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Leben auf einer Koralleninsel - Deutsch Pazifischen Gesellschaft

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Niue – <strong>Leben</strong> <strong>auf</strong> <strong>einer</strong> <strong>Koralleninsel</strong><br />

Hilke Thode-Arora<br />

Niue, gelegen in Zentralpolynesien, ist die größte gehobene <strong>Koralleninsel</strong> der Welt, entstanden<br />

aus <strong>einer</strong> gewaltigen Vulkaneruption, die das ursprüngliche Atoll mit s<strong>einer</strong> Lagune über den<br />

Meeresspiegel hob, so dass sich im L<strong>auf</strong>e der Zeit dort Pflanzen ansiedeln konnten. Von der<br />

See aus bietet Niue den Anblick eines riesigen, schroff in die Höhe ragenden Felsens mit<br />

großen vorgelagerten Felsbrocken im Meer und <strong>einer</strong> zerklüfteten Küstenlinie. Allein das<br />

Hochplateau ist bewachsen und von Menschen besiedelt.<br />

Abb. 1: Das flache Riff und die schroffen, zerklüfteten Felsen am Matapa Chasm<br />

Ein flaches Korallenriff umgibt die Insel; ausschließlich an zwei Stellen haben sich Riffkanäle<br />

gebildet, die es Schiffen mit Tiefgang erlauben, sich dem Ufer zu nähern – auch das aber bloß<br />

bei ruhigem Wetter. Alofi wurde vermutlich deshalb zur Hauptstadt, weil dieser Ort vom<br />

Meer her am besten zugänglich ist, wenn auch nur über eine lange Mole, die das Land mit<br />

dem Ende des vorgelagerten Riffkanals verbindet.<br />

Niue ist eine Insel ohne Flüsse; Regenwasser versickert schnell in dem zwar harten, aber<br />

porösen Korallenstein. Während <strong>auf</strong> manchen pazifischen Inselgruppen, etwa Fiji, nur solche<br />

Inseln permanent besiedelt wurden, die Flüsse <strong>auf</strong>weisen, haben die Niuer im L<strong>auf</strong>e ihrer<br />

Geschichte gelernt, mit diesem Manko zu leben: Auf findige Weise wurde Regenwasser in<br />

großen Blättern gesammelt oder aus den zahlreichen Höhlen der Insel gewonnen, zu deren<br />

Innenwänden es durchsickerte und sich dort niederschlug. Auch <strong>auf</strong> dem Salzwasser der von<br />

der See aus zugänglichen Höhlen schwimmt oft eine Süßwasserlinse, die abgeschöpft werden<br />

kann. Monatelange Trockenzeiten waren dennoch ein immer wiederkehrendes Faktum in der<br />

niueanischen Geschichte, oft verbunden mit Not- und Hungerzeiten.<br />

Die Insel umfasst 259 km2 Landfläche. Das Hochplateau bietet <strong>auf</strong> den ersten Blick den<br />

Anschein <strong>einer</strong> üppig bewachsenen tropischen Insel. Trotz fruchtbarer Böden, besonders im<br />

Landesinneren <strong>auf</strong> dem Gebiet der ehemaligen Lagune, ist die Landbestellung jedoch


mühsam. Viele Böden sind mittlerweile durch Brandrodungsfeldbau und schlecht beratene<br />

Entwicklungshilfeprogramme der Vergangenheit erschöpft. An den meisten Stellen Niues<br />

bedeckt lediglich eine dünne Humusschicht den harten Korallenstein, was die<br />

Bodenbearbeitung erschwert. Die Insel wird zudem im statistischen Durchschnitt alle zehn<br />

Jahre von einem verheerenden Wirbelsturm getroffen, dessen Zerstörungskraft die<br />

Humusschicht abträgt und durch die tief ins Landesinnere gewehte salzige Gischt die meisten<br />

Pflanzen nach Sonneneinstrahlung verdorren lässt.<br />

Diese schwierigen Umstände, noch dazu verknüpft mit einem Fehlen bearbeitbaren Steins<br />

oder <strong>einer</strong> nennenswerten Anzahl nutzbarer Seevögel und anderer Fauna haben Niues<br />

Geschichte geprägt. Wie archäologische Freilegungen zeigen, machten bereits die frühen<br />

Wanderungsbewegungen Polynesiens einen Bogen um die Insel und ihre kargen, stets von<br />

Unwägbarkeiten bedrohten Ressourcen; so existieren keine Spuren der sich aus<br />

Westpolynesien ausbreitenden Lapita-Kultur mit ihren Keramik-Funden oder der aus<br />

Ostpolynesien vordringenden Kultur, die sich vor allem in Artefakten wie Angelhaken aus<br />

Muscheln manifestierte. Laut überlieferter Mythen waren die ersten Bewohner Niues Adlige<br />

mit ihrer Gefolgschaft, die, wie oft in Polynesien, wegen Streitigkeiten ihre Herkunftsinseln<br />

verließen, um sich <strong>auf</strong> dem weiten Meer eine bisher unbewohnte Insel zu suchen.<br />

Abb. 2: Karte von Niue mit Dörfern und Moieties<br />

Zeichnung: Ulrich Gebauer<br />

Linguistische Studien deuten dar<strong>auf</strong> hin, dass Niue aus dem samoanischen und tonganischen<br />

Raum besiedelt wurde. Diese beiden Besiedlungsphasen führten vermutlich zur Teilung der<br />

Insel in eine nördliche und südliche Moiety („Hälfte“), die in vorchristlicher Zeit


kriegführenden Einheiten sein konnten, heute jedoch neben einigen Dialektunterschieden vor<br />

allem noch im rituellen Bereich und in der sozialen Praxis Bedeutung haben. Am<br />

augenfälligsten wird dies in der Unterteilung der kleinen, nur etwa 900 Bewohner<br />

umfassenden Hauptstadt in Alofi Nord und Alofi Süd, da die Trennlinie zwischen den<br />

Moieties direkt durch den Ort verläuft: Beide Stadtteile entsenden jeweils einen<br />

Abgeordneten ins Parlament, haben eigene Sportteams u.a.m.; Niuer zählen im Gegensatz zu<br />

Fremden daher auch vierzehn und nicht dreizehn Dörfer <strong>auf</strong> ihrer Insel, da Alofi-Nord und<br />

Alofi-Süd in den meisten <strong>Leben</strong>szusammenhängen als zwei getrennte Dörfer verstanden<br />

werden.<br />

Als Captain Cook 1774 Niue entdeckte, wurden er und seine Mannen bereits am Ufer von<br />

Kriegern in die Flucht geschlagen. Ursprünglich wollte er die große Felseninsel nach dem<br />

britischen Kronprinzen benennen, gab ihr nach diesem Vorfall aber dann den wenig<br />

schmeichelhaften Namen „Savage Island“. Auch den ersten europäischen Missionaren der<br />

London Missionary Society erlaubten die Niuer anfänglich nicht, das bewohnte Hochplateau<br />

zu betreten. Die LMS schickte daher zunächst samoanische Evangelisten, die innerhalb<br />

weniger Jahre die alte Kultur völlig veränderten – unglücklicherweise wirkte k<strong>einer</strong> von ihnen<br />

als Chronist, so dass sehr wenig über Niues Kultur zur Kontaktzeit bekannt ist.<br />

Niue ist einzigartig unter den geschichteten <strong>Gesellschaft</strong>en Polynesiens, denn es gab dort<br />

keine dauerhafte institutionalisierte und vererbbare hierarchische Struktur – keine Adels-<br />

schicht wie etwa <strong>auf</strong> Tahiti, Hawai’i oder Tonga, und keine hohen Titelträger oder matai wie<br />

<strong>auf</strong> Samoa. Familienverbände zogen <strong>auf</strong> ihrem Land umher und betrieben Brandrodungs-<br />

feldbau. Familienvorstände (patu) kamen zuweilen zu einem Rat zusammen; bei ihnen sowie<br />

erfolgreichen und durchsetzungsfähigen Kriegern lag offenbar ein Großteil der politischen<br />

Macht. Für mehrere Generationen existierte ein rituelles Zentrum an der Grenze der beiden<br />

Moieties Motu und Tafiti, später ein Ratsplatz im Nordwesten der Insel, wie archäologische<br />

Funde bezeugen.<br />

Zu dieser Zeit gab es einen gewählten Führer aller Familienverbände (patu iki), der jedoch<br />

k<strong>einer</strong>lei politische, sondern ausschließlich rituelle Befugnisse hatte: Ihm oblag die magische<br />

Beeinflussung des Wetters sowie das Wohlergehen der Inselbewohner. Traten gehäuft<br />

Trockenzeiten, Wirbelstürme, Hungersnöte, Kriege und Unfrieden <strong>auf</strong>, unterstellte man dem<br />

patu iki Pflichtverletzung, und es war legitim, ihn zu töten. Die kargen und unwägbaren<br />

Ressourcen Niues erlaubten offenbar keine dauerhafte Institutionalisierung <strong>einer</strong><br />

privilegierten Schicht durch Anhäufung von Nahrungsüberschüssen, geschweige denn die<br />

regelmäßige Herstellung von Luxusartikeln aus Federn und weiteren Materialien, wie von<br />

anderen polynesischen Inselgruppen bekannt. Auch die samoanischen und später die<br />

europäischen Missionare merkten schnell, dass sie nicht <strong>auf</strong> eine regelmäßige Versorgung<br />

durch kirchliche Abgaben hoffen konnten.<br />

Die europäischen Besucher und ersten Siedler durchschauten Niues egalitäre Sozialstruktur<br />

nicht gleich und erwarteten einen Entscheidungsträger, der für alle Niuer sprach.<br />

Entsprechend ihrem eigenen <strong>Gesellschaft</strong>smodell interpretierten sie das Amt des patu iki als<br />

„König“ und nutzten ihren Einfluss dafür, dass die Institution des patu iki Ende des 19.<br />

Jahrhunderts wiederbelebt wurde. 1901 annektierte Neuseeland die Insel; wenige Jahre später<br />

starb der letzte patu iki.<br />

Neuseeland musste schnell erkennen, dass Niue keine lukrative Kolonie, sondern ein<br />

Verlustgeschäft darstellte. Entsprechend bestand bald nur noch wenig Interesse an der Insel,<br />

und die dorthin entsandten Resident Commissioners, im besten Fall gleichgültig, im<br />

schlimmsten Fall brutal, konnten nahezu unkontrolliert ihre Regierung ausüben. Diese


Situation explodierte im Jahre 1953 mit dem weltweit einzigen Mord an einem Resident<br />

Commissioner, den es jemals in der Geschichte des britischen Commonwealth gegeben hat. In<br />

der Folge bemühte sich die neuseeländische Verwaltung um eine sorgfältigere Auswahl ihrer<br />

Vertreter und sorgte unter anderem dafür, dass sie zumindest in Grundzügen die niueanische<br />

Sprache erlernten und sensibler mit niueanischen Gepflogenheiten umgingen.<br />

1974 wurde Niue in die Unabhängigkeit entlassen, wählte aber den Status der freien<br />

Assoziation mit Neuseeland. Dies garantiert jedem Niuer von Geburt an die Option <strong>auf</strong> die<br />

neuseeländische Staatsbürgerschaft sowie der Insel eine regelmäßige Subventionierung, ohne<br />

die das kleine Land wirtschaftlich nicht überlebensfähig wäre. Der Inselstaat ist autonom in<br />

s<strong>einer</strong> Innenpolitik, während Verteidigung und Teile der Außenpolitik von Neuseeland<br />

wahrgenommen werden. Niue ist von der Bevölkerungszahl her mit etwa 1.300 Bewohnern<br />

die kleinste Demokratie der Welt. Von den zwanzig Abgeordneten des Parlaments werden<br />

sechs direkt gewählt; die übrigen sind von jedem der vierzehn Dörfer als Vertreter entsandt.<br />

Abb. 3: Parlamentssitzung<br />

Wiederholte Versuche zur Erlangung <strong>einer</strong> gewissen wirtschaftlichen Autonomie haben sich<br />

in der Vergangenheit immer wieder zerschlagen. Verschiedene Anläufe zum Anbau von Cash<br />

Crops für den Export, etwa Zitrusfrüchte und Vanille, scheiterten an den langen und teuren<br />

Transportwegen sowie den Preisschwankungen für diese Produkte <strong>auf</strong> dem Weltmarkt.<br />

Zudem zerstörten die im Durchschnitt alle zehn Jahre <strong>auf</strong>tretenden verheerenden<br />

Wirbelstürme viele dieser Bemühungen. Da die Stellen in der Verwaltung, im Schul- und<br />

Universitätswesen sowie im zaghaft <strong>auf</strong>keimenden Tourismus dünn gesät sind und es nur eine<br />

kleine Gruppe von Laden- und Imbissbesitzern gibt, sind die meisten Niuer zum<br />

regelmäßigen <strong>Leben</strong>sunterhalt <strong>auf</strong> ihre Pflanzungen, den Fischfang und das Sammeln von<br />

Meeresfrüchten <strong>auf</strong> dem Riff angewiesen.<br />

Aufgrund der schwierigen Umweltbedingungen und der prekären wirtschaftlichen Situation<br />

der Insel ist es nicht verwunderlich, dass sich bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert eine<br />

Tendenz zur Arbeitsmigration beobachten lässt. Viele niueanische Männer verdingten sich zu<br />

dieser Zeit <strong>auf</strong> Walfangschiffen, in den Plantagen Tahitis, Tongas oder Samoas sowie <strong>auf</strong> den<br />

Phosphatinseln Mikronesiens. Ein Mitarbeiter der Hamburger Firma Godeffroy pries etwa in<br />

den 1870ern die Niuer als „die besten Arbeiter im Pazifik“, und ein Kolonialbeamter<br />

beschrieb das Eiland wegen der Abwesenheit vieler Männer als „Insel der Frauen“.


Inzwischen hat die Arbeits- und Bildungsmigration exponentielle Züge angenommen: So<br />

leben mittlerweile weniger als 10 % aller Niuer <strong>auf</strong> der Insel, hingegen mit etwa 20.000<br />

Personen über 90 % in der Diaspora – wegen der engen Assoziation mit Neuseeland<br />

mehrheitlich dort, hauptsächlich in der Stadt Auckland, die mittlerweile die größte<br />

polynesische Bevölkerung der Welt <strong>auf</strong>weist.<br />

Die Niuer bilden damit den interessanten Fall <strong>einer</strong> überwiegend urbanen ethnischen Gruppe,<br />

deren faktischer – wenn auch nicht unbedingt ideeller – <strong>Leben</strong>smittelpunkt in der Diaspora<br />

liegt. Sie sind eine echte transnationale Gemeinschaft, deren Migration nicht unilinear von<br />

Niue nach Neuseeland erfolgt, sondern deren meiste Mitglieder in ihrer Biographie mehrere<br />

Phasen des <strong>Leben</strong>s <strong>auf</strong> Niue, in Neuseeland und zuweilen in Australien, anderen<br />

Pazifikstaaten, den USA oder Europa <strong>auf</strong>weisen und im L<strong>auf</strong>e ihres <strong>Leben</strong>s zwischen diesen<br />

lokalen Polen oszillieren. Ein enges soziales Netzwerk, gespeist durch Validierung von<br />

Familienbanden und Landrechten in Form von Gaben- und Geldtausch, Besuche, gegenseitige<br />

Hilfeleistungen sowie der Teilnahme an Ritualen, verbindet die Bewohner von Niue und ihre<br />

Landsleute in der Diaspora. Der innerhalb von zwei Generationen erfolgten starken<br />

Abwanderung ist es aber geschuldet, dass viele an die Insel gebundene Traditionen nicht mehr<br />

an Jüngere überliefert werden können. So nahmen Experten eine Reihe von Fertigkeiten ohne<br />

die Weitergabe an Jüngere mit ins Grab, etwa traditionelle Medizinen oder die Kunst des<br />

Nasenflötenspielens.<br />

Da das Überleben bzw. ausreichende Ernährung in Niues Geschichte stets heikel waren, spielt<br />

Essen in vielen sozialen Zusammenhängen eine Rolle. Selbst noch im Zeitalter der<br />

Tiefkühltruhen existiert <strong>auf</strong> der Insel ein System des zeitversetzten Gabentauschs, in dessen<br />

Zentrum üblicherweise Gaben von Nahrungsmitteln stehen. Niueanische Gastfreundschaft<br />

verlangt es – übrigens auch in Neuseeland -, soviel <strong>auf</strong>zutischen, dass nicht nur alle satt<br />

werden, sondern dass genug da ist, damit jeder sich noch Essen mit nach Hause nehmen kann.<br />

Die niedrigen Werte des kleinen Staates bei der Erfassung durch<br />

wirtschaftswissenschaftlichen Maßzahlen wie Bruttosozialprodukt oder Pro-Kopf-<br />

Einkommen erfassen daher die niueanische Wirklichkeit nur unzureichend: Hunger oder<br />

Armut im Sinne eines gravierenden Mangels an lebensnotwendigen Gütern, starker sozioökonomischer<br />

Benachteiligung bestimmter Segmente der Bevölkerung u.a.m. gibt es <strong>auf</strong> der<br />

Insel nicht.<br />

Das Miteinander niueanischer Bürger und Politiker ist recht basisdemokratisch. Dank der<br />

egalitären <strong>Gesellschaft</strong>sstruktur akzeptieren die meisten Niuer keine Privilegien oder<br />

Autorität nur <strong>auf</strong>grund <strong>einer</strong> amtlichen Position und hegen Misstrauen gegen Amtsträger, die<br />

solche einfordern wollen. Niuer, die in ganz Neuseeland oder sogar in Übersee berühmt<br />

geworden sind - etwa Colin Tukuitonga, neuseeländischer Minister for Pacific Island Affairs,<br />

der Schriftsteller und Maler John Pule oder Phil und Pauly Fuemana, die den pazifischen Hip-<br />

Hop begründeten bzw. einen internationalen Hit-Song landeten, - werden in Gesprächen mit<br />

Nicht-Niuern nicht besonders erwähnt.<br />

Respekt verschaffen sich hingegen solche Personen, die ihre eigenen Ressourcen, etwa<br />

Redekunst, Überzeugungskraft, Geld oder andere Ressourcen, zum Wohle anderer Niuer<br />

einsetzen. Auf diese Weise scharen sie in <strong>einer</strong> Art Klientelsystem Anhänger und Unterstützer<br />

um sich. Die Position solcher Führungspersönlichkeiten ist aber selten dauerhaft: Sie wird<br />

ständig von ehrgeizigen Konkurrent(inn)en angefochten. Neben vielen anderen <strong>Leben</strong>s-<br />

bereichen gilt dies auch für Politiker: Wie alle sind sie in Niue Teil <strong>einer</strong> Dorfgemeinschaft<br />

und werden höchstens als Primus inter Pares akzeptiert; es bestehen keine Hemmschwellen,<br />

sie direkt anzusprechen oder wegen ihrer politischen Äußerungen und Taten zur Rede zu<br />

stellen.


Obwohl die heutigen Dörfer erst im L<strong>auf</strong>e der Missionierung um die Kirchen herum<br />

entstanden sind, bilden sie in ihrer Verknüpfung mit mythisch überhöhten Landrechten die<br />

wichtigste Einheit der niueanischen Sozialstruktur. Neben vielen gemeinsamen Aktivitäten<br />

wird die Identifikation und Solidarität mit dem Dorf, in dem man geboren ist und / oder<br />

<strong>auf</strong>grund von Heirat oder Adoption lebt, in vielen Bereichen des täglichen <strong>Leben</strong>s<br />

augenfällig. Oft stehen Dörfer miteinander in Konkurrenz. Dies gilt selbst in der Diaspora-<br />

Gemeinschaft in Auckland: In der größten niueanisch-sprachigen Kirchengemeinde sitzt man<br />

nach Dörfern getrennt, sammelt die Kollekte dorfweise ein und singt pro Dorf eine Hymne,<br />

bei deren Darbietung man die anderen dörflichen Chöre zu überbieten trachtet. Frauen<br />

nehmen selbst in dem ausgedehnten Stadtgebiet Aucklands weite Wege mit öffentlichen<br />

Verkehrsmitteln <strong>auf</strong> sich, um eine Flechtgruppe besuchen zu können, in der sich Frauen ihres<br />

Dorfes zusammenfinden – selbst wenn eine andere näher liegt.<br />

Mit der Niederlassung der ersten europäischen Händler seit 1866 bot sich den Frauen <strong>auf</strong><br />

Niue eine Möglichkeit, Flechtwerke zu verk<strong>auf</strong>en und von dem so erwirtschafteten Geld<br />

kl<strong>einer</strong>e importierte Luxusartikel zu erwerben, etwa Seife, Kerosin oder einen Laib Brot. Seit<br />

Ende des 19. Jahrhunderts ist die Insel bekannt für die gute Qualität ihrer Flechtarbeiten. Um<br />

diese Zeit verließen zehntausende geflochtener Hüte Niue als Exportartikel. Flechten hat sich<br />

in der Vergangenheit als anpassungsfähiger Wirtschaftszweig erwiesen, der half, so manche<br />

Trockenzeit oder schlechte Kopraernte zu überbrücken. Matten, Hüte, Taschen, Körbe und<br />

Accessoires werden aber auch für den Eigengebrauch bzw. für den Gabentausch hergestellt.<br />

Auch in der neuseeländischen Diaspora bieten sie den Frauen die Möglichkeit, eigenes Geld<br />

zu erwirtschaften und dabei gleichzeitig <strong>einer</strong> kulturell bedeutsamen Tätigkeit nachzugehen,<br />

die Prestige mit sich bringt.<br />

Abb. 4: Flechten eines Hutes<br />

Dorfbasierte Flechtgruppen haben außerdem sowohl in Niue als auch in Neuseeland wichtige<br />

soziale Funktionen: Sie bringen Frauen zusammen und befördern durch den in der Gruppe


aktiv betriebenen Austausch einen Konsens, der dann als „Stimme der Frauen“ in andere, oft<br />

männerdominierte Gremien in der niueanischen Politik oder Kirche getragen wird. In<br />

Auckland verfolgen Flechtgruppen gewöhnlich auch soziale Ziele innerhalb der niueanischen<br />

Migrationsgemeinschaft: Sie sind zugleich Selbsthilfegruppen für bestimmte<br />

Krankheitsbilder, die in der pazifischen Community häufig sind, etwa Adipositas oder<br />

Diabetes; sie helfen Neuankömmlingen bei der Organisation von Wohnraum und dem<br />

Umgang mit der Bürokratie; und viele betreiben niueanisch-sprachige Vorschulen für Kinder,<br />

die zu Hause mittlerweile nur mit Englisch <strong>auf</strong>wachsen.<br />

Kirche und Religion spielen eine große Rolle im <strong>Leben</strong> der meisten Niuer. Sind zwei oder<br />

mehr Personen zusammen, wird fast jede Tätigkeit mit einem offiziellen Gebet begonnen –<br />

sei es eine Mahlzeit, Parlamentssitzung oder die Ankunft neuer Straßenbaumaschinen an der<br />

Mole in Alofi. Im Mittelpunkt jeden Dorfes befindet sich eine Kirche, und die Regeln der<br />

Ekalesia Niue, der Nachfolgekirche der London Missionary Society, sind streng, besonders<br />

hinsichtlich der absoluten Sonntagsruhe. Kein Erdofen darf am Sonntag bei Sonnen<strong>auf</strong>gang<br />

mehr rauchen; es darf nicht gekocht, keine weltliche Musik oder Fernsehen konsumiert<br />

werden, solange es sich nicht um Hymnen oder Filme mit christlichem Thema handelt;<br />

weltliche Vergnügungen sind unerwünscht.<br />

Idealerweise sollte jeder den Tag in religiöser Kontemplation verbringen und die<br />

mehrstündigen Vormittags- und Nachmittagsgottesdienste besuchen. Jedem Dorfpastor steht<br />

seit den Tagen der frühen Missionierung eine Reihe von Kirchenältesten zur Seite, die die<br />

Einhaltung dieser Vorschriften überwachen. Obwohl es Wege gibt, die Regeln zu umgehen,<br />

bzw. Niuer, die sich schlicht nicht daran halten, bildet die Ekalesia Niue mit ihrer<br />

Verwobenheit in die dörfliche Sozialstruktur und ihrer sozialen Kontrolle einen nicht zu<br />

unterschätzenden „Staat im Staate“.<br />

Parallel zu den christlichen Vorstellungen existieren jedoch sehr viele vorchristliche, etwa der<br />

Glaube an lokale Gottheiten oder Geister. Verstorbene denkt man sich nach dem Tode in<br />

Form von – potentiell missgünstigen – Geistern noch anwesend. Die Totenruhe zu stören<br />

bzw. Gräber respektlos zu behandeln, bewusst gegen Tabus oder Landrechte zu verstoßen und<br />

Menschen absichtlich schlecht zu behandeln zieht nach Auffassung der allermeisten Niuer,<br />

unabhängig von ihrer Bildung oder Verweildauer in Neuseeland, übernatürliche Strafen nach<br />

sich – ein äußerst funktionales System der sozialen Kontrolle in <strong>einer</strong> egalitären <strong>Gesellschaft</strong>,<br />

deren Mitglieder anderen Niuern nicht ohne weiteres Autorität über sich zugestehen.<br />

Der kleine Inselstaat Niue zeichnet sich also unter anderem durch eine egalitäre <strong>Gesellschaft</strong>,<br />

starke soziale Kontrolle und direkten „face-to-face“- Kontakt aller Bewohner miteinander aus<br />

– Faktoren, die im Gegensatz zu den Verhältnissen in größeren Staatswesen Ozeaniens<br />

sicherlich stabilisierend wirken. Aufgrund der kargen Umwelt, der Lage im<br />

Wirbelsturmgürtel und der Abgeschiedenheit ist Niue ohne Subventionen allerdings nicht<br />

wirtschaftlich überlebensfähig; dem Individuum bieten sich kaum Möglichkeiten der<br />

Erwirtschaftung von Geld, und die Bodenbestellung ist äußerst mühsam. Die daraus<br />

resultierende starke Abwanderung schwächt die verbleibende Wirtschaftskraft sowie die<br />

Weitergabe kultureller Traditionen, die zur ethnischen Identität beitragen. Ob die<br />

stabilisierenden oder die destabilisierenden Elemente in Niues Zukunft die Oberhand<br />

gewinnen werden, bleibt abzuwarten.<br />

Fotos: Hilke Thode-Arora; Die Karte und alle Fotos stammen aus dem unten genannten Buch<br />

Weiterführende Literatur:<br />

Hilke Thode-Arora: Weavers of Men and Women. Niuean Weaving and its Social<br />

Implications.<br />

Berlin: Reimer Verlag 2009.

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