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Beschwerden im MRV Text Gerhard Bliersbach

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<strong>Gerhard</strong> <strong>Bliersbach</strong>: Psycho – und Soziodynamik des Be-<br />

schwerdeverhaltens von Maßregelvollzugspatienten unter<br />

besonderer Berücksichtigung der psychiatrischen Stö-<br />

rungsbilder<br />

Vortrag für das Seminar Patientenbeschwerden <strong>im</strong> <strong>MRV</strong> –<br />

Ärgernis oder Bestandteil der Beziehungsgestaltung?<br />

am 31.3.2011 in der LVR-Akademie<br />

I.<br />

Die Arbeit mit den Patienten <strong>im</strong> <strong>MRV</strong> ist schwierig und strapaziös. Aus<br />

vielerlei Gründen. Da sage ich Ihnen nicht Neues. Einen Grund bespre-<br />

chen Sie in diesem Seminar – ich nenne ihn: Das Problem des schwieri-<br />

gen therapeutischen Beziehungsmanagements.<br />

Dazu werde ich Ihnen zuerst den Fall eines gescheiterten therapeuti-<br />

schen Beziehungsmanagements vorstellen – und damit den Patienten,<br />

der mir das Wichtigste in dieser Hinsicht beigebracht hat – wobei ich bei<br />

dieser Art des Lernens Blut und Wasser schwitzte, graue Haare bekam<br />

und einige Zeit das kaum zu ertragende Gefühl untergründiger Verzweif-<br />

lung hatte, ich wäre diesem Patienten nicht gewachsen. Dieser Teil ist<br />

sicherlich unterhaltsam – und Sie werden vielleicht den einen oder ande-<br />

ren Patienten wieder erkennen und Sie werden sich vielleicht erinnern an<br />

Ihre eigene Not. Im zweiten Teil werde ich den Fall systematisch <strong>im</strong> Hin-<br />

blick auf unser Thema durchgehen.<br />

Meine Erfahrungen <strong>im</strong> therapeutischen Umgang <strong>im</strong> <strong>MRV</strong> sammelte ich in<br />

der Dürener Klinik in den Jahren von 1985 bis 1992. Als ich 1985 in die<br />

forensische Abteilung kam – gegen meinen Willen, übrigens – war der<br />

Bau der neuen forensischen Abteilung, des forensischen Dorfes, wie wir


- 2 -<br />

es treuherzig nannten, weil fortgeschritten, der Umzug <strong>im</strong> Frühjahr 1986<br />

geplant. Es herrschte eine Art Aufbruchsst<strong>im</strong>mung und ein therapeuti-<br />

scher Opt<strong>im</strong>ismus. Ich war natürlich naiv, als ich anfing, und tappte in die<br />

typischen Fallen des Anfängers. Der Patient, von dem ich Ihnen jetzt<br />

erzähle, kam aus einer anderen LVR-Klinik, mit einem bedrohlichen Ruf:<br />

dort hatte er die Abteilung aufgemischt und für die Absetzung des ärztli-<br />

chen Leiters dieser Abteilung gesorgt. Ich habe mich in der anderen Kli-<br />

nik nie umgehört, ob an diesem Gerücht etwas dran war – aber auch<br />

wenn es nicht st<strong>im</strong>mt, st<strong>im</strong>mt es: Es trifft nämlich die Realität, die dieser<br />

Patient auf unseren Stationen ständig erzeugte. Ich nenne ihn heute<br />

Herrn Z. – Herr Z. kam als süchtiger Betrüger; Diagnose: Borderline-<br />

Persönlichkeitsorganisation; vermindert schuldfähig wegen des süchti-<br />

gen Betrügens. Er hatte seine Firma, die er klug Traumschiff der Geträn-<br />

ke genannt hatte, auf Sand gesetzt – miserabel gewirtschaftet und sich<br />

verschuldet. In seiner Geld-Not hatte er Getränke geordert, die Flaschen<br />

geleert und den Pfand irgendwo kassiert, um etwas in der Kasse zu ha-<br />

ben. Er scheiterte mit seiner Firma mächtig. Aber das ernüchterte ihn<br />

nicht. Er war der Mann ständiger neuer Projekte, mit denen er uns be-<br />

schäftigte und buchstäblich auf Trab hielt.<br />

Die Geschichten der Behandlungs-Erfahrungen mit ihm sind zu schön,<br />

um nicht erzählt zu werden. Sie müssen sich einen jungen Mann Mitte<br />

Zwanzig vorstellen, etwas füllig, zwei Meter sechs Zent<strong>im</strong>eter groß,<br />

blond, eloquent, um keine Antwort verlegen, Mönchengladbacher Idiom<br />

und Singsang - hochintelligent. Es war eine Intelligenz, die gängige In-<br />

telligenzverfahren nicht erfassen. Ich hatte ihn mit einem einschlägigen,<br />

bewährten Verfahren getestet. Danach hatte er einen durchschnittlichen<br />

IQ von guten 100 Punkten. Seine Intelligenz würde ich als eine manipu-<br />

lative Intelligenz bezeichnen, deren Fähigkeit darin besteht, auf Grund<br />

einer enormen inneren Alarmiertheit, die aus frühen subtilen, aber mas-


- 3 -<br />

siven Übergriffen entstanden war - die Impulse oder Gedanken des an-<br />

deren zu erspüren oder zu erraten und <strong>im</strong> Gegenüber sofort zu bekämp-<br />

fen. Psychoanalytisch würde man sagen, dass er eine enorme – und die<br />

Vokabel enorm ist eine Unterreibung – eine enorme Fähigkeit der projek-<br />

tiven Identifikation besaß.<br />

Drei Beispiele. Herr Z. konnte Dokumente auf dem Kopf lesen.<br />

Hatte ich etwas auf meinem Schreibtisch ausgebreitet, las er es, machte<br />

sich seinen Re<strong>im</strong> drauf und benutzte es in seinen Beziehungskämpfen.<br />

Es dauerte, bis ich das herausgefunden hatte; so dass ich meinen<br />

Schreibtisch <strong>im</strong>mer aufräumte, wenn er zum Gespräch kam. Er hatte<br />

zweitens, was ich natürlich auch erst nach und nach herausfand, einen<br />

Gesprächsstil, das Ende seiner Sätze so auslaufen zu lassen, dass ein<br />

Ja eine einzig angemessene, sinnvolle Antwort blieb. So dass es ganz<br />

schwierig war, ihm zu widersprechen. Es war komplizierter. Er drängte<br />

mich dazu, ihm mit einem Lidschlag zuzust<strong>im</strong>men – Sie kennen das:<br />

Wenn Sie mit jemandem sprechen, bestätigen Sie ihn oder sie mit einem<br />

gewissermaßen zunickenden Lidschlag. Ich gewöhnte mir also an, auf<br />

meinen Lidschlag zu achten. Drittens. Die so genannten Anträge der Pa-<br />

tienten wurden am Ende der Woche mit ihnen besprochen. Donnerstags<br />

besprachen wir sie an dem Ort, der so schön Teamz<strong>im</strong>mer heißt. Herr Z.<br />

belagerte das Teamz<strong>im</strong>mer. Wer heraustrat, den fragte er nach der Ent-<br />

scheidung zu seinem Antrag. Blitzartig hatte er bei dem Kollegen erraten<br />

oder glaubte erraten zu haben, wie wir möglicherweise entschieden hat-<br />

ten. Was machte Herr Z. ? Er ging auf den nächsten Kollegen zu und<br />

sagte: Wieso haben Sie meinen Antrag nicht genehmigt?<br />

Diesen Kollegen hatte er auf dem falschen Fuß erwischt. Dieser Kollege<br />

erlebte sich in der Defensive – und war sofort ärgerlich, welcher Kollege<br />

ihm das wieder eingebrockt hatte. Dieser Kollege hatte nicht daran ge-


dacht, dass Herr Z. ihn manipuliert haben könnte mit einem Bluff. Sie<br />

wissen ja, was in solchen Momenten geschieht: Der eine Kollege be-<br />

- 4 -<br />

schwert sich über den anderen, wie der denn dem das sagen konnte und<br />

so weiter und so fort. Mit einem Wort: Herr Z. erzeugte einen gewaltigen<br />

Ärger. Er brachte das Team gegen sich auf, das in seiner Hilflosigkeit mit<br />

Gegenmaßnahmen reagierte, die Herr Z. sofort durchschaute und kon-<br />

terkarierte. Wir erlebten turbulente Zeiten, in denen wir uns über diesen<br />

Patienten so zerstritten, dass es unmöglich wurde, einen klaren Gedan-<br />

ken zu fassen.<br />

Da muss ich Ihnen natürlich die Episode zu Weihnachten 1985 erzählen.<br />

Unsere Sozialarbeiterin hatte einen Kochkurs angeboten. Herr Z. war<br />

dabei. Er war ein Freund der therapeutischen Angebote und konnte nicht<br />

genug bekommen. Was isst man zu Weihnachten? Was kann man ko-<br />

chen? Herr Z. hatte einen Vorschlag: einen Rehbraten. Wie dran kom-<br />

men? Da wüsste er jemanden. Was kann man gegen einen Rehbraten<br />

zu Weihnachten haben? Also st<strong>im</strong>mten wir dem Projekt zu. Allerdings<br />

beantragte Herr Z. Ausgang, um bei seinem Bekannten eine Rehkeule<br />

zu besorgen. Lange Diskussionen, ob oder ob nicht. Wir lehnten den<br />

Ausgang ab. Unser Seelsorger, der evangelische Pfarrer, kontaktierte<br />

den Mann mit der Rehkeule. Die Rehkeule war auf der Station. Einer un-<br />

serer Kollegen war Koch; er legte die Rehkeule ein. Seltsamerweise<br />

wurde am Tag der Zubereitung die Rehkeule auf dem Kühlschrank, statt<br />

in dem Kühlschrank entdeckt. Unser Kollege, der einstige Koch, roch an<br />

der Keule – sie stank. Was nun? Die Meinung des Koch-Kollegen: Die<br />

Keule kann man nicht braten. Was wird dann aber aus dem Essen der<br />

Patienten, die auf ihren Anteil am Braten warteten?<br />

Die Keule zog ihre Spur. Der Metzger der Klinik wurde befragt. Dessen<br />

Antwort: Kann man braten. Der leitende Arzt der Klinik wurde befragt.


- 5 -<br />

Dessen Antwort: Kann man nicht braten. Wegwerfen! Der Verwaltungs-<br />

leiter wurde befragt: Der orderte Koteletts für die Patienten. Das Essen<br />

verspätete sich. Die Klinik strengte sich mächtig an, den möglichen Be-<br />

schwerden der Patienten aus dem Weg zu gehen. Herr Z. hatte sein<br />

Vergnügen. Er hatte inzwischen das Geld für die Keule, das er einge-<br />

sammelt hatte, irgendwie ausgegeben. Es konnte nicht mehr geklärt<br />

werden. Jetzt waren auch die Mitpatienten wütend.<br />

So ging es tagein, tagaus.<br />

Ein paar Monate später. Ich kann Ihnen leider nur wenig erzählen. Wir<br />

waren umgezogen in unser neues forensische Dorf. Wie gesagt: Wir hat-<br />

ten ambitionierte therapeutische Pläne. Herr Z. gehörte zu meiner Stati-<br />

on, für deren Patienten ich verantwortlich war. Herr Z. hatte, wie das zu<br />

seiner Pathologie gehörte, viele Pläne. Er beabsichtigte, eine Schreiner-<br />

Lehre in unserem Haus zu machen. Was ist dagegen einzuwenden? Ei-<br />

ne Ausbildung war <strong>im</strong> Sinne des <strong>MRV</strong>G. Es gab nur ein paar kleine<br />

Komplikationen. Die Schreinerei befand sich außerhalb des forensi-<br />

schen Dorfes. Die Berufsschule, deren Besuch notwendig werden wür-<br />

de, war viel weiter entfernt; zudem würde es eine komplette Woche der<br />

Abwesenheit geben. Herr Z. war gerade ein Jahr <strong>im</strong> <strong>MRV</strong>. Konnten wir<br />

das ihm zutrauen? Angesichts des Ärgers des therapeutischen Teams?<br />

Angesichts der Alarmiertheit des Teams? Ich sprach mit ihm ab, dass wir<br />

<strong>im</strong> September das entscheiden wollten. Herr Z. st<strong>im</strong>mte zu. Allerdings<br />

nur kurz. Er bestand auf dem Frühjahr als dem Zeitpunkt der Entschei-<br />

dung. Er beschwerte sich. Der Jurist des LVR kam. Er machte sich sein<br />

eigenes Bild. Das teilte er uns mit, während er, die Hände in den Hosen-<br />

taschen, meinte: Warum sollte man ihm das denn nicht gestatten?<br />

Innerlich raufte ich mir die Haare. Dieser Mann verstand meine Not nicht.<br />

Er verstand die Not des therapeutisch en Teams nicht. Es war in seiner


- 6 -<br />

Mehrheit gegen dieses Projekt. Ich war dafür, der Abteilungsarzt war da-<br />

für. Also gestatteten wir das Projekt der Ausbildung. Herr Z. fuhr regel-<br />

mäßig in die Berufsschule nach Jülich. Es wurde ruhig auf der Station.<br />

Ich konnte mich um die anderen Patienten kümmern. Offenbar nahm das<br />

Projekt seinen guten Weg – und wir, das miesepetrige therapeutische<br />

Team, hatte die ganze Chose falsch eingeschätzt. – Hatten wir nicht. Der<br />

Abteilungsarzt rief mich an: Wir müssen nach Jülich. Wir fuhren nach Jü-<br />

lich. Wir trafen ein aufgebrachtes, entsetztes, erschöpftes Kollegium an:<br />

In einer Schule mit 1800 Schülerinnen und Schülern war Herr Z. inzwi-<br />

schen stellvertretender Schulsprecher; in seinem Büro empfing er seine<br />

Schulkameraden, die dann <strong>im</strong> Unterricht fehlten; er hatte ein großes von<br />

einer Brauerei gesponsertes Fest organisiert; zudem den Ministerpräsi-<br />

denten von NRW eingeladen und eine Geld-Sammlung organisiert.<br />

Mir kam das sehr bekannt vor. Die Lehrer machten die Erfahrung, die wir<br />

auch gemacht hatten. Wir kassierten unseren Patienten und das gesam-<br />

te Projekt. Herr Z. musste sich mit dem Alltag seiner Station zufrieden<br />

geben. Er gab sich nicht zufrieden. Es gab weiterhin schwere Konflikte.<br />

An einem Nachmittag saß ich in meinem Büro, als der Abteilungsarzt an-<br />

rief. Herrn Z. ist das Geld, das er gesammelt hatte, gestohlen worden,<br />

sagte er. Ach was, sagte ich, das hat er auf den Kopf gehauen. Meinst<br />

du?, fragte der Abteilungsarzt zurück. Sicher, sagte ich. Herr Z., erzählte<br />

der Abteilungsarzt, hätte gedroht, wenn er jetzt nicht mit ihm sprechen<br />

würde, würde er alles kurz und klein schlagen. Das wird er nicht, sagte<br />

ich. Wir gingen zu Herrn Z. Wir versuchten, etwas zu besprechen. Herr<br />

Z. wollte nichts mit uns besprechen; er wollte nur seine Macht vorführen.<br />

Er stand auf. Sie setzen sich jetzt mit uns auseinander, sagte ich dro-<br />

hend. Ich fasste ihn am Arm. Fassen Sie mich nicht am Arm!, sagte er.<br />

In diesem Augenblick hatte ich einen Wunsch: dass der riesige Herr Z.<br />

sich wehren und mich angreifen würde; ich würde ihn packen und in die


- 7 -<br />

Hydropflanzen schleudern. Herr Z. gab nach und ließ sich von uns etwas<br />

sagen. Seiner Drohung wegen wurde er auf die Krisenstation verlegt.<br />

Herr Z. wurde bald entlassen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit. In<br />

der Stellungnahme zu seiner Behandlung hatte ich geschrieben: Die Be-<br />

handlung <strong>im</strong> <strong>MRV</strong> hat ihn nicht erreicht.<br />

Vier Jahre später nämlich kam Herr Z. als forensischer Patient zurück. Er<br />

hatte – wahrscheinlich <strong>im</strong> Kontext eines ihn frustrierenden, sehr krän-<br />

kenden Verkehrs – die junge Frau, die er nur kurz kannte, in seiner ra-<br />

senden Wut mit mehreren Messerstichen getötet. Er kam zu uns als<br />

Mörder – das war unser Bild von ihm, in dem sich gewissermaßen die<br />

therapeutische Unmöglichkeit verdichtete; der alte Ärger des therapeuti-<br />

schen Teams war sofort wieder da; die erlittenen Kränkungen <strong>im</strong> Um-<br />

gang mit ihm formierten sich zu unserer Unfähigkeit, einen therapeuti-<br />

schen Kontakt herzustellen, weil die Reaktionen, die Herr Z. auslöste,<br />

nicht produktiv gewendet werden konnten. Das therapeutische Team der<br />

Station, für die ich verantwortlich war, fürchtete diesen Patienten und be-<br />

kämpfte ihn und verwickelte sich in einen unproduktiven, nicht hilfreichen<br />

clinch – wobei natürlich die Frage ist, wie man ihn angesichts seiner Pa-<br />

thologie hätte erreichen können.<br />

Ich erzähle Ihnen die Geschichte mit diesem Patienten zu Ende – was<br />

meinen Kontakt zu ihm angeht. Wir vereinbarten eine 3-monatige Be-<br />

handlung auf unserer Station zur Probe – um zu sehen, ob ein therapeu-<br />

tischer Kontakt gelingt. Ausgänge, Lockerungen stünden bei uns nicht<br />

zur Debatte. Er unterschrieb diese Bedingungen. Ich hatte Herrn Z. <strong>im</strong><br />

Einzelkontakt und eine beobachtende Haltung eingenommen; ich wollte<br />

seine Geschichte klären und mich nicht verwickeln lassen. Herr Z. be-<br />

gann die Gespräche stets mit seinem umfangreichen Bericht unserer<br />

Versäumnisse; er war ein brillanter Beobachter unserer Unzulänglichkei-


ten. Ich gab ihm darin <strong>im</strong>mer recht. Ich sagte Stunde für Stunde: Ich<br />

- 8 -<br />

nehme Ihre Kritik, die ich gut verstehen kann, zur Kenntnis – aber kom-<br />

men wir doch zu Ihnen. Daran hatte er kein Interesse. Während der 3<br />

Monate auf unserer Station zeugte er mit einer ET-Praktikantin ein Kind,<br />

eröffnete in seinem Z<strong>im</strong>mer einen Reparaturbetrieb defekter Drucker, die<br />

ihm ein nahe gelegener Supermarkt samstags anlieferte, und hielt sich<br />

insgesamt nicht an die Vereinbarungen unseres Therapie-Vertrags. Wir<br />

verlegten Herr Z. auf eine Nachbarstation. Wir unternahmen einen letz-<br />

ten Behandlungsversuch, als wir den U.S.-amerikanischen familienthe-<br />

rapeutischen Pionier, Herrn Boszormenyi-Nagy, in seiner Sitzung mit<br />

ihm, seiner künftigen Frau und seiner Familie zusammen brachten. Wir<br />

waren berührt von der Sitzung – Herr Z. schien unberührt. Mitte 1992<br />

verließ ich die forensische Abteilung. Während seiner Behandlung in un-<br />

serer Klinik heiratete er in Hannover, wohin er begleitet werden musste.<br />

In welcher Klinik Herr Z. sich zur Zeit befindet, was aus ihm und seiner<br />

Familie geworden ist, weiß ich nicht.<br />

II.<br />

Ich komme zu dem zweiten Teil meines <strong>Text</strong>s. Was habe ich aus diesen<br />

Erfahrungen gelernt?<br />

1. Ich war unvorbereitet auf die enorme aggressive Wucht einer wirklich<br />

schweren narzisstischen Persönlichkeitspathologie und auf die damit<br />

verbundene enorm schwierige therapeutische Erreichbarkeit.<br />

2. Ich verstand erst nach und nach diese Form der Persönlichkeitspatho-<br />

logie und die mit ihr verbundenen manipulativen Techniken projektiver<br />

Identifikation und Verweigerung auf dem Hintergrund eines abgrundtie-<br />

fen Hasses.


3. Mit der Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit des therapeutischen Teams,<br />

das den manipulativen Techniken nicht gewachsen war, kam ich nicht<br />

zurecht.<br />

- 9 -<br />

4. Wir waren <strong>im</strong> therapeutischen Team zerstritten. Es gab keine gemein-<br />

same Linie eines Verständnisses der Pathologie. Es gab keine gemein-<br />

same Linie des Umgangs und der therapeutischen Interventionen. Es<br />

gab <strong>im</strong> therapeutischen Team den Kampf zwischen den Rache-<br />

Wünschen und den Verständnis-Versuchen.<br />

5. Es gab keine konzeptionelle Übereinkunft.<br />

6. Das therapeutische Teams sowie andere Teams der Abteilung hatten<br />

sich in einen massiven Clinch verstrickt, der therapeutische Beziehungen<br />

unmöglich machte. Mir war das Phänomen des Gegenübertragungs-<br />

Agierens von gesamten Teams unbekannt.<br />

7. Die Androhung einer Beschwerde setzte buchstäblich die Fähigkeit<br />

aus, einen klaren, therapeutisch sinnvollen Gedanken zu fassen.<br />

8. Ich machte die Erfahrung, dass der Jurist der Zentralverwaltung am<br />

therapeutischen Kontext desinteressiert war.<br />

9. Die Leitung der Abteilung war ebenfalls unvorbereitet und wurde von<br />

der Pathologie ebenfalls überrascht. In der Folge konnten sich die Kolle-<br />

ginnen und Kollegen auf eine externe Supervision, die wir selbst bezahl-<br />

ten, um von der Klinik unabhängig zu sein, verständigen.<br />

10. Es existierte in meinem therapeutischen Team eine erhebliche<br />

Ängstlichkeit und Unsicherheit dem juristischen System gegenüber.<br />

Wie gehören meine damaligen Erfahrungen zu unserem heutigen The-<br />

ma?<br />

1. Ein therapeutisches Team benötigt eine gemeinsam geteilte therapeu-<br />

tische Haltung in der Weise, dass es interessiert ist an den täglichen In-


- 10 -<br />

teraktionen auf der Station mit den Patienten und bereit ist, sie auszu-<br />

werten <strong>im</strong> Hinblick auf die Psychopathologie und den therapeutischen<br />

Umgang. Das heißt, dass nicht nur das Ausgesprochene zur Kenntnis<br />

genommen und ausgewertet wird, sondern vor allem die Umgangserfah-<br />

rungen mit den handelnden Patienten – also das, was man die Hand-<br />

lungsdialoge nennt.<br />

2. Dazu gehört ein Grundverständnis, dass Patienten zu Mitgliedern des<br />

therapeutischen Teams unterschiedliche Beziehungen haben und unter-<br />

schiedliche Auskünfte geben und dass man die unterschiedlichen Bezie-<br />

hungen versteht und auswertet als Hinweise auf verschiedene Aspekte<br />

des Selbst und dessen Psychopathologie.<br />

3. Therapeutische Teams sollten sich die Möglichkeit ihres Gegenü-<br />

bertragungs-Agierens einräumen und bereit sein, es zu besprechen und<br />

auszuwerten. Schwere Psychopathologien erzeugen heftige Gegenreak-<br />

tionen. Sie sollten durchgegangen werden.<br />

4. Patienten-<strong>Beschwerden</strong> sollten vom therapeutischen Team daraufhin<br />

ausgewertet werden, welche Wirkungen an Gegenübertragungen sie er-<br />

zeugen. Wenn sie Kränkungen erzeugen, besteht <strong>im</strong> Team der Impuls,<br />

die Kränkungen zurückzukränken. Machen sie Angst, besteht der Im-<br />

puls, die Angst mit Gegenmaßnahmen zu bekämpfen.<br />

5. Patienten-<strong>Beschwerden</strong> sollten vom therapeutischen Team als pro-<br />

duktive und relevante Hinweise verstanden werden, dass etwas mögli-<br />

cherweise nicht anders als durch eine Beschwerde gesagt werden kann.<br />

Mit anderen Worten: es empfiehlt sich, sich als Team zuerst zu betrach-<br />

ten, bevor gewissermaßen die Psychopathologie eines Patienten in den<br />

Blick genommen wird.<br />

6. Patienten-<strong>Beschwerden</strong> können wertvolle Hinweise auf ein persistie-<br />

rendes Grundgefühl tiefer Ungerechtigkeit sein, das aus der Perspektive


- 11 -<br />

eines Patienten verständlich sein kann, aus der Perspektive des thera-<br />

peutischen Teams vielleicht als nicht relevant eingeschätzt wird. Mit an-<br />

deren Worten: <strong>Beschwerden</strong> sollten daraufhin befragt werden, was sie<br />

zu sagen versuchen, was <strong>im</strong> stationären Alltag nicht gesagt werden<br />

kann.<br />

7. Patienten-<strong>Beschwerden</strong> sollten verstanden werden als Aussagen in<br />

fremden Kontexten. Sie kennen das vielleicht auch aus Ihrer Alltagser-<br />

fahrung. Manchmal sagen Kinder in Gegenwart ihrer Eltern, die Gäste<br />

haben, was sie sich sonst in Gegenwart ihrer Eltern nicht zu sagen trau-<br />

en. Forensische Patienten haben häufig das Problem tiefer narzissti-<br />

scher Unsicherheit und Entwertung.<br />

8. Patienten testen mit <strong>Beschwerden</strong> ihr therapeutische Teams: Was<br />

können sie ihnen zumuten?, lautet die he<strong>im</strong>liche Frage. Patienten voll-<br />

ziehen mit ihrer Bewegung, sich zu beschweren, eine Art Trennungs-<br />

Bewegung – also eine autonome Bewegung, die wir begrüßen.<br />

Die bisher aufgelisteten Punkte beziehen sich auf die Arbeit <strong>im</strong> therapeu-<br />

tischen Team, das sich darüber auszutauschen und sich klar zu werden<br />

versucht, wie es eine Beschwerde versteht und wie es mit ihr umgeht.<br />

Mein Beispiel illustriert die Erfahrung einer gescheiterten therapeuti-<br />

schen Form. Wir waren buchstäblich nicht dazu gekommen, das Verhal-<br />

ten des Patienten und die relevante Dynamik oder die relevanten Motive<br />

zu besprechen. Wie kann man <strong>im</strong> Team die Beschwerde eines Patienten<br />

verstehen?<br />

Ich sehe fünf Motiv-Kontexte:<br />

1. mit der Beschwerde die Kontrolle über die Behandlung erreichen. Die-<br />

ser Impuls oder dieses Motiv wütet gegen die Unterwerfung durch den<br />

<strong>MRV</strong>. Vermuten kann man eine schwere dissoziale, paranoide Störung<br />

bei misslungener Triangulierung und Ödipalisierung.


- 12 -<br />

2. die Beschwerde <strong>im</strong> Dienste der Rache. Kränkungserfahrungen sind<br />

möglicherweise vorausgegangen; es kann ebenso sein, dass der <strong>MRV</strong><br />

einen ausreichend Kränkungsanlass darstellt. Vermuten kann man eine<br />

schwere narzisstische Störung.<br />

3. die Beschwerde steht <strong>im</strong> Dienste des Machtkampfes – das war vor<br />

allem in meinem Fall der leitende Impuls. Vermuten muss man eine<br />

schwere narzisstische Störung, eine missglückte Ödipalisierung bei ei-<br />

nem Ausfall des Vaters.<br />

4. die Beschwerde steht <strong>im</strong> Dienste eines anderen Sprechens: Was <strong>im</strong><br />

stationären stationären Alltag nicht gesagt werden kann, wird hiermit ge-<br />

sagt. Zu vermuten ist eine schwere aggressive Gehemmtheit, die wir bei<br />

Patienten mit sexuellen Störungen antreffen.<br />

5. die Beschwerde fungiert als eine deutliche Kritik, die gehört werden<br />

muss. Man kann bei dem betreffenden Patienten eine ebenfalls schwere<br />

aggressive Gehemmtheit vermuten - wahrscheinlich ebenfalls bei Patien-<br />

ten mit devianter sexueller, möglicherweise pädosexueller Praxis.<br />

6. die Beschwerde fungiert als unbewusste Delegation eines zerstritte-<br />

nen Teams an den Patienten.<br />

Wie kann man die Beschwerde eines Patienten in dem therapeutischen<br />

Kontext der Klärung besprechen?<br />

1. Man könnte die Kontexte strikt trennen: auf der einen Seite das Recht<br />

des Patienten, sich zu beschweren, und die konkrete Beschwerde, die<br />

nicht besprochen wird – und auf der anderen Seite die therapeutischen<br />

Kontakte, die die Beschwerde nicht zur Kenntnis nehmen.<br />

2. Wahrscheinlich ist diese Strategie nicht zu empfehlen, weil eine Be-<br />

schwerde natürlich auch an die Mitglieder des therapeutischen Teams<br />

adressiert ist als die Möglichkeit, dem Team etwas zu sagen in Gegen-


- 13 -<br />

wart eines <strong>im</strong>aginierten anderen Mächtigen oder Mächtigeren. Ich emp-<br />

fehle ein Angebot zu machen, ob man nicht über das sprechen kann,<br />

was der Patient nur mit einer Beschwerde glaubte aussprechen zu kön-<br />

nen.<br />

3. Das therapeutische Team sollte eine Reaktion des Gekränktseins<br />

vermeiden, weil der Patient das therapeutische Team mit seiner Be-<br />

schwerde auszuschließen versucht. Warum soll der Patient nicht auch<br />

einen Punkt machen? Wenn das therapeutische Team dem Patienten<br />

darin recht gibt, gibt es ihm zu verstehen, dass es dessen Aggression<br />

nicht fürchtet. Donald Winnicott, der englische Kinderarzt und Psycho-<br />

analytiker, hat einmal gesagt, dass wir die lieben, die unseren Hass er-<br />

tragen. Eine Beschwerde ist eine Möglichkeit, dies dem sich beschwe-<br />

renden Patienten zu verstehen zu geben. – Diese Intervention ist natür-<br />

lich abhängig von dem Motiv-Kontext der Beschwerde. Pathologisches<br />

Verhalten ist schwierig zu honorieren; in jedem Fall sollte man das Ver-<br />

gnügen an der Aggressivität aussprechen.<br />

4. Gibt es unterschiedliche Strategien für die verschiedenen Motiv-<br />

Kontexte? Ich empfehle, den Einzelfall sehr genau zu besprechen. All-<br />

gemein würde ich sagen: Für die Kontexte 1 – 3 (Kontrolle, Rache,<br />

Machtkampf) gilt: freundliches Gegenhalten bei einem gleichzeitigen Re-<br />

spekt des Beschwerderechts. Das Kontroll-Motiv, wenn es paranoid ge-<br />

speist ist, ist wahrscheinlich nicht zu ermüden und zu ernüchtern; es hilt<br />

nur gegen und aus zu halten. Es ist die Frage, ob und wie man über die<br />

Kränkungserfahrungen ins Gespräch kommen kann. Wir können es ja<br />

diskutieren. Für die Kontexte 4 und 5 gilt: dem Patienten recht geben, ihn<br />

unterstützen, seine Wahrheit <strong>im</strong> stationären Kontext zu sagen.<br />

Ich bin am Ende. Ich danke Ihnen!

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