Partizipation als Schlüssel für Bildung und Demokratie – Die ...
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Vortrag Prof. Dr. Raingard Knauer<br />
Symposion „Basiskompetenzen Zuhören <strong>und</strong> Sprechen“<br />
25. Februar 2011, 12:00 Uhr<br />
<strong>Partizipation</strong> <strong>als</strong> <strong>Schlüssel</strong> <strong>für</strong> <strong>Bildung</strong> <strong>und</strong> <strong>Demokratie</strong> <strong>–</strong> <strong>Die</strong> Bedeutung des<br />
Zuhörens in einer partizipativen <strong>Bildung</strong>spraxis von Kindertageseinrichtungen<br />
In meinem Vortrag beleuchte ich den Zusammenhang zwischen dialogischem Zuhören <strong>und</strong> demokratischer<br />
<strong>Partizipation</strong> von Kindern in Kindertageseinrichtungen. Dabei werden folgende Aspekte angesprochen:<br />
1. Warum Zuhören so wichtig ist. <strong>–</strong> Zuhören <strong>als</strong> zentraler <strong>Schlüssel</strong> <strong>für</strong> <strong>Bildung</strong> 2. Dialogisches<br />
Zuhören <strong>und</strong> <strong>Partizipation</strong> 3. Warum eine Kita-Verfassung die weitreichendste Form einer<br />
strukturellen Verankerung von <strong>Partizipation</strong> darstellt. 4. Wie durch Zuhören <strong>und</strong> <strong>Partizipation</strong> <strong>Demokratie</strong><br />
gelernt werden kann.<br />
1. Warum Zuhören so wichtig ist. <strong>–</strong> Zuhören <strong>als</strong> zentraler <strong>Schlüssel</strong> <strong>für</strong> <strong>Bildung</strong><br />
Zuhören ist viel mehr <strong>als</strong> ein passives Hören. Es beinhaltet, anderen zuzuhören, sich da<strong>für</strong> zu interessieren,<br />
was andere mitteilen möchten, darüber nachzudenken, was das Gehörte mit den eigenen<br />
Ideen zu tun hat <strong>und</strong> sich schließlich selbst mitzuteilen auch mit der Erwartung, dass einem zugehört<br />
wird. Zuhören, so wird hier deutlich, ist meist kein einsames Geschäft. Es findet vor allem in sozialen<br />
Situationen statt <strong>und</strong> ist i.d.R. eingeb<strong>und</strong>en in Kommunikation. Zuhören beinhaltet auch die Bereitschaft,<br />
den Anderen verstehen zu wollen, sich auf die Perspektive des Anderen einzulassen. Wenn ich<br />
im Folgenden von Zuhören spreche, meine ich dieses „dialogische Zuhören“, das eingeb<strong>und</strong>en ist in<br />
einen Prozess des gegenseitigen Verstehen-Wollens. Dialogisches Zuhören ist damit ein zentrales<br />
Moment pädagogischer Arbeit in Kindertageseinrichtungen. Dass Erwachsene <strong>und</strong> Kinder sich gegenseitig<br />
zuhören, ist eine wichtige Basis <strong>für</strong> die Entwicklung von Bindungen zwischen Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen.<br />
Dabei sind es immer die Erwachsenen, die in Vorleistung gehen <strong>und</strong> den Kindern zuhören<br />
müssen. Und auch im weiteren Verlauf ist Zuhören ein wichtiger <strong>Schlüssel</strong> <strong>für</strong> die Förderung von<br />
<strong>Bildung</strong>sprozessen.<br />
Das Thema “<strong>Bildung</strong>“ erlebt in Kindertageseinrichtungen spätestens mit der Veröffentlichung der<br />
ersten Ergebnisse der Pisa-Studie 2001 eine Renaissance. Kindertageseinrichtungen gerieten u.a.<br />
deshalb so schnell in den Blick der <strong>Bildung</strong>sforscher, weil die Kinder hier erstm<strong>als</strong> außerhalb der Familie<br />
eine bildungsanregende Umgebung erfahren <strong>und</strong> so insbesondere Kinder aus „bildungsbenachteiligenden“<br />
Milieus früh Anregung <strong>und</strong> Unterstützung erhalten können. Je jünger Kinder sind, desto<br />
deutlicher wird die Unmöglichkeit, <strong>Bildung</strong> von außen in das Kind zu implementieren. Hans-Joachim<br />
Laewen weist darauf hin: „Es besteht keine Möglichkeit einer direkten Übertragung von Erfahrung /<br />
Wissen / Kompetenzen vom Erwachsenen auf Kinder. Zwischen der anzueignenden Kultur <strong>und</strong> dem<br />
Kind steht gr<strong>und</strong>sätzlich eine Konstruktionsleistung des Kindes. Pädagogik muss deshalb auf die Vorstellung<br />
verzichten, Kindern (oder Erwachsenen) etwas beibringen zu können.“ 1 Bei der Förderung<br />
von <strong>Bildung</strong>sprozessen in Kindertageseinrichtungen geht es <strong>als</strong>o nicht um „Belehrung“, sondern um<br />
eine Förderung der individuellen Aneignungsprozesse der Subjekte in der Sozietät der Kindergruppe.<br />
Es gibt Hinweise darauf, dass die Qualität der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen die<br />
<strong>Bildung</strong>sprozesse der Kinder nachhaltig befördern kann 2 .<br />
1 Laewen, Hans-Joachim (Hrsg.) 2002: <strong>Bildung</strong> <strong>und</strong> Erziehung in der frühen Kindheit, Weinheim, Berlin, Basel, S. 14.<br />
2 Vgl. u.a. Tietze, Wolfgang (Hrsg.) 1998: Wie gut sind unsere Kindergärten? Eine Untersuchung zur pädagogischen Qualität<br />
in deutschen Kindergärten., Neuwied / Kriftel / Berlin; vgl. auch Textor, Martin 2007: Forschungsergebnisse zur Effektivität<br />
frühkindlicher <strong>Bildung</strong>: EPPE, REPEY <strong>und</strong> SPEEL, in: Kindergartenpädagogik, online-handbuch<br />
http://www.kindergartenpaedagogik.de/1615.html<br />
1
Vortrag Prof. Dr. Raingard Knauer<br />
Symposion „Basiskompetenzen Zuhören <strong>und</strong> Sprechen“<br />
25. Februar 2011, 12:00 Uhr<br />
Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Kinder mitentscheiden können, mit welchen Themen sie<br />
sich beschäftigen, wenn es gelingt den Kindern <strong>Bildung</strong>sanregungen in der „Zone der nächsten Entwicklung“<br />
(Wygotsky) zu eröffnen <strong>und</strong> wenn Erwachsene <strong>und</strong> Kinder „gemeinsam denken“ 3 . Dazu<br />
müssen die pädagogischen Fachkräfte systematisch klären: Mit welchen Themen beschäftigt sich das<br />
einzelne Kind auf welche Art <strong>und</strong> Weise?<br />
Wenn man <strong>Bildung</strong> <strong>als</strong> Aneignung des Subjekts begreift <strong>und</strong> befördern will, muss man die Vielfalt der<br />
Kinder mit ihren Differenzerfahrungen beachten <strong>und</strong> auch die familialen, sozialen <strong>und</strong> kulturellen<br />
Lebensverhältnisse der Kinder berücksichtigen. Dazu müssen die Fachkräfte etwas über die <strong>Bildung</strong>sinteressen<br />
<strong>und</strong> -prozesse der Kinder erfahren. Das gelingt ihnen am besten, wenn sie ihnen zuhören.<br />
Wollen Kitas individuelle <strong>Bildung</strong>sprozesse fördern, braucht das die Beteiligung der Kinder selbst.<br />
Dialogisches Zuhören (<strong>als</strong> Teil von <strong>Partizipation</strong>) ist eine Voraussetzung gelingender <strong>Bildung</strong>sförderung.<br />
Im Konzept „<strong>Die</strong> Kinderstube der <strong>Demokratie</strong>“ konnten wir immer wieder beobachten, wie durch<br />
eine systematische Beteiligung der Kinder <strong>Bildung</strong>sprozesse ausgelöst wurden, die alle erstaunten.<br />
„Zwei Kinder möchten „Kino machen“. Sie überzeugen andere Kinder von dieser Idee. <strong>Die</strong> pädagogischen<br />
Fachkräfte, die dies beobachten, finden den Vorschlag ebenfalls gut <strong>und</strong> stellen sich bereits vor,<br />
wie die Kinder mit der gerade erworbenen Video-Kamera einen Film drehen. <strong>Die</strong> Erzieherinnen halten<br />
sich aber zurück, stellen offene Fragen <strong>und</strong> überlassen es den Kindern, die nächsten Schritte zu gehen.<br />
<strong>Die</strong> Kinder verbinden mit „Kino machen“ andere Ideen: Das Wichtigste im Kino ist es, in langen Reihen<br />
vor der Kasse zu stehen <strong>und</strong> Eintrittskarten zu kaufen. Da<strong>für</strong> müssen Kinokarten <strong>und</strong> Geld gebastelt<br />
werden. Dann gibt es im Kino Popcorn, das in dreieckigen(!) Tüten verkauft wird. Auch diese müssen<br />
hergestellt werden. Als nächstes organisieren die Kinder ein Bilderbuchkino. Sie bauen ihre Bücher vor<br />
einer senkrecht gestellten Matratze <strong>–</strong> der Leinwand <strong>–</strong> auf <strong>und</strong> erzählen dem Publikum ihre Geschichten<br />
zu den Bildern. Dabei wechseln sich die Kinder in ihren Rollen ab.<br />
Bald werden die Bücher durch eigene Zeichnungen ersetzt, zu denen die Kinder Geschichten erfinden.<br />
„Aber im Kino bewegen sich die Bilder doch!“, moniert die vierjährige Melina. Daraufhin kommen die<br />
Kinder auf die Idee, die gemalten Bilder mit Wäscheklammern an langen Bändern aufzuhängen <strong>und</strong> sie<br />
während der Vorstellung um die Matratze herumzuziehen.“ 4<br />
<strong>Die</strong> <strong>Bildung</strong>sprozesse, die hier deutlich werden, wurden eben nicht durch ein „Belehren“ unterstützt<br />
sondern dadurch, dass sich die pädagogischen Fachkräfte zurückhielten <strong>und</strong> behutsam den <strong>Bildung</strong>sprozessen<br />
der Kinder folgten. Damit blieben die Kinder im gesamten <strong>Bildung</strong>sprozess die Handelnden.<br />
Dass über <strong>Partizipation</strong> sowohl <strong>Bildung</strong>sprozesse in Bezug auf das Thema „<strong>Demokratie</strong>“ <strong>als</strong> auch<br />
allgemeine <strong>Bildung</strong>sprozesse angeregt werden, zeigt eine erste Evaluation in Nordrhein-Westfalen. 5<br />
2. Dialogisches Zuhören <strong>und</strong> <strong>Partizipation</strong><br />
<strong>Die</strong> Förderung von Zuhören geschieht nicht durch punktuelle Zuhör-Projekte oder Zuhör-Angebote.<br />
Eine solche Förderung braucht vielmehr die Entwicklung einer „Kultur des Zuhörens“. <strong>Die</strong>se wiederum<br />
entsteht vor allem dann, wenn es in Kindertageseinrichtungen gelingt, eine „Kultur der Beteili-<br />
3<br />
Vgl. Textor 2007 a.a.o.<br />
4<br />
Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt 2011: <strong>Partizipation</strong> in Kindertageseinrichtungen. So gelingt<br />
<strong>Demokratie</strong>bildung mit Kindern!, Weimar, Berlin.<br />
5<br />
Vgl. Sturzenhecker, Benedikt; Knauer, Raingard; Richter, Lisa; Rehmann, Yvonne 2010: <strong>Partizipation</strong> in der Kita. Evaluation<br />
demokratischer Praxis mit Vorschulkindern. Abschlussbericht, Hamburg.<br />
2
Vortrag Prof. Dr. Raingard Knauer<br />
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gung“ (<strong>Partizipation</strong>skultur) zu entwickeln. Eine Förderung dialogischen Zuhörens geschieht vor allem<br />
durch <strong>Partizipation</strong>.<br />
Eine Definition von <strong>Partizipation</strong>, die auch Ausgangspunkt des Konzepts „<strong>Die</strong> Kinderstube der <strong>Demokratie</strong>“<br />
ist, formuliert Richard Schröder:<br />
„<strong>Partizipation</strong> heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben <strong>und</strong> das Leben der Gemeinschaft betreffen,<br />
zu teilen <strong>und</strong> gemeinsam Lösungen <strong>für</strong> Probleme zu finden“ 6<br />
Hier wird deutlich: <strong>Partizipation</strong> muss Folgen haben. Es geht nicht um ein höfliches Zuhören, bei dem<br />
die Entscheidungsmacht bei den Erwachsenen verbleibt. Durch <strong>Partizipation</strong> wird das „Sichgegenseitig-Zuhören“,<br />
das „Gemeinsam-Nachdenken“ in gemeinsames Entscheiden umgesetzt. So<br />
wird das Zuhören noch bedeutsamer, weil es eingeb<strong>und</strong>en ist in gemeinsames Handeln.<br />
<strong>Partizipation</strong> basiert auf zwei Gr<strong>und</strong>lagen: einer respektvollen Haltung der pädagogischen Fachkräfte<br />
<strong>und</strong> der strukturellen Verankerung von <strong>Partizipation</strong>. In beiden Bereichen spielt dialogisches Zuhören<br />
eine zentrale Rolle.<br />
<strong>–</strong> Eine respektvolle Haltung der pädagogischen Fachkräfte zeichnet sich dadurch aus, dass sie<br />
Zutrauen in die Fähigkeiten der Kinder haben, dass sie sich <strong>für</strong> die Weltsicht der Kinder interessieren<br />
<strong>und</strong> ihr Interesse diese den Kindern gegenüber auch zeigen <strong>und</strong> ihnen immer wieder<br />
signalisieren „Du bist wichtig! Deine Sicht der Welt interessiert mich!“. Eine respektvolle<br />
Haltung beinhaltet aber auch die Fähigkeit der Fachkräfte, aktiv zuhören <strong>und</strong> Dialoge mit<br />
Kindern gestalten zu können. Dazu gehört die Bereitschaft zum Dialog, ausreichend Zeit, eine<br />
entspannte Atmosphäre <strong>und</strong> Vertrauen, die Fähigkeit, offene Fragen zu stellen, die Fähigkeit,<br />
komplexe Sachverhalte einfach formulieren zu können, die Fähigkeit, Gedanken visualisieren<br />
zu können 7 <strong>und</strong> letztlich auch die Fähigkeit, verschiedene Gedanken nebeneinander stehen<br />
lassen zu können.<br />
<strong>–</strong> Aber eine respektvolle Haltung alleine reicht nicht, <strong>Partizipation</strong> muss auch strukturell verankert<br />
sein. Solange die Beteiligung der Kinder sich auf einen achtenden Dialog beschränkt,<br />
bleiben die Kinder in ihren Beteiligungsmöglichkeiten von der „Gnade“ der Erwachsenen abhängig.<br />
Darauf, dass dies problematisch ist, hat schon Janusz Korczak hingewiesen. Er sagt in<br />
seinem Buch „Wie man ein Kind lieben soll“: „Bis jetzt hing alles vom guten Willen <strong>und</strong> von<br />
der guten oder schlechten Laune des Erziehers ab. Das Kind war nicht berechtigt, Einspruch<br />
zu erheben. <strong>Die</strong>ser Despotismus muss ein Ende haben.“ 8 Damit Kinder ihre Beteiligungsrechte<br />
auch unabhängig(er) von Erwachsenen wahrnehmen können, braucht es eine Klärung der<br />
Rechte <strong>und</strong> Verfahren. <strong>Die</strong>se müssen den Kindern bekannt sein. Erst dann wird <strong>Partizipation</strong><br />
zu demokratischer <strong>Partizipation</strong>. So wird auch das Recht der Kinder auf Zuhören strukturell<br />
verankert.<br />
<strong>Partizipation</strong>, so wird hier deutlich, berührt immer auch die Frage danach, wie demokratisch in Kindertageseinrichtungen<br />
Macht verteilt ist.<br />
6<br />
Schröder, Richard 1995: Kinder reden mit! Beteiligung an Politik, Stadtplanung <strong>und</strong> Stadtgestaltung, Weinheim / Basel,<br />
S. 14<br />
7<br />
Vgl. Hierzu Kapitel 4 in Hansen , Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt 2011: <strong>Partizipation</strong> in Kindertageseinrichtungen.<br />
So gelingt <strong>Demokratie</strong>bildung mit Kindern!, Weimar, Berlin.<br />
8<br />
Korczak, Janusz 1979: Wie man ein Kind lieben soll, Göttingen, S. 304.<br />
3
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3. Warum eine Kita-Verfassung die weitreichendste Form einer strukturellen Verankerung<br />
von <strong>Partizipation</strong> darstellt.<br />
<strong>Die</strong> nachhaltigste Möglichkeit der Verankerung von <strong>Partizipation</strong> bietet die Erarbeitung einer Verfassung,<br />
wie sie im Konzept „<strong>Die</strong> Kinderstube der <strong>Demokratie</strong>“ entwickelt wurde. Eine Verfassung bezeichnet<br />
die meist in einer Urk<strong>und</strong>e niedergelegte Gr<strong>und</strong>ordnung eines politischen Gemeinwesens.<br />
Eine Kita-Verfassung bezeichnet damit die schriftlich niedergelegte konkrete Gr<strong>und</strong>ordnung der Kindertageseinrichtung,<br />
in der die Inhalte <strong>und</strong> Verfahren der Beteiligungsrechte der Kinder geregelt<br />
sind. Im Konzept „<strong>Die</strong> Kinderstube der <strong>Demokratie</strong>“ ist das Verfahren einer Verfassungsgebenden<br />
Versammlung entwickelt worden, in dem die Fachkräfte einerseits im Konsens klären, welche Rechte<br />
die Kinder in der Einrichtung haben sollen, andererseits die Verfahren <strong>und</strong> Gremien festlegen, in denen<br />
die Kinder diese Rechte einfordern können 9 .<br />
Der Prozess der Erarbeitung einer Verfassung, der durch eine externe Moderatorin / einen externen<br />
Moderator begleitet wird, findet dabei mit dem ganzen Team statt. Im ersten Schritt wird intensiv<br />
geklärt, welche Entscheidungen die Kinder selbst treffen dürfen (Selbstbestimmung), welche Entscheidungen<br />
die Kinder mit anderen treffen dürfen (Mitbestimmung) <strong>und</strong> welche Entscheidungen<br />
sich die Fachkräfte (zunächst) selbst vorbehalten.<br />
Worüber sollen die<br />
Kinder auf jeden Fall<br />
mit- oder selbst<br />
entscheiden?<br />
Dabei können alle Themen, die in einer Kita zur Entscheidung anstehen, angesprochen werden: Von<br />
der Kleidung <strong>und</strong> dem Essen über die Raumgestaltung <strong>und</strong> die Auswahl von Projektthemen bis zu<br />
Entscheidungen bei der Personaleinstellung <strong>und</strong> bei Finanzen. Als Kinderrechte werden in der Verfassung<br />
aber nur die Beteiligungsrechte festgeschrieben, die von allen Fachkräften im Konsens verabschiedet<br />
wurden. Nur so ist gewährleistet, dass die Fachkräfte den Kindern die Rechte im Alltag auch<br />
zugestehen. Während dieses Klärungsprozesses finden im Team intensive Diskussionen über das Bild<br />
vom Kind <strong>und</strong> pädagogische Gr<strong>und</strong>fragen statt.<br />
Wie sollen die Kinder<br />
mitentscheiden?<br />
Worüber sollen die<br />
Kinder auf keinen<br />
Fall mit- oder selbst<br />
entscheiden?<br />
Erst nach der Klärung der Rechte, die den Kindern in dieser Einrichtung zugestanden werden sollen,<br />
geht es um die Frage, wie die Kinder ihre Rechte wahrnehmen können.<br />
9 <strong>Die</strong>ses Konzept wird ausführlich beschrieben in: Hansen, Rüdiger; Knauer, Raingard; Sturzenhecker, Benedikt 2011: <strong>Partizipation</strong><br />
in Kindertageseinrichtungen. So gelingt <strong>Demokratie</strong>bildung mit Kindern!, Weimar, Berlin. vgl. Hansen, Rüdiger<br />
2005: <strong>Die</strong> verfassungsgebende Versammlung in der Kindertageseinrichtung, KiTa spezial, 4, S. 15 - 18.<br />
Vgl. auch die Qualitätsstandards der B<strong>und</strong>esregierung zu <strong>Partizipation</strong> von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen: B<strong>und</strong>esministerium<br />
<strong>für</strong> Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend 2010: Qualitätsstandards <strong>für</strong> Beteiligung von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen. Allgemeine<br />
Qualitätsstandards <strong>und</strong> Empfehlungen <strong>für</strong> die Praxisfelder Kindertageseinrichtungen, Schule, Kommune, Kinder- <strong>und</strong><br />
Jugendarbeit <strong>und</strong> Erzieherische Hilfen, Berlin.<br />
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Jetzt entwickeln die pädagogischen Fachkräfte Gremien <strong>und</strong> Verfahrensabläufe, in denen Kinder mitentscheiden<br />
können. <strong>Die</strong>s sind einerseits häufig Gremien auf der Gruppenebene (z.B. Gruppenversammlungen<br />
oder Kinderkonferenzen), andererseits aber auch häufig einrichtungsübergreifende<br />
Gremien wie ein Kinderrat oder ein Kinderparlament.<br />
Eine solche Verfassung wird zunächst von den Fachkräften erarbeitet, dann mit den Eltern besprochen<br />
<strong>und</strong> schließlich in der Einrichtung erprobt. Nach einer Erprobungsphase wird die endgültige<br />
Verfassung festgeschrieben <strong>und</strong> von jeder Fachkraft unterschrieben. Eine solche Verfassungsentwicklung<br />
ist ein intensiver Prozess <strong>für</strong> das ganze Fachkräfteteam <strong>und</strong> geht mit einer Reflexion pädagogischer<br />
Gr<strong>und</strong>fragen einher.<br />
4. Wie durch Zuhören <strong>und</strong> <strong>Partizipation</strong> <strong>Demokratie</strong> gelernt werden kann.<br />
Wenn Kinder in Kindertageseinrichtungen erfahren, dass sie Rechte haben, wenn sie hier in eine Atmosphäre<br />
eintauchen, in der dialogisches Zuhören, Diskutieren <strong>und</strong> gemeinsam Entscheiden Alltag<br />
ist, dann erfahren sie gleichzeitig, wie <strong>Demokratie</strong> gelebt werden kann:<br />
„Eine demokratisch verfasste Gesellschaft ist die einzige Gesellschaftsordnung, die gelernt werden<br />
muss, alle anderen Gesellschaftsordnungen bekommt man so.“ 10<br />
Politische <strong>Bildung</strong> <strong>als</strong> demokratische <strong>Bildung</strong> beginnt weit vor der weiterführenden Schule. Sie beginnt<br />
dort, wo Kinder das erste Mal erfahren, wie eine öffentliche Gemeinschaft außerhalb ihrer Familie<br />
funktioniert. Kindertageseinrichtungen müssen in einer <strong>Demokratie</strong> <strong>als</strong> demokratische Orte<br />
konzipiert werden. Das bedeutet, den Kindern zu ermöglichen, sich zuständig zu fühlen, gemeinsam<br />
nachzudenken, gehört zu werden, mitzuentscheiden <strong>und</strong> immer wieder zuzuhören.<br />
Wie sich Kinder durch Beteiligung <strong>und</strong> gegenseitiges Zuhören auch kognitiv das Thema <strong>Demokratie</strong><br />
aneignen, wird in folgendem Beispiel, das auch auf der DVD von Lorenz Müller <strong>und</strong> Thomas Plöger<br />
eindrucksvoll festgehalten ist, deutlich:<br />
<strong>Die</strong> Kinder planen in einer Zukunftswerkstatt die Neugestaltung des Außengeländes ihrer Kindertageseinrichtung.<br />
In der Kritikphase werden die Kinder aufgefordert zu sagen, was ihnen am derzeitigen Außengelände<br />
gefällt <strong>und</strong> was sie schlecht finden. Sie diktieren den Erwachsenen ihre Bewertungen. Als<br />
die fünfjährige Senya zur Erzieherin sagt: „Der Mülleimer soll weg!“, entfacht sich eine Auseinandersetzung.<br />
Ein Junge hält dagegen: „Der Mülleimer muss bleiben!“ Andere Kinder kommen hinzu: „Sonst haben<br />
wir einen riesengroßen Müllspielplatz.“ <strong>Die</strong> Fachkräfte notieren beide Bewertungen: „Der Mülleimer<br />
soll weg“ <strong>und</strong>: „Der Mülleimer soll bleiben“.<br />
Anschließend klebt eine Fachkraft im Gruppenraum die Kärtchen mit den verschiedenen Beurteilungen<br />
an die Wand. Dabei wird der schon auf dem Außengelände diskutierte Widerspruch noch einmal deutlich.<br />
Der Mülleimer wird von einigen Kindern <strong>als</strong> störend beurteilt <strong>und</strong> hängt daher auf der Seite mit<br />
dem traurigen Smilie („Das soll weg!“). Von anderen wird er <strong>als</strong> notwendig erachtet <strong>und</strong> klebt daher<br />
auch auf der Seite mit dem lachenden Smilie („Das soll bleiben!). Senya, die auf dem Spielplatz lautstark<br />
<strong>für</strong> die Idee „Der Mülleimer soll weg!“ votiert hat, ist durch diesen Widerspruch irritiert. Man<br />
kann an ihrem Gesicht <strong>und</strong> ihren Bewegungen deutlich ablesen, welche Anstrengung <strong>und</strong> Mühsal es sie<br />
kostet, diese Problematik zu erfassen, <strong>als</strong> sie fragt: „Wenn der eine Kind sagt, das soll so sein, <strong>und</strong> der<br />
andere Kind sagt, das soll nicht so sein <strong>–</strong> was soll‘n wir denn da machen? Soll‘n wir einfach beides machen?<br />
Oder …? <strong>–</strong> Das ist so schwer!“ (Szene aus dem Film „<strong>Die</strong> Kinderstube der <strong>Demokratie</strong> 11 )<br />
Kindertageseinrichtungen, die <strong>Partizipation</strong> strukturell verankert haben, zeichnen sich durch eine<br />
hohe Zuhörqualität <strong>und</strong> damit auch durch eine hohe <strong>Bildung</strong>squalität aus. Wenn pädagogische Fach-<br />
10 Negt, Oskar 2010: Der politische Mensch. <strong>Demokratie</strong> <strong>als</strong> Lebensform, Göttingen.<br />
11 Müller / Plöger 2008, vgl. auch Hansen / Knauer / Sturzenhecker 2011<br />
5
Vortrag Prof. Dr. Raingard Knauer<br />
Symposion „Basiskompetenzen Zuhören <strong>und</strong> Sprechen“<br />
25. Februar 2011, 12:00 Uhr<br />
kräfte zuhören können <strong>und</strong> daraus gemeinsames Handeln erfolgt, vertiefen auch die Kinder ihre Fähigkeit,<br />
anderen zuzuhören <strong>und</strong> sich mit anderen auch sprachlich zu verständigen.<br />
Weitere Informationen zum Konzept „<strong>Die</strong> Kinderstube der <strong>Demokratie</strong>“, Fortbildungen <strong>und</strong> Forschungsergebnisse<br />
unter: www.partizipation-<strong>und</strong>-bildung.de.<br />
6