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Dezember 2006 - Der Fels

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Reinhold Ortner:<br />

Wachstum, Wachstum über alles<br />

„Wir haben das Ziel unseres<br />

Lebens(laufes) aus den Augen verloren.<br />

Dafür verstärken wir aber<br />

das Tempo und die Aktivitäten für<br />

den Endspurt.“<br />

Ich schalte die Fernseh-Nachrichten<br />

ein: „Wirtschafts-Weise haben<br />

errechnet, dass das Wachstum um<br />

einen halben Prozentpunkt geringer<br />

sein wird.“ Es ist offensichtlich<br />

eine schlimme Meldung, denn ein<br />

Politiker beschwichtigt sofort: „Kein<br />

Grund zur Panik.“ Einer von der Opposition<br />

hingegen meint: „Sehr beängstigend!“<br />

Nach einer Weile erfahre<br />

ich vom Wachstum des Konzerns<br />

Müller und vom „Null-Wachstum“<br />

der Firma Meier. Jetzt fällt mir ein:<br />

Schon seit längerem will mir meine<br />

Bank hartnäckig Aktien mit „garantiertem<br />

Wachstum“ aufschwätzen.<br />

Mein Kollege Huber brütet jeden<br />

Abend über Wachstums-Strategien<br />

seines Investments. Er ist offensichtlich<br />

in beachtlicher Gesellschaft,<br />

denn täglich kann man heutzutage<br />

Börsenberichte für alle „Menschen<br />

wie du und ich“ abrufen. Auch im<br />

Denken von Parteipolitikern nimmt<br />

das Wachstum von Wählerstimmen<br />

hohen Rang ein. „Wir müssen bei<br />

den Wahlen immer mehr Wachstum<br />

herauspowern“, forderte neulich ein<br />

Parteichef. Ich frage mich, was er<br />

wohl sagt, wenn seine Partei endlich<br />

bei 101 Prozent aller Stimmen angekommen<br />

ist. Spaß beiseite ...<br />

Ich werde den Verdacht nicht los,<br />

dass eine Wachstums-Epidemie ausgebrochen<br />

ist. Doch Kollege Huber,<br />

ein Wachstums-Spezialist, klärt mich<br />

auf: „Falls du es noch nicht weißt:<br />

Im Leben geht es um Wachstum.<br />

Wachstum ist der Angelpunkt des<br />

Daseins.“ Ich frage schüchtern, ob<br />

er das Wachstum meiner Kinderzahl<br />

meint. Er verzieht verächtlich seine<br />

Mundwinkel. Da geht mir ein Licht<br />

auf. Er meint weder das Wachstum<br />

der Kinderzahl noch das Wachstum<br />

an menschlicher Reife und Weisheit,<br />

sondern Wachstum von Aktien,<br />

Macht, Umsatz, Profit. Das ist es,<br />

was Insider heute wissen müssen.<br />

Offensichtlich war ich mit meiner<br />

Vorstellung vom Sinn des Lebens<br />

bislang auf einem ganz falschen<br />

Trip.<br />

Wie naiv mein Wissen von den<br />

wirklich entscheidenden Fakten des<br />

Lebens ist, sollte ich noch am selben<br />

Abend erfahren. Ich warte froh und<br />

entspannt auf die TV-Nachrichten.<br />

<strong>Der</strong> Sprecher erscheint mit todernster<br />

Miene. „Da war irgendwo ein<br />

katastrophales Erdbeben“, schießt es<br />

mir durch den Kopf. „Oder es ist ein<br />

Prominenter ermordet worden.“ Weit<br />

schlimmer: Dow Jones, Dax, Nemax,<br />

Minimax (oder wie diese Maxe<br />

alle heißen) haben Punkte verloren,<br />

erfahre ich. „Die ganze Welt wartet<br />

sorgenvoll auf neues Wachstum“, so<br />

der Sprecher.<br />

„Da muss man doch etwas unternehmen“,<br />

sage ich zu mir. „Frohsinn<br />

muss wieder in die Welt! Ab jetzt<br />

werde ich für Wachstum sorgen.“<br />

Nur – wie macht man Wachstum?<br />

Ich suche in Zeitungen, dort wo die<br />

vielen Tabellen stehen, und im Internet.<br />

Bald werde ich fündig. Ein<br />

kompetenter Wirtschaftspolitiker<br />

schreibt: „Wir müssen möglichst<br />

viele hochbegabte und leistungsstarke<br />

Männer und Frauen mobilisieren<br />

und deren Arbeitskraft auf die Räder<br />

der Produktion leiten. Je mehr, um<br />

so größer sind Produktion, Absatz<br />

und Wachstum. Je mehr Wachstum,<br />

um so mächtiger und stolzer können<br />

wir sein.“ Das leuchtet mir ein. Wir<br />

kommen dann doch endlich einmal<br />

ins Guiness-Buch der Rekorde.<br />

Leider hat die ganze Sache einen<br />

Haken. Dieselben Wachstums-Experten<br />

beklagen, dass zu viele Zeitgenossen<br />

rings um uns leben, die „Sand<br />

im Getriebe“ sind: Alte, Behinderte,<br />

Prof. Dr. Reinhold Ortner,<br />

Universitätsprofessor, Diplom Psychologe<br />

und Psychotherapeut aus<br />

Bamberg<br />

Schwache, Kranke, unerwünschte<br />

Kinder und angeblich leistungsunfähige<br />

„Faule“ und „Simulanten“. Was<br />

macht man mit diesen Unnützen, die<br />

dem Wachstum im Wege stehen?<br />

Nicht nur, dass sie keine Steuern<br />

zahlen. Man kann nicht einmal ihre<br />

Arbeitskraft abschöpfen. Sie bringen<br />

nichts ein und nichts voran, sondern<br />

belasten und bremsen. Was also<br />

tun mit diesem Klotz am Bein des<br />

Wachstums? Ganz Kluge denken<br />

schon über praktische Lösungen<br />

nach unter der Devise „Ein Recht auf<br />

Leben hat nur, wer für das Wachstum<br />

nützlich ist.“<br />

Da sollten wir rechtzeitig und<br />

kritisch fragen: Welchen Wert haben<br />

zum Beispiel Nächstenliebe,<br />

soziales Helfen, Gottvertrauen in<br />

Frömmigkeit, demütiges Leiden oder<br />

selbstlose Barmherzigkeit in einer<br />

Gesellschaft, die Geld, Macht und<br />

Konsum zum Sinn menschlichen Daseins<br />

deklariert? Wo Wachstum über<br />

alles geht, haben Ellenbogen freie<br />

Bahn. Wer solches Wachstum um jeden<br />

Preis als Leitidee des Lebens auf<br />

Kosten anderer durchsetzen möchte,<br />

sollte sich die unbequeme Warnung<br />

einrahmen: „Die Ersten werden die<br />

Letzten sein.“ Wachstum? Ja. Aber<br />

nur, wenn Verständnis und liebevolle<br />

Annahme der Armen, Schwachen,<br />

Unterdrückten, Ungeborenen, Alten,<br />

Kranken, Behinderten, Missverstandenen<br />

und Gedemütigten dafür den<br />

Prüfstein bilden. q<br />

356 DER FELS 12/<strong>2006</strong>

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