Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Wir sahen uns an – hier musste<br />
geholfen werden. Aber die Kate<br />
stand lichterloh in Flammen, und ich<br />
hatte die Verantwortung für das Leben<br />
meiner Männer. Durch die Tür<br />
einzudringen war unmöglich; An<br />
dem hölzernen Windfang war das<br />
Feuer am weitesten vorgeschritten.<br />
Während wir um das Haus rannten,<br />
um irgendeinen Eingang zu finden,<br />
hatte hinter mir einer ein Fenster<br />
eingestoßen und sich, ehe ich es ver-<br />
Einige Exemplare dieses Buches sind<br />
noch erhältlich bei: FELS Verein e.V.,<br />
Postfach 11 16, 86912 Kaufering<br />
hindern konnte, durch die Öffnung<br />
hindurchgezwängt. Ich war entsetzt.<br />
Wir schrien, um ihm den Weg zurück<br />
anzuzeigen. Vielleicht aber<br />
haben wir dadurch eher das Finden<br />
des Kindes erschwert. Es dauerte<br />
wohl nur wenige Augenblicke, aber<br />
sie kamen uns unter dem Knattern<br />
und Zischen der Flammen wie eine<br />
Ewigkeit vor. Einer schleppte einen<br />
Stamm herbei – es gelang uns, die<br />
Lehmwand unter dem Fenster einzustoßen.<br />
Nun endlich tauchte Josef<br />
Kehl, so hieß er, aus einer Wolke<br />
von Qualm und Feuer auf; sein Gesicht<br />
war hochgerötet, Brauen und<br />
Bart versengt, seine Augen blickten<br />
wild und stechend, die Uniform<br />
glimmte an mehreren Stellen. Im<br />
Arm trug er ein Bündel, das Kind,<br />
das er in seinen Mantel gewickelt<br />
hatte. Wir wollten ihm seine Last<br />
abnehmen, aber er hielt das Kleine<br />
fest, das wieder zu schreien begann,<br />
als wir sein Gesicht frei machten.<br />
Es war ein Mädchen, vielleicht vier<br />
Jahre alt.<br />
In diesem Augenblick ertönte<br />
ein gellender Schrei, unten an der<br />
Schlucht. Eine Frauengestalt löste<br />
sich aus der Menschengruppe und<br />
rannte auf uns zu. Josef schritt ihr<br />
entgegen. Dann fiel oben am Waldrand<br />
der Schuss ...<br />
Das ist nun drei Jahre her, und ich<br />
bin immer noch nicht fertig mit dem,<br />
was damals geschah. An solchen<br />
Erlebnissen wird man entweder zum<br />
stumpfen Tier, oder zum inbrünstig<br />
Glaubenden. In jenem Augenblick<br />
ist mir erst richtig aufgegangen,<br />
wie sehr ich den Jüngsten meiner<br />
Gruppe ins Herz geschlossen hatte.<br />
Er war ein stiller und reiner Mensch,<br />
zuverlässig und hilfsbereit in jeder<br />
Lage, stammte von der Mittelmosel,<br />
der Älteste von acht. Ich habe ihn<br />
oft beobachtet, wie er verstohlen ein<br />
Foto seiner Angehörigen betrachtete.<br />
Bei den Kleinen hatte er Kindermädchen<br />
spielen müssen, da nach ihm<br />
zunächst nur Buben kamen. Mir war<br />
es an jenem Weihnachtsmorgen, als<br />
hätte sich in der Gestalt dieses jungen<br />
Menschen ein Engel über das<br />
unsagbare Elend des Krieges emporgeschwungen,<br />
ein leuchtendes Trotzdem,<br />
und nun trifft ihn diese blinde<br />
Kugel, und ein höhnisches Gesicht<br />
grinst über die zusammengesunkene<br />
Gestalt: Was willst du, es ist alles<br />
sinnlos und grässlicher Zufall.<br />
Nun, das wirklich zu denken, hatte<br />
ich keine Zeit – es traf mich alles auf<br />
einmal – wie ein Faustschlag ins Gesicht.<br />
Ich ließ das Maschinengewehr<br />
in Stellung bringen und ein paar<br />
Stöße zum Waldrand hinaufschicken<br />
– nichts regte sich mehr, und wir haben<br />
nie erfahren, aus wessen Gewehr<br />
diese elende Kugel kam – war es ein<br />
Partisan, ein verbitterter Einwohner,<br />
ein russischer Spähtrupp? Ich bemühte<br />
mich um den Zusammengebrochenen<br />
– der Einschuss befand<br />
sich unter dem Schulterblatt. Das<br />
Blut sickerte nur aus der Wunde,<br />
aber es war zu sehen, dass es mit<br />
Josef schnell zu Ende ging.<br />
Die Frau hatte unter Schreien<br />
und heftigen Gebärden das Kind an<br />
sich gerissen, und im Nu waren wir<br />
umringt von den Dorfbewohnern,<br />
die in grenzenloser Verwirrung und<br />
mit ehrfürchtiger Scheu auf den<br />
Sterbenden blickten. Indem tasteten<br />
seine Finger nach der Öffnung der<br />
Uniform auf der Brust, als suchten<br />
sie etwas, und als ich nachhalf, entdeckte<br />
ich ein Kettchen und daran<br />
ein Medaillon, wie es die Katholiken<br />
tragen. Es stellte die Mutter Jesu dar.<br />
Josef führte es mit letzter Anstrengung<br />
an die Lippen, dann sank seine<br />
Hand schlaff in den Schnee.<br />
Wie ich nun aufblicke, sehe ich<br />
zwei weit aufgerissene Augen über<br />
mir. Es ist der alte Mann, der sich<br />
über den Sterbenden beugt und das<br />
Medaillon berührt. In seinen Zügen<br />
arbeitet es ungeheuer. Er bricht in<br />
den Schnee, wie vom Blitz gefällt,<br />
erhebt sich aber gleich wieder und<br />
geht eiligen Schrittes hinunter zur<br />
Schlucht. Er lässt sich hinuntergleiten<br />
bis zur Sohle, wirft sich mit dem<br />
Angesicht zu Boden, bekreuzigt sich<br />
dreimal und richtet sich dann auf, die<br />
Ikone in den Händen. Mühsam arbeitet<br />
er sich nach oben und trägt das<br />
Bild, feierlich, als führte er eine Prozession<br />
an, zu uns herüber. Er legt die<br />
Ikone, die gleichfalls die Mutter mit<br />
dem Kinde darstellt, dem Toten auf<br />
die Brust. Dann spricht er mit kräftiger<br />
Stimme Gebete, die ich nicht<br />
verstehe, wohl in der altslawischen<br />
Kirchensprache, und die Menschen<br />
rundum bekreuzigen sich und beten<br />
mit ihm, bis ich Josef Kehl die Augen<br />
zudrücke.<br />
Den Leichnam haben wir neben<br />
das Maschinengewehr auf den<br />
Schlitten gelegt und später in dem<br />
splitterharten Erdreich am Ufer der<br />
Oka beerdigt.<br />
Und an der Mosel, in der Stube<br />
des Winzerhauses, in dem er geboren<br />
wurde, hängt nun das russische Bild<br />
der Madonna mit den wissend traurigen<br />
und doch so gütigen Augen. Und<br />
seine Mutter zündet jeden Samstag<br />
davor die Ampel an, so, wie es früher<br />
eine andere Mutter getan hat, dort,<br />
wo ihr Sohn begraben liegt.<br />
Seht ihr, das waren meine Weihnachten<br />
1941. Es war viel Dunkel darin.<br />
Überhaupt, wie viele Dinge, und<br />
wohl gerade die tiefsten, werden für<br />
uns Menschen Zeit unseres Lebens<br />
im Dunkel bleiben, eingebettet in eine<br />
undurchdringliche Schale! Aber wenn<br />
ich mir das Antlitz des Greises über<br />
dem Sterbenden vergegenwärtige,<br />
dieses zerbrochene und dann von einem<br />
ganz anderen Licht emporgerissene<br />
Antlitz, dann fühle und weiß ich:<br />
Es gibt noch eine Hoffnung für unsere<br />
Völker. Nur eine Hoffnung. q<br />
342 DER FELS 12/<strong>2006</strong>