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Freimut. - Christoph Fleischmann

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Lebenszeichen<br />

Sprecher:<br />

Zitator (Bibel, Lexikon, Dion Chrysostomos, Platon):<br />

<strong>Freimut</strong> –<br />

Über eine vergesse Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

O-Töne von Anne Katharina Bogatzki, Eberhard Busch, Heinz-Gert <strong>Freimut</strong>h, Rainer<br />

Funk und Hermann Steinkamp.<br />

Musik 1 Mozart, Sinfonie Nr. 5 B-Dur (KV 22), erster Satz kurz frei, dann unter O-<br />

Töne und Sprecher bis Ende des 4. O-Tons<br />

O-Ton Anne Katharina Bogatzki<br />

Ich hatte eine sehr nette Professorin, die mich irgendwann mal darauf<br />

aufmerksam machte, dass ich einen Namen habe, der verpflichtet und<br />

ich doch nicht so dumm wäre, diesen Namen abzugeben, wenn ich<br />

denn mal heiraten würde.<br />

Sprecher<br />

Anne Bogatzkis Mädchenname ist <strong>Freimut</strong>h.<br />

O-Ton Anne Katharina Bogatzki<br />

Ich habe diese Torheit, in Anführungsstrichen, begangen: Als ich<br />

geheiratet habe, habe ich meinen Mädchennnamen abgegeben. Durch<br />

äußere Veranlassung werde ich ihn jetzt wieder annehmen und ich bin<br />

stolz darauf. Ich freue mich darauf, den Namen wieder anzunehmen,<br />

weil er für mich mittlerweile zum Programm geworden ist. [...] Ich bin<br />

Lehrerin und muss oft […] Schüler auf den rechten Weg bringen, ihnen<br />

klar machen: Seid mutig; habt den Mut etwas zu tun. [...] nutzt die<br />

Freiheit, nutzt eure Möglichkeiten, [...] geht dazwischen. In unserem<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder<br />

vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.


Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Lehrerberuf ist es ja oft, dass man den Schülern klarmacht Zivilcourage<br />

zu haben, dass wir nicht in einer Wegschaugesellschaft sind, sondern<br />

dass man dazwischengeht.<br />

O-Ton Anne Katharina Bogatzki<br />

Ich denke schon, dass das etwas mit dem Leben zu tun hat, wenn man<br />

einen Namen hat wie <strong>Freimut</strong>h; dass damit etwas mehr gesagt ist als<br />

nur eine Benennung. Sondern Romano Guardini hat mal gesagt: Der<br />

Name sei Anruf und Prägung. So was ähnliches würde ich für mich<br />

dann auch einfordern, dass es für mich ein Anruf ist, und dass es wenn<br />

möglich eine Prägung sein soll.<br />

Sprecher<br />

Heinz-Gert <strong>Freimut</strong>h ist der Vater von Anne Bogatzki; er war Domchordirektor in<br />

Münster.<br />

O-Ton Heinz-Gert <strong>Freimut</strong>h<br />

Weil ich ja beruflich an vielen Feiertagen im Dom war, über dreißig<br />

Jahre lang; und da taucht eben im Evangelium manches Mal auf: “Sie<br />

verkündeten das Evangelium mit <strong>Freimut</strong>.” [...] Dass also <strong>Freimut</strong> etwas<br />

auch mit dem Evangelium zu tun haben kann, dass es eine<br />

Charaktereigenschaft ist, die ganz offensichtlich für die Verkündigung<br />

des Evangeliums von Vorteil oder von Wichtigkeit ist.<br />

Sprecher<br />

Was aber ist <strong>Freimut</strong>? Steht das alte deutsche Wort für dass selbe, was das<br />

moderne Wort Zivilcourage meint? <strong>Freimut</strong> gehört wohl nur noch für wenige<br />

Menschen zu ihrem aktiven Wortschatz. Es hat in den Reservaten alter Texte wie der<br />

Bibelübersetzung überlebt. Geläufig ist heute allenfalls noch das Adjektiv „freimütig“.<br />

Es bedeutet, dass jemand offen und ehrlich redet. So steht es in den modernen<br />

Wörterbüchern. In älteren Lexika findet man genauere Beschreibungen:<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Zitator<br />

<strong>Freimut</strong> ist der Mut, seine Meinung zu bekennen, auch wenn dies<br />

Bekenntnis mit Gefahr für den Bekennenden verbunden ist. Dadurch<br />

dass er dieses nicht ohne direkte oder indirekte Aufforderung tut, ist der<br />

<strong>Freimut</strong> von Dreistigkeit unterschieden. Dadurch, dass er es tut,<br />

ungeachtet dass für seine Person Gefahr damit verknüpft ist, ist es von<br />

der im Verborgenen tapferen „Faust im Sack“ unterschieden. Meyers<br />

Konversationslexikon von 1895.<br />

O-Ton Rainer Funk<br />

Also ich habe einmal in den Wörterbüchern nachgeschaut und habe<br />

dort gefunden, dass <strong>Freimut</strong> relativ spät erst entstanden ist; Ende des<br />

17.Jahrhunderts erstmals auftaucht. Aber das Adjektiv dazu, freimütig,<br />

gab es schon früher; und das leitet sich von muot ab – vom mittel- und<br />

hochdeutschen muot, was im Allgemeinen das gesamte Seelenleben<br />

betrifft; also was noch ein bissel im Begriff des Gemüts zum Ausdruck<br />

kommt, [...] etwas was eine Seelenstimmung wieder gibt, und von daher<br />

wäre dann auch freimütig eine Bildung, die besagt, hier ist einer von<br />

seiner Seelenstimmung frei und damit auch fähig, ungewohnte Dinge<br />

undsoweiter zu tun.<br />

Sprecher<br />

So interpretiert der Psychonanalytiker Rainer Funk den Befund aus den<br />

Wörterbüchern. Etwas ähnliches wie die „Freiheit ungewohnte Dinge zu tun“ fand<br />

auch Heinz-Gert <strong>Freimut</strong>h. Er machte sich auf die Suche nach der Herkunft seines<br />

Namens und fand ein mittelalterliches Wappen:<br />

O-Ton Heinz-Gert <strong>Freimut</strong>h<br />

Es gibt ein Wappen der <strong>Freimut</strong>h und daraus ist ziemlich deutlich zu<br />

sehen, dass es ein Handelsname war. [...] Ich trage einen Siegelring mit<br />

dem Wappen mit dem <strong>Freimut</strong>h-Wappen. [...] Das ist eine auf den Kopf<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

gestellte Vier. Vier ist das Handelszeichen. [...] Der freie Handel war<br />

offensichtlich etwas, was sich dann mit dem Namen <strong>Freimut</strong>h<br />

verbunden hat. [...] Die vier, die in der Zahlensymbolik [...] für Welt<br />

steht, für die vier Himmelsrichtungen. In der Zahlensymbolik ist die vier<br />

das, was über die drei hinausgeht. [...] also etwas was über den [...]<br />

kirchlichen Bereich hinausgeht. Drei war die Zahl der Kirche, vier war<br />

das, was Welt ist. 7’15 [...] das was nach dieser drei sich entwickelt.<br />

Man kann jetzt natürlich spekulieren, dass die Handelsleute freimütig<br />

sich gegen die Kirche... - oder meinetwegen aus der Kirche heraus<br />

kamen. Auf jeden Fall: Den nächsten Schritt mutig taten und ihren<br />

Handel weltweit bewerkstelligten.<br />

Musik 2 Mozart, Kirchensonate C Dur (KV 329); anfangs frei<br />

II.<br />

Sprecher<br />

Das deutsche Wort <strong>Freimut</strong> hat einen Vorläufer in der griechischen Antike: Das<br />

griechische Wort Parrhesia wird im Deutschen mit <strong>Freimut</strong> übersetzt. Parrhesia, das<br />

war das Recht und die Pflicht des griechischen Bürgers in der Stadtversammlung<br />

offen die Wahrheit zu sagen. Damit die richtigen Gesetze erlassen werden, brauche<br />

es den Freimütigen – eine seltene Sorte Mensch, von Platon verzweifelt gesucht:<br />

Zitator<br />

So aber scheint es dazu eines entschlossenen Mannes zu bedürfen,<br />

der die Freimütigkeit über alles setzt und deshalb ausspricht, was ihm<br />

für Staat und Bürger als das Beste erscheint, der mitten unter<br />

verdorbenen Seelen das anordnet, was sich ziemt und mit der<br />

gesamten Staatsverfassung in Einklang steht, der mit seinen Worten<br />

den heftigsten Begierden entgegentritt und, da er in keinem Menschen<br />

einen Beistand hat, als einziger einzig der Vernunft folgt.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Sprecher<br />

Wer nur der Vernunft folgt, bringt sich unter Umständen in Gefahr: Weil die Mehrheit<br />

nicht immer vernünftig ist und womöglich gegen ihn steht. Für die antiken Autoren<br />

zeichnete es den Parrhesiasten, den Freimütigen, aus, dass er unerschrocken die<br />

Wahrheit sagte - selbst gegenüber Königen und Despoten, die ihn deswegen töten<br />

könnten.<br />

Für die griechischen Philosophen war der Ort der Parrhesia nicht nur die öffentliche<br />

Versammlung, sondern auch das Gespräch zwischen einem Schüler und einem<br />

Lehrer, in dem der eine dem anderen Wahres über ihn sagt.<br />

Beiden Orte der Parrhesia inspirieren bis heute das Nachdenken über <strong>Freimut</strong>:<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

Für mich hat <strong>Freimut</strong> zwei Bedeutungen, die aus unterschiedlichen<br />

Praxiszusammenhängen stammen.<br />

Sprecher<br />

Der katholische Theologe Hermann Steinkamp hat dreißig Jahre an der Universität<br />

Münster gelehrt und dort neben theologischen Veranstaltungen auch regelmäßig<br />

gruppendynamische Seminare angeboten.<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

<strong>Freimut</strong> ist, ähnlich wie es die öffentliche Diktion sagt, die Fähigkeit der<br />

Mut, in der Öffentlichkeit den Herrschenden gegenüber zu sagen, was<br />

man denkt, das zu sagen ist. Das ist der eine Teil. Der andere Teil ist<br />

im interpersonellen Gespräch eine Form des Redens, eine<br />

Kommunikationsform, die dem anderen Wahres sagt über das, wie ich<br />

ihn erlebe, über das, was mich in Bezug auf ihn bewegt, und was ich<br />

ihm mitteile in der Intention, dass er mit dieser Rückmeldung anfangen<br />

kann, was sie möchte. Also wenn sie so wollen eine „Wahrheit<br />

zwischen uns“, die dazu dient, dass Menschen mehr Subjekte ihres<br />

Handelns werden können, weil sie die Wirkung ihres Handelns auf<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

andere einbeziehen können in ihre Form der Interaktion mit anderen<br />

Menschen.<br />

Sprecher<br />

Beide Bedeutungen von <strong>Freimut</strong> fließen in den Geschichten über Diogenes<br />

zusammen, dem Philosophen in der Tonne. Als gelegentlicher Berater von Alexander<br />

dem Großen sagte er dem Herrscher im persönlichen Gespräch unerschrocken die<br />

Wahrheit – und wurde dafür manchmal bedroht und manchmal geschätzt:<br />

Zitator<br />

Wie Diogenes so da saß, trat also der König zu ihm und begrüßte ihn.<br />

Diogenes aber warf ihm einen zornigen Blick zu, wie ein Löwe und<br />

forderte ihn auf, ein wenig beiseite zu treten, er sonnte sich nämlich<br />

gerade. Die Unerschrockenheit und Ruhe des Mannes, der sich durch<br />

seine Gegenwart keineswegs einschüchtern ließ, erregten sofort<br />

Alexanders Bewunderung. Denn es ist ganz natürlich, dass die Mutigen<br />

die Mutigen lieb gewinnen, während die Feigen sie argwöhnisch<br />

betrachten, sie als ihre Feinde hassen und nur die Niedrigen<br />

willkommen heißen und gern haben. Und so sind dem einen Wahrheit<br />

und <strong>Freimut</strong> am liebsten, dem anderen Schmeichelei und Lüge; die<br />

einen leihen denen gern ein Ohr, die im Umgang mit ihnen zu gefallen<br />

suchen, die anderen solchen, denen es dabei um die Wahrheit geht.<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

Eine alte Weisheit über diese Form des <strong>Freimut</strong>s sagt, es war auf der<br />

einen Seite abzugrenzen von Schmeichelei, was immer die Versuchung<br />

war und auf der anderen Seite von Rhetorik. Das heißt von der<br />

Redeform, die dem anderen etwas argumentativ rüberbringen will. Die<br />

Parrhesia liegt genau dazwischen, zwischen Schmeichelei und<br />

Rhetorik. Sie ist also ein Versuch, dem anderen zu spiegeln, wie ich ihn<br />

erlebe.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Zitator<br />

Diogenes antwortete Alexander dem Großen: Deshalb empöre dich nur<br />

über mich, spring von einem Bein auf das andere, halte mich für den<br />

größten Schuft und mache mich vor aller Welt schlecht, ja wenn du<br />

willst, durchbohre mich mit deinem Speer! Denn ich bin der einzige, von<br />

dem du die Wahrheit hörst, und bei keinem anderen Menschen wirst du<br />

sie erfahren können. Denn kein anderer ist solch ein Ehrenmann wie<br />

ich und so freimütig.<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

Ich glaube schon, dass die Freiheit von eigenen Ängsten, selbst die<br />

Angst vor dem Tod galt als eine Behinderung der Freiheit, dieser<br />

besagten Freiheit. Die Angst vor dem Tod als eine der Einflüsse auf<br />

meine Freiheitspotentiale zu reflektieren, war Teil der [...]<br />

Selbstsorgepraxis, der Sorge für sich.<br />

Sprecher<br />

Der französische Philosoph Michel Foucault hat sich am Ende seines Lebens<br />

ausführlich mit der antiken Parrhesia beschäftigt. Foucault ist als der Philosoph<br />

bekannt, der die Herrschafts- und Zwangstechniken der abendländischen<br />

Gesellschaften erforscht hat: Gefängnis, Psychologie und Sexualmoral galten ihm als<br />

zentrale Herrschaftsinstrumente. Der einzelne Mensch schien ihm fast unrettbar<br />

durch fremde Zwänge geprägt.<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

Er hat in seiner frühen Zeit, als er eine sehr pessimistische<br />

Einschätzung des Subjekts und seiner Autonomie hatte, hat er immer<br />

wieder betont, worum es gehen würde, wenn man überhaupt eine<br />

Perspektive für das Subjekt hätte, dann hieße sie Ent-Unterwerfung.<br />

Sich nicht zu unterwerfen diesen Mächten, diesen Disziplinartechniken.<br />

[...] Gegen Ende seines Lebens hat er mal ein schönes Wort geprägt,<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

was hieß: „Lasst Euch nicht domestizieren, bildet Banden.“ Er hat also<br />

auf die Solidarität der Unterdrückten immer gesetzt.<br />

[...]Der <strong>Freimut</strong> wäre also das Produkt einer solchen Praxis des sich<br />

nicht Unterwerfenlassens, der Kritik. Das Produkt eines langwierigen<br />

Lernprozesses, eines Prozesses der Selbstermächtigung. [...] Die<br />

Einübung [...] der kontrollierten Risiken, die man eingeht, wenn man frei<br />

und offen spricht, führt letztendlich dazu, dass man das zu einer Art<br />

Habitus machen kann, zu einer Gewohnheit, zu einem Charakterzug,<br />

dass man freimütig spricht.<br />

Sprecher<br />

Und worauf käme es heute an? Wo täte heute ein freimütiges Wort Not?<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

Ich hoffe, dass immer mehr Menschen <strong>Freimut</strong> genug finden, um die<br />

unsäglichen Ungerechtigkeiten, die zum Beispiel mit dem Prozess der<br />

Globalisierung vor Augen stehen, anzuprangern und nicht aufhören<br />

öffentlich anzuklagen: Dass das ein himmelschreiendes Unrecht ist,<br />

was mit den Armen auf der Welt geschieht und was mit dem Geld<br />

geschieht, das die Reichen in solchen Unmengen aufhäufen, dass sie<br />

es nicht mehr zählen können.<br />

Musik 3 Mozart, Sinfonie Nr. 25 g-moll (KV 183), erster Satz, anfangs frei<br />

III.<br />

Sprecher<br />

Ist <strong>Freimut</strong> also der Mut für die Freiheit zu kämpfen gegen die Zwänge der<br />

Gesellschaft? Das legt die Interpretation von Michel Foucault nahe. Man kann das<br />

zusammengesetzte Wort <strong>Freimut</strong> aber auch anders auflösen: Als Mut, die Freiheit zu<br />

ergreifen. Dass es Mut braucht um frei zu sein, legt ein Buchtitel des Philosophen<br />

und Psychoanalytikers Erich Fromm nahe: „Die Furcht vor der Freiheit“.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

O-Ton Rainer Funk<br />

Fromms erstes großes Buch Escape from Freedom, was im Deutschen<br />

dann Furcht vor der Freiheit übersetzt wurde, das im Englischen<br />

eigentlich die Flucht vor der Freiheit heißt, ist geschrieben aus der<br />

Erkenntnis heraus, dass die neuzeitliche Geschichte des Abendlandes<br />

eigentlich eine riesige Freiheitsgeschichte ist. Freiheit von großen<br />

sozialen Bindungen, [...] die politische Freiheit, die persönliche Freiheit,<br />

die Freiheit des Geistes, sind alles Errungenschaften neuzeitlicher<br />

kultureller Entwicklung [...].<br />

Sprecher<br />

Der Psychoanalytiker Rainer Funk war Assistent von Erich Fromm und ist heute<br />

Geschäftsführer der internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft.<br />

O-Ton Rainer Funk<br />

Dass aber nun, obwohl die Menschen frei sein könnten, es zu<br />

autoritären Systemen kommt, dennoch zum Nationalsozialismus in<br />

Deutschland gekommen ist, das heißt die Menschen sich sozusagen<br />

freiwillig wieder ihrer Freiheit berauben lassen, sich einem Führer<br />

unterwerfen, ihn anbeten und ihn idealisieren und gleichzeitig all die<br />

destruktiven Normen und Verhaltensweisen übernehmen, die gar nicht<br />

aus ihrem schöpferischen Tun kommen. Sondern die er von einer<br />

solchen Ideologie, wie sie die nationalsozialistische Ideologie war,<br />

übernimmt und sich von daher fremdbestimmen lässt, statt seine<br />

eigene Freiheit wahrzunehmen.<br />

Sprecher<br />

Die Angst vor der Freiheit, für sich selbst verantwortlich zu sein, führt zur Flucht in<br />

autoritäre Strukturen. Ein anderer soll die Entscheidung abnehmen. Fromm erkannte<br />

aber auch schon, dass es noch andere Fluchtmöglichkeiten gibt: Die Flucht ins<br />

Konformistische: Nicht auffallen! Wer tut, was alle anderen auch tun, muss ebenfalls<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

nicht selber entscheiden. Heute beschleunigt sich der Prozess der Individualisierung<br />

in den Ländern des Westens – komplementär nehmen die fundamentalistische<br />

Versuchung und der Konformismus zu. Woher den Mut zur Freiheit nehmen?<br />

O-Ton Rainer Funk<br />

Die Lösung sieht Fromm tatsächlich darin, dass Menschen mit ihren<br />

eigenen Kräfte und Fähigkeiten selbstbestimmt mit der Wirklichkeit [...]<br />

in Beziehung treten, dass Menschen dies versuchen, aus eigenen<br />

Kräften zu leben. Jeder Mensch hat sogenannte psychische<br />

Eigenkräfte, geistige Eigenkräfte, körperliche Eigenkräfte: Er hat<br />

Muskelkraft; er hat die psychische Kraft zu lieben, zärtlich zu sein, zu<br />

vertrauen. Er hat die geistige Kraft, sich Dinge merken zu können,<br />

fantasieren zu können. Und es kommt darauf an, dass der Mensch [...]<br />

seine Beziehung zur Wirklichkeit, zu anderen Menschen und zu sich<br />

selbst mit diesen urmenschlichen Fähigkeiten gestaltet.<br />

Sprecher<br />

Menschen realisieren demnach ihre Freiheit durch kreatives Tun, indem sie ihre<br />

eigenen Kräfte selbstbewusst gebrauchen.<br />

O-Ton Rainer Funk<br />

Wenn wir das tun, dann werden wir innerlich frei und haben auch den<br />

Mut, weil wir psychisch unabhängig sind, wir sind nicht auf den Beifall<br />

der anderen angewiesen und das, was wir tun, kann uns auch nicht<br />

weggenommen werden, weil es mit unserem Selbst verwachsen ist. [...]<br />

Ich glaube, dass das auch eine ganz große innere Verbindung hat zu<br />

der ursprünglichen Bedeutung von freimütig, nämlich dass ich in meiner<br />

Seelenstimmung frei bin. Wenn die Seele gestimmt ist, weil ich mit ihr<br />

Kontakt habe, weil ich sie praktiziere, weil ich das Subjekt meiner<br />

eigenen Seelenkräfte bin, dann habe ich <strong>Freimut</strong>, dann bin ich<br />

freimütig.<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Sprecher<br />

Kontakt mit dem eigenen Ich haben. Gnòthi seautòn – Erkenne Dich selbst – war<br />

eine weitverbreitete Weisheit in der griechischen Antike. Heute geht man zwecks<br />

Selbsterkenntnis zum Psychologen. Sokrates ging auf den Markt oder zu Freunden.<br />

Mit seinen hartnäckigen Fragen wollte er dazu beitragen, dass seine<br />

Gesprächspartner sich selber erkennen. Er war ein Parrhesiast, ein Freimütiger,<br />

einer der den anderen durch seine Fragen Wahres über sie mitteilte. Aber auch er<br />

selbst brauchte jemanden, der ihm freimütig die Wahrheit sagte. Er fand ihn in<br />

seinem Freund Kallikles:<br />

Zitator<br />

Ich weiß gewiss, dass, was du mir zugibst von meinen Meinungen,<br />

dieses dann gewiss die Wahrheit selbst ist. Ich denke mir nämlich, wer<br />

eine vollständige Prüfung anstellen soll mit einer Seele, ob sie recht lebt<br />

oder nicht, der muss dreierlei haben, welches du alles hast: Einsicht,<br />

Wohlwollen und Freimütigkeit.<br />

O-Ton Rainer Funk<br />

Man muss Einsicht haben, denke ich auch, Einsicht vor allem in seine<br />

eigenen […] problematischen Seiten haben. Nur wenn man sich selbst<br />

nicht mehr sehr fremd ist, vertraut wurde mit sich selbst, hat man auch<br />

keine Angst mehr vor dem, was einem fremd im anderen ist. [...] Das<br />

Wohlwollen wäre dann vor allem diese Vertrauensbeziehung, die da<br />

entsteht, aus der heraus man weiß, was immer ich jetzt von mir<br />

preisgebe, das wird vom anderen wohlwollend aufgenommen. Ich muss<br />

nicht erwarten, dass er mich verurteilt oder verlässt, dass er mich<br />

bestraft oder seine Aufmerksamkeit abzieht. Es ist was Wohlwollendes,<br />

Haltendes, Tragendes da. Das Zitat [...] wäre eine gute Beschreibung<br />

für einen therapeutischen Dialog.<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Sprecher<br />

Und vielleicht wäre die Trias Einsicht, Wohlwollen, Freimütigkeit auch ein Ideal für<br />

eine gute Freundschaft oder gar eine Ehe.<br />

O-Ton Rainer Funk<br />

Und die Freimütigkeit, dann wechselseitig: Wir beide sprechen uns<br />

dahingehend ab, dass jeder von uns dem anderen auch sagen darf,<br />

was er wahrnimmt – egal ob’s richtig oder falsch ist. Aber was ich<br />

spüre, was ich sehe, das mute ich dem anderen zu. Ich halte das [...]<br />

für eine gelingende Ehe oder eine gelingende Freundschaft eine ganz<br />

zentrale Voraussetzung.<br />

Musik 4 Mozart, Sonata IV (KV 304), erster Satz teilweise frei<br />

IV.<br />

Sprecher<br />

Wer vor sich selbst keine Angst hat und sich kreativ ausleben kann, der findet den<br />

Mut zur Freiheit, der lebt freimütig. Und der findet vielleicht auch den Mut gegen die<br />

Unfreiheit anzugehen.<br />

Zitator<br />

Paulus aber blieb zwei volle Jahre in seiner eigenen Wohnung und<br />

nahm alle auf, die zu ihm kamen, predigte das Reich Gottes und lehrte<br />

von dem Herrn Jesus Christus mit allem <strong>Freimut</strong> ungehindert. Aus der<br />

Bibel, Apostelgeschichte 28.<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

Eine Bedeutung, die in der Apostelgeschichte verwendet wird, wo –<br />

wenn man das in unserer Sprache heute ausdrücken will – dieser<br />

<strong>Freimut</strong> hieß: Ich kann gar nicht anders als Reden. Es brennt mir auf<br />

den Nägeln, das Evangelium zu verkünden. Das ist eine Grundformen<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

der neutestamtlichen freien Rede – vor den Mächtigen, vor den<br />

Gerichten. Paulus auf dem Areopag, all diese Szenen. Die wichtige<br />

Konnotation dabei ist, dass es ein gewisses Risiko darstellt, in der<br />

damaligen paganen Umwelt das Evangelium zu verkünden. Man<br />

riskierte nicht verstanden zu werden, man riskierte als Abtrünniger zu<br />

gelten, und so weiter.<br />

Sprecher<br />

Der katholische Theologe Hermann Steinkamp weist aber auch darauf hin, dass in<br />

der Bibel nicht nur von dem <strong>Freimut</strong> der Christen gegenüber den Menschen die Rede<br />

ist, sondern auch von ihrem <strong>Freimut</strong> gegenüber Gott.<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

Ich glaube, dass [...] dieser <strong>Freimut</strong> gegenüber Gott von der Freiheit<br />

eines Christenmenschen spricht, diese Freiheit geht so weit, dass ich<br />

selbst im Extremfall Gott widersprechen kann wie Hiob in seiner Klage<br />

an Gott. Aber die wichtigere Konnotation in diesem Zusammenhang<br />

heißt: Diese freie Rede ist geistgewirkt; die ist ein Impuls, der von<br />

anderswoher kommt als aus meinem eigenen Herzen. Der dort<br />

vielleicht eine Resonanz hat, aber der in der Tat im Extremfall als<br />

Klage, als Anklage gegen Gott richten kann – so wie der Schrei Jesu<br />

am Kreuz: Warum hast Du mich verlassen?<br />

Sprecher<br />

Trotz dieser Tradition ist das offene unerschrockene Wort auch in den Kirchen oft<br />

nicht willkommen. Die Glaubenswächter haben immer noch Macht - zumindest über<br />

die, die in der Kirche angestellt sind.<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

Ich kenne sehr viele Menschen, die in der Kirche arbeiten, die in der<br />

Kirche ihr Brot verdienen, auch Laientheologen, die nicht zur Hierarchie<br />

© Westdeutscher Rundfunk Köln 2005<br />

Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder<br />

vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

gehören, von denen höre ich in den letzten Jahren zunehmend, dass<br />

sie bestimmte Dinge nicht mehr ansprechen öffentlich, weil sie Angst<br />

haben ihren Job zu verlieren. Also diese Praxis ist viel verbreiteter, und<br />

meines Erachtens auch viel gravierender, viel beklagenswerter als die<br />

paar Professoren die mundtot gemacht werden.<br />

Sprecher<br />

Zu den paar Professoren gehört auch Steinkamp selbst; seit vielen Jahren darf er<br />

zwar an der Universität lehren, aber nicht in kirchlichen Einrichtungen im Bistum<br />

Münster auftreten.<br />

O-Ton Hermann Steinkamp<br />

Er als Generalvikar und ich als junger Professor, der irgendwas an der<br />

Münchener Akademie gesagt hat zu Sexualitätsverhalten Jugendlicher<br />

und das hat ihm nicht gepasst. Ich habe früher im Jugendhaus<br />

Düsseldorf gearbeitet und hab eigentlich nur erzählt, was ich alltäglich<br />

erfuhr und wusste und hab mir eigentlich überhaupt nichts dabei<br />

gedacht, dass man das nicht sagen darf. Weil es ja so war. Nein, das<br />

war ... [lacht] ist heute im Rückblick lächerlich, muss immer wieder<br />

drüber lachen. Aber sie waren auch nicht generös genug, das<br />

irgendwann wieder aufzuheben trotz dieses lächerlichen Anlasses.<br />

Sprecher<br />

Das griechische Wort, das in der Bibel für <strong>Freimut</strong> steht, heißt Parrhesia – so heißt<br />

auch eine Festschrift für den evangelischen Theologen Karl Barth.<br />

O-Ton Eberhard Busch<br />

Wir haben zum 80. Geburtstag von Karl Barth eine Festschrift<br />

herausgegeben [...] mit dem Titel Parrhesia.<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Sprecher<br />

Eberhard Busch war einer der letzten Assistenten von Karl Barth und ist selber<br />

inzwischen emeritierter Theologieprofessor.<br />

O-Ton Eberhard Busch<br />

Und das lässt sich mit verschiedenen Worten übersetzen, die alle in die<br />

gleiche Richtung weisen: Also <strong>Freimut</strong> oder Unerschrockenheit, oder<br />

Unbekümmertheit oder [...] frohe Zuversicht. Und mit diesen<br />

Übersetzungen damit deute ich an, wie ich diesen Begriff des <strong>Freimut</strong><br />

gern verstehen möchte: [...] Als frohe Zuversicht, als Freiheit, wenn es<br />

sein darf mit vielen und wenn es sein muss gegen den Strom zu<br />

schwimmen. Aber <strong>Freimut</strong>, ohne dass man bekümmert dabei ist. Wenn<br />

man überzeugt ist: So muss der Weg gehen, dann geht man ihn.<br />

Sprecher<br />

Unbekümmert seinen Weg ging Karl Barth zum Beispiel als junger Pfarrer in den<br />

zwanziger Jahren im Schweizer Dorf Safenwil, wo er sich für die Arbeiter einsetzte.<br />

Eine Frau die vom Strickereifabrikanten Hochhuli entlassen wurde, nahm er bei sich<br />

zu Hause auf und machte auch politisch gegen den Arbeitgeber am Ort Stimmung:<br />

O-Ton Eberhard Busch<br />

“Wir sind auf dem Schiff, das schwankt und wackelt.” Es wackelt, weil<br />

der Arbeitgeber dort, der Hochhuli daran gearbeitet hat, den Pfarrer aus<br />

dem Dorf wegzuhaben. Und er bekam zur Strafe den niedrigsten Lohn<br />

im ganzen Kanton, aber eben er kämpfte für die Arbeiter. Ich habe noch<br />

manche ältere Leute getroffen, als ich in dieser Gegend Pfarrer war,<br />

dass das völlig neu war: Ein Pfarrer, der auf der Seite der Armen steht<br />

und gegen die Reichen, wenn es sein muss.<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Sprecher<br />

Später als weltberühmter Theologe hat Barth auch über die Bedeutung des Wortes<br />

Parrhesia, also <strong>Freimut</strong>, nachgedacht.<br />

O-Ton Eberhard Busch<br />

Wenn wir lernen was Glauben heißt, [...] dann lernen wir damit auch<br />

schon, was es heißt, frohe Zuversicht zu haben. Mir ist aufgefallen, wie<br />

Karl Barth den Begriff der Parrhesie an merkwürdigen Stellen braucht in<br />

seiner Dogmatik. Also etwa, wo er redet im Blick auf den Tod und sagt:<br />

Im Glauben darf ich ganz unbesorgt dem Tod entgegen sehen, nicht<br />

weil ich glaube, dass ich unsterblich bin – ich werde abtreten – aber<br />

weil ich glauben darf in meinem Ende wird Gott nicht am Ende sein.<br />

Gott wird nicht abtreten. Und er zitierte dann gern von Paul Gerhardt<br />

das Lied „Bist Du doch nicht Regente der alles führen soll, Gott sitzt im<br />

Regimente und führet alles wohl.“ Das ist die Quelle der fröhlichen<br />

Zuversicht, von der Karl Barth gezehrt hat.<br />

Sprecher<br />

Demnach wächst <strong>Freimut</strong> nicht nur dem Menschen zu, wenn er sich selber kennt und<br />

seine eigene Fähigkeiten mobilisiert, sondern auch, wenn sich von einem gehalten<br />

weiß, der größer ist als er selber. An der Schwelle des Todes oder an den<br />

Abgründen des Lebens noch zuversichtlich zu sein – das war für Karl Barth wahrer<br />

<strong>Freimut</strong>. Und er fand ein überraschendes Vorbild für so eine Haltung, erinnert sich<br />

sein Assistent Eberhard Busch:<br />

O-Ton Eberhard Busch<br />

Ich war dann in den letzten Jahren bei ihm beschäftigt und da war es<br />

selbstverständlich, wenn wir einen Tag lang hart gearbeitet hatten, [...]<br />

dann wurde am Abend zunächst mal Mozart gehört. [...] Er verstand<br />

Mozart nie als einen vertändelten Rokoko-Musiker, sondern als einer,<br />

der letztlich [...] am Abgrund steht und doch nicht verzagt ist, weil er am<br />

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Lebenszeichen<br />

<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Abgrund noch singen darf und musizieren darf. Und dieses Musizieren<br />

im Wissen, dass das Leben sehr ernst und hart ist. Die Fröhlichkeit, die<br />

trotzdem und angesichts dessen nicht aufhören muss, das hat ihn an<br />

Mozart angesprochen.<br />

Sprecher<br />

Auch der pensionierte Domchordirektor Heinz-Gert <strong>Freimut</strong>h nennt Mozart als<br />

Beispiel für einen freimütigen Musiker.<br />

O-Ton Heinz-Gert <strong>Freimut</strong>h<br />

Da kann man bei Mozart am laufenden Band Musik finden, wo er gegen<br />

Konventionen, [...] gegen falsche Konventionen angeht und etwas<br />

Neues komponiert und gleichzeitig in der Tradition des Alten steht.<br />

Deutliches Beispiel: Als die Messkompositionen ihm auflegten, dass die<br />

Messe 45 Minuten dauerte und trotzdem der ganze Text von Kyrie bis<br />

Agnus Dei vertont wurde, da hat der fantastische Mensch die<br />

Krönungsmesse geschrieben, die innerhalb 23 Minuten insgesamt<br />

abrauscht, aber da ist soviel an Tiefe drin, dass man spürt, dass<br />

jemand mit diesem Mittel, das als unfrei gilt, mit diesem Mittel ganz frei<br />

und souverän umgeht und damit ganz freimütig mit Musik und mit dem<br />

Glauben umgeht.<br />

Musik 5 Mozart, Krönungsmesse (KV 317), Credo, ab „et in spirito sancto“ bis zum<br />

Ende des Satzes, dann frei folgenden O-Ton.<br />

O-Ton Eberhard Busch<br />

Er hat kurz vor seinem Tod noch einmal den Papst besucht, damals<br />

Paul den Sechsten. Und es reute ihn, dass er vergessen hatte dem<br />

Papst zu sagen: Den Mozart müsst ihr selig sprechen. Heilig war er<br />

vielleicht doch nicht, aber selig in jedem Fall.<br />

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<strong>Freimut</strong> – Über eine vergessene Lebenshaltung<br />

von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />

08.01.2006<br />

Sprecher<br />

Denn Mozart hatte <strong>Freimut</strong>.<br />

ENDE<br />

Buchhinweise<br />

Eberhard Busch, Karl Barth’s Lebenslauf. Nach seinen Briefen und<br />

autobiographischen Texten, Christian Kaiser Verlag München, 3. Aufl. 1978.<br />

Michel Foucault, Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia.<br />

6 Vorlesungen gehalten im Herbst 1983 an der Universität<br />

Berkeley/Kalifornien, hg.v. Joseph Pearson, Merve Verlag Berlin 1996.<br />

Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Deutscher Taschenbuch Verlag<br />

München 1990.<br />

Hermann Steinkamp, Seelsorge als Anstiftung zur Selbstsorge (Theologie und<br />

Praxis 25), LIT Verlag Münster – Hamburg – London 2005.<br />

Zitatnachweise für VG Wort<br />

Dion Chrysostomos, Reden, hg. v. Walter Ruegg, übers. von Winfried Elliger,<br />

Zürich 1967. 15 Zeilen.<br />

Meyers Konversations-Lexikon, 5. gänzlich neubearbeitete Auflage, Leipzig<br />

und Wien 1895. 6 Zeilen.<br />

Platon, Sämtliche Werke, hg. v. Ursula Wolf, übers. v. Friedrich<br />

Schleiermacher (rowohlt enzyklopädie), Reinbeck bei Hamburg 1994, 11<br />

Zeilen.<br />

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