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38 | Im sCHauFenster books nr. 1/2013<br />
Altmeister aller<br />
Klassen<br />
Andrea Camilleri ist ungemein produktiv: In diesem Frühling<br />
ers<strong>ch</strong>einen von ihm glei<strong>ch</strong> mehrere neue Bü<strong>ch</strong>er auf Deuts<strong>ch</strong>.<br />
Sie lassen erkennen, warum der Sizilianer ni<strong>ch</strong>t allein wegen<br />
seiner Montalbano-Krimis ein Bestseller-Autor ist.<br />
marius leutenegger<br />
Es s<strong>ch</strong>eint einfallslos, einen Beitrag über<br />
Andrea Camilleri mit einer Bemerkung<br />
über dessen Alter einzuleiten. Do<strong>ch</strong> man<br />
kommt einfa<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t umhin, fortwährend<br />
daran zu denken, wie betagt dieser Mann<br />
ist, wenn man über ihn s<strong>ch</strong>reibt. Denn sein<br />
Alter ma<strong>ch</strong>t seine ohnehin eindrückli<strong>ch</strong>e<br />
S<strong>ch</strong>affenskraft zu einem fast wundersamen<br />
Ding: Camilleri wird diesen Sommer<br />
sage und s<strong>ch</strong>reibe 88 Jahre alt – und wirft<br />
s<strong>ch</strong>einbar völlig unberührt von dieser Tatsa<strong>ch</strong>e<br />
Bu<strong>ch</strong> um Bu<strong>ch</strong> auf den Markt. Es ist<br />
aber ni<strong>ch</strong>t allein die s<strong>ch</strong>iere Masse, die tiefen<br />
Respekt einflösst, sondern vor allem<br />
die hohe Qualität dieses Alterswerks: Fast<br />
jedes neue Bu<strong>ch</strong> von Camilleri bietet neue<br />
Überras<strong>ch</strong>ungen und ma<strong>ch</strong>t Freude. Es<br />
kommt einem vor, <strong>als</strong> hätte hier einer viel<br />
Inspiration und Talent für sein Spätwerk<br />
aufgespart – und käme kaum no<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>,<br />
die vielen Ideen und Projekte, die ihm im<br />
Kopf herums<strong>ch</strong>wirren, zu verwerten.<br />
ein sizilianer in rom<br />
Ausnehmend produktiv war Camilleri aber<br />
s<strong>ch</strong>on immer. Bis zu seiner Pensionierung<br />
arbeitete er <strong>als</strong> Regisseur bei der RAI, der<br />
italienis<strong>ch</strong>en Rundfunkanstalt. Dort gingen<br />
1300 Radioproduktionen und 80 Fernsehspiele<br />
auf sein Konto; nebenher führte Camilleri<br />
au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> bei 120 Theaterinszenierungen<br />
Regie. Er war einer der ersten, der<br />
dem italienis<strong>ch</strong>en Publikum Dramatiker<br />
wie Strindberg, Beckett oder Ionesco näherbra<strong>ch</strong>te.<br />
No<strong>ch</strong> heute lebt der dreifa<strong>ch</strong>e<br />
Vater und vierfa<strong>ch</strong>e Grossvater mit seiner<br />
Frau in der Nähe der RAI-Studios in Rom.<br />
Seine Wurzeln hat Camilleri aber in Sizilien,<br />
genauer: In der Hafenstadt Porto Empedocle<br />
in der Nähe von Agrigento. Dort<br />
kam er am 6. September 1925 zur Welt, zu<br />
einer Zeit <strong>als</strong>o, <strong>als</strong> Mussolini in Italien regierte.<br />
Camilleri setzte seine Geburtsstadt<br />
auf die literaris<strong>ch</strong>e Landkarte, indem er sie<br />
unter dem Namen Vigàta zum S<strong>ch</strong>auplatz<br />
seiner berühmtesten Bu<strong>ch</strong>reihe ma<strong>ch</strong>te: In<br />
Vigàta spielen die Kriminalfälle um Commissario<br />
Salvo Montalbano. Porto Empedocle<br />
war über diese Ehrung übrigens so<br />
entzückt, dass es den offiziellen Namen<br />
vorübergehend in «Porto Empedocle Vigàta»<br />
änderte – mit freundli<strong>ch</strong>er Genehmigung<br />
von Andrea Camilleri, der si<strong>ch</strong> seiner<br />
Heimat tief verbunden fühlt. «I<strong>ch</strong> bin Sizilianer<br />
und bleibe Sizilianer», sagte er in<br />
einem Interview. «Es gibt keinen Sizilianer,<br />
dem Sizilien ni<strong>ch</strong>t fehlt. Deshalb kann i<strong>ch</strong><br />
nur davon und über ni<strong>ch</strong>ts anderes spre<strong>ch</strong>en.»<br />
ein besonderer mens<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>lag<br />
Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> spielt die Insel in gewisser Weise<br />
die Hauptrolle im Werk Camilleris. Fast<br />
jede europäis<strong>ch</strong>e Ma<strong>ch</strong>t war einmal auf<br />
Sizilien tonangebend, zuweilen gaben si<strong>ch</strong><br />
ausbeuteris<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>er hier förmli<strong>ch</strong><br />
die Klinke in die Hand. Die Bevölkerung<br />
lernte vor diesem Hintergrund, si<strong>ch</strong> selber<br />
zu arrangieren, auf die Familie zu bauen,<br />
dem Staat abgrundtief zu misstrauen, im<br />
ri<strong>ch</strong>tigen Moment zu s<strong>ch</strong>weigen und diskret<br />
zu agieren. Das bra<strong>ch</strong>te einen aussergewöhnli<strong>ch</strong>en<br />
Mens<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>lag hervor –<br />
und begünstigte au<strong>ch</strong> das Entstehen der<br />
Mafia. Immer wieder geht es bei Camilleri<br />
um die grossen und kleinen Klüngeleien in<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft und Politik, um diffuse Hierar<strong>ch</strong>ien,<br />
natürli<strong>ch</strong>en Respekt – und darum,<br />
wie man in einer geheimnisvoll strukturierten<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft einen eigenen Weg findet,<br />
ohne völlig aus dem Tritt zu geraten.<br />
Au<strong>ch</strong> Commissario Salvo Montalbano ist<br />
ein Einzelgänger, der vielem misstraut,<br />
aber dank seinem Hang zum Genuss <strong>als</strong><br />
lebensfroher S<strong>ch</strong>warzseher daherkommt.<br />
Die Figur des Commissario, die er übrigens<br />
na<strong>ch</strong> seinem Vater zei<strong>ch</strong>nete, ermögli<strong>ch</strong>t<br />
Camilleri den engagierten Positionsbezug<br />
– gegen die s<strong>ch</strong>lampige, jede Institution<br />
vera<strong>ch</strong>tende Regierungsführung von<br />
Berlusconi zum Beispiel, gegen Buckeleien,<br />
gegen den Niedergang wertvoller Beziehungsstrukturen<br />
und die Ma<strong>ch</strong>t des Internets.<br />
ein greiser und weiser Jungspund<br />
Wie Montalbano ist Camilleri aber kein<br />
Stänkerer – und au<strong>ch</strong> keiner, der s<strong>ch</strong>wer<br />
an den Umständen leidet. Das Spätwerk<br />
von Camilleri ist deshalb so gut, weil es das<br />
Beste aus mehreren Lebensaltern vereint:<br />
den sprühenden Einfallsrei<strong>ch</strong>tum der Jugend,<br />
den Witz und das Selbstbewusstsein<br />
des Mannes in den besten Jahren, die<br />
Weisheit und Milde des Greises. Camilleri<br />
ist in gewissem Sinne ein Lausbub geblieben,<br />
ein zuweilen rotzfre<strong>ch</strong>er sogar – aber<br />
einer, dem man nun wirkli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
erklären muss, wie der Hase läuft. Dass<br />
sein Werk so fris<strong>ch</strong> daher kommt, hat viellei<strong>ch</strong>t<br />
au<strong>ch</strong> damit zu tun, dass Camilleri<br />
erst spät hauptberufli<strong>ch</strong>er Autor wurde.<br />
Als sein erster Roman «Hahn im Korb»<br />
ers<strong>ch</strong>ien, war er bereits 53 Jahre alt. Und<br />
Montalbano erblickte vor ni<strong>ch</strong>t einmal 20<br />
Jahren das Li<strong>ch</strong>t der Welt. Seither s<strong>ch</strong>reibt<br />
Camilleri fast so s<strong>ch</strong>nell wie der in dieser<br />
Hinsi<strong>ch</strong>t unerrei<strong>ch</strong>bare Georges Simenon:<br />
in gewissen Jahren glei<strong>ch</strong> vier Romane.<br />
Au<strong>ch</strong> 2012 ist ein Camilleri-Jahr. Kindler<br />
veröffentli<strong>ch</strong>t «Ein Samstag unter Freunden»,<br />
die Übersetzung eines Romans von<br />
2009, und Klett-Cotta bringt «Ri<strong>ch</strong>ter» in<br />
alle bü<strong>ch</strong>er finden sie au<strong>ch</strong> auf<br />
die Läden; diese Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te verfasste Camilleri<br />
2011. Fast glei<strong>ch</strong>zeitig ers<strong>ch</strong>einen<br />
au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> zwei neue Romane, auf die wir<br />
hier etwas näher eingehen wollen: «Die<br />
Sekte der Engel», herausgegeben von Nagel<br />
& Kim<strong>ch</strong>e, und «Der Hirtenjunge», ers<strong>ch</strong>ienen<br />
bei Kindler.<br />
zumindest halbwahr<br />
Als kulturell interessierter und bes<strong>ch</strong>lagener<br />
Autor hat Camilleri s<strong>ch</strong>on viele historis<strong>ch</strong>e<br />
Romane verfasst. Nagel & Kim<strong>ch</strong>e<br />
publiziert eine Reihe von Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten, in<br />
denen si<strong>ch</strong> der Sizilianer auf wahre, wenn<br />
au<strong>ch</strong> zuweilen äusserst mysteriöse Begebenheiten<br />
abstützt – und diese gekonnt in<br />
unterhaltsame Romane packt. «Streng vertrauli<strong>ch</strong>»<br />
handelte von einem ni<strong>ch</strong>tsnutzigen<br />
äthiopis<strong>ch</strong>en Prinzen, der in der Mussolini-Zeit<br />
zum Studium na<strong>ch</strong> Italien kam<br />
– und hier die Behörden auf Trab hielt. In<br />
«Die Münze von Akragas» erzählte Camilleri<br />
von einem Goldstück, das 400 v. Chr.<br />
verloren ging, im 20. Jahrhundert plötzli<strong>ch</strong><br />
wieder auftau<strong>ch</strong>te und eine Spur aus Glück<br />
und Unglück hinter si<strong>ch</strong> herzog. Der neueste<br />
Band dieser Reihe, «Die Sekte der Engel»,<br />
handelt von einer mehr <strong>als</strong> seltsamen<br />
Welle von S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aften, die über<br />
eine sizilianis<strong>ch</strong>e Kleinstadt s<strong>ch</strong>wappt: Unverheiratete<br />
junge Frauen tragen plötzli<strong>ch</strong><br />
dicke Bäu<strong>ch</strong>e vor si<strong>ch</strong> her – und es handelt<br />
si<strong>ch</strong> dabei ausgere<strong>ch</strong>net um die gottes-<br />
für<strong>ch</strong>tigsten Bürgerinnen. Der linke Anwalt<br />
Teresi, ein typis<strong>ch</strong>er Camilleri-Held,<br />
versu<strong>ch</strong>t, hinter das Geheimnis zu kommen<br />
– und sieht si<strong>ch</strong> plötzli<strong>ch</strong> mit Mauern<br />
von eisigem S<strong>ch</strong>weigen und unverhohlenen<br />
Drohungen konfrontiert. Dass er den<br />
Skandal s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> aufdeckt, bringt ihm<br />
keinen Ruhm ein, sondern nur Vera<strong>ch</strong>tung.<br />
deftig und plastis<strong>ch</strong><br />
Mit spürbarer Lust, aber fein geführter<br />
Klinge zerfetzt Camilleri den s<strong>ch</strong>önen<br />
S<strong>ch</strong>ein der Re<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>affenheit, hinter der<br />
si<strong>ch</strong> die Gesells<strong>ch</strong>aft versteckt. Selbst die<br />
Bösewi<strong>ch</strong>ter geniessen offenbar seine<br />
Sympathie – es handelt si<strong>ch</strong> bei ihnen ja<br />
au<strong>ch</strong> um e<strong>ch</strong>te Sizilianer –, s<strong>ch</strong>limmstenfalls<br />
werden sie einfa<strong>ch</strong> mit vers<strong>ch</strong>mitztem<br />
Spott übergossen. Als eine Art «Volksliterat»,<br />
<strong>als</strong> der er si<strong>ch</strong> immer verstanden hat,<br />
spart Camilleri au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mit Deftigkeiten.<br />
Und fast unerrei<strong>ch</strong>t ist seine Kunst, seinen<br />
Leserinnen und Lesern S<strong>ch</strong>auplätze und<br />
Umstände mit wenigen Worten näherzubringen<br />
– man rie<strong>ch</strong>t die Kleinstadt förmli<strong>ch</strong>,<br />
man spürt die Sonne brennen und<br />
erlebt die ungemütli<strong>ch</strong>e Situation von Teresi<br />
am eigenen Leib. Fast no<strong>ch</strong> intensiver<br />
tau<strong>ch</strong>t man in «Der Hirtenjunge» ins Ges<strong>ch</strong>ehen<br />
ein. Mit diesem Roman s<strong>ch</strong>liesst<br />
Camilleri einen Zyklus ab, zu dem au<strong>ch</strong><br />
«Die Frau aus dem Meer» und «Der Bahnwärter»<br />
zählen. In allen diesen Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>-<br />
© naGel & KImcHe verlaG<br />
Im sCHauFenster | 39<br />
ten geht es um Metamorphosen. Diesmal<br />
steht der junge Giurlà im Zentrum. Er<br />
wä<strong>ch</strong>st in einem Fis<strong>ch</strong>erdorf auf, liebt das<br />
Meer, wird dann aber in die Berge ges<strong>ch</strong>ickt,<br />
um dort Ziegen zu hüten. Zunä<strong>ch</strong>st<br />
verliebt er si<strong>ch</strong> in die für ihn ungewöhnli<strong>ch</strong>e<br />
Lands<strong>ch</strong>aft – und dann in die Ziege<br />
Beba. Aus dem Fis<strong>ch</strong>erjungen wird ein begeisterter<br />
Bergbub. Als Giurlà Anita kennenlernt,<br />
die To<strong>ch</strong>ter des Mar<strong>ch</strong>ese, ents<strong>ch</strong>eidet<br />
er si<strong>ch</strong> zwar für die Liebe zur<br />
Frau, aber au<strong>ch</strong> Anita ma<strong>ch</strong>t einen Wandel<br />
dur<strong>ch</strong>, der dem jungen Mann s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong><br />
die Erfüllung aller Träume ermögli<strong>ch</strong>t.<br />
messers<strong>ch</strong>arf beoba<strong>ch</strong>tet<br />
Zwis<strong>ch</strong>endur<strong>ch</strong> stockt einem beim Lesen<br />
ein wenig der Atem – Camilleri s<strong>ch</strong>eut si<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t, Giurlàs Liebe zur Ziege über das Platonis<strong>ch</strong>e<br />
hinaus darzustellen. Und der<br />
S<strong>ch</strong>luss des Bu<strong>ch</strong>s, der hier natürli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
verraten wird, könnte den einen oder anderen<br />
Leser ebenfalls etwas irritieren.<br />
Wunders<strong>ch</strong>ön aber sind die Bes<strong>ch</strong>reibungen<br />
des einfa<strong>ch</strong>en Hirtenlebens und der<br />
süditalienis<strong>ch</strong>en Lands<strong>ch</strong>aften. Messers<strong>ch</strong>arf<br />
beoba<strong>ch</strong>tet Camilleri die Beziehungen<br />
der Hirten untereinander, au<strong>ch</strong> hier<br />
sagt er mit ganz wenigen Worten viel. Als<br />
Einstieg ins grosse Werk des Sizilaners ist<br />
«Der Hirtenjunge» aber nur bedingt zu<br />
empfehlen; die Liebe zur Ziege, so na<strong>ch</strong>vollziehbar<br />
sie hier au<strong>ch</strong> dargestellt wird,<br />
lässt einfa<strong>ch</strong> einen etwas s<strong>ch</strong>alen Na<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>mack<br />
zurück. Camilleri s<strong>ch</strong>eint si<strong>ch</strong><br />
dessen dur<strong>ch</strong>aus bewusst zu sein – denn<br />
seiner Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te stellt er ein S<strong>ch</strong>lusswort<br />
na<strong>ch</strong>, das den ganzen S<strong>ch</strong>alk des Altmeisters<br />
erkennen lässt: «In der Antike liessen<br />
si<strong>ch</strong> Metamorphosen lei<strong>ch</strong>ter erzählen und<br />
au<strong>ch</strong> lei<strong>ch</strong>ter dur<strong>ch</strong>führen.»<br />
die sekte der engel<br />
234 seiten<br />
CHF 28.90<br />
nagel & kim<strong>ch</strong>e<br />
der Hirtenjunge<br />
201 seiten<br />
CHF 23.90<br />
kindler