LP AvB Tincheva Nele 02 - Andrea von Braun Stiftung
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<strong>Andrea</strong> <strong>von</strong> <strong>Braun</strong> <strong>Stiftung</strong><br />
<strong>von</strong>einander wissen<br />
Gehen und Sehen erhalten eine zusätzliche Verbindungslinie durch die Analogie zwischen<br />
Gehen und Lesen. „Nun bedeutet Lesen aber tatsächlich, in einem vorgegebenen System<br />
umherzuwandern (im System des Textes, analog zur gebauten Ordnung einer Stadt oder eines<br />
Supermarktes).“ (300) Unsere Gehbewegung, Schritt für Schritt, verläuft nicht kontinuierlich,<br />
sondern zäsuriert, in einem Wechsel aus Verdichtung und Unterbrechung. Gerade so<br />
bewegen sich unsere Augen beim Lesen durch den Text, was die Leseforschung inzwischen<br />
erwiesen hat: in einer unregelmäßigen Abfolge aus sog. Sakkaden und Fixationen, Auslassungen<br />
und Verdichtungen. Dem lesenden Blick muss damit dieselbe Beweglichkeit eingeräumt<br />
werden wie dem Körper als Ganzem, nicht vollkommen abhängig <strong>von</strong> dessen Position; wenn<br />
„lesen bedeutet, woanders zu sein, dort wo wir nicht sind, in einer anderen Welt“ (306), dann<br />
erhält der lesende Blick eine halb physische, halb virtuelle Existenzform: Der Blick wandert<br />
mit dem Körper, verändert also seine leibliche Position, und wandert zugleich eigenständig<br />
durch den Text. Relativ zum Text tut er das in aller Regel <strong>von</strong> derselben leiblichen Position<br />
aus: wir halten das Buch vor unsere Augen, ob wir nun im Zug sitzen oder auf einem Stuhl.<br />
Das Durch-den-Text-Wandern kann jedoch – besonders auffällig beim Lesen eines packenden<br />
Romans, wobei wir die Perspektive einer oder mehrerer Figuren einnehmen – dazu führen,<br />
dass wir unsere materielle Leiblichkeit ausblenden zu Gunsten einer oder mehrerer „virtueller<br />
Existenzen“ im Text. 9<br />
De Certeau bezieht sich auf das Lesen einer Erzählung. Wir wollen diesen Bezug erweitern:<br />
Auch beim Lesen eines wissenschaftlichen Textes nehmen wir verschiedene Perspektiven ein,<br />
wenn wir einer Argumentation aufmerksam folgen. Auf einer virtuellen Ebene – „im Kopf “<br />
gleichsam – betrachten wir dann den behandelten Gegenstand aus unterschiedlichen Richtungen,<br />
wobei wir als kritische Leser gerade nicht in einer Perspektive aufgehen. Und: Auch<br />
dem naturwissenschaftlich beobachtenden Blick ist eine solche Dynamik zuzuschreiben. Der<br />
Blick des Astronomen etwa beschreitet den Weltraum, „so weit das Auge reicht“ – auch er<br />
geht dorthin, wo wir (noch?) nicht sind. In diesem Sinne sind Naturwissenschaftler ebenso<br />
wie Leser „Reisende; sie bewegen sich auf dem Gelände des Anderen, wildern wie Nomanden<br />
[sic!] in Gebieten, die sie nicht beschrieben haben“ (307).<br />
9 Dies mag an „Avatare“ in Computerspielen erinnern. Allerdings ist es bei typischen Rollenspielen<br />
wie World of Warcraft in aller Regel so, dass man eine und nur eine virtuelle Existenz besitzt;<br />
innerhalb des Spiels kann die Perspektive nicht gewechselt werden. Dieser „Blickrahmen“ gibt eine<br />
stabile Identität vor, was zu der Sogwirkung dieser Spiele gerade auf Heranwachsende beiträgt.<br />
Beim Lesen wird uns mehr abgefordert, denn es bleibt ein Abstand zwischen dem Text und unseren<br />
Perspektiven, die durchaus auch auf virtueller Ebene wechseln können: Lesen kann destabilisieren,<br />
verunsichern. Wenn wir es zulassen.<br />
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