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LP AvB Tincheva Nele 02 - Andrea von Braun Stiftung

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<strong>Andrea</strong> <strong>von</strong> <strong>Braun</strong> <strong>Stiftung</strong><br />

<strong>von</strong>einander wissen<br />

soll uns zugleich thematischer und methodischer Index sein, wenn wir nun versuchen, zwei<br />

Verortungsversuche einander entgegenzulesen: Friedrich Wilhelm Bessels Messung der<br />

Fixsternparallaxe in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts und Paul Celans Meridian-Rede<br />

<strong>von</strong> 1960, die eine Poetik der Begegnung entwirft.<br />

Die Ausgangspositionen könnten extremer nicht sein: Bessel arbeitet auf einer triumphalen<br />

Höhe der modernen Physik – er überschreitet die Schwelle zur Vermessung des Weltraums<br />

– Celan steht auf dem verlorenen Posten des deutschsprachig-jüdischen Dichters nach dem<br />

Holocaust. Und doch lassen sich gemeinsame Zielsetzungen, ja Hoffnungen nachweisen: eine<br />

verlässliche Wirklichkeit allererst zu finden. Es ist hier nicht der Ort, die Komplexität <strong>von</strong><br />

Bessels Messung und Celans Text in allen Facetten darzustellen; uns geht es darum zu prüfen,<br />

inwieweit Bessels heliometergestützter, „doppelter“ Blick in den Weltraum und Celans<br />

Konzept der Begegnung mit dem Anderen Wege eröffnen für die wechselseitige In-Blick-<br />

Nahme, das Gespräch zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.<br />

In-Blick-Nahme geschieht im Rahmen einer Szenerie: Wir schauen <strong>von</strong> einem Standpunkt<br />

aus auf etwas; dazwischen erstreckt sich eine räumliche Distanz. Unser Blick steht dabei nicht<br />

still: Seine Perspektive ändert sich, er „wandert“ durch das Blickfeld, er liest. Um darüber präziser<br />

sprechen zu können, skizziert nun ein erster Abschnitt, was nach Michel de Certeau<br />

unter Räumen und Orten zu verstehen ist – und wie sie gehend und sehend erfahren werden.<br />

1. Gehen und Sehen – im Raum, am Ort<br />

Für Michel de Certeau 8 bezeichnen Gehen und Sehen zwei Erfahrungspole im Umgang des<br />

Menschen mit/im Raum, die sich zu zwei Beschreibungsmodi des Raumes in Beziehung setzen<br />

lassen: der Karte (carte), die dem „Blick <strong>von</strong> oben“ zweidimensional fixierte Orte darbietet,<br />

und der Wegbeschreibung (parcours), die den Akzent auf das Wie des Gehens setzt. Auch<br />

Karte und Wegbeschreibung sind als Pole einer verbindenden Linie, nicht als distinkte<br />

Gegensätze zu verstehen: „Es hat den Anschein, daß man sich beim Übergang <strong>von</strong> der ‚alltäglichen‘<br />

Kultur zum wissenschaftlichen Diskurs vom einen [Wegbeschreibung, Gehen] zum<br />

anderen [Sehen, Karte] bewegt.“ (222) Damit birgt der Weg ein zweifaches Potential:<br />

„Route“– eine festgelegte, wiederholt begehbare Wegstrecke zwischen zwei Orten – und<br />

„parcours“, die einzigartige Erfahrung eines Weges.<br />

8 Die folgenden Ausführungen basieren auf Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Berlin<br />

1988. Vgl. insbesondere Kap. IX: Berichte <strong>von</strong> Räumen, S. 215–238, sowie Kap. XII: Lesen<br />

heißt wildern, S. 293–311. Nachfolgend die Seitenzahl eingeklammert im Fließtext.<br />

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