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Die Bibliothek ist nicht mehr vollständig

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BFP, Vol. 34, pp. 94-99, April 2010 • Copyright © by Walter de Gruyter • Berlin • New York. DOI10.1515/bfup.2010.017<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Bibliothek</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>mehr</strong> <strong>vollständig</strong>“ 1<br />

Ein Werkstattbericht zur Provenienzforschung und Restitution an der<br />

Universitätsbibliothek Wien<br />

<strong>Die</strong> Universitätsbibliothek Wien begann 2004 mit einem Provenienzforschungsprojekt, das 2006 mit einem zweiten eigenständigen<br />

Projekt erweitert wurde. <strong>Die</strong> Bestandsautopsien konnten mittlerweile abgeschlossen werden, sodass erste Ergebnisse<br />

vorliegen und bereits in einigen wenigen Fällen Restitutionen durchgeführt werden konnten. Beispielhaft wird auf den<br />

Fall Moriz Kuffner eingegangen.<br />

Schlüsselwörter: Provenienzforschung; Universitätsbibliothek; Wien; Restitutionen; Moriz Kuffner<br />

„The library is not complete anymore.“ A progress report on provenance research and restitution at Vienna University<br />

Library<br />

In 2004 Vienna University Library started a provenance research project, to which a second independent project was added<br />

in 2006. The completed autopsy of the library holdings has yielded first results and restitutions have been possible in a small<br />

number of cases. The example of Moriz Kuffner is discussed in some detail.<br />

Keywords: Provenance research; Vienna University Library; restitutions; Moriz Kuffner<br />

„La bibliothèque n´est plus complète.“ Recherche de provenance et restitution à la bibliothèque universitaire de<br />

l`université de Vienne. Un compte-rendu.<br />

La Bibliothèque universitaire de l`université deVienne a commencé en 2004 avec un projet de recherche de provenance, élargi<br />

en 2006 en lançant un deuxième projet à part entière. L´autopsie des fonds bibliothèque entre-temps achevée, des premiers<br />

résultats sont accessibles de sorte qu´on pouvait procéder à des restitutions dans quelques cas peu nombreux. Exemplairement,<br />

le cas de Moriz Kuffner est présenté.<br />

Mots-clés: Recherche de provenance; Bibliothèque universitaire de Vienne; restitutions; Moriz Kuffner<br />

Inhaltsübersicht<br />

Markus Stumpf<br />

Universität Wien/<strong>Bibliothek</strong>s- und Archivwesen<br />

Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte und Osteuropäische<br />

Geschichte<br />

Spitalgasse 2, Hof 1 bzw. Hof 3<br />

A-1090 Wien<br />

Österreich<br />

E-Mail: markus.stumpf@univie.ac.at<br />

1 Einleitung ............................................................ 94<br />

2 Rahmenbedingungen .......................................... 95<br />

3 H<strong>ist</strong>orisch gewachsene Strukturen ...................... 95<br />

4 Spurensuche ........................................................ 95<br />

5 Ergebnisse aus der Hauptbibliothek.................... 96<br />

6 Ergebnisse aus den Fachbereichsbibliotheken .... 96<br />

7 Fallbeispiel Moriz Kuffner .................................. 96<br />

8 Zusammenfassung .............................................. 98<br />

1 Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) Archiv, Zl. 3251/1939,<br />

„Übernahme der <strong>Bibliothek</strong> Kuffner“, Bericht verfasst von Hans-<br />

Chr<strong>ist</strong>oph Messow, 20. 3. 1939.<br />

1 Einleitung<br />

<strong>Die</strong> Universitätsbibliothek Wien (UB Wien) richtete 2004 als<br />

Folge der 2003 im Wiener Rathaus veranstalteten Konferenz<br />

„Raub und Restitution“ im Bereich der Hauptbibliothek ein<br />

Provenienzforschungsprojekt ein, um den Bestand der <strong>Bibliothek</strong><br />

nach fraglichen und bedenklichen Erwerbungen als<br />

Voraussetzung zur Rückstellung zu untersuchen. Im Frühjahr<br />

2006 wurde mit einem eigenen Projekt auch im dezentralen<br />

Bereich der UB, das heißt in den Fachbereichs- und Institutsbibliotheken,<br />

die aus organisatorischen und h<strong>ist</strong>orischen<br />

Gründen an vielen Standorten angesiedelt sind, mit Provenienzforschung<br />

begonnen 2 . <strong>Die</strong> Finanzierung erfolgt über<br />

2 Vgl. Alker, Stefan; Köstner, Chr<strong>ist</strong>ina und Stumpf, Markus: Provenienzforschung<br />

an der Universitätsbibliothek Wien – ein Zwischen-<br />

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die Universität Wien und reiht sich in eine Vielzahl von Forschungsprojekten<br />

und Aktivitäten zur NS-Zeit und Gedenkkultur<br />

sowie zur Institutionen- und Wissenschaftsgeschichte<br />

der „Alma Mater Rudolphina Vindobonensis“ ein 3 .<br />

2 Rahmenbedingungen<br />

Mit dem Universitätsgesetz 2002 sind die Universitätsbibliotheken<br />

Österreichs zwar <strong>nicht</strong> <strong>mehr</strong> direkt einem Bundesmin<strong>ist</strong>erium<br />

unterstellt, doch verbleiben „die Bestände der<br />

Universitätsbibliotheken, die aus geschichtlichem, künstlerischem<br />

und sonstigem kulturellen oder wissenschaftlichen<br />

Zusammenhang ein Ganzes bilden, im Eigentum des<br />

Bundes“ 4 .<br />

Für die UB Wien wurde diesbezüglich die Grenze für<br />

Bestände, die im Bundeseigentum verbleiben, mit dem Erscheinungsjahr<br />

bis 1800 festgelegt, während jene mit späterem<br />

Erscheinungsjahr ins Eigentum der Universität Wien<br />

übergehen. Da damit nur ein geringer Teil der Bestände der<br />

UB Wien allfällig unter das Kunstrückgabegesetz 5 fällt,<br />

wurde das Projekt von der Leitung der Universitätsbibliothek<br />

Wien und der Universität Wien auf den gesamten Bestand<br />

ausgedehnt und Kontakt zur Kommission für Provenienzforschung<br />

6 sowie zum Nationalfonds der Republik Österreich<br />

für Opfer des Nationalsozialismus 7 aufgenommen.<br />

<strong>Die</strong> mittlerweile im November 2009 erfolgte Novellierung<br />

8 des Kunstrückgabegesetzes unter dem Titel „Bundesgesetz<br />

über die Rückgabe von Kunstgegenständen und<br />

sonstigem beweglichem Kulturgut aus den österreichischen<br />

Bundesmuseen und Sammlungen und aus dem sonstigen<br />

Bundeseigentum (Kunstrückgabegesetz – KRG)“ erweitert<br />

den Bereich der rückgabefähigen Gegenstände. Der speziell<br />

auch im Bereich Bücher problematische Begriff „Kunstgegenstand“<br />

wurde darin verbreitert und auch der Zeitraum<br />

(nun<strong>mehr</strong> 1933 bis 1945) sowie der Gebietsbegriff (nun<strong>mehr</strong><br />

Herrschaftsgebiet des Deutschen Reiches außerhalb<br />

des Gebietes der heutigen Republik Österreich) wurden<br />

bericht. In: Weigel, Harald (Hrsg.): Wa(h)re Information. 29. Österreichischer<br />

<strong>Bibliothek</strong>artag Bregenz, 19.-23. 9. 2006. Graz-Feldkirch<br />

2007 ( Schriften der Vereinigung Österreichischer <strong>Bibliothek</strong>arinnen<br />

und <strong>Bibliothek</strong>are; 2), S. 125-131; Alker, Stefan und Monika Löscher<br />

(Red.): <strong>Bibliothek</strong>en der Universität Wien in der NS-Zeit. Bücherraub,<br />

Provenienzforschung, Restitution, Wien 2008; Löscher, Monika und<br />

Markus Stumpf: „… im wesentlichen unbeschädigt erhalten geblieben<br />

…“. Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek Wien<br />

am Beispiel der Fachbereichsbibliothek Angl<strong>ist</strong>ik und Amerikan<strong>ist</strong>ik.<br />

In: Anderl, Gabriele; Bazil, Chr<strong>ist</strong>oph; Blimlinger, Eva; Kühschelm,<br />

Oliver; Mayer, Monika; Stelzl-Gallian und Anita und Leonard Weidinger<br />

(Hrsg.): „... wesentlich <strong>mehr</strong> Fälle als angenommen.“ 10 Jahre<br />

Kommission für Provenienzforschung. Wien u. a. 2009 (Schriftenreihe<br />

der Kommission für Provenienzforschung; 1) S. 281-297.<br />

3 Siehe dazu ausführlich die Website des Forum „Zeitgeschichte der<br />

Universität Wien“ <br />

(Stand: 9. 12. 2009).<br />

4 BGBl. I Nr. 120/2002 § 139, Abs. 4.<br />

5 BGBl. Nr. I, 181/1998.<br />

6 .<br />

7 .<br />

8 BGBl. I Nr. 117/2009.<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Bibliothek</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>mehr</strong> <strong>vollständig</strong>“<br />

95<br />

neu definiert und der österreichischen NS-Problemstellung<br />

angepasst.<br />

<strong>Die</strong> damit geänderten Rahmenbedingungen für Provenienzforschung<br />

in Österreich können jedoch in den beiden<br />

Projekten der UB Wien <strong>nicht</strong> <strong>mehr</strong> berücksichtigt werden<br />

und verweisen damit auf ergänzende und später durchzuführende<br />

Forschungsarbeiten.<br />

3 H<strong>ist</strong>orisch gewachsene Strukturen<br />

<strong>Die</strong> spezifische Problemstellung der Provenienzforschung<br />

an der UB Wien ergibt sich aus den h<strong>ist</strong>orisch gewachsenen<br />

Strukturen. Während der NS-Zeit entsprach die Universitätsbibliothek<br />

der heutigen Hauptbibliothek, die Fachbibliotheken<br />

lagen im Verwaltungsbereich der einzelnen Institute<br />

bzw. Seminare, wobei die bibliothekarische Arbeit me<strong>ist</strong><br />

von Ass<strong>ist</strong>entInnen oder bibliothekarischen Hilfskräften<br />

erledigt wurde. <strong>Die</strong>s erklärt, warum die bibliothekarische<br />

Alltagstätigkeit (Dokumentation von Erwerbungen, Inventarisierung,<br />

Katalogisierung etc.) sehr unterschiedlich<br />

erledigt wurde. Daraus ergeben sich auch <strong>mehr</strong> oder weniger<br />

detailliert geführte Inventarbücher, wobei sich nur<br />

wenige erhalten haben. <strong>Die</strong> Aufstellung der <strong>Bibliothek</strong>en<br />

<strong>ist</strong> ebenfalls unterschiedlich: Im Freihandbereich bzw. in<br />

Magazinen, im Numerus Currens oder in vielen kleinen<br />

Sachgruppen geordnet. <strong>Die</strong> große Anzahl einzelner <strong>Bibliothek</strong>en<br />

– derzeit sind es insgesamt 50 <strong>Bibliothek</strong>en (Hauptbibliothek,<br />

Archivbibliothek, 38 Fachbereichs- und neun<br />

Institutsbibliotheken) 9 , deren Zahl jedoch durch Zusammenlegungen<br />

variiert – erfordert ein immer neues Einstellen auf<br />

die Situation und fortgesetztes Anpassen der Methoden an<br />

die jeweilige Lage.<br />

4 Spurensuche<br />

Den ersten Schritt der Untersuchung bildete ein Besuch in<br />

den einzelnen <strong>Bibliothek</strong>en zur Erfassung von grundlegenden<br />

Daten und zur Einschätzung des Recherchebedarfs. Je<br />

nach Quellenlage wurde mit der Autopsie des gesamten<br />

Bestandes oder des relevanten Teils davon begonnen. Im<br />

Laufe der beiden Projekte wurden insgesamt bisher <strong>mehr</strong> als<br />

400 000 Bücher auf Vorbesitzervermerke, also handschriftliche<br />

Eintragungen, Stempel oder Exlibris durchgesehen<br />

und entsprechend vermerkt. 2008 konnte die Autopsie im<br />

Wesentlichen in allen <strong>Bibliothek</strong>en abgeschlossen werden.<br />

In Einzelfällen müssen zur vertiefenden Recherche noch<br />

einmal bestimmte Bestände durchgesehen werden. Nach<br />

der Durchsicht aller in Frage kommenden <strong>Bibliothek</strong>en<br />

beginnt mit den dabei gewonnenen Daten die eigentliche<br />

Provenienzforschung, also die Recherche in Archiven und<br />

anderen Quellen nach den aufgenommenen Personen und<br />

Institutionen.<br />

9 (Stand: 9. 12. 2009).<br />

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96<br />

Markus Stumpf<br />

5 Ergebnisse aus der Hauptbibliothek<br />

Im Zuge des Projektes in der Hauptbibliothek konnte festgestellt<br />

werden, in welchem Ausmaß die Hauptbibliothek über<br />

Bücher aus dem Besitz von NS-Verfolgten verfügt. Ein Großteil<br />

der Bücher stammt dabei direkt aus der Staatspolizeileitstelle<br />

Wien, die der Hauptbibliothek im Zeitraum von 1942<br />

bis 1944 etwa 1 200 Bücher übergab, deren Herkunft bisher<br />

<strong>nicht</strong> geklärt werden konnte. Nach 1945 wurden der Hauptbibliothek<br />

der UB Wien von der zur Aufteilung von „herrenlosem“<br />

Buchgut eingerichteten „Bücherverwertungsstelle“<br />

etwa 151 500 Bücher übergeben. <strong>Die</strong>ser sich aus verschiedenen<br />

Provenienzen zusammensetzende Bestand wurde als<br />

„Sammlung Tanzenberg“ bezeichnet. Der Name bezieht sich<br />

auf das Schloß Tanzenberg in Kärnten, in dem von September<br />

1944 bis Mai 1945 die Zentralbibliothek der „Hohen Schule“,<br />

die als Parteihochschule der NSDAP konzipiert war, ausgelagert<br />

waren. <strong>Die</strong> dort bei Kriegsende aufgefundenen, aus ganz<br />

Europa geraubten und konfiszierten Bücherkonvolute wurden<br />

von der britischen Besatzung bis 1948 an die rechtmäßigen<br />

Besitzer bzw. deren Erben zurückgestellt.<br />

Am 1. Dezember 1949 führte die Büchersortierungsstelle<br />

diese Funktion fort. <strong>Die</strong>se Einrichtung bearbeitete jedoch<br />

<strong>nicht</strong> nur den Restbestand aus Tanzenberg, sondern auch<br />

Bücher der Wiener Gestapo-<strong>Bibliothek</strong>, des Dorotheums und<br />

der Nationalbibliothek. <strong>Die</strong> Büchersortierungsstelle beendete<br />

ihre Tätigkeit 1951 und die vermeintlich <strong>nicht</strong> restituierbaren<br />

Buchbestände wurden an verschiedene Institutionen abgegeben.<br />

Der UB Wien wurde ein beträchtlicher Anteil dieser<br />

Bücher treuhändig übergeben. Damit übernahm die UB Wien<br />

Bücher aus den ehemaligen Beständen von Tanzenberg, dem<br />

Dorotheum, der Gestapo und der Nationalbibliothek 10 .<br />

Ende der 1960-er Jahre wurde dieser Bestand zwischen<br />

der UB Wien und der National and University Library Jerusalem<br />

im Verhältnis 60:40 geteilt und der verbliebene Rest<br />

zwischen 1960 und 1970 in den Bestand eingearbeitet. Bisher<br />

konnten allerdings nur ca. 7 500 Bände aufgefunden werden<br />

11 . Für den großen noch <strong>nicht</strong> aufgefundenen Teil weisen<br />

bisher nur einzelne Indizien auf Abgaben an Antiquariate<br />

bzw. an andere Fachbibliotheken hin.<br />

6 Ergebnisse aus den Fachbereichsbibliotheken<br />

Im Zuge dieser Forschungen entsteht ein Bild sehr inhomogener<br />

Geschichten. In manchen <strong>Bibliothek</strong>en, wie etwa in<br />

10 Vgl. dazu die im Rahmen des Universitätslehrgangs Library and Information<br />

Studies an der Universität Wien erstellte Projektarbeit von<br />

Doris Felder, Karin Lach und Angelika Zdiarsky: <strong>Die</strong> „Sammlung<br />

Tanzenberg“ – ein unaufgearbeiteter Buchbestand an der Universitätsbibliothek<br />

Wien. Website: (Stand: 11. 12. 2009).<br />

11 Vgl. Malina, Peter: „Werke, denen keine große Wichtigkeit beizumessen<br />

<strong>ist</strong>“? Zur Provenienzforschung und Restitutionsarbeit an der<br />

Hauptbibliothek der Universitätsbibliothek Wien. In: Alker, Stefan;<br />

Köstner, Chr<strong>ist</strong>ina und Markus Stumpf (Hrsg.): <strong>Bibliothek</strong>en in der<br />

NS-Zeit. Provenienzforschung und <strong>Bibliothek</strong>sgeschichte. Göttingen<br />

2008, S. 237-255.<br />

der der Astronomie, wurden in der NS-Zeit kaum Bücher<br />

erworben. Einige Institute und damit ihre <strong>Bibliothek</strong>en hingegen,<br />

wie etwa jene der Theaterwissenschaft (heute: Theater-,<br />

Film- und Medienwissenschaft) 12 wurden am Beginn<br />

der 1940-er Jahre gegründet und vom NS-Staat massiv unterstützt.<br />

In der Tat wurden innerhalb kürzester Zeit große<br />

<strong>Bibliothek</strong>en aufgebaut, denn den neu gegründeten Instituten<br />

stand verhältnismäßig viel Geld zur Verfügung. Viele Ankäufe<br />

wurden dabei über Antiquariate gemacht.<br />

7 Fallbeispiel Moriz Kuffner<br />

Moriz Kuffner (30. 1. 1854, Wien – 5. 3. 1939, Zürich) übernahm<br />

die Brauerei in Wien-Ottakring und widmete sich besonders<br />

der Alpin<strong>ist</strong>ik und Astronomie. So ließ er etwa die<br />

Kuffner-Sternwarte 1884-86 errichten 13 . Kuffner wurde 1938<br />

enteignet und flüchtete in die Schweiz, wo er am 5. 3. 1939<br />

starb. Seine Sternwarte in Ottakring wurde 1950 restituiert<br />

und 1951 an die Genossenschaft „Heim“ verkauft 14 .<br />

Abb. 1: Ex Libris Moriz von Kuffner<br />

12 Vgl. Köstner, Chr<strong>ist</strong>ina: Eine „bibliophile Seltenheit“ – Provenienzforschung<br />

an der FB Theater-, Film- und Medienwissenschaft. In: Peter,<br />

Birgit und Martina Payr (Hrsg.): „Wissenschaft nach der Mode“? <strong>Die</strong><br />

Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität<br />

Wien 1943. Münster 2008 (Austria: Universitätsgeschichte; 3),<br />

S. 135-149.<br />

13 Vgl. D‘Occhieppo-Hösch, Ferrari: Kuffner Moriz von. In: Österreichisches<br />

Biographisches Lexikon 1815-1950 (ÖBL) Bd. 4, Wien 1969,<br />

S. 330.<br />

14 Vgl. Habison, Peter: <strong>Die</strong> Sternwarte des Bierbrauers Moriz von Kuffner<br />

in Wien. In: Sterne und Weltraum 5(1998) S. 477-480; Lillie, Sophie:<br />

Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen<br />

Wiens. Wien 2003 (<strong>Bibliothek</strong> des Raubes; 8) S. 615-621. Fischer,<br />

Katja: Jüdische Kunstsammlungen in Wien vor 1938 am Beispiel<br />

der Familie Kuffner. Universität Wien, Diplomarbeit, 2008 (Stand: 17. 07.<br />

2009).<br />

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Kuffners wissenschaftliche <strong>Bibliothek</strong> im Umfang von 49<br />

K<strong>ist</strong>en wurde nach der Beschlagnahme durch die Gestapo<br />

am 8. Feb. 1939 in die Österreichische Nationalbibliothek<br />

(ÖNB) überführt. Am 23. Dez. 1947 brachten die Erben des<br />

am 5. März 1939 verstorbenen Moriz von Kuffner einen<br />

Rückstellungsantrag im Sinne des Ersten Rückstellungsgesetzes<br />

ein. Der Antrag wurde am 5. Juni 1948 von der<br />

Finanzlandesdirektion für Wien, Nordösterreich und Burgenland<br />

zu Gunsten der Rückstellungswerber entschieden<br />

und den Erben des Geschädigten, am 21. Juli 1948 4599<br />

Bände zurückgestellt. <strong>Die</strong> <strong>Bibliothek</strong> blieb während der<br />

Signatur Inv.Nr. Provenienz<br />

Inventar<br />

17. 01 DAV-I/Ex.a 3165 Geschenk<br />

Kuffner<br />

(König-Bibl.<br />

C VI 47)<br />

12. BAL-I/Ex.b 3166 Geschenk<br />

Kuffner<br />

NS-Zeit zu einem Großteil geschlossen in den Magazinen<br />

verwahrt, nur ein geringer Teil gelangte zur Einsignierung.<br />

Anlässlich der Rückstellung wurde in den Jahren 1947 bis<br />

1949 eine umfassende Autopsie der fraglichen Bestände<br />

durchgeführt, dabei konnten etwa 400 bereits einsignierte<br />

Druckschriften aus dem Besitz Moriz Kuffners festgestellt<br />

werden, die ebenfalls restituiert wurden. Im Zuge der seit<br />

1998 in der ÖNB durchgeführten Generalautopsie konnten<br />

weitere in der Nachkriegszeit <strong>nicht</strong> erfasste Bände ermittelt<br />

werden, die dem Beirat für Provenienzforschung bekanntgegeben<br />

wurden 15 .<br />

15 Vgl. Abschlussbericht der Österreichischen Nationalbibliothek an<br />

die Kommission für Provenienzforschung bearbeitet im Auftrag der<br />

Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek von Margot<br />

Autor/Titel Anz. Provenienz Buch<br />

Ch. R. Davidson, Astrophotographie,<br />

Wien: Springer,<br />

1931 (Sonderdruck aus:<br />

Handbuch der wissenschaftlichen<br />

und angewandten<br />

Photographie; 6,1)<br />

Leo de Ball, Refraktionstafeln,<br />

Leipzig: Engelmann,<br />

1906<br />

SK VII 42 1282 Carl Frhr. von Hock, <strong>Die</strong><br />

öffentlichen Abgaben und<br />

Schulden, Stuttgart: Cotta,<br />

1863<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Bibliothek</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>mehr</strong> <strong>vollständig</strong>“<br />

97<br />

<strong>Die</strong> Rückgabe der in der ÖNB gefundenen Werke<br />

wurde in den Sitzungen vom 10. Oktober 2000 und vom<br />

22. Juni 2004 vom Beirat gemäß dem Kunstrückgabegesetz<br />

empfohlen und die Rückgabe von der zuständigen<br />

Bundesmin<strong>ist</strong>erin für Bildung, Wissenschaft und Kultur<br />

verfügt 16 .<br />

Im Zuge der Autopsie in der UB Wien wurden nun zwei<br />

Druckschriftenbände aus der Fachbereichsbibliothek Astronomie<br />

und ein Werk aus der Fachbereichsbibliothek Geschichtswissenschaften<br />

aufgefunden, die der Provenienz<br />

Moriz Kuffners zugeordnet werden konnten.<br />

1 Handschriftliche Widmung: „Herrn<br />

M. Kuffner vom ergebenen Übersetzer“;<br />

Handschriftlich: K. B. 3165 Geschenk<br />

Kuffner C VI 47 (durchgestrichen);<br />

Stempel Universitätssternwarte<br />

Wien; handschriftlich 3049, Ap IV<br />

34a (= alte Signatur);<br />

Handschriftlich 17. 01 DAV-I/Ex.a<br />

(= neue Signatur)<br />

1 Handschriftliche Widmung: „Herrn<br />

M. Edler v. Kuffner in aufrichtiger<br />

Dankbarkeit der Verfasser“; handschriftlich:<br />

„Von Kuffner der Sternwarte<br />

überlassen. 1938, Mai“; Stempel:<br />

Universitätssternwarte Wien,<br />

handschriftlich 3166, Ta II 41 (= alte<br />

Signatur);<br />

Handschriftlich 12. BAL-I/Ex.b<br />

(= neue Signatur)<br />

1 Ex Libris Moriz von Kuffner; Signaturenetikett.<br />

R – 2 – II 1369, handschriftlich<br />

1282; Stempel „Seminar<br />

für Wirtschafts- und Kulturgeschichte<br />

Universität Wien“; Prägung am Buchrücken<br />

„M. Kuffner“<br />

<strong>Die</strong> beiden an der FB Astronomie aufgefundenen Werke<br />

weisen handschriftliche Widmungen an Moriz Kuffner auf:<br />

„Herrn M. Kuffner vom ergebenen Übersetzer“ und „Herrn<br />

M. Edler v. Kuffner in aufrichtiger Dankbarkeit der Verfasser“.<br />

Im Inventarbuch sind beide Bücher als „Geschenk<br />

Kuffner“ verzeichnet. <strong>Die</strong>s <strong>ist</strong> auch in beiden Werken handschriftlich<br />

vermerkt, wobei ein Eintrag eine zeitliche Zuord-<br />

Werner. Wien 2003 (Unveröffentlicht).<br />

16 Vgl. 2. Bericht der Bundesmin<strong>ist</strong>erin für Bildung, Wissenschaft und<br />

Kultur an den Nationalrat über die Rückgabe von Kunstgegenständen<br />

aus den Österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen (Restitutionsbericht<br />

1999/2000 Stand: 17. 07. 2009) sowie 6. Bericht der Bundesmin<strong>ist</strong>erin<br />

für Bildung, Wissenschaft und Kultur an den Nationalrat über die Rückgabe<br />

von Kunstgegenständen aus den Österreichischen Bundesmuseen<br />

und Sammlungen (Restitutionsbericht 2003/2004 <br />

Stand 17. 07. 2009).<br />

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98<br />

Markus Stumpf<br />

nung ermöglicht: „Von Kuffner der Sternwarte überlassen.<br />

1938, Mai“.<br />

Abb. 2: Widmung an Kuffner von Leo de Ball und von<br />

anderer Hand eingefügter Eintrag zur Überlassung an die<br />

Sternwarte.<br />

Da Kuffner jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt starkem<br />

Druck der Gestapo und der Verfolgung durch die Nationalsozial<strong>ist</strong>en<br />

ausgesetzt war – so wurde etwa die Ottakringer<br />

Brauerei bereits am 8. April 1938 arisiert 17 – kann ein freiwilliges<br />

Verschenken der Bücher an die Universitätssternwarte<br />

als äußerst unwahrscheinlich betrachtet werden. Einen<br />

möglichen Hinweis auf die Herkunft liefert ein Bericht<br />

zur Übernahme und Überführung der Bücher Kuffners in<br />

die Nationalbibliothek am 8. Februar 1939, der vom reichsdeutschen<br />

<strong>Bibliothek</strong>ar Hans-Chr<strong>ist</strong>oph Messow verfasst<br />

wurde. Darin ärgert er sich über die Zugriffe „Unbefugter“<br />

folgendermaßen 18 :<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Bibliothek</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>mehr</strong> <strong>vollständig</strong>. Ein Teil <strong>ist</strong> mit<br />

Genehmigung der Geh. Staatspolizei Kuffner in die Schweiz<br />

nachgeschick [Sic] weiterhin dann mancherlei Einzelnes<br />

von der Hausverwalterin ohne Wissen der Geh. Staatspolizei<br />

und vor der Versiegelung als Geschenk überlassen worden<br />

an Freunde und Bekannte, auch Angestellte der (ehem.<br />

Kuffner’schen) Ottakringer Brauerei; über das durch Letztgenannte<br />

Entnommene liegt ein (<strong>vollständig</strong>es?) Verzeichnis<br />

vor. Daß weitere Zugriffe Unbefugter vermieden wurden, <strong>ist</strong><br />

vor allem der Initiative des Pg. Schleiß zu danken, der <strong>nicht</strong><br />

im eigenen, sondern im Interesse der Sache sich um die<br />

<strong>Bibliothek</strong> bekümmerte, bevor einige Zuständigkeitsfragen<br />

erst noch behandelt waren. Eine Feststellung des Fehlenden<br />

würde sich an Hand des Kataloges (zwei bes. gekennzeichn.<br />

K<strong>ist</strong>en) treffen lassen.“<br />

Da der angeführte Katalog <strong>nicht</strong> <strong>mehr</strong> vorhanden <strong>ist</strong>,<br />

kann diese Vermutung <strong>nicht</strong> <strong>mehr</strong> näher überprüft werden.<br />

Das in der FB Geschichtswissenschaften lokalisierte<br />

Werk <strong>ist</strong> aufgrund des Exlibris und der Prägung am Buchrücken<br />

eindeutig Moriz Kuffner zuzuordnen. Da kein entsprechendes<br />

Inventarbuch der <strong>Bibliothek</strong> des Seminars für<br />

Wirtschafts- und Sozialgeschichte (gegründet 1922, ab 1958<br />

Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 1992 mit dem<br />

17 Lillie (Anm. 14) S. 616.<br />

18 ÖNB Archiv, Zl. 3251/1939 (Anm. 1).<br />

Institut für Geschichte zusammengelegt) vorhanden <strong>ist</strong>, kann<br />

für dieses Werk keine rechtmäßige Erwerbung nachgewiesen<br />

werden.<br />

Abb. 3: Detailansicht der Prägung am Buchrücken „M.<br />

Kuffner“ des Werkes von Carl Frhr. von Hock aus der FB<br />

Geschichtswissenschaften.<br />

In Analogie zu dem Fall an der ÖNB wurde von der UB<br />

Wien ebenfalls auf eine Rückgabe an die Erben nach Moriz<br />

Kuffner entschieden die im Dezember 2009 – <strong>mehr</strong> als 70<br />

Jahre nach der Vertreibung durch die Nationalsozial<strong>ist</strong>en –<br />

durchgeführt werden konnte.<br />

8 Zusammenfassung<br />

<strong>Die</strong> von den Provenienzforschungsprojekten an der UB Wien<br />

durchgeführten Autopsien der Bücher führten zu einer umfangreichen<br />

L<strong>ist</strong>e von potentiell verdächtigen Bänden. <strong>Die</strong><br />

gewonnenen Daten sind <strong>vollständig</strong> auszuwerten, Dossiers<br />

zu erstellen, die Erbensuche und die Vorbereitung von Restitutionen<br />

voranzutreiben. In einigen wenigen Fällen konnte<br />

bereits entschieden und auch schon die Bücher zurückgegeben<br />

werden (z. B. Arbeiterkammerbibliothek Wien 19 , Georg<br />

Petschek 20 ). In anderen Fällen werden weitere Recherchen<br />

folgen. Festzuhalten <strong>ist</strong> hierbei, dass es auch galt, ein Proze-<br />

19 Vgl. Stumpf, Markus: „Aus einer liquidierten jüdischen Buchhandlung“.<br />

Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek Wien –<br />

Kontinuitäten und Brüche. In: Renner, Gerhard; Schmidt-Dengler,<br />

Wendelin und Chr<strong>ist</strong>ian Gastgeber (Hrsg.): Buch- und Provenienzforschung.<br />

Festschrift für Murray G. Hall zum 60. Geburtstag. Wien<br />

2009, S. 171-186.<br />

20 Vgl. Stumpf, Markus: „Der Jude <strong>ist</strong> bereits in Amerika.“ Provenienzforschung<br />

und Restitution im Fall Georg Petschek. In: Mitteilungen<br />

der VÖB 62 (2009) Nr. 4 (In Druck).<br />

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dere für die internen Abläufe und für die Erbensuche und die<br />

Rückgabe selbst zu entwickeln. Ein Ergebnis <strong>ist</strong> jedenfalls<br />

schon jetzt ein neuer Blick auf die Institutionen- und Wissenschaftsgeschichte<br />

von der NS-Zeit bis heute, wie sich auch<br />

bei der von der UB Wien gemeinsam mit der Wien bibliothek<br />

im Rathaus im März 2008 veranstalteten Tagung 21 zeigte.<br />

21 Vgl. dazu den Tagungsband von: Alker, Stefan; Köstner, Chr<strong>ist</strong>ina<br />

und Markus Stumpf (Hrsg.): <strong>Bibliothek</strong>en in der NS-Zeit. Proveni-<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Bibliothek</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>mehr</strong> <strong>vollständig</strong>“<br />

99<br />

<strong>Die</strong> Endberichte der Projekte an der UB Wien liegen noch<br />

<strong>nicht</strong> vor, aber eine Vielzahl an Publikationen, in denen auch<br />

verschiedene Fallbeispiele dargestellt wurden 22 .<br />

enzforschung und <strong>Bibliothek</strong>sgeschichte. Göttingen 2008.<br />

22 Siehe dazu die Homepage des Projektes unter: .<br />

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