Vortrag Frau PD Dr Sinzig
Vortrag Frau PD Dr Sinzig
Vortrag Frau PD Dr Sinzig
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Pubertät und psychische<br />
Gesundheit?<br />
Chancen, Risiken<br />
und Implikationen einer<br />
Entwicklungskrise<br />
Priv.-Doz. <strong>Dr</strong>. med. Judith <strong>Sinzig</strong><br />
Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und<br />
Psychotherapie, LVR-Klinik Bonn
Immer früher reif<br />
(Bild der Wissenschaft, Norbert Kluge)<br />
„Trend zur immer früheren Geschlechtsreife<br />
ist in Deutschland ungebrochen.“<br />
Ursachen:<br />
verbesserten Ernährungslage, besserer<br />
Gesundheitszustand der Bevölkerung.<br />
Menarche:<br />
• 1860: 16,6 Jahren, 2010: 10,5 Jahre
Definition Pubertät<br />
• lat. pubertas, „Geschlechtsreife“<br />
• seit dem 16. Jahrhundert : Teil der<br />
Adoleszenz<br />
• Beginn:<br />
− Mädchen: 10. und 18. Lebensjahr<br />
− Jungen: 12. und 20.Lebensjahr
Definition Pubertät<br />
• deutlich erhöhten Konzentration der<br />
Geschlechtshormone :<br />
Körperbehaarung, Menstruation,<br />
Produktion von befruchtungsfähigen<br />
Eizellen und Spermien<br />
• Beginn genetisch (Pubertätsgene KiSS1<br />
und KiSS1R
Entwicklungspsychopathologisc<br />
he Aufgaben in der Pubertät<br />
Seelische Auseinandersetzung mit<br />
körperlichen und psychosozialen<br />
Veränderungen an Schwelle zum<br />
Erwachsenwerden
Entwicklungslinien (Resch & Koch, 1995)<br />
Körperliche Ebene<br />
• Entwicklung der<br />
sekundären<br />
Geschlechtsmerkmale<br />
Wachstumsschub<br />
• Akzeleration<br />
• Neues Körperschema
Entwicklungslinien (Resch & Koch, 1995)<br />
Kognitive Ebene<br />
• Hypothesen bilden, Lösungswege in<br />
Einzelschritten → Vdg. Von Bewertungs<br />
und Orientierungssysteme<br />
• Introspektion und Selbstreflexion<br />
• Wertehaltung
Entwicklungslinien (Resch & Koch, 1995)<br />
Soziale Ebene<br />
• Rollenübernahme<br />
• Verantwortlichkeit
Neurobiologie der Pubertät I<br />
• Reifung des jugendlichen Gehirns von<br />
„hinten nach vorne“<br />
• Wachsstumsschub des Gehirns, v.a.<br />
präfrontaler Kortex (Giedd et al., 2009)<br />
• Myelin/ weiße Substanz ↑; Nervensignale<br />
30mal schneller → Unflexibilität, kognitiver<br />
Leistungsabbau
Neurobiologie der Pubertät II<br />
• ab dem elften Lebensjahr ein Umbau von<br />
Nervenverbindungen im Gehirn (McGivern<br />
et al.), Veränderungen der Hirnaktivität<br />
(EEG) und Umbau der kortikalen<br />
Netzwerke (Uhlhass et al., 2009), Verlust von<br />
Synapsen<br />
→ wechselnde Launen und Gemütslagen,<br />
Verlust empathischer Fähigkeiten,<br />
Fehlurteile, Risikobereitschaft stärkere<br />
Reaktion auf Belohnungen
Neurobiologie der Pubertät III<br />
• Überaktivität des mesolimbischen<br />
Dopaminsystems → Suchtverhalten<br />
• Amygdala: rationale Überlegungen →<br />
emotionale Gefühlsausbrüche.<br />
• Melatonin später ausgeschüttet → spätes<br />
Aufbleiben
Neurobiologie der Pubertät IV<br />
Erst mit etwa 18 Jahren wieder<br />
Erst mit etwa 18 Jahren wieder<br />
ursprüngliches Niveau.
Besonderheiten von<br />
Entwicklungskrisen<br />
• In Entwicklung bestimmte Stadien<br />
(Entwicklungsaufgaben),<br />
z.B. Wechsel in den Kindergarten, der<br />
Schuleintritt, Trennung oder Scheidung<br />
der Eltern, PUBERTÄT, Tod, etc.)<br />
• Wendepunkt
Besonderheiten von<br />
Entwicklungskrisen<br />
• Nicht positive Bewältigung →<br />
Entwicklungsverzögerungen/<br />
Entwicklungskonflikt e
Spezifische Labilisierungen<br />
durch Pubertätsprozesse<br />
Tiefenpsychologie:<br />
„pubertäre Veränderung als Störreiz, der<br />
krisenhaft bewältigt werden muss…“<br />
Versus
Spezifische Labilisierungen<br />
durch Pubertätsprozesse<br />
Entwicklungsaufgaben und –themen<br />
orientierte Konzepte:<br />
„Produktive Bewältigung der Adoleszenz<br />
auch ohne krisenhafte Zuspitzung<br />
möglich…“<br />
(aus Resch: Entwicklungspsychopathologie des<br />
Kindes- und Jugendalters“)
Entwicklungsaufgaben und<br />
Krisen des Adoleszentenalters<br />
Entwicklungsausgaben Krisen<br />
Identität Identitätskrisen, Depersonalisation<br />
Identifikation Rollenkonfusion<br />
Selbstwert Narzisstische Krisen<br />
Individualität Ablösungskrisen<br />
Intimität Beziehungskrisen<br />
Selbstbehauptung Rivalitätskrisen, Autoritätskrisen
Mögliche Klassifikation unter Verlaufsaspekt<br />
(Remschmidt&Schmidt)<br />
Störungsgruppe Beispiel<br />
Verhaltensvarianten und<br />
Belastungsreaktionen<br />
Früh beginnende Störungen mit<br />
überdauernder Beeinträchtigung<br />
Anpassungsstörung, akute<br />
Belastungsreaktion<br />
Autismus, Intelligenzminderung<br />
Entwicklungsabhängige Störungen Enuresis, altersspezifische<br />
Phobien<br />
Altersspezifische beginnende<br />
Störungen<br />
Entwicklungsabhängige<br />
Interaktionsstörungen<br />
Früh beginnende erwachsenentypische<br />
Störungen<br />
Stottern, Tic-Störungen,<br />
Essstörungen, ADHS<br />
Fütterstörungen,<br />
Trennungsangststörungen<br />
Schizophrenie, affektive<br />
Störungen
Diagnosen durch<br />
Adoleszentenkrisen<br />
• Anpassungsstörungen mit depressiver<br />
Reaktion, mit Stg. d. Sozialverhaltens<br />
• Depressive Episoden<br />
• Dysthymie<br />
• Angsstörungen<br />
• Essstörungen<br />
• Zwangsstörungen
Diagnosen durch<br />
Adoleszentenkrisen<br />
• Somatoforme Störungen<br />
• Dissoziative Störungen<br />
• Suchtstörungen<br />
• Selbstverletzendes Verhalten
Verlauf spezifischer Störungen<br />
(Gesundung nach ca. 5 Jahren)<br />
Mit Behandlung Ohne Behandlung<br />
Suchterkrankung 50 % 10 %<br />
Angststörungen<br />
- Phobien<br />
90 %<br />
50-80 %<br />
- GAS ?<br />
30-70 % 20 %<br />
- Panikstörung/<br />
Agoraphobie<br />
?<br />
50 %<br />
- Trennungsangst 50-100 % 10-80 %<br />
-Sonstige Ängste 70 %<br />
30 %<br />
Anorexie 30-70 % 0-20 %
Verlauf spezifischer Störungen<br />
(Gesundung nach ca. 5 Jahren)<br />
Mit Behandlung Ohne Behandlung<br />
Autismus 0-30 % 0-10%<br />
Depression 50-100 % 0-80 %<br />
Enkopresis 50-80 % 0-80 %<br />
Enuresis 60 – 100 % 70-80 %<br />
Mutismus 50 % 30 %<br />
Stg. d.<br />
Sozialverhaltens<br />
30-70 % 10-50 %<br />
Stottern ? 75-80 %<br />
Tic-Störung 30-70 % 5-70 %<br />
Zwangsstörung 50-80 % 10-40 %
Unabhängige Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrische<br />
Störungsbilder in Jugend und<br />
• Schizophrenie<br />
Adoleszenz<br />
• Persönlichkeitsstörungen<br />
• Affektive Störungen
Frühe Störungen und Einfluss<br />
• ADHS<br />
• Autismus<br />
von Pubertät<br />
• Stg. des Sozialverhaltens<br />
• PTSD
Prävalenz psychischer Störungen im<br />
Kindes- und Jugendalter<br />
15 %
Alters- und<br />
geschlechtsspezifische<br />
Einflüsse<br />
• Mit dem Alter ansteigende Häufigkeit<br />
psychischer Störungen<br />
• Geschlechtsunterschiede prägen sich mit<br />
steigendem Alter zunehmend aus<br />
• Vor der Pubertät insgesamt größere<br />
Häufigkeit von Auffälligkeiten bei Jungen<br />
(v.a. externalisierende Störungen)
Alters- und<br />
geschlechtsspezifische<br />
Einflüsse<br />
• Mit und nach der Pubertät mehr Störungen<br />
(v.a. Angst und Depression) bei Mädchen<br />
• Geschlechtsunterschiede scheinen sich<br />
etwas zu verringern (mehr<br />
• Delinquenz bei Mädchen, mehr<br />
Depressionen bei Jungen)
Diagnosen-, Alters- und<br />
Geschlechtsspezifische Prävalenzraten<br />
psychischer Störungen im Kindes- und<br />
Jugendalter (Esser et al., 1996)<br />
Alter (m/w) 8 Jahre<br />
(n=216)<br />
13 Jahre<br />
(n=191)<br />
18 Jahre<br />
(n=181)<br />
Emotionale<br />
Störungen<br />
6.0 (7/5) 5.8 (8/3) 7.2 (5/10)<br />
Dissoziale<br />
Störungen<br />
Hyperkinetische<br />
Störungen<br />
1.8 (4/0) 8.4 (9/7) 6.6 (9/4)<br />
4.2 (8/0) 1.6 (3/0) 1.1 (1/1)<br />
Andere 4.2 (3/6) 2.1 (1/3) 1.1 (0/2)
Krankheitsverlauf beeinflusst wovon:<br />
- Genetische Faktoren<br />
- Risikofaktoren<br />
- Protektive Faktoren<br />
- Eigengesetzlichkeit der Erkrankung<br />
- Entwicklungsfaktoren<br />
- Alter und Geschlecht<br />
- Therapeutische Einwirkungen<br />
- Zufällige Einwirkungen
Risikofaktoren (Schmidt)<br />
• Biologisch (genetisch, ökologisch)<br />
• Psychologisch<br />
(Persönlichkeitseigenschaften)<br />
• Pychosozial (Migration, psych. Stg. eines<br />
Elternteils)
Bedeutsame Symptome des Kindesalters (8 Jahre)<br />
zur Vorhersage psychischer Störungen des jungen<br />
Erwachsenenalters 25 Jahre (n = 321) (Esser et al.,<br />
1996)<br />
Odds ratio P<br />
Disziplinstörungen in der<br />
Schule<br />
4.4
Schutzfaktoren (Laucht et al., 2000)<br />
• Weibliches Geschlecht<br />
• Erstgeborenes Kind<br />
• Positives Temperament<br />
• Positives Selbstwertgefühl<br />
• Überdurchschnittliche Intelligenz<br />
• Positives Sozialverhalten<br />
• Aktives Bewältigungsverhalten
Schutzfaktoren (Laucht et al., 2000)<br />
• Offene und emotional stabile Familie<br />
• Umfeld (Schule, Freunde)
Umgang mit Pubertät in Pflege<br />
Jörg Undeutsch<br />
Zwölf Thesen zur Pubertät
Umgang mit Pubertät in Pflege<br />
1. Die Pubertät ist unvermeidbar.<br />
2. Die innere Unabhängigkeit und<br />
Eigenständigkeit, die sich Jugendliche<br />
während der Pubertät erwerben, sind<br />
später im Leben weitaus schwerer zu<br />
erringen.<br />
3. Pubertät hat - weniger mit Hormonen zu<br />
tun als wir gemeinhin denken.,
Umgang mit Pubertät in Pflege<br />
4. Pubertät ist die Geburt der (freien) Seele.<br />
5. Jugendliche fühlen sich nackt.<br />
6. Pubertät in drei Phasen:<br />
a) Gedankenpubertät (13 bis 15)<br />
b) Gefühlspubertät ( 15 bis 17)<br />
c) Willenspubertät (ab 17)
Umgang mit Pubertät in Pflege<br />
7. Hauptaufgabe der Jugendlichen in der<br />
Pubertät ist es, sich frei zu strampeln<br />
8. Jugendliche während der Pubertät<br />
brauchen ein Gegenüber.<br />
9. Jugendliche haben ein Recht auf<br />
Rücksichtslosigkeit<br />
A
Umgang mit Pubertät in Pflege<br />
10. Jugendliche suchen "starke“<br />
Erwachsene<br />
11. Jugendliche wollen echte Verantwortung.<br />
12. Am leichtesten fällt es uns (und den<br />
Jugendlichen, mit denen wir es zu tun<br />
haben), wenn wir unser eigenes Leben<br />
leben.
Vielen Dank<br />
für Ihre<br />
Aufmerksamkeit!