Ein gerechtes Selbstbild - Deutschland Journal
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Die europäische Flagge erinnert mit ihren zwölf Sternen an die biblische<br />
Figur der Urmutter, der heiligen Jungfrau. Von meinem Lehrer Otto von<br />
Habsburg habe ich gelernt, daß die Atavismen immer wiederkehren und<br />
unser Fundament sind. Hinter dem Neuen muß man das Alte erkennen.<br />
Schluß: Kein Untergang des Abendlandes<br />
Die Konservativen haben mit den Kommunisten und mit den Zeugen<br />
Jehovas eines gemeinsam: Sie erwarten den Weltuntergang, den Untergang<br />
des Abendlandes, wie die Marxisten den gesetzmäßigen Zusammenbruch<br />
des Kapitalismus erwarten. Die Welt geht aber nicht heute abend unter,<br />
und morgen ist noch ein Tag. Wir müssen mit diesem Kulturpessimismus<br />
à la Spengler Schluß machen. <strong>Ein</strong> bißchen Kulturoptimismus täte uns gut.<br />
Sonst schaffen wir es nicht. Statt immer nostalgisch rückwärts zu schauen,<br />
sollten wir uns mit Zukunftsfragen befassen und das, was neu entstanden<br />
ist, nicht automatisch abschaffen wollen. Sarkozy, der Ungar, Nachfahre<br />
einer Adelsfamilie der k. u. k. Monarchie, hat gewußt, daß das Alte aufrechterhalten<br />
werden kann, wenn man es mit dem Neuen vermählt. Er war<br />
kein Träumer, kein Ideologe. Er packte die Probleme an und versuchte in<br />
dieser chaotischen Zeit ihrer Herr zu werden. Dafür suchte er Verbündete,<br />
auch bei ehemaligen Gegnern.<br />
Wir sollten wieder Herren der Zeit werden. Es muß nicht alles schlechter<br />
werden. Wir Europäer können die neue Zeit meistern. Wir dürfen jedoch<br />
den Kompaß und die Maßstäbe nicht aus den Augen verlieren. Besonders<br />
in dieser Zeit, da die Welt sich grundlegend ändert. Man spricht wieder<br />
von Grenzen. Von Grenzen Europas. Es geht nicht nur um geographische<br />
Grenzen. Die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Recht und<br />
Unrecht, zwischen Wahrheit und Propaganda, zwischen Schönheit und<br />
Häßlichkeit, zwischen Utopie und Wirklichkeit müssen gezogen werden.<br />
Das goldene Zeitalter ist weder hinter uns noch vor uns, aber mit Geduld<br />
und Zielstrebigkeit können wir unsere Zukunft und die Zukunft unserer<br />
Kinder und Enkel ein wenig besser gestalten oder ein bißchen weniger<br />
schlecht machen.<br />
*<br />
Harry Graf Kessler notiert den Ausspruch eines Franzosen: Die Tragödie<br />
Frankreichs sei, daß es eine Nation zweiten Ranges sei, die durch jedes<br />
Mittel veut se pousser au premier rang. 37<br />
37 Kessler, Harry Graf, Tagebücher, <strong>Ein</strong>trag v. 8. Januar 1923<br />
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