Owen Hatherley – These Glory Days - Edition Tiamat
Owen Hatherley – These Glory Days - Edition Tiamat Owen Hatherley – These Glory Days - Edition Tiamat
Owen Hatherley – These Glory Days
- Seite 2 und 3: Owen Hatherley ist freier Autor, le
- Seite 5: INHALT Intro - 7 Über Freaks und M
- Seite 8 und 9: ein Album auf dem ersten, und ein V
- Seite 10 und 11: Cocker die Hälfte der Songs geschr
- Seite 12: ein roter Faden durch Pulps Werk zi
<strong>Owen</strong> <strong>Hatherley</strong> <strong>–</strong> <strong>These</strong> <strong>Glory</strong> <strong>Days</strong>
<strong>Owen</strong> <strong>Hatherley</strong> ist freier Autor, lebt in London und schreibt<br />
vor allem über politische Ästhetik. Veröffentlichungen: »Militant<br />
Modernism« 2009, »A Guide to the New Ruins of Great<br />
Britain« 2010, »A New Kind of Bleak« 2012.<br />
Titel der Originalausgabe: »Uncommon. An Essay on Pulp«,<br />
Zero Books, Winchester, Washington 2011.<br />
Copyright © <strong>Owen</strong> <strong>Hatherley</strong>, 2011.<br />
<strong>Edition</strong><br />
TIAMAT<br />
Deutsche Erstveröffentlichung<br />
Herausgeber:<br />
Klaus Bittermann<br />
1. Auflage: Berlin 2012<br />
© Verlag Klaus Bittermann<br />
www.edition-tiamat.de<br />
Buchumschlag unter Verwendung eines Fotos von<br />
Andrew Cotterill<br />
© Getty Images<br />
ISBN: 978-3-89320-168-6
<strong>Owen</strong> <strong>Hatherley</strong><br />
<strong>These</strong> <strong>Glory</strong> <strong>Days</strong><br />
Ein Essay über Pulp und<br />
Jarvis Cocker<br />
Aus dem Englischen von<br />
Sylvia Prahl<br />
Critica<br />
Diabolis<br />
199<br />
<strong>Edition</strong><br />
TIAMAT
INHALT<br />
Intro <strong>–</strong> 7<br />
Über Freaks und Männer <strong>–</strong> 33<br />
Kinder, die auf den Fluren von Meadowhall<br />
gezeugt wurden <strong>–</strong> 51<br />
Wohlhabende gegen Habenichtse <strong>–</strong> 85<br />
Das geht da rein <strong>–</strong> 117<br />
Glückliches Ende <strong>–</strong> 143<br />
Danksagung <strong>–</strong> 167
Intro<br />
»Das wegen der vulkanischen Staubwolke verhängte<br />
Flugverbot führte zu den unvermeidlichen Beschwörungen<br />
des Geistes von Dünkirchen: ›Kleine Schiffe‹ legten<br />
von den Häfen des Ärmelkanals ab, um die gestrandeten<br />
›Brits‹ nach Hause zu schippern. Es erinnert daran, wie<br />
irritierend der Zweite Weltkrieg gewesen sein muss, hat<br />
er doch rechthaberischen Typen geradezu unbegrenzte<br />
Möglichkeiten gegeben, sich als Möchtegern-Helden zu<br />
inszenieren, während jeder andere einfach nur versuchte,<br />
irgendwie über die Runden zu kommen. ›Brits‹. Dieses<br />
kleine tapfere Wort verrät so viel darüber, was seit<br />
Mrs Thatcher hassenswert ist auf dieser Welt.«<br />
Alan Bennett, Tagebücher, 19. April 2010<br />
»Was, wenn du niemals runter kommst?«<br />
Dieses Buch erzählt eine der eindrucksvollsten Geschichten<br />
von Aufstieg und Fall in der Geschichte der<br />
Popmusik <strong>–</strong> von einer Band, die aus trostlosesten Verhältnissen<br />
kam und unwahrscheinlich erfolgreich wurde,<br />
nur um dann ähnlich grandios zu scheitern. Pulp gründeten<br />
sich 1979 in Sheffield und veröffentlichten 1983,<br />
1987 und 1992 drei seltsame, morbide Alben, die kommerziell<br />
keinerlei Erfolg hatten. 1994 wurde die Band<br />
plötzlich und unerwartet berühmt, und ihr Sänger Jarvis<br />
Cocker war nun so bekannt, dass er von allen nur noch<br />
beim Vornamen genannt wurde. 1995 und 1996 landeten<br />
einige ihrer Singles auf dem zweiten Platz der Hitparade,<br />
7
ein Album auf dem ersten, und ein Vorfall auf einer<br />
Preisverleihung bescherte ihnen eine geradezu notorische<br />
Berühmtheit. Als sie dann 1998 erneut auf der Bildfläche<br />
erschienen, haben es ihre Singles nicht mal mehr in die<br />
Top 20 geschafft. Ihre Alben erhielten zwar allseits gute<br />
Kritiken, verkauften sich aber kaum. Ihr letzter Seufzer,<br />
ein augenzwinkernd tiefstapelnd betiteltes Greatest-Hits-<br />
Album namens Hits schaffte es gerade noch in die<br />
Charts.<br />
Als sich Pulp 2002 schließlich (vorläufig) auflösten,<br />
wirkte es fast so, als könne sich kaum noch jemand an sie<br />
erinnern. Viele ihrer Zeitgenossen machten unverdrossen<br />
weiter, brachten entweder Konzept-Alben heraus <strong>–</strong> die<br />
meisten Bands verzichteten jedoch darauf, die vorher so<br />
angesagten Pseudo-Cockney-Akzente zu benutzen <strong>–</strong>,<br />
oder sie lieferten gleich eintönigen Pubrock mit rätselhaft<br />
andauerndem Erfolg. Jarvis Cocker überdauerte als nationales<br />
Kulturgut, obwohl sich scheinbar kaum jemand<br />
daran erinnern konnte, weshalb er noch mal berühmt war<br />
<strong>–</strong> Pulp jedoch waren von der Bildfläche verschwunden,<br />
wie es schien, ohne die Welt auch nur im Geringsten<br />
verändert zu haben.<br />
Ich werde in diesem Buch belegen, dass Pulp die letzten<br />
ihrer Art waren. Ihr Aufstieg und Fall spiegelt das<br />
Schicksal einer langen Reihe von Musikern wider. Seit<br />
den frühen siebziger Jahren reüssierten in Großbritannien<br />
zahlreiche Bands und Künstler, die aus der Arbeiterklasse<br />
oder der unteren Mittelschicht stammten. Sie haben<br />
Kunsthochschulen besucht, staatliche Förderungen bezogen<br />
und lebten in möblierten Zimmern oder Sozialwohnungen,<br />
bis sie sich nur wenige Monate später in Fünf-<br />
Sterne-Hotels wiederfanden. The Kinks, David Bowie,<br />
Roxy Music, Japan, The Associates, Soft Cell, Kate<br />
Bush, Pet Shop Boys, The Smiths, und andere <strong>–</strong> alle Genannten<br />
vereinten auf mysteriöse Weise so gegenläufige<br />
Themen wie Sexualität und Bildung, Größenwahn und<br />
Rechtschaffenheit, Ehrgeiz und Klassenressentiments.<br />
8
Sie schafften es, all das zu glaubwürdiger Musik zu verarbeiten,<br />
die erstaunlicherweise den Geschmack der Massen<br />
traf. Es war möglich, ihre Songtexte zu lesen, ohne<br />
peinlich berührt zu sein, und in den meisten Fällen<br />
konnte man sogar zu dieser Musik tanzen <strong>–</strong> und musste<br />
nicht mit den Armen rudern oder herumspringen. Irgendwann<br />
in den Neunzigern verschwand diese Poptradition<br />
mit intellektuellen und experimentellen Bezügen,<br />
die völlig unpassend unter dem Label »Indie« subsumiert<br />
wurde, auf der Höhe ihres Erfolgs von der Bildfläche.<br />
Dafür gibt es einige Gründe. Der Bezug von Arbeitslosengeld<br />
als Haupteinnahmequelle von Musikern wurde<br />
durch verpflichtende Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erschwert,<br />
Sozialwohnungen wurden nur noch an wirklich<br />
Bedürftige vergeben und besetzte Häuser wurden sofort<br />
geräumt. Außerdem war die an den Kunsthochschulen<br />
gepflegte Allianz zwischen der Kunstszene und der jungen<br />
Arbeiterklasse längst zerbrochen. Mit dem Ergebnis,<br />
dass nicht nur alle Musiker den gleichen sozialen Status<br />
hatten, sondern auch der Sound der Musik zum Einheitsbrei<br />
verkam. 2010 hatten laut einer Statistik 60 Prozent<br />
der in den Top Ten vertretenen britischen Künstler eine<br />
Privatschule besucht <strong>–</strong> im Jahr 1990 war es nur ein Prozent.<br />
Der Status von Pulp als letzte Band ihrer Art kann auch<br />
daran festgemacht werden, dass sie eigentlich keine<br />
Nachfolger hatten. In der oben angeführten Liste finden<br />
sich viele ihrer Vorläufer, aber eine jüngere Band zu<br />
finden, die Pulp explizit zitiert, oder auch nur ihr musikalisches<br />
Erbe antritt, ist geradezu unmöglich. Ganz am<br />
Rande des Spektrums gibt es ein paar Bands, die halbwegs<br />
ins Bild passen. Die Synthie-Primitivlinge von Add<br />
N to X oder Fat Truckers zeigten einige Anklänge der<br />
Pulp’schen Ästhetik und ihres Sounds, ebenso wie die<br />
Elektro-Heulsusen Ladytron. Das Album Pickled Eggs<br />
and Sherbet der Band The All Seeing I war durch und<br />
durch pulpesk, was angesichts der Tatsache, dass Jarvis<br />
9
Cocker die Hälfte der Songs geschrieben hat, auch nicht<br />
weiter verwunderlich ist. Einzig The Long Blondes plünderten<br />
Pulps Look und thematische Vorlieben der Jahre<br />
1990 bis 1994. Die ebenfalls aus Sheffield stammende<br />
Band wirkte ohnehin wie eine tanzende, heuchlerische<br />
und künstliche Hommage an His’n’Hers, dem Pulp-<br />
Album von 1994. In den letzten Jahren war bestenfalls<br />
das postfordistische Gejammer der Alben SyMptoMs von<br />
Mordant Music und North von Darkstar aufgrund der<br />
psychologischen und geografischen Nähe zu Pulp Anzeichen<br />
dafür, dass die Ahnenreihe doch noch nicht ganz<br />
ausgestorben ist. Aber beide konnten den Privatschulabsolventen<br />
in ihnen nicht verhehlen. Verglichen mit den<br />
vielen Blur- und Oasis-Epigonen, oder der Postpunk-<br />
Revivalband des Jahres 2000, Franz Ferdinand, hinterließen<br />
Pulp keinerlei Vermächtnis. Die Arctic Monkeys gehören<br />
zu den wenigen englischen Bands, die in den letzten<br />
zehn Jahren so etwas wie Zeitgeist definierten. Sie<br />
sind die einzigen, die mit ihrer nordenglischen Hemdsärmeligkeit,<br />
genauer mit blankem Zynismus und einer<br />
durchaus belebenden Wolllust, Vergleiche mit Pulp<br />
rechtfertigen. Aber weder ihr grindiger funky Rock noch<br />
ihre etwas selbstverachtende Rüpelhaftigkeit ähnelten<br />
ihren Sheffielder Vorgängern.<br />
Dass die oben genannte Ahnenreihe fast verschwunden<br />
ist, wird zwar oft beweint, doch Pulp werden nur selten in<br />
diesem Zusammenhang erwähnt. Manche rollen mit den<br />
Augen, wenn von Pulp gesprochen wird, andere ergehen<br />
sich in nostalgieschwangerer Bewunderung, die auf unangenehme<br />
Weise an den Ausverkauf erinnert, den die<br />
Kulturindustrie in den neunziger Jahren betrieben hat.<br />
Pulp werden nach wie vor entweder komplett abgelehnt,<br />
oder sie sind Teil einer »Das Beste der Neunziger«-<br />
Erinnerungsmaschinerie. Diese Polarisierung stammt aus<br />
der Zeit ihrer größten Erfolge.<br />
Pulp waren gewissermaßen die beste englische Popband<br />
der neunziger Jahre, und sie müssen den Vergleich<br />
10
mit ihren Vorgängern nicht scheuen. Roxy Music entwickelten<br />
nicht einmal in ihren unterkühltesten Helmut-<br />
Newton-Zeiten eine derart zwingende Vision von Erfolg<br />
und Opulenz, um sie dann in Anomie und Psychose<br />
münden zu lassen <strong>–</strong> wie Pulp in dem Song »This is<br />
Hardcore«. Selbst Morrissey hat keinen so perfekten<br />
Rundumschlag wie »Common People« hinbekommen.<br />
Die Welt, die sie auf den Alben aus der Zeit von 1990 bis<br />
1994 heraufbeschwören, ist ähnlich obsessiv, sprachlich<br />
kompakt und inspiriert wie die von The Fall in ihren besten<br />
Zeiten. Besonders unter den in den siebziger und<br />
achtziger Jahren sozialisierten Kritikern besteht ein Konsens,<br />
dass sich The Smiths und vielleicht noch die späten<br />
My Bloody Valentine in die oben genannte Ahnenreihe<br />
stellen dürfen. Dabei wird ganz und gar außer Acht gelassen,<br />
dass Pulp es 1995 fertig brachten, ein Krautrock-<br />
Epos über den Klassenkampf an zweiter Stelle in der<br />
Hitparade zu platzieren. Zudem nutzen sie das öffentliche<br />
Wohlwollen drei Jahre später dafür, Zehntausende Leute<br />
dazu zu bringen, sich mit »This is Hardcore« einen<br />
sechsminütigen Grabgesang auf die Amateurpornografie<br />
zuzulegen.<br />
Einige der Gründe für diese ängstliche Kritik sind absolut<br />
verständlich: Pulps zweifellos vollführter Zusammengang<br />
mit diesem schrecklichen Britpop-Spektakel,<br />
ihre Retro-Referenzen und Jarvis Cockers doppelbödige<br />
Pop-Berühmtheit. Cockers Texte sind komplex und gut<br />
recherchiert, er lässt sich dabei von seinen ausgefallenen<br />
Vorlieben treiben. Er reimt niemals abstrakt, sondern<br />
stets realistisch, wie unversöhnlich dieser Realismus auch<br />
sein mag. Es ist kaum vorstellbar, dass Cocker einen<br />
Sprung vom Alltäglichen hin zu den wortkargen, bruchstückhaften<br />
Schrecknissen vollführt, wie es sein Idol und<br />
späterer Produzent Scott Walker auf dem Album Tilt<br />
getan hat. Trotz alledem ist Pulp eine Band, die sehr ernst<br />
genommen werden muss. Deswegen werde ich mich in<br />
diesem Buch mit den drei Themen befassen, die sich wie<br />
11
ein roter Faden durch Pulps Werk ziehen: Klasse, Sex<br />
und urbanes Leben. Doch zunächst müssen Pulp, sozusagen<br />
als historische Unabwendbarkeit, von dem Verhängnis,<br />
das über sie gekommen ist, befreit werden.<br />
»Wenn du mich willst, werde ich diese glorreiche<br />
Zeit verschlafen«<br />
Von allen Bauernfängereien und sich selbst erfüllenden<br />
Prophezeiungen, denen England seit 1979 frönt, ist das<br />
musikalische Phänomen Britpop eines der am allerschlechtesten<br />
durchdachten. Je nach Geschmack oder<br />
Standpunkt wird Britpop definiert von Bands aus dem<br />
Londoner Umland (Blur, Menswear, Elastica, Echobelly,<br />
Sleeper <strong>–</strong> alles Bands, die sich als Möchtegern-Gesellschaftsversteher<br />
gerieren und den Akzent benutzen, der<br />
im Gebiet der Themsemündung gesprochen wird) oder<br />
South Lancashire (das großmäulige Badewannenpupser-<br />
Proletentum von Oasis, Cast, Northern Uproar). Britpop<br />
reduzierte englischen <strong>–</strong> selten schottischen, irischen oder<br />
walisischen <strong>–</strong> Rock zu grenzwertig rassistischer, rhythmisch<br />
träger Musik, die bei allem Optimismus sinnentleert<br />
ist. Flankiert von neuartigen poujadistischen nationalen<br />
Ressentiments, wirkte Britpop dem Selbstverständnis<br />
entgegen, das sich Großbritannien als multiethnisch<br />
geprägtes Land seit den sechziger Jahren angeeignet hatte.<br />
Der Ethos und die finanziellen Strukturen von Britpop<br />
brachten der bisher als »Independent« betitelten Musiksparte<br />
etwas, das dort lang verachtet wurde. Britpop<br />
hatte aber auch gute Momente: die aufrechte, einem<br />
Mod-Styling verpflichtete Ablehnung der schlampigen<br />
Schlurfigkeit »echter« Indie-Zeitgenossen und der Bruch<br />
mit der hochnäsigen Mittelklasse-Verachtung der Indie-<br />
Szene gegenüber jeder Massenkultur.<br />
12