Leben auf einer Koralleninsel - Deutsch Pazifischen Gesellschaft
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Inzwischen hat die Arbeits- und Bildungsmigration exponentielle Züge angenommen: So<br />
leben mittlerweile weniger als 10 % aller Niuer <strong>auf</strong> der Insel, hingegen mit etwa 20.000<br />
Personen über 90 % in der Diaspora – wegen der engen Assoziation mit Neuseeland<br />
mehrheitlich dort, hauptsächlich in der Stadt Auckland, die mittlerweile die größte<br />
polynesische Bevölkerung der Welt <strong>auf</strong>weist.<br />
Die Niuer bilden damit den interessanten Fall <strong>einer</strong> überwiegend urbanen ethnischen Gruppe,<br />
deren faktischer – wenn auch nicht unbedingt ideeller – <strong>Leben</strong>smittelpunkt in der Diaspora<br />
liegt. Sie sind eine echte transnationale Gemeinschaft, deren Migration nicht unilinear von<br />
Niue nach Neuseeland erfolgt, sondern deren meiste Mitglieder in ihrer Biographie mehrere<br />
Phasen des <strong>Leben</strong>s <strong>auf</strong> Niue, in Neuseeland und zuweilen in Australien, anderen<br />
Pazifikstaaten, den USA oder Europa <strong>auf</strong>weisen und im L<strong>auf</strong>e ihres <strong>Leben</strong>s zwischen diesen<br />
lokalen Polen oszillieren. Ein enges soziales Netzwerk, gespeist durch Validierung von<br />
Familienbanden und Landrechten in Form von Gaben- und Geldtausch, Besuche, gegenseitige<br />
Hilfeleistungen sowie der Teilnahme an Ritualen, verbindet die Bewohner von Niue und ihre<br />
Landsleute in der Diaspora. Der innerhalb von zwei Generationen erfolgten starken<br />
Abwanderung ist es aber geschuldet, dass viele an die Insel gebundene Traditionen nicht mehr<br />
an Jüngere überliefert werden können. So nahmen Experten eine Reihe von Fertigkeiten ohne<br />
die Weitergabe an Jüngere mit ins Grab, etwa traditionelle Medizinen oder die Kunst des<br />
Nasenflötenspielens.<br />
Da das Überleben bzw. ausreichende Ernährung in Niues Geschichte stets heikel waren, spielt<br />
Essen in vielen sozialen Zusammenhängen eine Rolle. Selbst noch im Zeitalter der<br />
Tiefkühltruhen existiert <strong>auf</strong> der Insel ein System des zeitversetzten Gabentauschs, in dessen<br />
Zentrum üblicherweise Gaben von Nahrungsmitteln stehen. Niueanische Gastfreundschaft<br />
verlangt es – übrigens auch in Neuseeland -, soviel <strong>auf</strong>zutischen, dass nicht nur alle satt<br />
werden, sondern dass genug da ist, damit jeder sich noch Essen mit nach Hause nehmen kann.<br />
Die niedrigen Werte des kleinen Staates bei der Erfassung durch<br />
wirtschaftswissenschaftlichen Maßzahlen wie Bruttosozialprodukt oder Pro-Kopf-<br />
Einkommen erfassen daher die niueanische Wirklichkeit nur unzureichend: Hunger oder<br />
Armut im Sinne eines gravierenden Mangels an lebensnotwendigen Gütern, starker sozioökonomischer<br />
Benachteiligung bestimmter Segmente der Bevölkerung u.a.m. gibt es <strong>auf</strong> der<br />
Insel nicht.<br />
Das Miteinander niueanischer Bürger und Politiker ist recht basisdemokratisch. Dank der<br />
egalitären <strong>Gesellschaft</strong>sstruktur akzeptieren die meisten Niuer keine Privilegien oder<br />
Autorität nur <strong>auf</strong>grund <strong>einer</strong> amtlichen Position und hegen Misstrauen gegen Amtsträger, die<br />
solche einfordern wollen. Niuer, die in ganz Neuseeland oder sogar in Übersee berühmt<br />
geworden sind - etwa Colin Tukuitonga, neuseeländischer Minister for Pacific Island Affairs,<br />
der Schriftsteller und Maler John Pule oder Phil und Pauly Fuemana, die den pazifischen Hip-<br />
Hop begründeten bzw. einen internationalen Hit-Song landeten, - werden in Gesprächen mit<br />
Nicht-Niuern nicht besonders erwähnt.<br />
Respekt verschaffen sich hingegen solche Personen, die ihre eigenen Ressourcen, etwa<br />
Redekunst, Überzeugungskraft, Geld oder andere Ressourcen, zum Wohle anderer Niuer<br />
einsetzen. Auf diese Weise scharen sie in <strong>einer</strong> Art Klientelsystem Anhänger und Unterstützer<br />
um sich. Die Position solcher Führungspersönlichkeiten ist aber selten dauerhaft: Sie wird<br />
ständig von ehrgeizigen Konkurrent(inn)en angefochten. Neben vielen anderen <strong>Leben</strong>s-<br />
bereichen gilt dies auch für Politiker: Wie alle sind sie in Niue Teil <strong>einer</strong> Dorfgemeinschaft<br />
und werden höchstens als Primus inter Pares akzeptiert; es bestehen keine Hemmschwellen,<br />
sie direkt anzusprechen oder wegen ihrer politischen Äußerungen und Taten zur Rede zu<br />
stellen.