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Ethik Sozialer Arbeit im Dienst einer Menschenrechtsprofession

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I EIE<br />

Andreas Lob-HüdePohl<br />

sü<br />

<strong>Ethik</strong> <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Dienst</strong><strong>einer</strong><br />

Men sch enrechtsprofession<br />

g<br />

hs<br />

Studientexte<br />

aus der<br />

Evangelischen Hochschule<br />

für Soziale <strong>Arbeit</strong> Dresdq4,.($)<br />

2OO3 I I


Mit dem Studium der Sozialen <strong>Arbeit</strong> an <strong>einer</strong> kirchlichen llochschule verbinden<br />

sich anspruchsvolle Erwartu:rgen. Eine davon betrifft ohre Zweifel die Orientie-<br />

ruIlg am christlichen Menschenbild. Die christliche Deutung menschlicher Exis-<br />

tenz, so die Erwartung, verpflichtet jeden Sozialprofessionellen auf eine ethische<br />

Gnmdhaltung, die die Wü:rde des seürer Fürsorge anvertrauten Hiüeempfängers<br />

respektiert. Doch, so werde ich <strong>im</strong>mer wieder gefragt, wodn besteht die Würde<br />

des Menschen und worin die cbristlich motivierte Grunclhaltung konhret? Sil:rd<br />

sie erftlzsiu christlich? tst diese Orientierung am christlichen Menschenbild nicht<br />

eine zwar woNfeile, letztlich aber leere Fotmel?<br />

Und machen wir uns nichts vor: Nicht Wenigen ist die Orientierung Sozia-ler Ar-<br />

beit an einem christlichen Menschenbild überhaupt verdächtig' Es ist - so ihre<br />

Meinung - gerade ein Ausweis echter Professionalität, dass sich die moderne So-<br />

ziale <strong>Arbeit</strong> von der jüdisch-cbristlichen Tradition emanzipiert und in diesem<br />

S<strong>im</strong>e säkularisi.ert hat. Diese Säkularisierung sei sogar notwendig, damit die<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> - auch die der Kirchen (!) - irr unserer weltanschaulich plural ver-<br />

fassten Gesellschaft eine breite Akzeptanz finden könne.<br />

Meinet Meürung nach schließen sich das christliche Menschenbild und ein mo-<br />

dernes Professionsverständnis <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong> keiresfalls aus. Im Gegenteil: Ge-<br />

rade ilas moderne Selbstverständnis <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong> als Men'schenrechtsprofession<br />

offenbart nicht nur ihre jüdisch-christlichen Wurzeln. Es fü}ut auch zu einem<br />

Ethos beruflichen Handelns, das wichtige Intuitionen des christlichen Menschen-<br />

bildes auln<strong>im</strong>mt und nach vfie vor von ihm lernen kalur. Diese Auffassung will<br />

ich <strong>im</strong> folgenden knapp begrür:den. Ich skizziere zunächst das Selbstverständnis<br />

<strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong> als <strong>Menschenrechtsprofession</strong>, entwickle von }ieraus eüeige Kon-<br />

turen der geforilerten berufsethischen Grundhaltung und setze sie abschließend<br />

mir chrisl,lichen Deutungen menschlicher Existenz in Beziehurg.


Soziale <strong>Arbeit</strong> als <strong>Menschenrechtsprofession</strong><br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> ist eir.e <strong>Menschenrechtsprofession</strong>, Das will ich erläutem: Bera-<br />

tung, Betueuung, Bilduag uud Erziehung, ja auch sozialadmirristratives Handeln<br />

unterctützt die Hilfeempfälrger, schwierige Lebenslagen möglichst selbstäadig zu<br />

bewältigen u::d damit ein mögLichst selbstbest<strong>im</strong>mtes Leben zu fü]ren. Die<br />

selbstbest<strong>im</strong>mte und unbeschädigte Lebensführ"ung eines Menschen bildet aber<br />

den Kern s<strong>einer</strong> Würde. Menschenrechte bringen jene elementaren Lebensbedin-<br />

gungen zur Geltung, die für eille menschenwürdige Lebensführung erforderlich<br />

sincl. Dies gilt für die klassischen Freiheitsrechte ebenso wie für Partizipations-<br />

und Sozialrechte. Das Recht auf Freizügigkeit ist wie das Recht auf freie Mei-<br />

nungsäußerung oder das Recht auf Bildung und materielle Gru.ndsicherulg e1e-<br />

mentare Voraussetzung, damit Menschen iluen höchst persönlichen Lebensent-<br />

wur{ entwickeln und - sozusagen itrrer Würde gemä3 - ,,in die Tat" setzen kön-<br />

nen, Professionelle Soziale <strong>Arbeit</strong> will die Kompetenzen ihrer Hilfeempfäager zur<br />

selbstbest<strong>im</strong>mten Lebensfüluurg entfalten helfen. Damit muss Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

unmittelbar die Durchsetzuag von Menschenrechtsansprüchen ihrer Hilfeemp-<br />

fänger fördern. Deshalb ist sie <strong>Menschenrechtsprofession</strong>.<br />

Das ist ein hoher Anspruch wie eire moralisch sehr gehaltvolle Aussage: Wenn<br />

Soziale <strong>Arbeit</strong> i]I best<strong>im</strong>mte Lebenssituationen eines Menschen für die Durchset-<br />

zung elementarer Menschenrechte unverzichtbar ist, ilaln ist Soziale <strong>Arbeit</strong><br />

nicht mebr Ausdrr,rck <strong>einer</strong> mitleidsvollen Barmherzigkeit, die man anderen<br />

Menschen ungeschuld,et zukommen lässt und von iler man slch je nach Belieben<br />

wieder dispensieren kam; sondern sie ist Ausdruck <strong>einer</strong> Solidarität, die man<br />

Hilfsbedürftigen aus Gründen der Gerechtigkeit schuldet. A71e Methoden und<br />

Konzepte professioneller <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong>, alle ihre Orgarrisationsformen und Un-<br />

terstützungssysteme, alle ilrre materiellen wie <strong>im</strong>materiellen Hilfen, die sie ge-<br />

währt, ja selbst alle ihre Grundmotive und Leitoptionen müssen sich daran mes-<br />

sen lassen, ob sie die menschenrechtlichen Aasprüche ihrer Hilfeempfänger ver-<br />

wirklichen helfen und damit deren menschenwürdige Lebensftihiung fördem o-<br />

der aber behindern, Werden Bildungschancen erhöht? Werden dem Ratsuchen-<br />

den <strong>im</strong> Beratrmgsprozess neue Handluagsalternativen erschlossen und damit<br />

seine persönliche Freiheits- und Entscheiilungsmöglichkeiten real erhöht? Dient<br />

die Pflege dem subjektiven Wohlbefinden oder doch nur dem Ruhigstellen des<br />

Alten? Eines ist schnell klar: Paternalistische Bevormundung oiler ein In-<br />

Abhängigkeit-halten sind von vome herein ausqeschlossen!<br />

2


<strong>Ethik</strong> <strong>im</strong> <strong>Dienst</strong> der <strong>Menschenrechtsprofession</strong><br />

EineBerufset,hik<strong>Sozialer</strong><strong>Arbeit</strong>spieltbeidiesenundähnlicheFrageneinewich'<br />

tige Rolle. Sie steht selbst <strong>im</strong> <strong>Dienst</strong> <strong>einer</strong> <strong>Menschenrechtsprofession</strong> Sie frltert<br />

näm1ich jene moralischen Überzeugungen aus, die berufliche Soziale <strong>Arbeit</strong> nur<br />

ideologisch überhöhen und letztlich quer zu den Menschenrechtsansprüchen der<br />

Hilfeempfänger stehen. Ich er<strong>im</strong>ere an das vollmundige Pathos' das <strong>im</strong> Zeichen<br />

von Nächstenliebe, Mitleid, I'ürsorge, selbstloser HiJfe usw'' das Soziate <strong>Arbeit</strong><br />

<strong>im</strong>mer wieder unerträglich moralisch aufgelailen hat - unelträglich ileshalb' weil<br />

sich hinter diesen hehren altruistischen Ansprüchen oftmals sehr eigennützige<br />

Motive der Helfer verbergen. Im Gegenzug stellt die <strong>Ethik</strong> <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong> solche<br />

moralischen Orientierulgen und Verbindlichaelten heraus' die der menschen-<br />

rechtlichen Leitidee <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong> entsprechen uld sie für koDkrete Fragestel-<br />

-tungen operaüonalsreren.<br />

Wenn es um die großen gesellschaftspolitischen Ziele <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong> geht' ist die<br />

ethische ?rtlfulrg ihrer,,Nilenscheruechtstauglichkeit" noch relativ unproblema-<br />

tisch. Ein Beispiel aus der Geschichte aler Sozialen <strong>Arbeit</strong> ka:rr dies gut verdeut-<br />

lichen: Lalge Zeit orientierte sich die staatliche Sozialpolitik daran, soziale Kon-<br />

flikte urrd ihre Reibungsverluste durch die Integration ,/andstäldigel" Personen<br />

urod Personengruppen allein um der gesamtgesellschaftlichen rmd vor allem öko-<br />

nomischen FunJ


viele Bedürftige gerecht vedeilt werden. Insofern stehen ökonomische Uberle-<br />

gungen sogar <strong>im</strong> <strong>Dienst</strong> ethischer Interessen. Dieses Verhältnis darf sich aber nle<br />

umkehren. Ansonsten gerieten Soziale <strong>Arbeit</strong> unil mit ilr letztlich auch die Men-<br />

schenrechte unter das Diltat ökonomischer Sachzwänge. Ökonomische Überle-<br />

gungen dienen der Menschenwitile von Bedürftigen und aicht umgekehrt.<br />

Nicht ganz so einfach ist es für eine <strong>Ethik</strong> <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong>, die konheten Hand-<br />

hmgsvollzüge und kleinteiligen Organisationsformen des Sozialwesens auf ihre<br />

,,1\4enschenrechtstauglicbleit" hin zu prüfen. Wann ist ein Beratungsgespräch <strong>im</strong><br />

ASD ,,menschenrechtstauglich'? Wie muss die Organisaüon eines Sozialamtes<br />

aussehen, damit es ilen Menschenrechtsansprüchen iles Sozialhilfeempfängers<br />

nicht zuwiderläuft? Welches Maragement sozialer <strong>Dienst</strong>leistung stützt tatsäch'<br />

lich die Problemlösungsressourcen des Hilfe Suchenden urd schüttet sie nicht<br />

umgekehd sogar wieder zu? Auf diese Vielzahl von Einzelfragen lassen sich am<br />

grünen Tisch keile fertigen Altworten formulieren. Die meisten von ihnen müs-<br />

sen ohnehin in iler konkreten Situation geklärt werden. Eine <strong>Ethik</strong> <strong>Sozialer</strong> Ar-<br />

beit ist aber in der Lage, eidge wichtige Grundprinzipien und Grundhaltungen<br />

zu beschreiben, die dem Sozialprofessionellen bei der Lösulg moralischer Be-<br />

rufskonllikte eine verlässliche Stütze sind.<br />

Autonomie, Gerechtigkeit und Solidarität als universale ethische Prinzipien<br />

A1s erstes möchte ich drei Grund,prinzipien rennen, an denen jedes sozialberulli-<br />

che Handeln wie alle Institutionen ued organisatorischen Vermittlungsformen<br />

der Sozialen <strong>Arbeit</strong> zu messen sintl: Autonomie, Gerec.htigkeit rmd Solidarität.<br />

Sie bilden übrigeas den moralischen Kern jeden Menschenrechtsdenkens. Die<br />

französische Revolution nannte sie noch i'reiheit. Gleichheit. Brüderlichleit.<br />

lJnsere modernen uril pluralen Gesellschaften bauen auf die ulbedingte Achtung<br />

vo!: det Autononie <strong>einer</strong>/s jeden einzelnen Menschen. Nun beileutet die Autono-<br />

mie eires Menschen heiSt keinesfalls Bindungslosigkeit oder Selbstgenügsam-<br />

keit. Das wäre Autarhie. Autonomie hingegen bezeichnet jene Lebensführung<br />

eines Menschen, die mit dem von ihm selbst bejahten eigenen Entwur{ eines ge-<br />

lingenden Lebens übereirst<strong>im</strong>mt, Ein gelingendes Leben selbstbest<strong>im</strong>mt zu füh-<br />

ren ist aber bekanntlich <strong>im</strong>mer beziehuags- und bindungsreich. Nur in Gemein-<br />

schaft mit anderen, nur in ilen sozialen ured kulturellen Netzen unserer semeur-<br />

4


samenLebensweltelschließensichjenesphären,diemeinempelsönlic]renLeben<br />

Sinn und Perspektive verleihen. Der Mensch ist Person' keile sich selbst genüg-<br />

sameMonacle.EristundlebtinunddurchBeziehungen,odereristrmdlebte.<br />

ben nicb t.<br />

Deshalb gebietet die unbedingte Achtung vor der Autonomie <strong>einer</strong>/s Jeden auch<br />

ilie u:rbeilingte Geltung (sozialer) Gercchtigkeit und Solidarität zwischen mir ulrd<br />

allenanileren.DerucnutGelechtigkeitgewährleistetdenAusgleichwiderstreiteoder<br />

Interessen und ilamit ilie gleiche Achturg <strong>einer</strong>/s Jeilen von uns Das aber<br />

ist wichtig. Beziehungen greifen unwillkürlich in die Lebensmöglichkeiten mel-<br />

nes Nachban und Mitmenschen ein. Sie können ün befdrdem oder behindern'<br />

Und er kann mich behindern oder eben auch beftirdern' Deshalb kann die<br />

Gleicbheit zwischen uns unil allen antleren nul durch Gerechtigkeit' durch die<br />

gerechte Verteilung von Lebenschancen und Lebensgüter gesichert werden Dar-<br />

in gründet auch ilie Unverzichtbarkeit von Solidarität' Denn nur die gemeinsame<br />

wechselseitige Unterstützung2 urtereinander eröffnet innerhalb <strong>einer</strong> Gemein-<br />

schaft oder Gesellschaft die Chance, dass auch benachteiligte urd nicht vom Er-<br />

folg verwöhnte Menschen Stück für Stück zur selbstbest<strong>im</strong>mten Lebensführung<br />

befähigt werilen. Wir alle sind bedürftig und aufeinander angewiesen - weDrgs-<br />

tens mit Blick auf die gareze Spanne rmseres Lebens!3<br />

Verantwortung als Parteilichkeit<br />

Autonomie, Gerechtigkeit und Solidarität - sie sind Gru:rdbedingungen <strong>einer</strong><br />

menschenwürdigen Lebensführur:g und damit zugleicb Grundbedingungen <strong>einer</strong><br />

menschenrvürdigen Ver{assureg unserer pluralen Gesellschaft. Sie führen auf Sei-<br />

ten iler Sozialprofessionellen ztrr Grurdhaltung der Verontwortung utd der Acht-<br />

samkeit. Das will ich begrünilen:<br />

Menschenrechte fallen nicht vom H<strong>im</strong>mel. Sie müssen <strong>im</strong>mer wiedea neu er-<br />

kämpft werden. Der Kampf um Menschenrechte wurzelt ilr den ulzähJigen Er-<br />

fahungen beschädigten und vernutzten Lebens. Menschedechtsarbeit ist kon-<br />

2Ich erinnere an die urspdngüche Bedeutung von Solidarität: in solidun oblBarL<br />

3 ygl. Matthies Möhring--al€sse. Mit Schmarotzern solidadsch s€iD? Solidarität auf Gegenseitig'<br />

keit in <strong>einer</strong> Wol standsgesellschaft. In: Hengsbach, Friedhelm u.a.(Hg.) Eure Armut kotzt uns<br />

anl SolidaritäL in der Krise. Fraokfun^'l. 1995


kreter Widerctand gegen alie Erfahrung menschlichen Unrechts und Leidens.<br />

Darin liegt ihr unjversaler Anspmch. Er korrespondiert mlt der Universalität<br />

menschlicher Unterdrückungs- und Leiderfahrung, die es durch Menschen-<br />

rechtsarbeit sovreit wie möglich zu überwiaden gilt. In diesem Sinne begrünalet<br />

eine <strong>Menschenrechtsprofession</strong> die moralische Verantwottuf,g <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

von jenen Anileren her, in deren Antlitz die Spuren <strong>einer</strong> vemutzten und von<br />

Vernichtung bedrohten menscblicher Existenz eingetragen sind.a Von diesen<br />

konl


,,Heilung" jener Verletzungen, ilie sie druch die Gewalt der Anderen haben erleiden<br />

müsseo.<br />

Ich spreche bewusst von Achtsamkeit, die gefordert ist, unil nicht von Mitleid'<br />

Mitleid in der Sozialen <strong>Arbeit</strong> stand und steht <strong>im</strong>mer in der Gefahr, den Bemit-<br />

leideten gleichsam von oben herab lediglich ir s<strong>einer</strong> Erbarmurgswürdigkeit<br />

wahrzunehmen. Der Bemitleidete wird leicht zum b1oßen Objekt mildtätiger Lie-<br />

be des Mitleiilenden, der sich so in der Pose des Großherzigen gefallen karen' Hier<br />

hat ilie beißende KÄtik Friedrich Nietzsches am Mitleidsideal manch religiöser<br />

Überzeugung tatsächlich ihre Berechtigung. Schnell nämlich verkörpert das Mit-<br />

leid nichts anderes als eine geschickte Tarnung iles egoistischen Motivs, sich le-<br />

diglich über ilen Bemitleideten zu erhöhen und sich ,,in der ganzen Rücksichtslo-<br />

sigkeit seines eigensten lieben Selbst"6 zu erleben. Achtsamkeit hingegen hebt<br />

den Sozialprofessionellen <strong>im</strong> Gegenüber zum Hilfeempfänger max<strong>im</strong>al auf glei-<br />

che Augenhöhe, Achtsamkeit ist nicht nur sensibel ftir die Beschädigungen des<br />

Anderen. Sie entdeckt auch das Gelingende und Glückende <strong>im</strong> Antlitz des Ge-<br />

genüber. Achtsamkeit stutzt ilm nicht auf seine Defizite zurück. Sie n<strong>im</strong>mt auch<br />

ilie vorfindlichen Eigenressourcen ernst - Ressourcen, die der Andere auch uld<br />

gerade in s<strong>einer</strong> Verletzlichkeit ftir die Füluung seines Lebens unter erschwerten<br />

Bedingungen attivieren karur.<br />

Unverzichtbarkeit basaler religiöser KomPetenz<br />

Zw Achtsamkeit gehört auch das, was ich basale religiöse Kompetenz r:enrnen<br />

will. In eirler weitgehend sifüularen Gesellschaft mag dies überraschen odet so-<br />

gar befremden. Lassen Sie mich klarstellen: Mit basalet religiöser Kompetelz<br />

meine ich dcht, dass jeder Sozialprofessionelle <strong>im</strong> klassischen Silne religiös seia,<br />

sich also zu <strong>einer</strong> Religion bekennen rnuss. Mit basaler religiöser Kompetenz<br />

meine ich vielmehr die Fähigkeit, in der Erfahrung des Anderen radikal offen zu<br />

sein für das Unverfügbare, dass sich ilem Altlitz des Anderen entbirgt und sich<br />

jeder präzisen Festlegurg in schematisierten Bildern, jeder Vere<strong>im</strong>ahmurg ftir<br />

die eigenen Ilteressen entzieht. Ich nenne diese Kompetenz bewüsst bctsal rcliqi'<br />

ös. In seirer ursprüreglichen Bedeutuag bezeichnet das Religiöse jenes miniles-<br />

6 Fried.rich Nietzsche: Werke in drei Bände (hrsc. von Kä"I Schlechta), München 1956, 2.8d., S.<br />

486


tens intuitive Wissen eines Menschen, ilass sich die menschLiche Existenz nicht<br />

allein ilrrer selbst verdankt, sondern auch auf etwas vor- oaler besser zugreifen<br />

muss, was schlieJ:L unuerfiigbor, was, um mit Im manuel Kant z',t sprechen, ,,nicht<br />

in ulserer Hand'e ist.<br />

Religiöse Bekemtnisse bieten für diese grenzüberschreitende Frage nach dem,<br />

was nicht in unserer Hand ist, konkrete Sinncleutungen an. Das Christentum<br />

etwa erzählt von einem Schöpfergott, dessen Geschöpfe sich in iluer geschichtli-<br />

chen Existenz einzig Ihm selbst verdanken urrd in diesem Sinne auf Ihlr zurück-<br />

greifen können. Diese Abhängigkeit gilt für jedes Geschöpf in gleicher Weise; sie<br />

begründet ileshalb auch eine absolute Gleichheit zwischen allen Menschen Ge-<br />

schöpfen, die jegliches Verfügungsrecht des einen über den anderen ausschließt<br />

Diese Grunilüberzeugung des biblischen Glaubens bililet urbestritten ein wichti-<br />

ges Fundament modernen Menschenrechtsdenl


Überlegungen auch in die Sprache religiöser Überlieferungen kleiden können So<br />

etwa die unbedingte Verpflichtung zur Menschenrechtsarbeit: Das Antlitz des<br />

<strong>im</strong>merschonbeschädigtenrildversehrtenAnderen,ilasu:rsihmgegenüberzur<br />

unbedi:rgten Veraltwortung veraflichtet, hätte ich <strong>im</strong> Sinne von Mt 25' 40 auch<br />

beschreiben können als die Gegenwart Jesu Christi <strong>im</strong> Antlitz iedes hungrigen'<br />

kranken uncl nackten Menschen, der uns zur konlreten llilfe uld darin zur Be-<br />

wäbrungsprobe unserer Gottesliebe herausfordert' Oder ich hätte einlach die Ge-<br />

schichte iler b1utflüssigen Frau aus dem Markus-Evangelium erzählen können:<br />

Dort der ist Mann aus Nazareth, dem wunderbare und vor a11em heilsame Kräfte<br />

nachgesagt welalen, wenn man dessen Nähe findet; hier ist die kranlre Frau' de-<br />

ren steter Blut{luss sie in ilie vö11ige Isolation gebracht und von allen Lebens-<br />

quellen abgeschnitten hat, Als Unreine, so sahen die sozialen Gep{logenheiten<br />

iluer Kultur vor, ist sie vom sozialen wie kultischen Gemeinschaftsleben weitge-<br />

hend ausgeschlossen. Noch hat aber die Krankheit den Lebensmut dieser Frau<br />

nicht vollends brechen kön:ren, <strong>im</strong> Gegenteil: Zwar lnat sie i1rr ganzes Vermögen<br />

anclieMedizinerihrerZeitverloren,obleibreKrankheitbezwungenzuwlssen.<br />

Im entscheidenden Augenblick aber, in dem sie in die Nähe jenes Nazatenets<br />

gelangt, dessen leibhafte Gegenwart die Heilung selbst lebenshedrohlichsier<br />

Kra*heiten bewirkt, in diesem entscheidenden Augenblick ]ässt sie sich weder<br />

von d.er Menschenmenge, noch von ilrrem irmeren Messer <strong>im</strong> Kopf des "Immerschön-Abstared-halten!",<br />

des ,,Jede Berülrrung vermeiden!" abdrälrgen Sondern<br />

sie schöpft den Mut, das Ungeheuerliche des Tabubruchs zu tun: als Unreine ei-<br />

nem Reinen nachzustellen - ,,Und sie berti.hrte sein Gewand " Mehr noch: Sie be-<br />

kennt sich öffentlich zu diesem Tabubruch und bricht damit endgültig aus ihrer<br />

sozialen Verbannulg. Mit übrigens auch medizinlsch messbaren Erfolg: ,,Sofort",<br />

ber.ichtet der Evangelist Markus, ,,horte die Blutulg auf, und sie spürte deutLich,<br />

dass sie von itrrer Plage geheilt war'" (i!tk 5, 29)'<br />

Die Geschichte dieser Blutflüssigen also und die Geschichten vieler anderer, die<br />

ilurch die Nähe des Mames aus Nazaret neuen Lebensmut erfalren und daril<br />

ganz erheblich zur Ilberwindung ihrel Ausgrenzung uld ihres Leiden beitragen,<br />

sind natürlich viel eindrücklicher als meine nüchternen Worte über die gebotene<br />

Achtsamkeit fiü die vorfindlichen Eigenressourcen der Hilfebedr.irftigen Nüch-<br />

terne Worte sinil jedoch geboten, we t nur noch Argumente Kritik urrd Zweifel<br />

auszlrräumen vermögen. Deshalb mein weitgehender Verzicht auf religiöse Er-<br />

zählunsen.


I'refich, manches lässt sich nicht ohne Verlust in die Sprache moilerner Rationa-<br />

lität übersetzen. .-Als sich Sihde in Schuld verxrandelte, ging etwas Yerlorcn'<br />

Denn rnit dem Wursch nach Verzeilung verbinclet sich <strong>im</strong>mer noch der unsenti-<br />

mentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid uageschehen zu mac-hen. Erst<br />

recht beunnhigt uns die Unqmkehrb atkeil vergangengen Leidens - jenes Un-<br />

recht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über<br />

jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachu:rg hinausgeht. Die verlorene<br />

Hoffmmg auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere."8 Der dies ür eirl-<br />

drucksvoller Rede vermerkte, Jürgen Habermas. erinnerte Christen wie die ,,reli-<br />

giös Unmusikalischen" - zu denen er sich selber zählt - an clie enormen Deu-<br />

tungs- unil Handlutrgspotentiale der biblischen Erzählungen, die auch in <strong>einer</strong><br />

postsäkularen Gesellschaft eine nach wie vor unabgegoltene uld deshalb unver-<br />

zichtb are Orientierungsfunktion besitzen.<br />

Gottebenbildlicb.keit des Menschen und das Signum der gleichen Freiheit eines<br />

Jeden; Versöhrueg, die das, was wir einander angetan und deshalb schuldig<br />

geblieben siuil, verzeiht, weil wir uns dazu ehrlich bekennen; fie Hoffnung auf<br />

Erlösung aller Geschundenen ulrd Geplagten, denen ihr Schicksal und ilre<br />

menscblichen Peiniger viel Leid angetan haben; die Ho{fnung, dass die Peirriger<br />

dieser Welt am Ende iler Geschichte nicht das letzte Wort haben, die Mörilern<br />

oicht endgültig über die Gepeinigten und Ermordeten tuiumphieren können; oder<br />

aber die Wertschätzung des Unvollendeten, das uns vom schrecklichen Traum<br />

eines perfekten Menschen und <strong>einer</strong> perfekten Gesellschaft befreit; die Hoffnung<br />

wider aller Hoffmng, die die Geschichte jedes einzelnen von uns offen hält gegen<br />

alle Gefü]rle des Fatalismus und der Resigtration; ja auch d.er Tlost, der uns nicht<br />

au-f bessere Zeit vertröstet, sondern in den Geburtswehen <strong>einer</strong> neuen Lebens-<br />

phase Beistalcl urrd Ermutigulg gewährt; all dies und vieles Weitere sind Gehal-<br />

te biblischer Traditionen, die auch der professionellen Sozialen <strong>Arbeit</strong> eine zu-<br />

tiefst menschliche und dadn christlic.he Prägurg geben können. Dabei müssen<br />

die religiös Unmusikalischen nicht erst musikalisch wetdenr um sich an der ge-<br />

spielten Musik zu erfreuen. Man muss nämlich ,,nicht glauben, um zu verstehen,<br />

was (...) gemeint ist," häIt Jürgen Ilabermas nüchtern fest.<br />

Und ileshalb wird die <strong>Ethik</strong> <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong>, ilie an kirchlichen Hochschulen ge-<br />

lehrt urd erarbeitet wird, hoffentlich nicht auf das spezifisch Christliche verzich-<br />

3 Jürgen Eabermas: Glaube, Wissen - Offnung. Zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels:<br />

Eine Dankesrede. In: SZ Nr. 237 (15.10.2001), S.17<br />

10


ten. Sie wiril mal nüchtern argumentieten, ein anderes Ma1 die großartigen uld<br />

auskunftsstarken Erzä}lullgen der Bibel zur Sprache bringen. Sle tut dies nicht<br />

in überheblicher oder triumphalistischer Manier. Sie tut dies lediglich <strong>im</strong> Be-<br />

wusstsein, class die biblischen Erzä.blungen auch unil geraile in Not, oiler - wie es<br />

ilr der Sprache der Sozialprofessionellen heißt - in ihren prek?iren Lebenslagen<br />

einfach heilsam sein könrien. An iliese ftohe Botschaft iler cbristlichen Tradition<br />

darf rmil muss auch in Zeiten metaphysischer Obdachlosigkeit <strong>Sozialer</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

aufmerksam gemachL wertlen,<br />

11

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