der Frist der Tag der Bekanntgabe außer Betracht. Nach § 188 Abs. 2<br />
Alternative 1 BGB endet die Monatsfrist aber mit Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats, welcher durch seine<br />
Benennung oder seine Zahl dem Tage entspricht, in den das Bekanntgabeereignis fällt.<br />
Beachte: Fristauslösendes Ereignis ist die Bekanntgabe des VA oder der Ablehnungsentscheidung. Die Bestimmung<br />
des Fristendes – nur diese Frage ist bei der Lösung eines praktischen Falles relevant – knüpft an den Bekanntgabezeitpunkt<br />
an.<br />
Fehlt bei einer nach Monaten bestimmten Frist in dem letzten Monat der für ihren Ablauf maßgebende Tag, so<br />
endigt die Frist nach § 188 Abs. 3 BGB mit dem Ablauf des letzten Tages dieses Monats. Fällt das Ende der Frist auf<br />
einen Sonnabend, Sonntag oder Feiertag, so tritt an die Stelle dieses Tages der nächste Werktag (§ 193 BGB).<br />
Beispiel: Bekanntgabe des belastenden VAs am Mittwoch, den 3. September 2003.<br />
Frist beginnt somit am Donnerstag, den 4. September 2003<br />
Monatsfrist endet am Freitag, den 3. Oktober 2003<br />
Aber: 3. Oktober 2003 = gesetzlicher Feiertag<br />
4. Oktober 2003 = Sonnabend<br />
5. Oktober 2003 = Sonntag<br />
Ergebnis: Monatsfrist endet am Montag, 6. Oktober 2003, 24.00 Uhr<br />
b) Die Jahresfrist nach § 70 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO. Sie kommt in Betracht, wenn dem VA oder der<br />
Ablehnung eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht beigefügt worden war oder wenn diese zwar erteilt, aber unrichtig ist.<br />
Nach § 58 VwGO beginnt in einem solchen Falle die Rechtsbehelfsfrist nicht zu laufen. Gleichwohl knüpft § 58 Abs.<br />
2 Satz 1 VwGO für die Berechnung der Jahresfrist an die Zustellung, Eröffnung oder Verkündung des VA oder der<br />
Ablehnung an, so dass insofern das gleiche gilt wie bei der Berechnung der Monatsfrist.<br />
Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist unrichtig, wenn sie<br />
n den Anforderungen des § 58 Abs. 1 VwGO nicht genügt oder<br />
n zwar die Mindesterfordernisse des § 58 Abs. 2 VwGO enthält, aber Zusätze enthält, die sich nach objektiver<br />
Betrachtung für Widerspruchsführer generell beschwerend auswirken können.<br />
Beachte: Unerheblich ist, ob sich der konkrete Widerspruchsführer beschwert fühlt.<br />
c) Kein Fristenlauf fi ndet in folgenden Fällen statt:<br />
n Eine Frist beginnt dem jeweiligen Beschwerdeführer (Widerspruchsführer) gegenüber grundsätzlich solange nicht<br />
zu laufen, wie ihm der VA oder die Ablehnung nicht oder nicht wirksam bekannt gegeben worden ist. Die Bekanntgabe<br />
kann durch Zustellung, Eröffnung, Verkündung oder in anderer Weise erfolgen, es sei denn, kraft<br />
Gesetzes ist eine förmliche Bekanntgabeform vorgeschrieben.<br />
n Die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO läuft solange nicht ab, als die Einlegung des Widerspruchs vor Ablauf der<br />
Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Nach Ende der höheren Gewalt räumt § 58 Abs. 2 Satz 2 VwGO<br />
i.V.m. § 60 Abs. 2 VwGO dem Betroffenen eine Nachfrist (Überlegungsfrist) von zwei Wochen ein. Für die Berechnung<br />
dieser Zweiwochenfrist gelten die für die Monatsfrist dargelegten Gesichtspunkte.<br />
n Die Jahresfrist läuft ferner nicht ab, wenn dem Beschwerten zwar eine schriftliche Rechtsbehelfsbelehrung erteilt<br />
worden ist, diese ihrem Inhalt nach aber dahingehend ist, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei (vgl. § 58 Abs.<br />
2 VwGO).<br />
Beachte: Ob ein solcher (qualifi ziert unrichtiger) Rechtsbehelf vorliegt, ist durch Auslegung der Rechtsbehelfsbelehrung<br />
zu ermitteln.<br />
Ist ein Fall der Fristversäumung gegeben, so ist in einem praktischen Fall stets zu prüfen, ob nicht eine Wiedereinsetzung<br />
in den vorigen Stand nach § 70 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 60 VwGO in Betracht kommt, wenn Anhaltspunkte<br />
dafür gegeben sind.<br />
9.2.5 Nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Widerspruch schriftlich oder zur Niederschrift zu erheben (Form).<br />
9.2.6 Der Widerspruch ist nach § 70 Abs. 1 Sätze 1 und 2 VwGO bei der richtigen Behörde einzulegen. Richtige Einlegungsbehörde<br />
ist die Behörde, die den VA erlassen hat oder die den Antrag auf Vornahme des VA abgelehnt hat<br />
(erlassende Behörde). Darüber hinaus kann der Widerspruch nach § 70 Abs. 1 Satz 2 VwGO auch bei der Behörde<br />
eingelegt werden, die den Widerspruchsbescheid zu erlassen hat (Widerspruchsbehörde).<br />
Welche Behörden Widerspruchsbehörden sind, ergibt sich aus § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 VwGO i.V.m. dem<br />
AGVwGO oder aus Spezialgesetz (vgl. Nr. 8).<br />
9.2.7 Der Widerspruchsführer muss rechtsschutzbedürftig sein (Rechtsschutzinteresse).<br />
<strong>Das</strong> Rechtsschutzbedürfnis ist ausdrücklich nicht geregelt. Es ist eine allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung, die sich<br />
aus dem allgemeinen Rechtsschutzgewährleistungsrecht des Artikels 19 Abs. 4 GG ergibt. Es handelt sich hierbei um<br />
eine sogenannte negative Zulässigkeitsvoraussetzung, d.h. das Rechtsschutzinteresse des Widerspruchsführers wird<br />
grundsätzlich als gegeben vermutet. Eine Prüfung dieser Frage ist daher nur notwendig, wenn sich Anhaltspunkte<br />
ergeben, die darauf hindeuten, dass das Rechtsschutzbedürfnis fehlen könnte. <strong>Das</strong> Rechtsschutzinteresse fehlt nur,<br />
wenn es für den Widerspruchsführer einen schnelleren, billigeren oder effektiveren Rechtsschutz gibt oder wenn der<br />
Rechtsbehelfsführer den ihm zustehenden Rechtsschutz offensichtlich missbraucht (Rechtsmissbrauch).
9.2.8. Der Widerspruchsführer muss ferner die Beteiligungsfähigkeit besitzen. Nach § 11 VwVfG, der über § 79 VwVfG<br />
anwendbar ist, sind beteiligungsfähig:<br />
n natürliche und juristische Personen,<br />
n Vereinigungen, aber nur, soweit ihnen sein subjektiv-öffentliches Recht oder rechtlich geschütztes Interesse<br />
zustehen kann und<br />
n Behörden.<br />
Merke: Die Beteiligungsfähigkeit entspricht weitgehend der Rechtsfähigkeit, d.h. wer ganz oder teilweise rechtsfähig<br />
ist, ist auch beteiligungsfähig.<br />
9.2.9 Der Widerspruchsführer muss sodann handlungsfähig sein (§ 79 VwVfG i.V.m. § 12 VwVfG).<br />
10. Begründetheit des Widerspruchs<br />
10.1 Maßstäbe für die Begründetheit<br />
Sie ergeben sich aus analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (beim Anfechtungswiderspruch) oder des<br />
§ 113 Abs. 5 Satz 1 (beim Verpfl ichtungswiderspruch). Daraus folgt: Der Widerspruch ist i.S.d. § 72 begründet,<br />
a) soweit der angefochtene VA – bzw. die Ablehnung des beantragten VA – rechtswidrig ist und den Wf in seinen<br />
Rechten verletzt;<br />
b) im Bereich der Ermessensverwaltung auch dann, wenn die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind<br />
oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht<br />
wurde und der WF insofern in seinen Rechten verletzt ist. Stellt die Widerspruchsbehörde einen Ermessensfehler<br />
fest, so kann sie diesen Fehler durch eigene Ermessensentscheidungen beseitigen. Sie kann den Beurteilungsfehler<br />
der Erlassbehörde durch eine eigene, fehlerfreie Beurteilung heilen. Sie kann ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens<br />
der Erlassbehörde setzen mit der Folge, dass letztlich nur noch ihre Ermessenserwägung maßgeblich ist<br />
(BVerwG, Urteil vom 17.5.83, 1 C 163.80, NVWZ 84, 111). In diesem Fall wäre der Widerspruch dann unbegründet.<br />
Dies gilt allerdings nicht, wenn dies gesetzlich ausgeschlossen ist, so zum Beispiel, wenn der VA von einer<br />
kommunalen Gebietskörperschaft oder einer der Aufsicht einer solchen Gebietskörperschaft unterstehenden<br />
Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts in einer Selbstverwaltungsangelegenheit erlassen<br />
wurde (§ 6 Abs. 2 AGVWGO RhPf). In diesem Fall beschränkt sich die Prüfung durch die Widerspruchsbehörde<br />
nur auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung. Andernfalls würde dies zu einer Beschränkung des Selbstverwaltungsrechts<br />
führen (Ausnahme: Erlassbehörde und Widerspruchsbehörde sind identisch).<br />
10.1.1 Rechtswidrig ist ein VA, wenn das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt wurde oder<br />
wenn die Entscheidung von einem unrichtigen Sachverhalt ausgeht. Dabei sind die Heilungsmöglichkeiten des § 45<br />
VwVfG zu beachten!<br />
10.1.2 Maßgebend für die Beurteilung der Begründetheit ist i.d.R. die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des<br />
Widerspruchsbescheides (BVerwG, Urteil vom 3.4.87, 4 C 30.85, NVWZ 88, 250). Tatsächliche oder rechtliche<br />
Änderungen, die während des VV eintreten, sind deshalb von der Widerspruchsbehörde grundsätzlich zu berück-<br />
sichtigen.<br />
10.2 Umfang der Prüfungsbefugnis<br />
Die Kontrollbefugnis der Widerspruchsbehörde geht – dem Zweck des VV entsprechend – weiter als die der Verwaltungsgerichte.<br />
Anders als der Richter kann die Widerspruchsbehörde (abgesehen von Selbstverwaltungsangelegenheiten) die Ermessenserwägungen<br />
der Ausgangsbehörde uneingeschränkt nachprüfen und ggf. durch eigene Überlegungen ersetzen.<br />
Demgemäß kann die Ausgangsbehörde während des VV auch beliebig neue Gründe für ihre Entscheidung nennen, ohne den<br />
Beschränkungen zu unterliegen, die an sich für das „Nachschieben von Gründen“ bestehen.<br />
Schließlich kann und muss die Widerspruchsbehörde den streitigen VA unter allen relevanten Gesichtspunkten überprüfen.<br />
Sie ist nicht etwa auf die Gründe beschränkt, die von der Ausgangsbehörde herangezogen wurden.<br />
<strong>Das</strong> vorliegende Faltblatt ist Teil einer Loseblattsammlung, die laufend ergänzt wird. Die systematische Übersicht und weitere Faltblätter erhalten Sie auf Anfrage.<br />
Stand: April 2007