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Einführung und Struk..

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„Wir können das Arsenal der Waffen nicht aus der Welt schreiben, aber wir können das Arsenal<br />

der Phrasen, die man hüben <strong>und</strong> drüben zur Kriegführung braucht, durcheinanderbringen,<br />

je klarer wir als Schriftsteller werden, je konkreter nämlich, je absichtsloser in jener bedingungslosen<br />

Aufrichtigkeit gegenüber dem Lebendigen, die aus dem Talent erst den Künstler<br />

macht.“ (Max Frisch)<br />

Zum Autor:<br />

• Max Frisch wurde am15.5.1911 als Sohn eines Architekten in<br />

Zürich geboren <strong>und</strong> besuchte von 1924 bis 1930 das Realgymnasium<br />

in seiner Heimatstadt. Ursprünglich studierte er Germanistik,<br />

brach dies jedoch auf Gr<strong>und</strong> des Todes seines Vaters ab <strong>und</strong> wendete<br />

sich dem Journalismus zu.<br />

• Eine Balkanreise schaffte den Hintergr<strong>und</strong> für seinen ersten Roman<br />

1934: Jürgen Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt.<br />

1936 bis 1941 studierte er schließlich Architektur <strong>und</strong> absolvierte<br />

in den Jahren bis 1945 seinen Militärdienst als Kanonier.<br />

• 1940 entstanden Die Blätter aus dem Brotsack. Max Frisch heiratete <strong>und</strong> eröffnete ein<br />

Architekturbüro in Zürich. Dort findet er schließlich Kontakt zu Berthold Brecht, der ihn<br />

zeitlebens sehr prägen sollte. Nach einer Studienreise nach Amerika <strong>und</strong> Mexiko 1951/52<br />

wandelte er sich zum freier Schriftsteller. Er unternahm andere Reisen, auch in die ehemaligen<br />

östlichen Diktaturländer.<br />

• 1955 entstand Stiller <strong>und</strong> im selben Jahr trennte er sich von seiner Frau. Weitere Werke<br />

folgten: Homo Faber; Biedermann <strong>und</strong> die Brandstifter (1953 Hörspiel), 1961 Andorra,<br />

Mein Name sei Gantenbein. Zwischendurch reiste er in die arabischen Emirate, nach Israel<br />

<strong>und</strong> in die UdSSR <strong>und</strong> hatte seinen Wohnsitz nach Rom verlegt. 1968 ging er für<br />

zehn Jahre seine Zweite Ehe ein, ein Jahr später reiste er nach Japan.<br />

• 1970 schrieb er Wilhelm Tell für die Schule, 1975 Montauk, 1978 Triptychon. (Stück in<br />

drei szenischen Bildern), 1978 Der Mensch erscheint im Holozän. (Erzählung) <strong>und</strong> 1982<br />

Blaubart. (Erzählung). Am vierten April stirbt Max Frisch in Zürich.<br />

In Anerkennung der literarischen Leistung <strong>und</strong> seines Strebens nach einer menschenwürdigen<br />

Welt wurde Frisch 1976 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Frisch lebte<br />

als an den humanen <strong>und</strong> sozialen Problemen der Gegenwart scharf <strong>und</strong> kritisch beobachtend<br />

teilnehmender Autor bis 1991 in seiner Vaterstadt Zürich.<br />

Zum Inhalt des Stückes:<br />

Das Stück spielt in zwölf wechselnden Bildern in einer nicht näher bestimmten Zeit in einem<br />

Staat namens Andorra, der nichts mit dem kleinen Pyrenäenstaat zu tun hat. Die Hauptperson<br />

wir durch den jungen Andri verkörpert, dem Pflegesohn des Lehrers Can, der Andri angeblich<br />

als Judenkind vor der lebensbedrohlichen Verfolgung durch die „Schwarzen“, der Bevölkerung<br />

des bösen Nachbarlandes gerettet hat.


Tatsächlich aber ist Andri der uneheliche Sohn Cans <strong>und</strong> einer Senora, einer Schwarzen von<br />

drüben. Da niemand, auch Andri nicht, die Wahrheit kennt, wird er schließlich auch nach dem<br />

vorgefassten Bild eines Juden, mit allen Vorurteilen behandelt. Andri übernimmt dieses Bild<br />

völlig <strong>und</strong> sieht sich in seiner Andersartigkeit noch bestätigt, als Can ihm die Heirat mit seiner<br />

Tochter Barblin verweigert.<br />

Von diesem Bild seiner selbst lässt er auch nicht ab, als man ihm nach einem Besuch seiner<br />

Mutter schließlich seine wahre Identität aufdeckt. Nachdem die Senora bei ihrer Abreise von<br />

einem Steinwurf getötet wird, okkupieren die „Schwarzen“ Andorra kurzerhand. Aus Furcht<br />

machen die Andorraner Andri für den Mord verantwortlich. In einer Art Anhörung wird der<br />

Beschuldigte von den „Schwarzen“ schließlich als Jude identifiziert <strong>und</strong> hingerichtet, obwohl<br />

Can die Wahrheit gesteht. Da ihm niemand glaubt, erhängt er sich im Schulzimmer. Seine<br />

Tochter Barblin verfällt in geistiger Umnachtung.<br />

Form <strong>und</strong> <strong>Struk</strong>tur:<br />

• Wenn Frisch den Begriff der Bilder benutzt, so sieht er sich ganz offensichtlich in der<br />

Tradition Brechts. Seine Fabel besteht aus zwölf dieser Bilder <strong>und</strong> einem weiteren Bild,<br />

welches eigentlich nur auf der Bühne existiert <strong>und</strong> die sogenannte Zeugenschranke darstellt.<br />

Nach dem 1., 2., 3., 6., 7., 9. <strong>und</strong> 11. Bild treten die Bewohner an diese Schranke im<br />

Vordergr<strong>und</strong> der Bühne <strong>und</strong> versuchen sich in Einblendungen, nach dem Geschehenen zu<br />

rechtfertigen.<br />

• Das erste Bild (Straße, Pinte) ist die Exposition des Stückes <strong>und</strong> besteht eigentlich aus<br />

vier Szenen:<br />

1.Barblin / Pater<br />

2. Lehrer / Tischler <strong>und</strong> Lehrer / Wirt<br />

3. Andri / Barblin<br />

4. Wirt / Soldat <strong>und</strong> Andri / Soldat<br />

Der Zuschauer wird also gleich in die Gr<strong>und</strong>thematik eingeführt, das „schneeweiße“ Andorra,<br />

das eigentlich blutrot ist (Farbsymbolik), die ständige Bedrohung durch die „Schwarzen“, der<br />

Tod durch Hinrichtung (Pfählung als Hinweis auf das Ende), die Verachtung <strong>und</strong> die haltlosen<br />

Vorurteile gegenüber Juden <strong>und</strong> schließlich die Liebe zwischen Andri <strong>und</strong> Barblin.<br />

• Das zweite Bild (Vor Barblins Kammer) vervollständigt die Thematik mit der Suche nach<br />

der eigenen Identität. Andri fragt sich, warum er anders ist als alle anderen <strong>und</strong> findet keine<br />

Antwort. Schließlich sagt er: „Es gibt Menschen, die verflucht sind, <strong>und</strong> man kann mit<br />

ihnen machen, was man will, ein Blick genügt, plötzlich bist du so, wie sie sagen.“<br />

• Einige der Bilder bleiben skizzenhaft <strong>und</strong> verharren in Andeutungen, wie z.B. das 5. Bild,<br />

welches den Lehrer betrunken in der Pinte zeigt <strong>und</strong> ihn unverstanden sein Dilemma andeuten<br />

läßt, oder Bild 11, das erneut den Konflikt der Geschwisterliebe andeutet. Andere<br />

Bilder wiederum leben geradezu von ihrem dramatischen Spannungsbogen. Das vierte


Bild, das Andri mit dem Doktor in des Lehrers Zimmer zeigt, das sechste Bild vor Barblins<br />

Kammer <strong>und</strong> das siebte Bild in der Sakristei machen Andris Wandel zum Märtyrer<br />

deutlich.<br />

• Die Reihenfolge der zwölf Bilder lässt sich in zwei Bereiche aufteilen. Die ersten sechs<br />

Bilder zeigen, wie Andri seine vorgestellte Lebensgeschichte zu verwirklichen versucht,<br />

nämlich einen Beruf zu erlernen <strong>und</strong> dann mit Barblin eine Familie zu gründen. Diese Zukunftsvorstellungen<br />

sind normal <strong>und</strong> versetzten Andri somit in Empfindungen höchsten<br />

Glücks, doch stehen ihnen die Andorraner <strong>und</strong> auch sein Vater im Wege. Sie zeigen, wie<br />

Andri als Jude den Vorurteilen der Menschen um ihn ausgesetzt ist, wobei das fünfte Bild<br />

sicherlich herausfällt. Das Tun der Andorraner ist dabei nicht eigentliches Handeln, es ist<br />

viel mehr Denken, Geisteshaltung, Sozialisation. Ihr Benehmen ist für sie normal <strong>und</strong> man<br />

kann ihnen direkt auch keine Böswilligkeit vorwerfen, auch wenn sie Andri gegenüber ihre<br />

Machtposition schamlos ausnutzen. Dazu kommen noch private Interessen:<br />

- der Soldat, der Barblin haben will<br />

- der Tischler, der sich mit Andri mehr Umsatz im Verkauf erhofft<br />

- der Wirt, der billig Land ersteht <strong>und</strong> in Andri Sündenbock für seinen Mord findet<br />

- der Jemand, der dem Lehrer nicht zuhören möchte <strong>und</strong> für alle diejenigen steht, die diese<br />

allgemeine Gewalt tolerieren nicht sehen wollen, oder einfach zu gleichgültig sind<br />

• Im siebten Bild kippt schließlich die Entwicklung der Geschichte von der Selbstbeobachtung<br />

Andris <strong>und</strong> seiner Auflehnung gegen die Unbilden seines Lebens zu einer vollständigen<br />

Anerkennung der von außen an ihn herangetragenen Identität des Juden: „Ich versteh<br />

schon, dass mich niemand mag. Ich mag mich selbst nicht, wenn ich an mich selbst denke.“<br />

• In den restlichen Bildern zeigt Max Frisch die Reaktionen <strong>und</strong> den Hass seines Helden<br />

gegen seine Umwelt (die Andorraner, Barblin, Can) <strong>und</strong> gegen sich selbst. Sie findet vorallem<br />

Ausdruck in seiner Provokation im achten Bild, in seiner Weigerung die Anerkennung<br />

seiner jüdischen Identität rückgängig zumachen oder seine Weigerung, vor dem drohenden<br />

Abgr<strong>und</strong> zu fliehen. Der Anlass zu dieser Reaktion findet sich in Cans Veto zu<br />

Andris Hochzeit mit Barblin <strong>und</strong> in der Szene, als der Soldat aus Barblins Zimmer<br />

kommt.<br />

• Im neunten Bild findet sich eine überraschende Retardation. Die Senora, die Schwarze aus<br />

dem Nachbarland, die zu Besuch in Andorra weilt, schenkt Andri ihren wertvollen Ring<br />

<strong>und</strong> alles deutet darauf hin, dass der katastrophale Lauf der Dinge noch aufgehalten werden<br />

könnte. Dies wird auch noch durch die Euphorie gestärkt, mit der Andri hinterher mit<br />

dem Pater spricht, kehrt sich dann aber ins Gegenteil um, als die Fremde mit einem Stein<br />

erschlagen wird <strong>und</strong> Andri auf seiner akzeptierte Identität beharrt, obgleich ihm der Pater<br />

eröffnet, wessen Sohn er eigentlich ist: „Jetzt ist es an Euch, Hochwürden, Euren Juden zu<br />

anzunehmen.“<br />

• Doch es ist nicht nur seine aufgezwungene Identität, die Andri annimmt, er akzeptiert<br />

auch sein Schicksal, seine Hoffnungslosigkeit <strong>und</strong> sein Ende. Wörtlich sagt er: „Meine


Trauer erhebt mich über Euch alle, <strong>und</strong> so werde ich stürzen. Meine Augen sind groß von<br />

Schwermut, mein Blut weiß alles, <strong>und</strong> ich möchte tot sein. Mir graut vor dem Streben. Es<br />

gibt mir keine Gnade.“ Jede Hoffnung ist für ihn bedeutungslos geworden.<br />

• Nach dem Tod der Senora verläuft alles so, wie von Andri prophezeit. Die Schwarzen<br />

besetzten Andorra, Andri wird hingerichtet <strong>und</strong> die Andorraner werden zu Verdammten.<br />

Selbst im Angesicht der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit, die Andri widerfährt<br />

bleiben sie weiterhin nur auf ihren Vorteil bedacht <strong>und</strong> versuchen die eigene Haut zu retten.<br />

• Die strukturale Basis findet sich also immer wieder in der Begegnung zwischen den Andorranern<br />

<strong>und</strong> den angeblichen Juden Andri. Auf der Seite der Andorraner kennzeichnet<br />

sich dieses Begegnung in ihrer Geisteshaltung, ihrem Tun <strong>und</strong> Sagen <strong>und</strong> schließlich in<br />

ihrem Verneinen der Wahrheit <strong>und</strong> wird durch ein Anwenden von Gewalt <strong>und</strong> Macht in<br />

allen Facetten ausgedrückt. Ihre Schuld findet Ausdruck in der Rede des Paters: „Und alle,<br />

alle, nicht nur mich. Sehen Sie die Soldaten. Lauter Verdammte. Sehen Sie sich selbst.<br />

(...) Sie werden beten. Für mich <strong>und</strong> für sich. Ihr Gebet hilft nicht einmal Ihnen, Sie werden<br />

trotzdem ein Verräter.“<br />

Der Autor <strong>und</strong> die Philosophie hinter dem Werk:<br />

Die Vorstellungen, welche die Menschen von ihrer Umwelt haben oder sich machen, zieht<br />

sich wie ein roter Faden durch Frischs Werk. Diese Thematik ist eng verknüpft mit Frischs<br />

Vorstellung von Wirklichkeit: „Wirklichkeit nennen wir nicht das, was geschieht, sondern<br />

wirklich nennen wir, was ich an einem Geschehenen erlebe, <strong>und</strong> dieses Erleben, wie wir wissen,<br />

kümmert sich nicht um die Zeit: es ist möglich, dass wir ein Geschehen immer wieder<br />

erleben.“<br />

Das, was ein Mensch für wahr hält, kann erst zur Wirklichkeit werden, wenn es die Vorstellung<br />

von Wirklichkeit erfüllt. Übertragen auf die Fabel bedeutet das, das die Andorraner<br />

Andri nicht aus ihren Begegnungen mit ihm an sich bewerten, sondern aus ihrer Vorstellung,<br />

die sie über die Wirklichkeit dieser Begegnungen haben. Es ist nicht, was nicht sein darf. Man<br />

kann Andorra verstehen, als eine Art tragischer Gr<strong>und</strong>erfahrung. Sie führt dem mehr <strong>und</strong><br />

mehr betroffenen Zuschauer vor, welches Bild sich das Individuum von sich selber, von seinen<br />

Mitmenschen, seinem Heimatland, seinen Nachbarn <strong>und</strong> seinen Zeitgenossen macht <strong>und</strong><br />

wie es geprägt wird. Wirklichkeit <strong>und</strong> Wahrheit sind dabei Zufallsprodukte.

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