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Dezember 2006 - Der Fels

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Gerhard Hermes:<br />

In seinem Buch „Du kommst nach<br />

Hause“ bringt Pater Hermes folgende<br />

Erzählung eines Mitgefangenen<br />

in einem russischen Lager:<br />

Es war der Heiligabend 1941. Nie<br />

werde ich die Schreckensbilder jener<br />

Tage vergessen können – wer die damalige<br />

‚Frontbegradigung’ bei Tula-<br />

Orel mitgemacht hat, wird wissen,<br />

was ich meine. Die brennenden Dörfer,<br />

die verzweifelten Menschen, die<br />

innere und äußere Not der Kameraden,<br />

die einen wahnsinnigen Befehl<br />

ausführen mussten – all das lastete<br />

mir so auf der Seele, dass ich mir<br />

eine Kugel wünschte, allen Ernstes.<br />

Ich konnte das Grauen nicht mehr<br />

ertragen. Damals übrigens haben<br />

wir den Krieg verloren, damals, als<br />

wir die Seele des russischen Volkes<br />

herausgefordert haben.<br />

Ich gehörte zur Aufklärungsabteilung<br />

120, war Geschützführer<br />

im KG-Zug. Aber das hatte damals<br />

beim Rückzug keine Bedeutung, wir<br />

waren alle infanteristisch eingesetzt.<br />

Heiligabend hatten wir uns in Gewaltmärschen<br />

vom Russen abgesetzt,<br />

wir sollten die Oka, die neue HKL<br />

(Hauptkampflinie) erreichen.<br />

Es war eine Hundekälte – manchmal<br />

staken wir bis zur Hüfte im<br />

Schnee.<br />

Im heraufdämmernden Morgen<br />

zeigte uns ein brennendes Dorf den<br />

Weg. Wir arbeiteten uns seitwärts<br />

vorbei – wir konnten der Lage nicht<br />

trauen – und erreichten glücklich die<br />

„Hauptmarschstraße“ der Division.<br />

Klingende Namen hatten sie ja damals<br />

für alles.<br />

<strong>Der</strong> Morgen des Weihnachtstages<br />

war einzigartig schön, von einer<br />

geradezu schmerzhaften Schönheit.<br />

Das makellose Weiß des Schnees, das<br />

märchenhafte Funkeln des Raureifs,<br />

der Baum und Strauch überspann,<br />

verzauberte mich, trotz allem. Wenn<br />

man je solche Herrlichkeit malen<br />

Eine Weihnachtsgeschichte<br />

könnte, dachte ich bei mir. Aber ich<br />

wurde grausam aus den Träumen gerissen<br />

– vor uns lag wieder ein Dorf,<br />

wieder ein brennendes Dorf.<br />

Es war hier jedenfalls zugegangen<br />

wie überall: Die nichtsahnenden Leutchen<br />

hatten den Landsern das Beste<br />

vorgesetzt, was sie noch hatten. Die<br />

Angst vor den anrückenden Bolschewiken<br />

stand ihnen<br />

in den Augen, manche<br />

weinten. Die<br />

Kameraden hatten<br />

Brot und Speck<br />

mit dem schlechtesten<br />

Gewissen<br />

von der Welt hinuntergeschlungen<br />

– und fünf Minuten<br />

später das<br />

Zündholz unter das<br />

Strohdach gehalten.<br />

Nun wirbelte<br />

das ganze Dorf<br />

hinauf in die gleißende<br />

Bläue, die<br />

schwarze Asche<br />

legte sich wie ein<br />

Höllenschnee über<br />

das unschuldige<br />

Weiß. Die entsetzten<br />

Dorfbewohner<br />

standen zusammengedrängt am<br />

Rande einer Schlucht. Die Kinder<br />

weinten, die Frauen jammerten und<br />

beteten, die wenigen Männer ballten<br />

die Fäuste in stummer Ohnmacht.<br />

Meine Scham war entsetzlich,<br />

ich wäre am liebsten im Boden versunken.<br />

Aber wir mussten dicht an<br />

den verzweifelten Menschen vorbei<br />

spießrutenlaufen unter Blicken,<br />

die härter trafen als Peitschen oder<br />

Stöcke. Gerade als wir die Gruppe<br />

des Elends erreichten, sehe ich, wie<br />

ein riesenhafter Greis aus einem<br />

kümmerlichen Haufen geretteten<br />

Hausrats eine Ikone herauszieht.<br />

Eine Frau fällt ihm schreiend in die<br />

Arme. Er entwindet sich ihr, reckt<br />

sich hoch auf und schleudert das Bild<br />

mit einem dröhnenden Fluch hinab<br />

in die Schlucht.<br />

Ich habe ein ziemliches Gedächtnis<br />

für Gesichter, und dieser Kopf war einer<br />

von denen, die man nicht vergisst,<br />

wenn man sie einmal gesehen hat.<br />

<strong>Der</strong> Alte hatte mit seiner heftigen Bewegung<br />

die Schapka abgestreift, und<br />

ich erkannte den<br />

kugelrunden, eisenharten<br />

Schädel<br />

wieder, der mir<br />

schon einmal aufgefallen<br />

war, im<br />

Oktober, bei unserm<br />

Vormarsch<br />

über die Oka.<br />

Wie anders war<br />

damals die Szene<br />

gewesen! Wer 41<br />

dabei war, hat bestimmt<br />

solche Bilder<br />

gesehen. Die<br />

gequälten Menschen<br />

begrüßten<br />

uns als Befreier.<br />

Und eben dieser<br />

Greis mit dem Eisenschädel<br />

stand<br />

damals vor seiner<br />

Hütte, barhäuptig,<br />

die Hände über der Brust gekreuzt,<br />

Psalmworte vor sich hinsingend.<br />

Tränen der Freude rollten ihm in den<br />

Bart.<br />

Das stand nun blitzartig vor meiner<br />

Seele, als ich den Alten das Bild<br />

in die Schlucht hinabwerfen sah. Ich<br />

begriff, welche Tragödie des Vertrauens<br />

sich hier abgespielt hatte, und<br />

schämte mich noch tiefer für die,<br />

welche den Glauben dieser einfachen<br />

Menschen zerbrachen.<br />

Wir beeilten uns, weiterzukommen,<br />

weiter durch Rauch und<br />

Aschenregen. Mit einmal standen<br />

wir still – es war unverkennbar: Aus<br />

einer der brennenden Hütten drang<br />

das Schreien eines Kindes.<br />

DER FELS 12/<strong>2006</strong> 341

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