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Der Mentor der Post dramatik - Die Deutsche Bühne

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MATTHIAS HEINE<br />

<strong>Der</strong> <strong>Mentor</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Post</strong> <strong>dramatik</strong><br />

Als Professor am Institut für Angewandte Theater -<br />

wissen schaft in Gießen wurde Andrzej Wirth zum<br />

<strong>Mentor</strong> des postdramatischen Theaters.<br />

Damit hat er Theater geschich te gemacht –<br />

eines von vielen Kapiteln eines an<br />

Theatergeschich ten unvergleichlich<br />

reichen Lebens. Ein Porträt<br />

1I<br />

Fotoreproduktion: Frank Wegner<br />

An einem schönen Tag in Greenwich<br />

Village um 1970 drang ein<br />

Schrei aus einem Kellerfenster.<br />

Für 99 Prozent aller Vorübergehenden<br />

wäre das ein Grund gewesen, ihre<br />

Schritte zu beschleunigen. Man musste<br />

schon über ein beson<strong>der</strong>es Gehör verfügen,<br />

um den Sirenengesang <strong>der</strong> Theatergeschichte<br />

darin zu erkennen. An -<br />

drzej Wirth schaute nach, was sich im<br />

Souterrain abspielte: „Da war Robert<br />

Wilson, <strong>der</strong> dort auf seine Weise mit<br />

diesem autistischen Knaben probierte,<br />

Christopher Knowles.“ <strong>Die</strong> Begegnung<br />

mit Wilson wurde für Wirth zu einer<br />

„Lebensaffaire“. Wenn <strong>der</strong> gebürtige<br />

Pole mit US-Pass heute in seiner Berlin-<br />

Charlottenburger Wohnung Gäste<br />

empfängt, zeigt er ihnen gerne ein Exemplar<br />

<strong>der</strong> Erstausgabe des „Ulysses“.<br />

Es liegt auf einem Stehpult, das Wilson<br />

gebaut hat. Das Möbel war eine<br />

Freundschaftsgabe, nachdem Wirth<br />

den Texaner als Dozenten an das 1982<br />

bis 1992 von ihm geleitete Institut für<br />

Angewandte Theaterwissenschaft <strong>der</strong><br />

Universität Gießen verpflichtet hatte.<br />

Mit Gästen wie Wilson, George Tabori,<br />

Jerzy Grotowksi o<strong>der</strong> Heiner Müller und<br />

seiner völlig neuartigen Konzeption des<br />

Lehrstuhls wurde Wirth zu einem <strong>der</strong><br />

wichtigsten Theaterwissenschaftler in<br />

Deutschland nach 1945 (siehe Kasten S.<br />

39). Dem so genannten „postdramatischen<br />

Theater“ hat er konzeptionell<br />

und praktisch den Weg bereitet. Das bekennt<br />

auch Hans-Thies Lehmann, Autor<br />

des grundlegenden theoretischen<br />

Werks zur <strong>Post</strong>-Dramatik, den Wirth gegen<br />

Wi<strong>der</strong>stände („Man glaubte, er sei<br />

Kommunist“) als Dozent nach Gießen<br />

verpflichtete: Wirth sei die Erkenntnis<br />

zu verdanken, dass die „Ansprache“ an<br />

die Stelle des Dialogs trete. Er habe gewissermaßen<br />

„avant la lettre“ bereits in<br />

einem Aufsatz von 1980 das Theater <strong>der</strong><br />

achtziger und neunziger Jahre definiert,<br />

als er schrieb: In diesem „radikal<br />

epischen Theater“ scheine es nur so,<br />

„dass die <strong>Bühne</strong>nfiguren sprechen. Es<br />

wäre richtiger zu sagen, dass sie vom<br />

Urheber <strong>der</strong> Spielvorlage gesprochen<br />

<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 1 I 2003<br />

werden o<strong>der</strong> dass das Publikum ihnen<br />

seine innere Stimme verleiht.“<br />

Viele <strong>der</strong> wichtigsten neueren „Urheber<br />

von Spielvorlagen“ waren in Gießen<br />

Wirths Schüler: <strong>Die</strong> Liste reicht von Mitglie<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Performancegruppen Gob<br />

Squad, She She Pop, und Showcase Beat<br />

Le Mot über die Autoren und Regisseure<br />

René Pollesch und Tim Staffel bis hin<br />

zum überhaupt nicht postdramatischen<br />

Moritz Rinke. Pollesch sagt über<br />

seinen ehemaligen Lehrer: „An drzej<br />

Wirth hat alle meine Ansichten über<br />

Theater radikal durcheinan<strong>der</strong>gebracht.<br />

Noch heute kann man mit einem<br />

Gedanken von Andrzej Wirth übers<br />

Theater ziemlich viele Theaterleute wütend<br />

machen.“ Wie ein poetischer Zufall<br />

mutet es an, wenn Staffel sich an Wirth<br />

mit Worten erinnert, die an jene Kellerszene<br />

aus New York vor 30 Jahren gemahnen:<br />

„Andrzej Wirth hat mich einen<br />

Blick gelehrt, <strong>der</strong> mein Denken und Arbeiten<br />

bis heute bestimmt – alles ist ein<br />

dunkler Raum, und irgendwo geht vielleicht<br />

mal ein Fenster auf, hinter dem so<br />

etwas wie ein Horizont zu erkennen ist.<br />

<strong>Die</strong>se Fenster zu öffnen, den Horizont<br />

selbst auszumalen, das hat Andrzej<br />

Wirth mir vermittelt, durch seine Art zu<br />

sehen, zu reflektieren, und dafür bin ich<br />

ihm dankbar.“ Vielleicht ist <strong>der</strong> Zufall<br />

aber auch ein fernes Echo einer Anekdote,<br />

die <strong>der</strong> Student Staffel etliche Male<br />

von seinem Gießener Professor<br />

gehört hat... Auch <strong>der</strong> Zufall, dass sich<br />

hinter dem Kellerfenster 1970 ausgerechnet<br />

einer <strong>der</strong> wichtigsten Regisseure<br />

<strong>der</strong> letzten Jahrzehnte verbarg, wird<br />

von Wirth selber übrigens gleich entmystifiziert.<br />

„Damals konnte man in je<strong>der</strong><br />

kleinen <strong>Bühne</strong> die großen Leute <strong>der</strong><br />

Avantgarde sehen – John Cage, Richard<br />

Schechner, Meredith Monk, Robert Wilson,<br />

Richard Foreman und Lee Breuer.“<br />

Bevor es ihn nach New York zog, war<br />

Wirth in den 50er Jahren im Ost-Berlin<br />

Brechts, dann in den frühen 60ern im<br />

Polen Grotowskis und Tadeusz Kantors,<br />

in <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong> 60er Jahre an<br />

<strong>der</strong> Stanford-Universität in Kalifornien,<br />

Foto: Frank Wegener<br />

wo man die San Francisco Mime Troupe,<br />

das Living Theatre sehen o<strong>der</strong> an Happenings<br />

und Encounter Groups teilnehmen<br />

konnte. Wirth wusste das natürlich<br />

nicht immer vorher: „Man kann<br />

nicht sagen, ich gehe irgendwo hin, weil<br />

es dort interessant wird.“<br />

Sein erstes Erscheinen an einem Brennpunkt<br />

<strong>der</strong> Geschichte war allerdings<br />

komplett außerkünstlerischer Natur,<br />

und Wirth hätte sicher gern darauf verzichtet.<br />

Als 16-jähriger nahm er 1944 am<br />

Warschauer Aufstand teil, mit dem die<br />

Nationalpolnische Untergrundarmee<br />

<strong>der</strong> „Befreiung“ durch die Rote Armee<br />

zuvorkommen wollte. „Es war kein so<br />

großer Unterschied zwischen <strong>der</strong> Art,<br />

wie die Hitlerjungen in <strong>der</strong> Endphase<br />

des Krieges in Deutschland verheizt<br />

wurden, und <strong>der</strong> Art, wie die konspirativen<br />

Offiziere uns ohne Waffen in den<br />

Kampf geschickt haben.“ Wirth überlebte,<br />

studierte Literaturwissenschaft<br />

und wurde Kritiker. Sein Freund Marcel<br />

Reich-Ranicki beschreibt in seinen Memoiren,<br />

wie Wirth ihn mit einem jungen<br />

schnauzbärtigen deutschen Dich-<br />

„<br />

„Große Schauspieler<br />

können Intelligenz<br />

spielen, ohne intelligent<br />

zu sein. Sie re -<br />

dete einen un glaub -<br />

li chen politischen<br />

Bull shit mit absolut<br />

überzeugen<strong>der</strong> Mi -<br />

mik.“ Andrzej Wirth<br />

über Helene Weigel.<br />

„<br />

ter bekannt machte, <strong>der</strong> gerade einen<br />

Roman über einen buckligen Zwerg mit<br />

einer Blechtrommel geschrieben hatte.<br />

Vor allem half Wirth, Brecht in Polen<br />

durchzusetzen: „Brecht war <strong>der</strong> einzige<br />

Kommunist, <strong>der</strong> salonfähig war – im<br />

Gegensatz zu dem, was, die Russen uns<br />

anboten“. Nach einem Briefwechsel<br />

SCHWERPUNKT<br />

s<br />

37<br />

1I Fotomontage:<br />

Andrzej Wirth<br />

mit einer Figur<br />

aus seiner<br />

Inszenie rung von<br />

Stanis law<br />

Witkiewiczs<br />

„Rasende<br />

Lokomo tive“,<br />

Stanford 1968.


38<br />

s<br />

SCHWERPUNKT<br />

2I Bild und<br />

Spiegelbild:<br />

Andrzej Wirth in<br />

seiner Berliner<br />

Wohnung.<br />

3I Gießen und<br />

die Folgen:<br />

Szene aus René<br />

Polleschs Stück<br />

„Heidi Hoh 3 –<br />

die Interessen <strong>der</strong><br />

Firma können<br />

nicht die Inte -<br />

ressen sein, die<br />

Heidi Hoh hat“,<br />

am Podewil von<br />

Pollesch selbst<br />

inszeniert, mit<br />

Nina Kronjäger,<br />

Wiebke Mauss<br />

und Christine<br />

Groß (von oben<br />

nach unten).<br />

2I<br />

überließ <strong>der</strong> große BB ihm „Schwejk im<br />

2. Weltkrieg“ zur Übertragung ins Polnische.<br />

1957 wurde es in Warschau uraufgeführt.<br />

Hanns Eisler kam, um seine<br />

<strong>Bühne</strong>nmusik selbst zu dirigieren, und<br />

machte das Piano kaputt. „Er sah aus<br />

wie ein Fleischer.“<br />

Sein persönliches Rendezvous mit<br />

Brecht verpasste Wirth allerdings<br />

knapp. Zwar hatte <strong>der</strong> Dramatiker ihn<br />

schon 1954 als Stipendiat ans Berliner<br />

Ensemble eingeladen. „Aber es dauerte<br />

zwei Jahre, bis ich die 80 Kilometer von<br />

Polen nach Berlin zurückgelegt hatte.“<br />

So lange verzögerte die DDR sein Visum.<br />

Als Wirth schließlich am BE eintraf,<br />

war Brecht ein paar Wochen tot,<br />

und seine Witwe Helene Weigel hinterließ<br />

einen zwiespältigen Eindruck:<br />

„Große Schauspieler können Intelligenz<br />

spielen, ohne intelligent zu sein. Sie redete<br />

einen unglaublichen politischen<br />

Bullshit mit absolut überzeugen<strong>der</strong> Mimik.“<br />

Beson<strong>der</strong>s missfiel <strong>der</strong> Prinzipalin,<br />

dass <strong>der</strong> Pole sein Privileg nutzte, in<br />

West-Berlin wohnen zu dürfen. Er<br />

gehörte zur Gruppe 47 – „noch vor<br />

Foto: Frank Wegner<br />

Reich-Ranicki“. <strong>Die</strong> Westhälfte <strong>der</strong> geteilten<br />

Stadt zog ihn auch nach dem Ende<br />

des zweijährigen BE-Stipendiums<br />

mehr an als <strong>der</strong> Osten. Hier empfahl er<br />

1964 Peter Weiss seinen polnischen<br />

Landsmann Konrad Swinarski für die<br />

Uraufführung von „Marat/Sade“ im<br />

Schiller-Theater. Und als ihn Ende 1962<br />

in <strong>der</strong> Paris-Bar Walter Höllerer fragte:<br />

„Wer ist <strong>der</strong> wichtigste unbekannte<br />

Schriftsteller in Polen?“, antworte<br />

Wirth: „Witold Gombrowicz.“ Hoellerer<br />

ließ sich den Namen buchstabieren, notierte<br />

ihn auf einer Serviette, und ein<br />

halbes Jahr später kam Gombrowicz als<br />

Stipendiat <strong>der</strong> Ford-Stiftung nach Berlin.<br />

1966 gab er bei Luchterhand eine<br />

zweibändige Anthologie des polnischen<br />

Theater heraus.<br />

In Polen selbst fühlte sich Wirth zunehmend<br />

weniger zu Hause. „Spätestens<br />

nach <strong>der</strong> antisemitischen Welle 1968<br />

hatte mein Land für mich die Legitimation<br />

verloren.“ Er entschied sich, in<br />

Amerika zu bleiben – wie sein Freund<br />

Jan Kott, wie Czeslaw Milosz und Leszek<br />

Kolakowski. „Ab 1968 hatte ich in Kalifornien<br />

plötzlich alle meine Freunde um<br />

mich, es war wie in Warschau.“ <strong>Die</strong> Professuren,<br />

zunächst in Stanford, dann ab<br />

1972 in New York, außerdem als Gast in<br />

Harvard, Yale, Oxford und an <strong>der</strong> Berliner<br />

FU, ließen sich mit künstlerischen<br />

Unternehmungen gut verbinden: „In<br />

Amerika hat ja jede Universität eine<br />

sehr gut ausgestattete <strong>Bühne</strong>. Selbst<br />

wenn sie in Ohio einen Campus auf<br />

dem Kartoffelacker betreten, werden<br />

sie dort ein Theater finden, das so groß<br />

ist wie das National Theatre in London.“<br />

Wirth nutzte diese Freiheiten unter an<strong>der</strong>em,<br />

um Witkiewiczs „Rasende Lokomotive“<br />

erstmals in Amerika zu inszenieren.<br />

Hier begann auch seine Beschäftigung<br />

mit Brechts „Fatzer“. Stefan<br />

Brecht ermöglichte Wirth den<br />

Zugang zu den vieltausendseitigen Materialien.<br />

Bei Inszenierungen in Stanford<br />

und in Berlin 1970 studierte er die<br />

Unterschiede in <strong>der</strong> politischen Mentaliät:<br />

„<strong>Die</strong> Amerikaner sahen keinen<br />

Grund für die Hinrichtung Fatzers, sie<br />

meinten, man hätte es bei einer Verwarnung<br />

belassen können. <strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong>n<br />

kamen alle mit Stahlhelm und<br />

Karabiner zur Probe und wollten Fatzer<br />

töten.“<br />

Um so schwerer nachvollziehbar, warum<br />

es Wirth 1982 von New York ausgerechnet<br />

nach Gießen zog. Doch die Verhältnisse<br />

an <strong>der</strong> New York City University<br />

hatten sich durch die Finanzkrise<br />

<strong>der</strong> Stadt verschlechtert – und außerdem:<br />

„Wenn man einmal in New York<br />

war, kann man überall hingehen.“ Mit<br />

Unterstützung von Gießener Professorenkollegen,<br />

die einen praxisbezogenen<br />

theaterwissenschaftlichen Studiengang<br />

nach amerikanischem Vorbild<br />

wollten, handelte Wirth einzigartige<br />

Bedingungen aus: Zwei Hörsäle wurden<br />

zu Probebühnen umgebaut, die den<br />

Studenten immer offen standen – soweit<br />

es das Versicherungsrecht und die<br />

Diktatur <strong>der</strong> deutschen Hausmeister<br />

zuließen. <strong>Der</strong> Professor erstritt die<br />

„Schlüsselgewalt“ und ließ seinen Studenten<br />

größtmögliche Freiheit: „René<br />

Pollesch hat quasi im Medienraum gewohnt<br />

und sich ununterbrochen amerikanische<br />

Filme angesehen.“<br />

Das Verhältnis von Professoren zu Studenten<br />

betrug in Gießen damals nur<br />

eins zu sieben. 22 Studenten pro Jahr<br />

wurden wie an einer Kunsthochschule<br />

anhand von Mappen, Prüfungen und<br />

Einzelgesprächen aus etwa 350 Bewerbern<br />

ausgewählt. Gut 200 Schüler hat<br />

Wirth in zehn Jahren zum Diplom gebracht.<br />

<strong>Der</strong> letzte von ihnen war Moritz<br />

Rinke. Er erinnert sich: „Wirth ist ein dialektischer<br />

Feingeist, <strong>der</strong> sich immer<br />

mehr verfeinerte, bis er geradezu einen<br />

Minimalismus <strong>der</strong> Andeutung erreicht<br />

hatte. Wirth kann Gesten, Codes und<br />

Zeichen dechiffrieren wie kaum jemand<br />

sonst. Nicht alle Studenten waren immer<br />

fähig, ihm darin zu folgen. Er ist ein<br />

Avantgardist und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nist, aber<br />

sein Charme ist vom Kaliber Thomas<br />

Manns. Ich bin nie schlau aus<br />

ihm geworden, aber ich habe ihn<br />

immer gemocht.“<br />

<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 1 I 2003<br />

<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 1 I 2003<br />

Labor <strong>der</strong> Avantgarde<br />

20 Jahre Institut für Angewandte Theater -<br />

wissenschaft in Gießen<br />

Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen<br />

wird 20 Jahre alt, <strong>der</strong> Geburtstag wird am 14. Februar gefeiert:<br />

eine – nicht unumstrittene – Erfolgsgeschichte. Für Gerhard<br />

Stadelmaier (FAZ) ist Gießen „die Unglücksschmiede des deutschen<br />

Theaters“. Wie man das Institut beurteilt, hängt weitgehend vom eigenen<br />

Theaterverständnis ab. Um die Eigenart des Instituts zu beschreiben,<br />

beginnt man am besten mit zwei Namenslisten. Zu den<br />

Absolventen zählen u.a. Autoren wie Tim Staffel, Jens Roselt o<strong>der</strong> Moritz<br />

Rinke, Regisseure wie René Pollesch (<strong>der</strong> auch sein eigener Autor<br />

ist), Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Performance-Gruppen Gob Squad o<strong>der</strong> She She<br />

Pop, die Choreografin Helena Waldmann, <strong>der</strong> Chefdramaturg <strong>der</strong><br />

Stuttgarter Staatsoper, Sergio Morabito, o<strong>der</strong> Iris Laufenberg, die<br />

neue Leiterin des Berliner Theatertreffens. Auch Stefan Pucher wird<br />

meist dem Institut zugerechnet, tatsächlich aber hat er in Frankfurt<br />

studiert, war aber häufig in Gießen und hat dort an Produktionen<br />

mitgearbeitet.<br />

Theaterleute werden also ausgebildet, die nicht unbedingt zum Main<br />

stream gehören, sich häufig an den Rän<strong>der</strong>n des Theaters bewegen,<br />

bei Pop und Performance, manche Innovation ging von ihnen aus, und<br />

ohne „Gießen“ wäre das Podewil nur halb so attraktiv. Um aber einer<br />

Legendenbildung vorzubeugen: <strong>Die</strong> meisten Absolventen gehen<br />

schließlich doch zum normalen Stadttheater, man trifft sie überall,<br />

als Dramaturgen, Pressechefs, Betriebsdirektoren... Aber das Studium<br />

in Gießen war trotzdem wichtig für sie, weil es den Blick auf Neues<br />

öffnete.<br />

Noch prominenter ist die Liste <strong>der</strong> Gastdozenten, sie reicht von Robert<br />

Wilson, Heiner Müller o<strong>der</strong> George Tabori bis – René Pollesch, <strong>der</strong><br />

jetzt für ein Semester zurückkehrt. Schon <strong>der</strong> Gründungsdirektor,<br />

Andrzej Wirth, hat die bis heute bestimmende Richtung vorgegeben,<br />

indem er zum Beispiel den Performance-Regisseur Richard Schechner<br />

aus New York einlud. <strong>Die</strong> Offenheit des Konzepts, für das seit 1992 die<br />

Lehrstuhlinhaberin Professor Helga Finter steht, belegen Namen wie<br />

Barbara Mundel, die Choreographen VA Wölfl und Jérome Bel, <strong>der</strong><br />

Poptheoretiker <strong>Die</strong>drich <strong>Die</strong>drichsen o<strong>der</strong> die Filmemacher Jean-Marie<br />

Straub und Daniälle Huillet. Wichtig für die Verbindung von Theorie<br />

und Praxis ist insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Komponist und Regisseur Heiner<br />

Goebbels, seit 1999 ordentlicher Professor in Gießen.<br />

Das Institut gehört zur Justus-Liebig-Universität, hat aber einen Son<strong>der</strong>status:<br />

<strong>Die</strong> Studienbewerber müssen nicht nur das Abitur nach-<br />

Foto: Iko Freese/DRAMA<br />

SCHWERPUNKT<br />

weisen, son<strong>der</strong>n – wie an Kunstakademien – zusätzlich eine künstlerische<br />

Eignungsprüfung ablegen, müssen eine Mappe mit drei eigenen<br />

Arbeiten einreichen (das können Erzählungen sein, Videofilme,<br />

ein <strong>Bühne</strong>nbildmodell, ein eigenes Theaterstück). Wenn die Mappe<br />

überzeugt, folgen Klausur und mündliche Prüfung. Jeweils zum Wintersemester<br />

werden 25 bis 30 Studenten von heute weit über 100 Bewerbern<br />

aufgenommen. Das Institut ist aber an<strong>der</strong>erseits in die Universität<br />

integriert, die Studenten müssen die Hälfte ihrer Scheine in<br />

„Bausteinfächern“ machen (Literatur, Kunst, Musik, usw.), sie schlie -<br />

ßen das Studium nach acht Semestern und zwei Prüfungssemestern<br />

mit einem Diplom ab, können aber auch promovieren.<br />

3 I<br />

<strong>Die</strong> Studienbedingungen sind günstig: Für die etwa 30 Studenten eines<br />

Jahrgangs gibt es zwei ordentliche Professoren, wobei Frau Finter<br />

mehr die Theorie und die Wissenschaft abdeckt (zuletzt etwa Alfred<br />

Jarry; Sport im Theater), Goebbels mehr die Praxis (z.B. Video- und<br />

Klanginstallationen; Musik im Schauspiel), dazu die beiden Gastdozenten<br />

und zwei wissenschaftliche Mitarbeiter. Lehrbeauftragte bieten<br />

praktische Übungen an. Es gibt Ton- und Videostudios, vor allem<br />

aber eine Probebühne, auf <strong>der</strong> die Studenten nicht nur mit Dozenten<br />

arbeiten, son<strong>der</strong>n auch eigene Versuche realisieren, die dann im Mai<br />

im Festival Theatermaschine auf <strong>der</strong> Studiobühne des Gießener<br />

Stadttheaters aufgeführt werden können. Ein zweites Festival Diskurs,<br />

mit jungen Theaterkünstlern aus ganz Europa, fand im Herbst<br />

2002 schon zum 19. Male statt, von den Studenten selbst organisiert,<br />

mancher opfert dafür ein ganzes Semester.<br />

1I<br />

Ins Blickfeld <strong>der</strong> Öffentlichkeit geriet Gießen 1992, als Tom Stromberg<br />

anfing, Studenten für Inszenierungen auf <strong>der</strong> Probebühne des TAT<br />

einzuladen. Seitdem ist Gießen ein „Label“, wichtiger für die Studenten<br />

ist aber, dass sie fernab jedes Massenbetriebs intensiv zusammen<br />

arbeiten und leben können, ein Wir-Gefühl entwickeln – was harte<br />

Kritik gegenüber Produktionen von Kommilitonen nicht ausschließt.<br />

WILHELM ROTH<br />

s<br />

39

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