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Exkurs über die soziale Begrenzung - CCHLA

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RBSE 9 (25): 358-368, Abril de 2010<br />

ISSN 1676-8965<br />

DOCUMENTO<br />

<strong>Exkurs</strong> <strong>über</strong> <strong>die</strong> <strong>soziale</strong><br />

<strong>Begrenzung</strong> 1<br />

Georg Simmel<br />

Vielleicht in der Mehrzahl aller Verhältnisse<br />

zwischen Individuen wie zwischen Gruppen wird<br />

der Begriff der Grenze irgendwie wichtig. <strong>über</strong>all,<br />

wo <strong>die</strong> Interessen zweier Elemente demselben<br />

Objekt gelten, hängt <strong>die</strong> Möglichkeit ihrer<br />

Koexistenz daran, dass eine Grenzlinie innerhalb<br />

des Objekts ihre Sphären scheidet - sei <strong>die</strong>se nun<br />

als Rechtsgrenze das Ende des Streites oder als<br />

Machtgrenze vielleicht sein Anfang.<br />

Ich erinnere nur an einen für alles<br />

menschlich gesellschaftliche Dasein unermesslich<br />

bedeutungsvollen Fall, den von einem andern<br />

1 Extraído de: SIMMEL, Georg. Soziologie. Untersuchungen <strong>über</strong> <strong>die</strong><br />

Formen der Vergesellschaftung. 1a edição, Berlim, Duncker &<br />

Humblot Verlag, 1908, pp. 467-470.<br />

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Gesichtspunkt her das Kapitel <strong>über</strong> das Geheimnis<br />

ausführlich behandelt hat.<br />

Jedes engere Zusammenleben beruht<br />

durchgehends darauf, dass jeder vom andern<br />

durch psychologische Hypothesen mehr weiß, als<br />

<strong>die</strong>ser ihm unmittelbar und mit bewusstem Willen<br />

zeigt.<br />

Denn wären wir nur auf das so Offenbarte<br />

angewiesen, so würden wir jedes Mal statt eines<br />

einheitlichen Menschen, den wir verstehen und<br />

mit dem wir rechnen können, nur einige zufällige<br />

und zusammenhangslose Bruchstücke einer Seele<br />

vor uns haben.<br />

Wir müssen also durch Schlüsse,<br />

Deutungen und Interpolationen <strong>die</strong> gegebenen<br />

Fragmente ergänzen, bis ein soweit ganzer Mensch<br />

herauskommt, wie wir ihn innerlich und für <strong>die</strong><br />

Lebenspraxis brauchen.<br />

Diesem zweifellosen <strong>soziale</strong>n Rechte auf<br />

Eindringen in den Andern, mag er es wollen oder<br />

nicht, steht aber sein Privateigentum an seinem<br />

seelischen Sein, sein Recht auf Diskretion<br />

gegen<strong>über</strong> - auch auf <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> sich des<br />

Nachgrübelns und der Kombinationen enthält,<br />

durch <strong>die</strong> man gegen den Willen des Andern in<br />

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seine Intimitäten und Verschwiegenheiten<br />

eindringen könnte.<br />

Wo aber liegt <strong>die</strong> Grenze zwischen der<br />

erlaubten, ja unerlässlichen Konstruktion der<br />

fremden Seele und <strong>die</strong>ser psychologischen<br />

Indiskretion?<br />

Und <strong>die</strong>se prekäre sachliche Grenze<br />

bedeutet doch nur <strong>die</strong> Grenze zwischen den<br />

beiden Persönlichkeitssphären, sie bedeutet, dass<br />

das Bewusstsein des Einen nur bis zu einer<br />

gewissen Linie <strong>die</strong> Sphäre des Andern decken darf<br />

und dass hier <strong>die</strong> unverletzliche Sphäre <strong>die</strong>ses<br />

Andern beginnt, <strong>über</strong> deren Offenbarung nur er<br />

ganz allein zu verfügen hat.<br />

Es liegt auf der Hand, dass <strong>die</strong> unendlich<br />

verschiedene Führung <strong>die</strong>ser Linie mit der ganzen<br />

Struktur des gesellschaftlichen Lebens in engster<br />

Wechselwirkung steht: in primitiv-<br />

undifferenzierten Zeiten wird das Recht zu <strong>die</strong>sen<br />

psychologischen Grenzerweiterungen größer, das<br />

Interesse daran aber vielleicht geringer sein als in<br />

Zeiten individualisierter Menschen und<br />

komplizierter Verhältnisse; bei kaufmännischen<br />

Verhandlungen wird <strong>die</strong>se Grenze anders liegen als<br />

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im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, unter<br />

Diplomaten anders als unter Kriegskameraden.<br />

Ich habe <strong>die</strong>se dem Raumproblem ganz<br />

fernstehende Angelegenheit hier noch einmal<br />

berührt, um an ihr <strong>die</strong> unvergleichliche Festigkeit<br />

und Anschaulichkeit zu verdeutlichen, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>soziale</strong>n <strong>Begrenzung</strong>sprozesse durch ihre<br />

Verräumlichung erhalten.<br />

Jede Grenze ist ein seelisches, näher: ein<br />

soziologisches Geschehen; aber durch dessen<br />

Investierung in einer Linie im Raum gewinnt das<br />

Gegenseitigkeitsverhältnis nach seinen positiven<br />

und negativen Seiten eine Klarheit und Sicherheit -<br />

freilich oft auch eine Erstarrung -, <strong>die</strong> ihm versagt<br />

zu bleiben pflegt, solange das Sich-treffen und<br />

Sich-scheiden der Kräfte und Rechte noch nicht in<br />

eine sinnliche Gestaltung projiziert ist und deshalb<br />

immer sozusagen im status nascendi verharrt.<br />

Ein andres soziologisches<br />

<strong>Begrenzung</strong>sproblem ersten Ranges liegt in der<br />

Verschiedenheit der Maße, in denen einzelne<br />

Mitglieder von Kollektivgebilden an <strong>die</strong>sen<br />

teilhaben.<br />

Dass zwischen dem Vollgenossen und dem<br />

Halb- oder Viertelsgenossen unterschieden wird,<br />

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bedeutet eine Grenze zwischen <strong>die</strong>sem letzteren<br />

und der Gesamtheit, der er dennoch angehört;<br />

oder auch eine Grenze sowohl innerhalb der<br />

Genossenschaft, <strong>die</strong> auf den von ihrem Zentrum<br />

ausgehenden Linien von Rechten und Pflichten<br />

bestimmte Punkte markiert, <strong>die</strong> für einige<br />

Elemente <strong>die</strong> Grenze ihres Teilhabens anzeigen,<br />

für andre aber nicht bestehen, als auch innerhalb<br />

des Individuums, das bei nicht völligem<br />

Aufgenommensein in <strong>die</strong> Gemeinschaft <strong>die</strong> Grenze<br />

zwischen dem Teil seiner Persönlichkeit, mit dem<br />

es hineingehört, und dem Teil, der außerhalb der<br />

ganzen Beziehung bleibt, mit besonderer Schärfe<br />

empfinden wird.<br />

Aus <strong>die</strong>ser Formung kann gelegentlich eine<br />

Tragik erwachsen, wenn zwar <strong>die</strong> Gruppe das Maß<br />

begrenzt, in dem sie ein Individuum sich<br />

zurechnet, innerhalb <strong>die</strong>ses letzteren aber keine<br />

entsprechende <strong>Begrenzung</strong> stattfindet, sondern es<br />

sich von sich aus ganz dahin gehörig fühlt, wo ihm<br />

nur eine partielle Zugehörigkeit eingeräumt wird. -<br />

Es ist bezeichnend und gerechtfertigt, dass<br />

<strong>die</strong> Rechte und Pflichten des Teilgenossen in der<br />

Gruppe genauer fixiert zu sein pflegen als <strong>die</strong> des<br />

Vollgenossen.<br />

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Denn indem <strong>die</strong>ser an dem ganzen Inhalt<br />

und dem ganzen Schicksal der Vereinigung teilhat,<br />

ist das, was ihm an Forderungen, Leiden und<br />

Genüssen aus <strong>die</strong>ser Teilherrschaft kommt,<br />

sozusagen nicht von vornherein festzulegen, er<br />

kann nur abwarten, was mit dem Ganzen<br />

geschieht, und <strong>die</strong>sem Geschehen je nach seiner<br />

gliedlichen Stellung im Ganzen folgen.<br />

Dagegen pflegen es <strong>die</strong> einzelnen,<br />

angebbaren, ,sachlich bestimmten Seiten der<br />

Vereinigung zu sein, zu denen der Halbgenosse<br />

eine Beziehung hat; es ist in der Regel nicht eine<br />

schwächere Beziehung zu der Totalität und Einheit<br />

der Gruppe, also nicht ein Unterschied der<br />

Intensität, sondern der Extensität. eine genaue<br />

Bestimmung dessen, was er zu leisten und zu<br />

beanspruchen hat, in relativer Unabhängigkeit von<br />

dem Gesamtschicksal der Gruppe ebenso wie von<br />

seinem eigenen - während bei dem Vollgenossen<br />

eine derartige Abgrenzung der Lose des Ganzen<br />

und des Teiles nicht stattfindet.<br />

Die tiefere soziologische Bedeutung der<br />

<strong>Begrenzung</strong> oder Nicht<strong>Begrenzung</strong> des<br />

Dazugehörens aber liegt darin, dass <strong>die</strong> exaktere<br />

Bestimmtheit des Verhältnisses in letzterem Fall<br />

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ihm einen objektiveren Charakter gibt, als es im<br />

ersteren besitzt.<br />

Ich erinnere etwa, aus einem sehr<br />

singulären Gebiet, an den Unterschied in der<br />

Stellung des Dienstmädchens gegen <strong>die</strong><br />

»Aufwartefrau«.<br />

Das Verhältnis des häuslichen Dienstboten<br />

zum »Hause«, wie gelockert es auch den<br />

patriarchalischen Zuständen gegen<strong>über</strong> sei, ist<br />

doch gliedmäßig-organischer Natur, seine<br />

Leistungen folgen dem Wechsel häuslicher<br />

Vorkommnisse, und er pflegt, wenn auch in<br />

geringem Grade, an der Stimmung und den<br />

Schicksalen des Hauses zu partizipieren - weil,<br />

innerhalb der ihm <strong>über</strong>haupt obliegenden<br />

Funktionen, keine genaue <strong>Begrenzung</strong> <strong>die</strong>ser<br />

stattfindet.<br />

Die Aufwartefrau dagegen ist für<br />

Leistungen gemietet, <strong>die</strong> nach Inhalt und<br />

Stundenzahl genau begrenzt sind; infolgedessen<br />

hat ihre Beziehung zum Hause einen durchaus<br />

exakten Charakter, völlig jenseits des<br />

Lebensprozesses des Hauses, und sie hat nicht,<br />

auch nicht pro rata der Leistungen, das subjektiv-<br />

persönliche Engagement des Dienstboten für das<br />

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Haus, sondern nur ein schlechthin objektives, aus<br />

einer vorbestimmten Summe von Rechten und<br />

Pflichten bestehendes Verhältnis zu <strong>die</strong>sem.<br />

Das größte Beispiel ist <strong>die</strong> an andern Stellen<br />

<strong>die</strong>ses Buches charakterisierte Wendung von der<br />

mittelalterlichen Einung, <strong>die</strong> den ganzen<br />

Menschen beanspruchte und dafür ihrerseits mit<br />

ihm solidarisch war, zu der modernen, <strong>die</strong>, selbst<br />

wo sie kein reiner Zweckverband ist, unzählige<br />

Male nur ein begrenztes Leistungsquantum des<br />

Teilnehmers mit einem begrenzten<br />

Gegenleistungsquantum erwidert.<br />

Hier hat das Phänomen der <strong>Begrenzung</strong><br />

zwischen dem Ganzen und dem Teil aufs<br />

unzweideutigste <strong>die</strong> Objektivierung des ganzen<br />

Verhältnisses als sein Korrelat hervorgetrieben.<br />

Es ist interessant, wie gelegentlich schon im<br />

Mittelalter eine Zugehörigkeitsgrenze markiert<br />

wird. Eine aristokratische angelsächsische Gilde<br />

des 11. Jahrhunderts bestimmt: wenn ein Genosse<br />

einen Mann aus Notwehr oder gerechter Rache<br />

erschlägt, sollen <strong>die</strong> andern zum Wergeld<br />

beisteuern; tut er es aber aus Torheit oder<br />

Übermut, so soll er seine Schuld allein tragen.<br />

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Es reicht also hier das Handeln des<br />

Einzelnen, nur soweit es sittlich ist, in <strong>die</strong><br />

Genossenschaft hinein; soweit er Unsittliches tut,<br />

hat er das für sich allein abzumachen.<br />

Andre Gilden <strong>die</strong>ser Zeit kennen <strong>die</strong>se<br />

Grenze nicht, sie bestimmen z. B. ohne jeden<br />

Vorbehalt, dass, wenn jemand von ihnen eines<br />

Vergehens schuldig geworden ist: let all bear it, let<br />

all share the same lot; eine dänische Gilde fasst<br />

sogar ausdrücklich den Fall des Mordes ins Auge<br />

und schreibt vor, dass dem Gildebruder dann von<br />

Seiten der Genossen zur Flucht zu verhelfen ist.<br />

In jenem ersten Fall also besteht eine<br />

Grenzlinie zwischen der Gesamtheit und dem<br />

Individuum, jenseits deren <strong>die</strong>ses auf sich steht.<br />

Der rationalistische Charakter, den <strong>die</strong><br />

Grenzerscheinungen zwischen <strong>die</strong>sen Gebilden<br />

zeigten, bietet nur dann einen wunderlichen<br />

Aspekt, wenn der Inhalt, an dem <strong>die</strong><br />

Teilhaberschaft genau begrenzt wird, solcher<br />

quantitativen Teilung widerstrebt.<br />

Dies ist doch wohl einigermaßen bei der<br />

katholischen Einrichtung der Fall, <strong>die</strong> der heilige<br />

Franziskus als den Orden der Tertiarier fixierte:<br />

Laien, <strong>die</strong> sich mit einem klösterlichen Orden<br />

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verbrüdern wollen, ohne selbst Mönche zu<br />

werden, verpflichten sich zu gewissen geistlichen<br />

Übungen und zu Zahlungen und nehmen dadurch<br />

an gewissen religiösen Vorteilen des Hauptordens<br />

teil, wie Messen und Ablässen, wobei sie aber ganz<br />

in ihren bürgerlichen Verhältnissen blieben.<br />

Diese sorgfältige Abwägung des Drinnen<br />

und Draußen scheint mir mit der Absolutheit des<br />

religiösen Wesens denn doch nicht<br />

zusammenzugehen.<br />

Die Ordensgemeinschaft besteht um eines<br />

Zieles willen, dessen innere Struktur jedes Mehr<br />

oder Weniger ablehnt und, wenn <strong>über</strong>haupt<br />

Teilnahme an ihr stattfindet, <strong>die</strong> Form der<br />

<strong>Begrenzung</strong> ihrer zu einem Widerspruch gegen<br />

ihren Inhalt macht.<br />

Überhaupt ist, aus leicht ersichtlichen<br />

Zusammenhängen, für <strong>die</strong><br />

<strong>Begrenzung</strong>sphänomene mehr als für andre<br />

soziologische Formen ihr Inhalt von<br />

entscheidender Bedeutung.<br />

Während im allgemeinen <strong>die</strong> quantitative<br />

Begrenztheit eines gemeinsamen<br />

Interesseninhaltes den Interessenten gegenseitige<br />

<strong>Begrenzung</strong> auferlegt, fällt <strong>die</strong>s für gewisse Inhalte<br />

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fort, deren Typen sich in den mannigfaltigsten<br />

Wertordnungen finden: einerseits etwa <strong>die</strong><br />

Gemeindewiese, auf der jeder soviel Vieh weiden<br />

lassen kann, wie er eben besitzt, andrerseits das<br />

Reich Gottes, an dem jeder teilhaben und es ganz<br />

besitzen kann, ohne den Besitz des Andern<br />

dadurch zu verkürzen.<br />

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