(MfS) der DDR - Deutscher Bundestag
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ges zusammen. Das <strong>MfS</strong> machte diese Abgeordneten für die Durchsetzung <strong>der</strong> Notstandsgesetze<br />
mit verantwortlich und zielte offenkundig darauf ab, die Gesetze zu verhin<strong>der</strong>n, indem es die<br />
entsprechenden Abgeordneten als NS-belastet darstellte. 1080<br />
Aufschlussreich ist das Vorgehen von SED und <strong>MfS</strong> Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre gegen den damaligen<br />
SPD-Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler. Erler hatte sich bereits frühzeitig für die Westbindung<br />
<strong>der</strong> Bundesrepublik eingesetzt und hatte maßgeblichen Anteil am Godesberger Programm<br />
<strong>der</strong> SPD von 1959. Er gehörte zu den führenden SPD-Politikern, die sich klar von <strong>der</strong> SED<br />
abgrenzten. Im Frühjahr 1965 entdeckte ein Archivar im Parteiarchiv <strong>der</strong> SED im Bestand „Nazi-<br />
Justiz“ die Akten des Hoch- und Landesverratsprozesses, <strong>der</strong> im September 1939 gegen Fritz Erler<br />
und an<strong>der</strong>e NS-Gegner <strong>der</strong> Gruppe „Neu Beginnen“ vor dem Volksgerichtshof stattgefunden<br />
hatte. Der Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK <strong>der</strong> SED, Lothar Berthold,<br />
dem auch das Archiv unterstand, informierte am 22. April 1965 seinen Vorgesetzten, Politbüromitglied<br />
Kurt Hager, über den Aktenfund. Über Kurt Hager gelangten die zwölf Aktenbände<br />
rasch an das <strong>MfS</strong>. Bereits am 18. Mai 1965 hatte die <strong>MfS</strong>-Hauptabteilung IX eine zwölf Seiten umfassende<br />
Einschätzung dieser NS-Justizakten ausgearbeitet und Erich Mielke vorgelegt. 1081 Aus<br />
den NS-Akten ergab sich, dass Erler in den Verhören geständig war und sich reuevoll gab. Doch<br />
für die Zielstellung des <strong>MfS</strong> – „kompromittierendes Material gegen Erler [...] zu politischoperativen<br />
Zwecken zusammenzustellen“ 1082 – genügte das nicht, weil sich daraus keine NS-<br />
Belastung Erlers konstruieren ließ. Außerdem ging aus den Akten hervor, dass die Gestapo Erlers<br />
„Reue“ als taktisch und vorgeschoben einschätzte. Immerhin wurde Erler am 15. September 1939<br />
vom Volksgerichtshof zu zehn Jahren Zuchthaus wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilt<br />
und saß diese Strafe bis 1945 in verschiedenen Zuchthäusern ab. Abgesehen von seinem Geständnis<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Verhöre kooperierte er in keiner Weise mit den NS-Behörden. Insbeson<strong>der</strong>e<br />
konnte das <strong>MfS</strong> trotz intensiver Recherchen keinerlei Hinweise finden, dass Erler für die<br />
Gestapo tätig gewesen wäre. Auch ein eigens vernommener, ehemaliger Gestapo-Beamter, <strong>der</strong><br />
im Zuchthaus Brandenburg einsaß, konnte dem <strong>MfS</strong> keine belastenden Informationen nennen.<br />
1083 Die dem <strong>MfS</strong> vorliegenden Akten sowie die weiteren Ermittlungen zeigten Erler als authentischen<br />
Wi<strong>der</strong>standskämpfer. Doch nicht dieser positive Aspekt zählte für SED und <strong>MfS</strong>,<br />
son<strong>der</strong>n die Tatsache, dass er als SPD-Politiker und <strong>Bundestag</strong>sabgeordneter für einen politischen<br />
Kurs stand, den die SED vehement bekämpfte. Aus diesem Grund sollten die NS-Akten<br />
gegen ihn, <strong>der</strong> über sechs Jahre in NS-Zuchthäusern verbracht hatte, eingesetzt werden. Wie Hubertus<br />
Knabe schreibt, spielte die HV A über den SED-Funktionär Hermann von Berg noch im<br />
Mai 1965 einige verkürzte Informationen über Erlers Aussagen bei den Vernehmungen 1938/39<br />
gezielt dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt zu, <strong>der</strong> sie angeblich gegen seinen potenziellen Rivalen<br />
um die Kanzlerkandidatur einsetzte. 1084 Der Historiker Henry Leide hingegen bezweifelt diese<br />
Version und hält es für wenig wahrscheinlich, dass es zu dieser „klammheimlichen Kooperation“<br />
zwischen Brandt und <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> gekommen sei. 1085 Auch die umfangreiche Erler-Biografie<br />
von Hartmut Soell enthält keinen Hinweis darauf. Dabei geht Soell ausführlich auf die Differen-<br />
1080 Zuarbeiten des <strong>MfS</strong> vom 17.11.1967 an das Büro Norden sowie weitere Beschlüsse und Materialien für<br />
die geplante Pressekonferenz „Ein Jahr Große Koalition“, darin Informationen über die NS-<br />
Vergangenheit von 6 Mitglie<strong>der</strong>n des Innen- o<strong>der</strong> Rechtsausschusses, die <strong>der</strong> CDU/CSU-Fraktion angehörten<br />
(Arved Deringer, Max Güde, Fritz (Friedrich) Kempfler, Artur Missbach, Hans-Joachim<br />
Merkatz, Eduard Wahl); BStU, <strong>MfS</strong>, ZAIG 10624, Bl. 35–37 u. 77–123; ZAIG 10625, Bl. 68, 94–121, 141 u.<br />
255 f. Inwieweit die hier genannten Abgeordneten NS-belastet waren, müsste in jedem Fall geprüft<br />
werden. Zur Resonanz in verschiedenen Zeitungen auf die Pressekonferenz siehe die Sammlung in:<br />
ebenda, ZAIG 10623.<br />
1081 BStU, <strong>MfS</strong>, HA IX/11, SV 8/76, Bd. 1, Bl. 4–6 u. 21–32.<br />
1082 Ebenda, Bl. 31.<br />
1083 Ebenda, Bl. 95.<br />
1084 Knabe, Hubertus: Der diskrete Charme <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, 2001, S. 134–136.<br />
1085 Leide: NS-Verbrecher, 2005, S. 408–412, insbes. S. 411.<br />
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