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10 | IntervIew books nr. 1/2013<br />
«Das Mens<strong>ch</strong>sein ist<br />
nie die reine Tragik»<br />
Eveline Haslers neueste literaris<strong>ch</strong>e Annäherung an eine Biografie beleu<strong>ch</strong>tet eine kaum<br />
bekannte Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te aus dem Zweiten Weltkrieg: Der US-Amerikaner Varian Fry<br />
ermögli<strong>ch</strong>te von Marseille aus unzähligen prominenten Künstlerinnen und Künstlern die<br />
Flu<strong>ch</strong>t vor den Nazis. «<strong>Books</strong>» spra<strong>ch</strong> mit Eveline Hasler im Tessin, wo sie seit zwanzig<br />
Jahren lebt, über die Entstehung ihres spannenden und berührenden Bu<strong>ch</strong>s.<br />
«<strong>Books</strong>»: Zuletzt sahen wir einander im<br />
September 2010 – für ein Gesprä<strong>ch</strong> über<br />
Ihr Bu<strong>ch</strong> «Und werde immer Ihr Freund<br />
sein», das gerade veröffentli<strong>ch</strong>t wurde.<br />
Wussten Sie dam<strong>als</strong> s<strong>ch</strong>on, dass Ihr<br />
nä<strong>ch</strong>ster Roman von Varian Fry handeln<br />
wird?<br />
Eveline Hasler: Nein. Während i<strong>ch</strong> an<br />
einem Bu<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>reibe, s<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> alle<br />
Einfälle für andere Projekte weg. Ist ein<br />
Projekt abges<strong>ch</strong>lossen, bin i<strong>ch</strong> darum<br />
wie eine tabula rasa. Natürli<strong>ch</strong> habe<br />
i<strong>ch</strong> immer ein paar vage Ideen, aber bis<br />
mi<strong>ch</strong> eine davon wirkli<strong>ch</strong> packt, ist es ein<br />
weiter Weg. Und ein Thema muss mi<strong>ch</strong><br />
packen – denn i<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>äftige mi<strong>ch</strong> dann<br />
ja au<strong>ch</strong> drei Jahre lang intensiv damit.<br />
Diesmal wurden Sie von einem wahrhaft<br />
filmreifen Stoff gepackt. «Mit dem<br />
letzten S<strong>ch</strong>iff» erzählt die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
des US-Amerikaners Varian Fry, der<br />
si<strong>ch</strong> 1940 na<strong>ch</strong> Marseille begibt. Gesandt<br />
hat ihn das «Emergency Rescue<br />
Committee», eine dur<strong>ch</strong> Thomas Mann<br />
angeregte New Yorker Hilfsorganisation,<br />
die intellektuellen Gegnern der<br />
Nazis zur Flu<strong>ch</strong>t in die USA verhelfen<br />
will. Bis 1942 retten Fry und sein Team<br />
rund 2200 Mens<strong>ch</strong>en auf abenteuerli<strong>ch</strong>en<br />
Wegen, darunter Marc Chagall,<br />
Heinri<strong>ch</strong> Mann, Lion Feu<strong>ch</strong>twanger und<br />
Hannah Arendt. Warum ist diese dramatis<strong>ch</strong>e<br />
Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t bekannter?<br />
Es ist wahr: Kaum jemand kennt Varian<br />
Fry. Vieles, was in unserer jüngeren<br />
Vergangenheit ges<strong>ch</strong>ah, ist während<br />
Jahrzehnten einfa<strong>ch</strong> zur Seite ges<strong>ch</strong>oben<br />
worden – und stösst erst jetzt allmähli<strong>ch</strong><br />
wieder auf Interesse.<br />
marius leutenegger erik Brühlmann<br />
Wie sind denn Sie auf Varian Fry gestossen?<br />
I<strong>ch</strong> hörte seinen Namen erstm<strong>als</strong> in<br />
Sanary-sur-Mer. In diesem Hafenstädt<strong>ch</strong>en<br />
in der Nähe von Toulon lebten na<strong>ch</strong><br />
der Ma<strong>ch</strong>tergreifung der Nazis unzählige<br />
deuts<strong>ch</strong>e Künstler. Weil es in Sanary<br />
sehr s<strong>ch</strong>ön ist und mi<strong>ch</strong> die Emigranten<br />
interessierten, war i<strong>ch</strong> zwei-, dreimal da.<br />
Einmal empfahl mir ein Freund, dessen<br />
Frau aus Sanary stammt, das Ar<strong>ch</strong>iv der<br />
Stadt aufzusu<strong>ch</strong>en. An einem S<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>twettertag<br />
gingen wir tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> hin, und bei<br />
der Dur<strong>ch</strong>si<strong>ch</strong>t der Akten stiess i<strong>ch</strong> dann<br />
immer wieder auf den Namen Varian Fry<br />
– er hatte auf irgendeine Weise mit fast<br />
jedem Emigrantens<strong>ch</strong>icksal zu tun. I<strong>ch</strong><br />
fragte mi<strong>ch</strong>: Warum kommt dieser Mann<br />
immer wieder vor? Und i<strong>ch</strong> begann, der<br />
Sa<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong>zugehen.<br />
Es war <strong>als</strong>o letztli<strong>ch</strong> ein Zufall, dass<br />
Varian Fry in Ihr Leben trat?<br />
I<strong>ch</strong> würde ni<strong>ch</strong>t von Zufall spre<strong>ch</strong>en.<br />
Offenbar habe i<strong>ch</strong> eine Affinität für sol<strong>ch</strong>e<br />
Dinge. I<strong>ch</strong> lese von einem Mens<strong>ch</strong>en – und<br />
irgendetwas sta<strong>ch</strong>elt mi<strong>ch</strong> dann an, ihm<br />
näher zu kommen, ihn auf intellektueller<br />
und emotionaler Ebene zu begreifen. Das<br />
führt zu Re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>en, die sehr intensiv und<br />
persönli<strong>ch</strong> sind, denn man merkt in ihrem<br />
Verlauf, dass alle Mens<strong>ch</strong>en irgendwie<br />
miteinander verwandt sind und es am<br />
Ende ni<strong>ch</strong>ts gibt, was einem ganz fremd<br />
ist. Bei Varian Fry berührte mi<strong>ch</strong> zudem<br />
ein Aspekt, der in meinen Bü<strong>ch</strong>ern immer<br />
wieder vorkommt: Dass einer viel für<br />
andere tut – ihm diese Leistung aber kaum<br />
verdankt wird. Fry galt na<strong>ch</strong> der Rückkehr<br />
in die USA <strong>als</strong> Kommunist und hatte kaum<br />
berufli<strong>ch</strong>e Chancen. Henry Dunant erlebte<br />
Ähnli<strong>ch</strong>es. I<strong>ch</strong> finde es wi<strong>ch</strong>tig, dass man<br />
die Taten sol<strong>ch</strong>er Mens<strong>ch</strong>en wieder ans<br />
Li<strong>ch</strong>t holt.<br />
«Mit dem letzten S<strong>ch</strong>iff» spielt in der<br />
Kulturszene, und so erstaunt es ni<strong>ch</strong>t,<br />
dass es viele Zeugnisse gibt – in Bü<strong>ch</strong>ern<br />
von Varian Fry selber, von seiner Helferin<br />
Lisa Fittko, die zahlrei<strong>ch</strong>e Flü<strong>ch</strong>tlinge<br />
über die Pyrenäen führte, oder von<br />
den S<strong>ch</strong>riftstellern Hans Sahl, Walter<br />
Mehring und Hertha Pauli. War es für<br />
Sie angesi<strong>ch</strong>ts der vielen Dokumente<br />
einfa<strong>ch</strong>er <strong>als</strong> bei früheren Romanen mit<br />
historis<strong>ch</strong>em Hintergrund, si<strong>ch</strong> den Stoff<br />
anzueignen?<br />
Als i<strong>ch</strong> mit der Re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>e begann, kam es<br />
mir vor, <strong>als</strong> würde i<strong>ch</strong> eine uralte Villa mit<br />
unzähligen Fenstern und Türen betreten:<br />
Überall eröffneten si<strong>ch</strong> neue Ausblicke,<br />
gab es Hinweise auf andere Werke. Das<br />
Herumgehen in dieser Villa war ein<br />
Genuss, denn die Autoren, die Varian<br />
Fry rettete und die alle in der Zwis<strong>ch</strong>enkriegszeit<br />
erfolgrei<strong>ch</strong> waren, konnten so<br />
gut s<strong>ch</strong>reiben! Die Fülle des Materi<strong>als</strong> bot<br />
aber eine besondere Herausforderung:<br />
I<strong>ch</strong> musste erkennen, was wesentli<strong>ch</strong> für<br />
meine Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te ist. Die Historikerin in<br />
mir läuft in sol<strong>ch</strong>en Momenten Gefahr,<br />
alles <strong>lesen</strong> zu wollen, die S<strong>ch</strong>riftstellerin<br />
aber ni<strong>ch</strong>t. I<strong>ch</strong> spüre irgendwann, was i<strong>ch</strong><br />
brau<strong>ch</strong>e und worauf i<strong>ch</strong> verzi<strong>ch</strong>ten kann.<br />
Sie haben ni<strong>ch</strong>t nur in Bü<strong>ch</strong>ern re<strong>ch</strong>er<strong>ch</strong>iert,<br />
sondern au<strong>ch</strong> einen Zeitzeugen<br />
befragt – Justus Rosenberg, dem das<br />
Bu<strong>ch</strong> neben anderen gewidmet ist.<br />
I<strong>ch</strong> könnte einmal ein Bu<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>reiben<br />
alle bü<strong>ch</strong>er finden sie au<strong>ch</strong> auf<br />
eveliNe hasler<br />
Berühmt ist Eveline Hasler für ihre Bü<strong>ch</strong>er<br />
über historis<strong>ch</strong>e Frauen und Männer<br />
– do<strong>ch</strong> erfolgrei<strong>ch</strong> war sie zuerst <strong>als</strong><br />
Kinderbu<strong>ch</strong>-Autorin. Bekannt sind von<br />
ihr zum Beispiel «Komm wieder, Pepino»<br />
oder «Die Hexe Lakritze». Für ihre<br />
Kinder- und Jugenderzählungen erhielt<br />
sie 1978 den S<strong>ch</strong>weizer Jugendbu<strong>ch</strong>preis.<br />
Der erste historis<strong>ch</strong>e Stoff, den sie für<br />
ein Bu<strong>ch</strong> aufarbeitete, war «Anna Göldin.<br />
Letzte Hexe». Der historis<strong>ch</strong>-biografis<strong>ch</strong>en<br />
Linie blieb Eveline Hasler seither mit<br />
vielen Bestsellern treu. Für ihre Werke<br />
erhielt sie unter anderem den Bu<strong>ch</strong>preis<br />
der Stadt Züri<strong>ch</strong>, den Kulturpreis der<br />
Stadt St. Gallen, den Droste-Preis der<br />
Stadt Meersburg und den Justus Kerner<br />
Preis. 1990/91 war sie Guest Lecturer am<br />
German Departement der City University<br />
in New York, 2012 wurde sie Ehrendoktorin<br />
der Universität Bern.<br />
Geboren wurde Eveline Hasler in den<br />
1930er-Jahren in Glarus. Sie studierte<br />
Psy<strong>ch</strong>ologie und Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te in Paris und<br />
Fribourg, bevor sie in Zug und St. Gallen<br />
unterri<strong>ch</strong>tete. Ihre drei Kinder wu<strong>ch</strong>sen<br />
in St.Gallen auf. Seit zwei Jahrzehnten lebt<br />
und s<strong>ch</strong>reibt sie im Tessin.<br />
IntervIew | 11