LP AvB Tincheva Nele 02 - Andrea von Braun Stiftung

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Andrea von Braun Stiftung voneinander wissen Damit hat Bessel die Voraussetzungen geschaffen für eine naturwissenschaftliche Untersuchung mit Netz und doppeltem Boden: 14 Monate lang führt er in 99 Beobachtungsnächten knapp 3000 Einzelmessungen durch; er stellt 183 Bedingungsgleichungen für die Anschlusssterne auf und löst sie für jeden Stern einzeln. Im Mittel ergibt sich für die Parallaxe ein Wert von 0,3136 Bogensekunden bei einem anzunehmenden Fehler von bis zu 0,0202 Bogensekunden. Als Entfernung zwischen Erde und 61 Cygni ergeben sich somit etwa 10,3 Lichtjahre. Unmittelbar nach der Veröffentlichung dieses Ergebnisses unterzieht Bessel sein Instrument einer Generalüberholung und setzt seine Beobachtungen bis in den Frühling 1840 hinein fort. 37 „Ich habe jetzt das Vergnügen, die Parallaxe von 61 Cygni in einer zweiten Beobachtungsreihe sich wiederum entwickeln zu sehen“, teilt er Gauß Ende Juni 1839 mit, „wahrscheinlich wird das neue Resultat dem alten ziemlich nahe kommen.“ 38 Bessels Optimismus ist berechtigt: Es ergibt sich eine Parallaxe von 0,3483’’, möglicher Fehler bis zu 0,0095’’. 39 „Es ist also nicht mehr zu bezweifeln, dass die Beobachtungen endlich über die Grenze hinausgeführt haben, welche sie überschreiten mussten, damit die Entfernung eines Fixsterns von dem Unermesslichen in das Messbare übergehen konnte.“ 40 Damit finden Bessels Messungen offizielle Anerkennung – auch in Form einer Goldmedaille der Londoner Royal Astronomical Society. Deren Präsident John Herschel in der Laudatio: I congratulate you and myself that we have lived to see the great and hitherto impassable barrier to our excursions into the sidereal universe; that barrier (aestuantes angusto limite mundi) – almost simultaneously overleaped at three different points[ 41 ]. It is the greatest and most glorious triumph which practical astronomy has ever witnessed. 42 37 Bessels Berichte sind ebenfalls im Bd. II seiner Abhandlungen abgedruckt: S. 217–236. Höchst anschaulich und informativ auch sein allgemein verständlicher Artikel „Messung der Entfernung des 61. Sterns im Sternbilde des Schwans“, a.a.O. Der Briefwechsel zwischen W. Olbers und F.W. Bessel, hrsg. v. Adolph Erman, Leipzig 1852, Bd.II, gibt Aufschluss darüber, dass Bessel seine geglückte Parallaxenmessung dem Freund zu dessen 80. Geburtstag zueignet (v.a. S. 429–433). 38 Bessel an Gauß, 28.06.1839; zit. nach, Gauss, Carl Friedrich, Werke. Ergänzungsreihe, Bd. I: Briefwechsel C.F. Gauss – F.W. Bessel. Hildesheim/New York 1975 [Nachdruck d. Ausg. Leipzig 1880], S. 529. 39 Tatsächlich weichen Bessels Ergebnisse nur sechs Prozent vom derzeit gültigen Wert ab. 40 Bessel, Messung…, a.a.O., S. 49. 41 Hiermit sind außer Bessel die Astronomen Friedrich G.W. Struve und Thomas Henderson gemeint, deren Parallaxenmessungen etwa zeitgleich veröffentlicht wurden. Bessel wurde wegen der Gründlichkeit herausgehoben, mit denen er seine Ergebnisse nach allen Seiten abgesichert und überprüft hatte. Die Ehrung gebührte ihm übrigens nach Ansicht aller Kollegen zu Recht. 42 Zit. nach: Lawrynowicz, Kasimir „Friedrich Wilhelm Bessel“ 1784–1846. Basel 1995, S. 211. 20
Andrea von Braun Stiftung voneinander wissen Der „Schritt hinaus“ in einen messbaren Weltraum ist getan – im Rahmen der Messgenauigkeit: indem die Natur aller Beobachtungen mit sich bringt, dass sie nur Näherungen an die Wahrheit sind, ist auch ihr Resultat nur eine Näherung an die Wahrheit, und das Urtheil über seinen Werth kann nur durch eine Untersuchung der Grenzen erlangt werden, über welche hinaus es sich wahrscheinlich nicht von der Wahrheit entfernt. Je genauer und zahlreicher die Beobachtungen, durch welche das Resultat gegeben wird, sind, desto weniger entfernen sich die Grenzen seiner wahrscheinlichen Unrichtigkeit von der Wahrheit. 43 Die empirisch gestützten Naturwissenschaften lassen die „unscharfen Ränder“ eines solchen Ergebnisses durchaus zu – und tragen damit einem Unsichtbaren hinter dem Sichtbaren Rechnung: Auch für einen Wissenschaftler wie Bessel wäre wünschenswerte Wirklichkeit ein Zusammentreffen – des eigenen Blicks mit der Wahrheit nämlich, die bis auf weiteres Grenzwert jenseits des Beobachtbaren und Messbaren bleibt. 44 Dies ist die Utopie der Naturwissenschaften: kein Nirgend-, sondern ein Irgendwo, das noch unsichtbar und damit ortlos ist, aber nicht bleiben muss. Denn: „Indessen ist der Verstand nicht an die Grenzen des Anschaulichen gebunden“ 45 . 4. Das Licht der Utopie – Der Schatten der Parallaxe Mit diesem Befund ergibt sich eine überraschende Verschränkung der Natur- mit den Geisteswissenschaften. Aus einer vermeintlichen Tradition heraus würden wir die Priorisierung des Gegebenen, Sichtbaren den „harten“ Naturwissenschaften zuordnen; den ‚weichen’ Geisteswissenschaften hingegen unterstellen wir den Blick der Interpretation, der sich hinter dem Sichtbaren in einem vagen, virtuellen, imaginären Raum ergeht (und oftmals verliert). In den von uns soeben untersuchten Fällen liegen die Dinge umgekehrt: Es ist Bessel, der der Beobachtung Näherungscharakter bescheinigt; es ist der naturwissenschaftliche Blick durch das Fernrohr, den „unstillbares Begehren“ nach einer Wirklichkeit „dahinter“ treibt. Für den Dichter Celan hingegen ist ein solches Dahinter keine Option mehr 46 . Er pocht auf das Primat des sichtbaren Phänomens – und vollzieht damit eine Umkehr: zurück zum „Sichtbar- 43 Bessel, Messung…, a.a.O., S. 47. 44 Zwei weitere Einsichten stellen sich Bessels Erfolg an die Seite; deren erste hat er selbst mit hervorgebracht. Erstens ist der Blick hinaus ins All aufgrund der endlichen Lichtgeschwindigkeit ein Blick in die Vergangenheit. Zweitens stellt sich im 20. Jahrhundert heraus, dass das Universum gegenwärtig expandiert; dies geht einher mit der Anerkennung des Raum-Zeit-Kontinuums. 45 Bessel, Messung…, a.a.O., S. 50. 46 – kann es, historisch gesehen, auch kaum mehr sein. 21
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