RICHARD i
RICHARD i
RICHARD i
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<strong>RICHARD</strong> i
D£JOMQ
i<br />
J<br />
R I C H A R D
R I C H A R D<br />
VON<br />
PAUL
Geschrieben in clcn Jahren 1921 — 1925<br />
I
Allesvon Richard und über ihn, dessen ich hab-<br />
haft werden konnte, ist hier vereinigt, um sein<br />
Bild für die, die seine Bekanntschaft suchen,<br />
so vollstdndig wie möglich zu machen.<br />
Die Deutung seiner Handschrift.<br />
(Richards Einsamkeit)<br />
,,Sie sind sehr einsam. Auch zwischen vielen Menschen<br />
bleiben Sie's."<br />
Einsam? — Lassen Sie einmal überlegen ... Einsam<br />
... Einsamkeit... Man sagt das ja wohl von<br />
grossen Mannern zuweilen, dass sie im Grunde bei<br />
allem Erfolg, bei aller Zuneigung der Menschen<br />
Einsame waren. Und erst recht, wenn sie keinen<br />
Erfolg hatten. Sie waren allein ... sie litten auch<br />
wohl darunter — hm ... also da muss ich Ihnen<br />
doch sagen, dass ich garnicht allein bin, im Gegenteil,<br />
ich fühle eine grosse Verbundenheit — ich bin<br />
sehnsuchtsvoll, ja, aber einsam... das heisst, natürlich<br />
bin ich auch einsam, wie jeder Mensch es ja<br />
schliesslich ist; das ist eben meine Verbundenheit,<br />
dass ich bin wie — fast alle. Man ist allein, aber<br />
manleidet nicht darunter, oder wenn man leidet,so<br />
ist es ein wunderbares Gefühl — denn schliesslich<br />
ist es ja doch ein Gefühl, dieses Einsam-sein. Und<br />
also, wenn ich es bin, so habe ich es nur sehr<br />
angenehm bemerkt...
„1st man denn nicht einsam, wenn man sich selbst<br />
noch nicht gefunden hat?!"<br />
So, Sie meinen, dass ich mich selbst noch nicht<br />
gefunden habe?<br />
„Ja, lieber Richard, Sie schweben in der Luft,<br />
(lachelnd) Sie irrlichtelieren etwas allzuviel urnher.<br />
Es fehlt Ihnen etwas Festigkeit — "<br />
Ich schwebe in der Luft — Warten Sie . .. ja —<br />
das ist ja eine fabelhafte Idee! Das haben Sie<br />
wirklich ausgezeichnet bemerkt. Das ist so: ich<br />
schwebe in der Luft. Aber doch in einer sehr<br />
guten Luft! Und das ist doch die Hauptsache. Dass<br />
die Luft gut ist! Ja, ich schwebe ... Da haben Sie<br />
mich in ein paar Worten vollkommen ausgedriickt.<br />
— Aber dass ich mich noch nicht gefunden habe,<br />
da irren Sie sich doch wohl. Eben dass ich<br />
schwebe, das bin ich ja. Und wem dies gegeben<br />
ist, der versuche auch garnicht, Boden unter die<br />
Füsse zu kriegen. Sondern er lerne, nur immer<br />
besser zu schweben, so dass manch ein Bodenstandiger<br />
wünschen möchte, so zu schweben —<br />
Ah — ich möchte .. . geben Sie mir Ihre Hand —<br />
ich bin sehr begeistert. Weil Sie das so gut gesagt<br />
haben — Ich irrlichteliere zu viel? ich sollte mehr<br />
festes ... mehr, Sie meinen wie ein Mann? — Ach<br />
Sie — Moralpeter! — Nein, eben gerade nichts<br />
Festes! Nur so — in der Luft schweben! ...<br />
Nein, ich werde es nie zu etwas bringen, das meinen<br />
Sie doch. Aber wozu denn auch? Und zu was<br />
denn? Schwebe ich denn nicht in der Luft? 1st das<br />
denn nicht meine Sehnsucht, mein Gliick, schweifend<br />
zu denken und mit allen verbunden zu sein,<br />
6
mit all den andern, die auch sich sehnen, all die<br />
Frauen und Miidchen und — ja, die Jungens, die<br />
jungen Manner. Und auch die alteren! Sehnsucht<br />
zu haben — das ist eben (leise) mein Dichter-sein,<br />
dies, dass wir alle allein sind und uns sehnen. Die<br />
Sehnsucht zu den andern zu lieben in den Menschen,<br />
und zu wissen: auch ich, ich wie alle andern<br />
—<br />
Ja ich weiss: das Festere, das Gröbere, das verachtet<br />
das. Sie finden mich ziemlich verachtlich,<br />
weil — weil ich garnichts „bin", ich nichts mache<br />
und mich nicht durchsetze. So garnicht wollend<br />
und wie eine Frau eben meistens will, dass der<br />
Mann sei. Sie argern sich auch wohl an mir, viele<br />
argert das. Aber lassen Sie: auch diese Manner mit<br />
ihren Tatenl und Sie selber, meine Liebe, sind<br />
doch — einsam, sind doch — kleine Kinder. Kinderchen,<br />
die Manner spielen, und Sie, kleine Mathilde,<br />
sind ja das richtige verlorene Ei in dieser<br />
reklamehaften selbstgewissen Welt. Und darin<br />
eben, in ihrer Verlorenheit, in ihrem Kindchensein,<br />
da ist grade der Punkt, wo ich Sie ganz besonders<br />
gut verstehe.<br />
Wer einmal ein Junge oder ein Madchen war in<br />
seinem Leben, der vergisst das nicht. Und allein<br />
bei denen, die das wirklich vergessen haben, fiihle<br />
ich mich fremd und wie ausgestossen. — Sie aber<br />
und ich und all die andern sind eins in unserer<br />
Einsamkeit und Sehnsucht. — Ja, so, nun werde<br />
ich auch noch pathetisch. Aber das kommt davon,<br />
weil Sie diese diskrete Stelle berührt haben, diese<br />
Sache, mein eigenste Sache — dann, dann strömts<br />
7
eben über. — Sie wissen doch, dass ich auch den<br />
Mund halten kann, aber bei so einer schrecklich<br />
wichtigen Sache, dann muss ich reden und kann<br />
nicht aufhören und ...<br />
Richard<br />
Richard liebte unklare Situationen.<br />
Damit meine ich, schon etwas sehr Bezeichnendes<br />
über seinen Charakter gesagt zu haben.<br />
Er schatzte die Offenheit kolossal oder Menschen,<br />
die, was sie taten, nicht verheimlichten. Und dann<br />
sagte er sich, dass in ihnen etwas Primitives steckte,<br />
eine Sache, mit der zu Ieben ja ganz schön war,<br />
denn sie vereinfachte vieles, aber das Primitive<br />
konnte er nicht loben; denn die ganze Entwicklung<br />
lief doch zum Komplizierten hin, benutzte<br />
das Primitive nur als Grundlage. Aber wohl dem,<br />
der diese Grundlage noch nicht verloren hatte.<br />
Franz hatte gesprachsweise einmal auf einen Vorwurf<br />
wegen der Verwirrung des modernen Lebens<br />
geantwortet: wir sind gottseidank kompliziert; also<br />
er meinte, dass das ein Vorzug sei gegenüber den<br />
„Einfaltigen". Kompliziert hiess aber nicht feige,<br />
und Richard liebte (für sich) die unklaren Situationen,<br />
das Nebelhafte — übrigens war das auch<br />
sein Lieblingswetter: nassfeucht, undurchsichtiggraue<br />
Luft, nebelhafte Verschleierungen der Baume,<br />
HSuser, Strassen, Menschen. Silbrige unbestimmte<br />
Silhouetten, die, naher kommend, deutlich<br />
wurden, im Vorbeigleiten ihre fast genaue Zeich-<br />
8
nung zeigten, doch immer noch umwoben von<br />
atmospharischen Triibungen, und hinter ihm alsbald<br />
wieder völlig vergeisterten.<br />
Vorbeigehen, — gleiten — wie köstlich dem, der<br />
Entscheidungen hasst. Oder fürchtet. Er konnte<br />
nicht leugnen, dass Angst dabei war. Feigheit bis<br />
zu einem gewissen Grad, übrigens eine ganz vernünftige<br />
Feigheit, die oft nützlich war. Ja, solange<br />
sie vernünftig und überlegt war, konnte man's verteidigen,<br />
aber die instinktmassige (und um die<br />
handelte es sich doch), die war schon gemeiner.<br />
Und so gleichgültig war er auch nicht, dass er<br />
sagte: warum nicht feige — was liegt daran? Er<br />
fand Feigheit, die im Blut lag, argerlich und hatte<br />
was drum gegeben, sie los zu sein, z.B. Geld. Er<br />
hatte ganz gern etwas Geld dafür springen lassen.<br />
Aber hier hiess es, Energie gegen sich selbst anwenden.<br />
Verdammt unangenehm. —<br />
Nun mussen wir uns erinnern, dass die unklaren<br />
Situationen den grössten Platz im Leben einnehmen.<br />
Die Scheidewege mit den Wegweisern Ja<br />
und Nein sind geradezu Seltenheiten. Die Meisten<br />
kommen doch überhaupt nur ein einziges Mal in<br />
ihrer Laufbahn an so einen Ort und wahlen — also<br />
meine Bekannten wahlen dann infolge durch Gewöhnung<br />
verdorbener Instinkte den falschen Weg.<br />
Und ausser meinen Bekannten kenne ich kaum<br />
jemand. Daher weiss ich nicht, was die andern<br />
tun. Wahrscheinlich machen sie es richtiger —<br />
denn die Welt ist noch nicht zugrunde gegangen.<br />
Würden sie aber alle das Falsche wahlen, würde<br />
die Welt dann nicht zu Grunde gehen? Nein. Die<br />
9
Welt kümmert sich einen kalten Dreck um die<br />
menschlichen Entscheidungen. Und die Menschheit<br />
kümmert sich — lezten Endes, letzten Endes<br />
— auch nicht drum. Die Menschheit und die Welt<br />
— und meinetwegen Gott oder sonst eine umfassende<br />
Instanz — können garnicht zu Grunde gehen,<br />
bevor nicht ihre Zeit abgelaufen ist. Das wird<br />
mir niemand weissmachen, dass etwas vor „seiner<br />
Zeit" zu Grunde gehen kann. Und die Zeit hat ihr<br />
Gesetz, wir haben sie nicht in der Gewalt. Wir<br />
hatten sie aber in der Gewalt, wenn von unseren<br />
Entscheidungen das Lebensmass der Welt abhinge.<br />
Bitte sehen Sie sich doch mal die Welt an, ich<br />
meine, die Erde, und lesen Sie mal die Zeitungen:<br />
Kriege, Krankheiten, Erdbeben, Verbrechen — also<br />
wenn es nach den Zeitungen ginge, dann, Herr,<br />
ware die Welt schon langst nicht mehr. Aber die<br />
Lebenskraft, die Gesundheit, das Normale, jawohl<br />
das Normale, das Gesunde, die natürliche, gesunde,<br />
normale Lebenskraft, die ist eben ein bischen grosser<br />
— (seitdem wir Geschichte kennen) — grosser<br />
als die Vernichtung, Zersetzung, der Tod. Sie ist<br />
grosser, — denn wie gesagt und wie Sie selbst<br />
zugeben mussen: die Menschheit, wenns an ihr<br />
lage, ware schon langst erledigt — sie ist grosser,<br />
ein bischer grosser, und wir können nichts machen.<br />
Ich meine, in Bezug auf den Lauf der Welt, nicht<br />
wahr, das meinen Sie doch auch, können wir nichts<br />
machen. Wir können doch nur höchstens uns selbst<br />
prügeln oder kaputt machen und höchstens noch<br />
ein paar Andere, die sich das gefallen lassen. Aber<br />
das Gros wird sich wehren — aus bloder Freude<br />
10
am Leben. Was haben sie denn von ihrem Leben,<br />
zum Donnerwetter? Nichts, nichts haben sie eben<br />
ausser ihrem Leben, und darum verteidigen sie<br />
löwenartig ihren einzigen Besitz. Wir aber, wir<br />
haben ja mehr als das Leben: wir haben die Ideen,<br />
die ins Leben hineinschneiden, selbstandige Lebewesen,<br />
die unser Leben ruinieren oder erhöhen.<br />
Ja, wir lassen uns vielleicht priigeln; denn wir sind<br />
schliesslich auf das Leben nicht angewiesen.<br />
Sehen Sie, zu solchen Schlussfolgerungen kommt<br />
man, weil man denkt.<br />
Und da wird es Ihnen wohl klar, dass mit Denken<br />
keine Schöpfung zustande kommt. Eher vernichtet<br />
das Denken die Schöpfung, dazu ist es viel<br />
geeigneter. Vielleicht haben Sie schon bemerkt,<br />
dass die grossen Schöpfer der Erde meist keine<br />
klugen Menschen waren; das Genie — doch halt!<br />
warum soil ich von fremden Leuten reden? —<br />
Aber ich fürchte, nicht deutlich gewesen zu sein.<br />
(Schon wieder Furcht!) Namlich: Richard liebte<br />
die unklaren Situationen. Und dann wollte er<br />
seine Feigheit loswerden, die sich hinter den Unklarheiten<br />
verbarg. Ein Widerspruch. Nur einer.<br />
Ich meine, er war auch sentimental. Wenn er sich<br />
mit Friedrich verglich — und das war auch so<br />
ein Unglück: immer Vergleichungen — also mit<br />
Friedrich verglichen, dem zahen Bürschlein, dem<br />
kleinen Mann der rauhen Wirklichkeit, wie er<br />
sich selber ironisch nannte, der behauptete, Glück<br />
würde ihn unglücklich machen, er brauche Widerstiinde,<br />
er sei das gewohnt, diesem tollen Jungen<br />
mit der verteufelten Durchsetzungskraft — neu-<br />
11
lich kommt er zu mir, hat drei Nachte nicht geschlafen,<br />
kein Zimmer, die Wirtin hat ihn hinausgesetzt,<br />
er treibt sich in den Cafés herum, in Wartesalen<br />
verbringt er die Zeit bis zum Morgen —<br />
kommt zu mir und legt los, setzt mir seine Plane<br />
auseinander. Mir missfiel seine Unordnung in der<br />
letzten Zeit, und ich hatte mir ausgedacht, wie er<br />
da herauskame, in ruhigere Verhaltnisse, dass er<br />
sein Geschaft erweitern und in ein paar Monaten<br />
geregelt und durchaus, sagen wir, auskömmlich<br />
leben konnte — das wollte ich ihm sagen, wollte<br />
ihm Vorschlage machen. Aber nein, Tausende will<br />
er verdienen, monatlich einige Tausende mit seinem<br />
alten hölzernen Clownskasten von Filmapparat<br />
— es imponierte mir, wie er all das Geld so vor<br />
mich hinzauberte. Er sprach mit dem Feuer eines<br />
unternehmenden, seiner Fahigkeiten, seines Wertes<br />
sicheren Jünglings, wusste alles farbig und<br />
deutlich zu machen. Es riss mich hin. Ich kam mir<br />
mit meinen soliden Vorschliigen (die ich hiibsch<br />
fiir mich behielt — er hatte kaum hingehört, als<br />
ich davon anfangen wollte) etwas spiessig vor und<br />
schwieg — was soli man auch sagen, wenn sozusagen<br />
das Leben selbst in seiner Fiille sich vor uns<br />
ausbreitet — man schweigt — und dann bat er<br />
mich lachelnd um eine Mark.<br />
Er hatte mich zu packen gewusst, eine kleine<br />
diskrete Stelle in mir berührt, meine vage Sicherheit<br />
erschiittert, und diese Bitte um eine Mark<br />
wirklich charmant herausgebracht — ich gab sie<br />
ihm, als materiellen Zoll meiner Achtung — also<br />
mit diesem kurzgeschorenen Friedrich verglichen<br />
12
•war Richard tatsachlich von schauderhafter, oft<br />
hündischer Sentimentalitat.<br />
Solche unglückseligen Vergleiche drangten sich<br />
einem wider Willen auf, und das Schlimmste daran<br />
waren die fatalen Wertungen, die an sich verrückt<br />
waren. Theoretisch wies Richard selbstverstandlich<br />
Beurteihingen jeder Art weit von sich, aber<br />
praktisch stiessen sie ihm fortwahrend auf. Mochte<br />
sich auch der Verstand verneinend dazu stellen,<br />
sein Blut erwies sich starker als Ueberlegungen,<br />
Ueberzeugungen, Meinungen oder sonstige Ausgeburten<br />
des Gehirns. Und zwar Wertungen, Massstabe,<br />
die nichts taten als sich andern. Denn wenn<br />
einem Menschen die genügende Kraft der Argumente<br />
gegeben war — wie sollte er sich da nicht<br />
rechtfertigen? Das Gaukelspiel der Sprache im<br />
Dienste der eigenen Ueberzeugung musste jedermann<br />
freisprechen.<br />
So, wenn wir Jemand verachten, dann aber bei<br />
Gelegenheit ihn selber horen, so ergibt sich, dass<br />
er durchaus seinem Wesen entsprechend in diesem<br />
wie in den übrigen Fallen gehandelt hat. Ja, er<br />
wird uns überzeugen, dass er ist wie er ist, handelt<br />
wie er handelt, und überhaupt nichts anderes besseres<br />
tun kann, als er tut. Und wenn wir ihn am<br />
Ende auch vielleicht nicht achten werden, wir<br />
mussen ihm dennoch recht geben. Schliesslich hat<br />
auch Jeder das Recht auf seine Fehler, die Freiheit,<br />
auf seine Weise zu Grunde zu gehen oder zu leben,<br />
was dasselbe ist.<br />
So war jeder Mensch Richard gegenüber gerechtfertigt,<br />
wenn er nur mit ausreichendem Nachdruck<br />
13
Erklarungen abgab. Konnte ers aber nicht, so war<br />
er dennoch im Recht, denn Richards Gerechtigkeit<br />
wollte niemand verurteilen, nur weil ihm die Sprache<br />
nicht nachgab. Er sagte sich: Konnte dieser<br />
Mensch reden wie beispielsweise Sokrates oder Cicero,<br />
er würde alles erklaren, und ich würde ihn<br />
freisprechen. Denn ich würde ihn verstehen, verstenen<br />
so wie er es meint, wie er selber es versteht.<br />
Richard, bis über die Ohren verliebt —• ein Zustand,<br />
in dem wir ihn schon ziemlich haufig gesehen<br />
haben, ein etwas alberner Zustand, namlich<br />
für den bedachtigen Zuschauer —- aber man sei<br />
nur selbst einmal verliebt, so wird man anders<br />
darüber denken.<br />
Und diesmal hatte er sogar gute Gründe: Mirjam,<br />
das hübsche, kleine, dunkle, weibliche Wesen hatte<br />
ihm auf eine so unschuldig innige Art tief in die<br />
Augen gesehen, dass er deutlich seine Verpflichtung<br />
zur Begeisterung empfand. Alles drum und<br />
dran war ihm diesmal fast gleichgültig, aber ihrer<br />
Augen wegen setzte er sich tatsachlich am Ende<br />
der Woche auf die Bahn. Denn hier war es der<br />
Fall, dass, wie wohl mehr geschieht, die Umstande<br />
das Zustandekommen naherer Beziehungen erschwerten,<br />
indem sie einige Dutzend Kilometer<br />
zwischen die Leutchen legten, von deren gegenseitiger<br />
innerer Aktivitat so viel gefordert wurde,<br />
um ein glückliches Verhaltnis herzustellen.<br />
Mirjam hatte angedeutet, dass sie am Sonnabend<br />
Nachmittag vielleicht frei sei. Angekommen, geht<br />
14
Richard auf Umwegen, um eine gehorige Zeit abzupassen,<br />
zu ihrem Haus.<br />
Er klingelt; man lasst ihn ein, lasst ihn warten.<br />
Schliesslich erscheint Mirjam, verandert, zerstreut,<br />
uninteressiert. Nichts von innigen Augen,<br />
die sich in einen treuherzig, ja hingebend hineinbohren,<br />
stattdessen: Reserve, Beherrschtheit.<br />
Wir kennen die Ursache von Mirjams Haltung:<br />
zwischen der ersten Begegnung mit Richard und<br />
diesem Sonnabendnachmittag lagen acht Tage, und<br />
die Tage gehen fiir ein junges hübsches weibliches<br />
Wesen mit anziehendem Bliek nicht immer erlebnislos<br />
vorbei.<br />
Richard also durfte sich wieder auf die Bahn setzen<br />
und seine paar Dutzend Kilometer zuriickfahren,<br />
und wahrend eine frühlingsgrüne Landschaft<br />
an ihm vorbeiglitt (auf dem Hinweg hatte<br />
er nicht auf sie geachtet), dankte er dem Himmel,<br />
dass er diesmal so leichten Kaufes davongekommen<br />
sei. Enthoben allen Forderungen des Entzücktseins<br />
erfiillt ihn das erhebende Bewusstsein<br />
seiner Freiheit.<br />
Ich hatte gehofft, mit diesen wenigen Worten diese<br />
kurze Angelegenheit zu erledigen — schliesslich<br />
war es ja eigentich gerade das Gegenteil von<br />
dem, was man ein Erlebnis nennt — aber hier<br />
kommen wir auf das, was schon neulich bemerkt<br />
wurde: dass nfimlich ein Erlebnis materiell zwar<br />
in dem besteht, was „passiert", seine geistige Bedeutung<br />
aber erst erhalt durch das, was wir von<br />
uns aus dazutun. Und so ist es auch mit dieser Ge-<br />
15
schichte, die wir schnellstens loszusein dachten,<br />
dieser erlebnislosen Geschichte: jetzt erst, da sie<br />
vorbei ist, fangt sie an, für Richard ein Erlebnis<br />
zu werden.<br />
Er konnte also Mirjam aus der Liste seiner Verliebungen<br />
streichen. Sie wünschte of f ensichtlich keine<br />
nahere Bekanntschaft, und er wünschte nicht, sich<br />
aufzudrangen. Garnicht überhaupt daran zu denken,<br />
dass er „eine Eroberung" machen wollte.<br />
Richard hasste gewollte Eroberungen. Wenn er<br />
ohne Absicht wirkte, war es ihm recht; er selbst<br />
auch liebte nur die unbeabsichtigten Wirkungen.<br />
Gerade dass Mirjams Bliek scheinbar bewusstlos<br />
sich dem seinen eingehangt hatte, hatte ihn gerührt.<br />
Sie stand damals da, ein wenig krumm,<br />
sodass sie noch kleiner erschien als sie war, den<br />
Kopf etwas seitlich geneigt, den linken Fuss fast<br />
einwarts — eine Stellung ohne Berechnung, eine<br />
ganz unwillkürliche Stellung wie der Körper sie<br />
wohl ein nehmen kann, wenn die Gedanken mit<br />
fernliegenden Dingen beschaftigt sind. Und wie aus<br />
der Ferne war dabei ihr Bliek in seinen geglitten,<br />
ein tiefer herzergreifender Bliek, den er verdammt<br />
gerne noch einmal gesehen hatte. Richard war<br />
erschüttert, war heimlich durchbohrt, wahrend er<br />
lebhaft sprach und irgendetwas irgendwelchen<br />
Leuten erklarte, die dabeistanden.<br />
Als er gelegentlich wieder nach Mirjam blickte,<br />
stand sie noch immer so traumverloren. Etwas<br />
f eucht-glanzendes strahlte von dort zu ihm, grub sich<br />
ein, blieb ihm in Erinnerung als etwas Köstliches,<br />
etwas, das verdiente, nicht vergessen zu werden.<br />
16
;hten,<br />
ia sie<br />
lebnis<br />
Und nun -wollte das Madchen -wohl selber, dass er<br />
vergessen sollte. Alles war nun Bewusstsein gewesen,<br />
nichts mehr von „Spiegel der Seele". Das<br />
Seelchen beherrschte sich hübsch. Wusste es überhaupt,<br />
dass es sich einmal verraten hatte?<br />
Manchmal schamen sich die Menschen des Besten,<br />
was sie besitzen. Oder sie zeigen es nur den Auserwahlten.<br />
Aber das war ja, zum Teufel, schon wieder<br />
Berechnung! Man war sich also seiner herrlichsten<br />
Gabe bewusst und man ging ökonomisch<br />
mit ihr um. Das Beste war bereits verdorben, angefressen<br />
durch das Wissen um seinen Wert.<br />
Und darum kostete es Richard keine Mühe, Mirjam<br />
sofort aufzugeben. Er hatte einen wundervollen<br />
Eindruck gehabt, in einem Augenblick, da sie sich<br />
gehen liess. Ein Augenblick, ein Anblick für Götter!<br />
Nun aber liess sie sich nicht gehen, sie kontrollierte<br />
sich, sie hielt es für nötig, sich in Richards Gegenwart<br />
zu kontrollieren. Das verdarb Richard das<br />
ganze Vergnügen an seiner Gegenwart bei ihr.<br />
So war das. Gewiss, er war traurig, dass dieses<br />
Schone, dieser ergreifende und rührende Bliek<br />
nur etwas Zufalliges gewesen sein sollte. In ihrer<br />
Unbefangenheit hatte Mirjam sich ihm „offenbart",<br />
er hatte in einer seltenen Minute das „Beste" dieses<br />
Menschen gesehen. Das Beste aber, das ist ja wohl<br />
klar, ruft wiederum in dem, der es im andern zu<br />
erfassen vermag, das eigene Beste hervor. Und<br />
Richard war also bereit, Mirjam sein Bestes zu<br />
geben. Worin dies Beste bestand, wusste er nicht,<br />
und das war auch nicht nötig. Es war, wenn man<br />
es denn inWorte f assen will, die Zusammenfassung,<br />
17
die Summe aller positiven Qualitaten, die in seiner<br />
Natur zerstreut lagen. Er fühlte in sich eine Spannung,<br />
der er vertrauen konnte.<br />
Also eine Wirkung auf Gegenseitigkeit. Und wenn<br />
nun auf der Gegenseite die Wirkung ausblieb, so<br />
blieb alles aus.<br />
„Dass man die eigene Schönheit verleugnet, dachte<br />
Richard, verleugnet zugunsten — hm — zugunsten<br />
der Lebensberechnung. Dass man den Gott in sich<br />
verleugnet und sich zwingt, „vernünftig" zu sein.<br />
Es ist verstandlich (— draussen zog allerhand<br />
Landschaft vorbei mit Wiesen undKühen und Wind<br />
und sehr fernen Baumchen) — es ist verstandlich,<br />
weil es immer so ist. Es sollte unverstandlich sein!<br />
Man vertraut den andern nicht mehr, weil man<br />
wohl einmal enttauscht wurde — man vertraut<br />
vielleicht sich selber nicht mehr. Man hat Angst zu<br />
geben. Erbarmliches Leben! Wahrhaftig, wahrhaftig,<br />
wenn man aus diesem Leben ein Kontobuch<br />
machte, dann — er spuckte drauf — dann allerdings<br />
war das Leben mit jeder Minute, die man<br />
lebte, zu teuer bezahlt. Arme Madchen, arme Mirjam<br />
im besondern. Da sie aber wohl selbst von<br />
ihrer Armut nichts merkte, wohl gar im Gegenteil<br />
diese Bescheidung in Bezug auf ihre Möglichkeiten<br />
sehr gut fand, dies, was Richard erbarmliche<br />
Rechnerei nannte, als vernünftige Beschrankung<br />
im günstigen Sinne beurteilte, so war ja diese arme<br />
Mirjam keineswegs zu bedauern, sondern eher wegen<br />
ihrer Haltung zu loben. In ihrem Sinne entschieden<br />
zu loben, nicht in Richards Sinne. Zwei<br />
Aehnliche — denn dass sie sich ahnlich in einem<br />
18
estimmten tiefenPunkt ihresWesens, harten beide<br />
in jenem Augenblick, dem Bliek derAugen, erkannt<br />
— zwei Aehnliche waren einige Sekunden ihrer<br />
Existenz in vollkommener Uebereinstimmung gewesen,<br />
wundervolle Sekunden, die waren „wie das<br />
Leben selbst", und sofort hatten sie sich wieder<br />
geschieden.<br />
Richard wollte nicht mehr dran denken, aber<br />
dachte noch oft daran. Es war eine Erfahrung<br />
mehr, die er beherzigte. Gewiss, er wurde reifer<br />
durch all die Erfahrungen, die er in sich aufnahm,<br />
er wurde klüger, weiser, aber er anderte deswegen<br />
sein Verhalten nicht. Er wollte sich das Leben<br />
nicht verarmen durch Klugheit, durch Berechnung,<br />
und sein Leben war: sich durch das Weibliche<br />
inspirieren zu lassen. Er war weniger, wenn<br />
er „nur er selbst" als wenn er ein „Doppelklang"<br />
war. Und darum suchte er immer seinen Doppelklang.<br />
Und so sehen wir ihn denn auch alsbald nach<br />
neuer Eingebung Umschau halten.<br />
Ais sie anfingen, war sie einschmeichelnd, und als<br />
sie aufhörten, wurde sie grob und scheusslich. —<br />
Aber Richard lernt nicht. Er liebt noch immer,<br />
wie je.<br />
Es kann geschehen was will, Richard — wenigstens<br />
in diesem Punkte — lernt nichts; er weiss...<br />
Er weiss es besser als alles Geschehen.<br />
„Und vielleicht bist Du sogar verheiratet, und wer<br />
19
weiss, wie vielen Madchen Du das alles schon gesagt<br />
hast" — das Madchen war sehr böse.<br />
Richard hielt sie f est: „Vielleicht habe ich es schon<br />
vielen gesagt, und es ist auch so, dass ich viele<br />
schön finde. — Das horst Du nicht gern?"<br />
„O es ist mir gleichgültig, wie vielen Du es schon<br />
gesagt hast. Lass mich los!"<br />
Richard war zu begeistert, und das Madchen zu<br />
böse; er wollte sanft sein, musste aber fest zupacken;<br />
sie wollte sich los machen.<br />
Plötzlich war der Hund weg. Beide standen auf<br />
und riefen seinen Namen. Pfiffen. Oben auf der<br />
Promenade war er nicht, und am Meer war nichts<br />
zu sehen. Es war vollkommen dunkel. Das Madchen<br />
dachte an den Hund und wie sie den Mann<br />
nur loswerde, und Richard hatte gerne den Hund<br />
zurückgeschafft, er fühlte sich schuldig. Er wusste<br />
nicht, was er tun sollte. Das Madchen rief noch<br />
ein paar Mal nach dem Hund, sie sah in die Nacht<br />
hinaus, auf's Meer; ihr war zum Heulen.<br />
Richard rief noch einmal. Der Hund blieb weg.<br />
Als er dem Madchen die Hand zum Abschied hinhielt,<br />
nahm sie sie nicht. Das argerte ihn; er versuchte<br />
noch einmal, ihrer habhaft zu werden. Vergebens.<br />
Das Madchen ging langsam den Kai hinauf, sah<br />
sich dabei fortwahrend nach dem Hund um.<br />
Richard trottete nach Hause. Er verwünschte sich.<br />
Richard hatte gehofft, etwas besonderes zu sein<br />
oder wenigstens zu werden, doch je alter er wurde,<br />
desto enger schloss sich der Kreis der Alltaglich-<br />
20
keiten um ihn. Unentrinnbar. Und da er sah, dass<br />
er in keinem Fall ein grosser Mann war, beschloss<br />
er, allen Zwang und Streben fahren zu lassen und<br />
nur natürlich zu sein, er selbst zu sein.<br />
Jetzt war aber die Frage: wie war er? Es gab wohl<br />
eine Menge Situationen, die ihm keine Schwierigkeiten<br />
bereiteten. Aber gelegentlich musste ihm der<br />
Verstand helfen. Und bei solcher Gelegenheit musste<br />
er wissen, wer und was und wie er war, um: sich<br />
entsprechend zu handeln.<br />
Wenn er doch eine Ueberzeugung hatte: überzeugt<br />
ist er von seiner Begrenztheit — und vielleicht ist<br />
sogar die nur zeitlich — überzeugt aber sonst: ob<br />
etwas richtig oder falsch — wer weiss das? — und<br />
wenn nun selbst sein Leben verfehlt ist — die Einmaligkeit<br />
des Lebens bewahrt ihm seinen Reiz,<br />
auch wenn man es verfehlt — man kann nur einmal<br />
ein verfehltes Leben erleben, wie man nur einmal<br />
es erfüllen kann. — Vielleicht erfüllte er es,<br />
indem er danebenhieb — o Gott, es gab für uns<br />
wenig zu wissen, ein Wissen, das gewiss höchst<br />
zweifelhaft war, nur wenig echtes in unserer Welt,<br />
und ein Gott mochte wissen, ob es echt war —<br />
nein, keine Ueberzeugung! das war das Resultat<br />
seiner Ueberlegung — das Leben enthielt alles,<br />
und man konnte machen, was man wollte, man<br />
lebte es mit —<br />
Oft hatte er bestimmte Vorahnungen, eine Stimme<br />
sagte ihm, dass er etwas nicht tun solle.<br />
Manchmal tut er es dann doch, obgleich er genau<br />
weiss, dass ihm daraus Unannehmlichkeiten ent-<br />
21
stehen. Er wartet auf die Art der Unannehmlichkeiten<br />
(sie können von allen Seiten anriicken). Und<br />
es geschieht nichts dergleichen, sondern es war<br />
ganz richtig, dass er's tat.<br />
Und so hat er Vorahnungen auf allen möglichen<br />
Gebieten, die sich zum grössten Teil als überflüssig<br />
erweisen, da sie sich nicht erfüllen.<br />
Richard war auch weich. Er war auch schwach.<br />
Ich bin bereit, alles mögliche Schlechte von ihm<br />
zu sagen.<br />
Also: Richard sass vor einem Café in der Sonne.<br />
Auf dem Tischchen vor ihm stand ein Glas mit<br />
einer farbigen trinkbaren Flüssigkeit. Es lagen da<br />
einige Stückchen Zucker und kleines Geback. Richard<br />
dachte an vieles und nichts, er sass da, um<br />
sich auszulüften.<br />
Ein Mann kam an seinen Tisch, murmelte etwas<br />
und hielt seine Hand hin. Ein Bettler offenbar.<br />
Richard verspürte eine unmittelbare Abneigung,<br />
innen schüttelte ihn etwas. Er sah den Mann an, der<br />
weiss Gott weder wohlhabend noch glücklich zu<br />
sein schien. Richard schüttelte den Kopf, er wollte,<br />
dass der Mann sich entferne. (Das war alles, was er<br />
wollte.)<br />
Darauf kam er sich hundserbarmlich vor. Er griff<br />
schnell in seine Tasche und gab dem Mann ein paar<br />
Pfennige. Der Mann dankte und ging.<br />
Darauf kam sich Richard noch erbarmlicher vor.<br />
Ein andermal. — Richard sitzt wieder irgendwo<br />
an der Strasse und wieder streckt sich eine Hand<br />
aus: bittend, fordernd.<br />
22
Und da Richard nun schon lange weiss, dass diese<br />
Pfennige ihm Uebelkeit und Brechreiz verursachen,<br />
gibt er ein Silberstiick.<br />
Und da fragt er sich kurz darauf, ob er völlig verrückt<br />
geworden sei.<br />
Und ob er nur dann mit ruhigem Gewissen öffentlich<br />
speisen oder trinken könne, wenn er das<br />
Doppelte des Betrages bei sich habe, den er zu<br />
verzehren gedenke.<br />
Und ob von ruhigem Gewissen gegenüber einem<br />
Bettler bei ihm überhaupt die Rede sein könne.<br />
Und ob — und noch ein Haufen Fragen, auf die es<br />
für ihn keine Antwort gibt.<br />
Es ist da ein Ton in der Welt — da von Richard<br />
die Rede ist, wollen wir ihn Richards Ton nennen<br />
(so hat wohl jeder Mensch einen bestimmten Ton,<br />
auf den sein Wesen abgestimmt ist) — wenn der<br />
angeschlagen wird, dann ist Richard. Da gibt es<br />
kein Denken oder Bedenken, kein Reden oder Sinnen<br />
oder Traumen, sonder das Dasein in höchsteigener<br />
Person tritt auf. Ein unschöpferischer<br />
Zustand der Harmonie und des Seins, eine vollkommen<br />
wache lebenerfüllende „Sache".<br />
Und eben wegen dieses Tons, d.h. dass er selbst,<br />
Richard, sozusagen im All vorhanden war und<br />
erklang, dass die Entsprechung seines Grundtons<br />
in der Schöpfung lebte, und dass er dies wusste,<br />
immer — eben deswegen war Richard Optimist,<br />
d.h. er konnte die Welt nicht schlecht finden, konnte<br />
dass Leben nicht verdammen.<br />
23
Richard betete. Dabei dachte er an junge Madchen.<br />
Er sah die Vollkommenheit der Schöpfung,<br />
wenn er an sie dachte, sie waren „das Göttliche"<br />
für ihn, Gottes beste gelungenste Leistung. Er<br />
dachte nicht an eine, sondern — wenn er an die<br />
Madchen dachte, die er kannte und gekannt hatte,<br />
so erinnerte er sich merkwürdigerweise nur an<br />
etwas, das entzücken konnte, nicht an ihre Worte<br />
oder Handlungen, die ihn oft gepeinigt hatten,<br />
sondern an das — nennen wir's: die Atmosphare,<br />
die sie umgab, das Atmospharische, das sie bewirkten<br />
und wirkten. Eine Schwingung die von innen<br />
ausging, und die seine Seele — (Verzeihung für<br />
„Seele") — einatmete, einsog und als etwas verwandtes,<br />
also „seelisches" empfand. Etwas was<br />
mit Hauch, Anhauch des Edelsten, Feinsten, Zartesten,<br />
Reinsten, fast Engelhaften, was in einem<br />
Menschen sein kann, was im Menschlich-Irdischen<br />
auch verwoben ist, eben nur wörtlich-klaglich bezeichnet<br />
ist.<br />
Er dachte an Frauen, und er dankte der Schöpfung<br />
für das Vorhandensein dieser geheimnisvoll wundersamen<br />
Erganzung und Möglichkeit des Mannlichen,<br />
durch Verbindung zu einer unerwarteten<br />
Höhe und Vollendung zu gelangen. Er verehrte (ja<br />
ganz unwillkürlich-spontan) imWeiblichen dasEreignis<br />
des Daseins, dessen immer neues Erlebnis<br />
eine rasende Entfaltung seiner Wesens bedeutete.<br />
Wahrhaftig, unser Richard war fromm, sentimental<br />
ausgedrückt; im Grunde war er — bescheiden.<br />
Worauf ? Auf sein Mensch-sein, auf sein Mann-sein.<br />
24
Ein Abend<br />
Sie sprachen von kiinstlerischen Angelegenheiten.<br />
Dr. A. liebte nicht derartige zum Teil schwierige<br />
Gesprache. Es argerte ihn, dass in seinem Haus<br />
immer „Gesprache" geführt wurden. Niemals kam<br />
ein leichter Ton auf, niemals wurden harmlose<br />
Spiele gespielt, keine Karten, kein Domino, nicht<br />
einmal Schach (selbst Schach war nicht bedeutend<br />
genug, die Hausgenossen zu beschaftigen): man<br />
musste sich tiefsinnig unterhalten.<br />
Und ich habe mir die Bemerkungen, die der Dokter<br />
machte, so zu erklaren versucht: dass er einfach<br />
dieses „geistverehrenden" Tones satt war, er wollte<br />
Luft haben. Und so hatten seine Bemerkungen<br />
manchmal etwas uniiberlegtes, jugendlich-naives<br />
(aus einem unwillkiirlichen Protest heraus).<br />
Sie sprachen z.B. darüber, dass auch jeder grösste<br />
Künstler eine gewisse „Manier" in seinen Ausdrucksmitteln<br />
entwickelt habe. Und einer ausserte,<br />
dass ihn das store: dass nicht alles reine Inspiration<br />
sei im Kunstwerk, sondern auch immer viel<br />
Handwerk und Routine dabei.<br />
Sie kennen ja derartige Gesprache. Einmal im<br />
Monat here ich mir so etwas ganz gerne mit an.<br />
Und dann sprachen sie auch iiber die Werke der<br />
Künstler, besonders über die Alterswerke. Ob<br />
nicht gewöhnlich mit dem Aelterwerden auch ein<br />
Abnehmen der Geisteskrüfte festzustellen sei, und<br />
ob sich das nicht in den Werken bemerkbar mache.<br />
Einer sagte: die Maler mussen mindestens 60<br />
Jahre alt werden, dann erst ist es ihnen möglich,<br />
25
Bilder zu schaffen, überlegene, geheimnisvolle, erstaunliche<br />
Werke. Denken Sie an Tizian, an Rembrandt,<br />
Frans Hals.<br />
Wirklich haben diese Meister in ihren Alterswerken<br />
ein Etwas, dass den Jugendarbeiten fehlt: ich<br />
möchte sagen, etwas Mystisches, etwas Ungewollt<br />
- unerklarliches und — packendes, eine geistige<br />
Sphare von hohen Graden.<br />
Und dann sprach man vom Alter überhaupt, vom<br />
Altwerden.<br />
Wie da Greise mit den Handen zittern, das Essen<br />
fast nicht mehr zum Munde führen können, beim<br />
Trinken den Trank verschutten und nicht merken,<br />
wenn ihnen ein Tropfen an der Nase hangt.<br />
Dr. A. sagte: ich wünsche, vorher zu sterben. Es<br />
ist mir ein schrecklicher Gedanke, dies Bild der<br />
menschlichen Gebrechlichkeit einmal selber darstellen<br />
zu sollen.<br />
Hierin stimmte man ihm bei: Was ware auch<br />
dagegen einzuwenden gewesen? Kein Mensch fühlt<br />
gerne die Abnahme seiner körperlichen und geistigen<br />
Krafte, dies langsame Eintrocknen der Lebenssafte.<br />
Niemand fallt gern andern zur Last oder lasst<br />
sich bedauern. Jedenfalls kein normaler, gesunder<br />
und tatiger Mensch. Der Dokter sagte sogar, er<br />
würde sich schamen, als so gebrochener Greis<br />
unsere Erde noch zu belasten.<br />
Finden Sie denn selbst, fragte man, den Anblick<br />
eines zittrigen Greises so furchtbar?<br />
Er sagte: Nein. Ich habe zwar zunachst ein spontanes<br />
Abwehrgefühl bei seinem Anblick. Etwas<br />
straubt sich in mir. Das ist aber nur im ersten Au-<br />
26
genblick. Dann finde ich mehr etwas Rührendes,<br />
ja vielleicht sogar etwas Liebes, Anheimelndes im<br />
Anschaun des Mannes.<br />
Dann sprach man (glaube ich) von Christus. Der<br />
ist ja wirklich ein unerschöpfliches Thema. Ich<br />
weiss nicht mehr, wie man gerade auf Christus<br />
kam. Aber bei einer so schweifenden Unterhaltung<br />
kann man schliesslich auf alles kommen. Und auf<br />
Christus kann man schliesslich immer und von<br />
allen Punkten kommen. (Das beweisen, sagte jemand,<br />
die Priester, die wie die Katzen auf ihren<br />
Füssen immer bei Christus landen). Erna sagte,<br />
dass er ihr unsympatisch sei. (Ich habe vergessen,<br />
warum).<br />
Wir tranken etwas, rauchten. Lena reichte GebSck.<br />
(Sie war hauptsachlich Richards wegen hier.)<br />
Ich erinnere mich, dass ich bei Richard eine gewisse<br />
Unruhe bemerkte, oder eigentlich eine auffallende<br />
Zurückgezogenheit. Er hatte sich erst lebhaft<br />
an der Unterhaltung beteiligt. Jetzt schwieg<br />
er schon eine Weile. Lena fragte, ob er auch alles<br />
verstande (man sprach im Landesdialekt). Er bejahte<br />
und schwieg weiter, ein ausgezeichneter<br />
Zuhörer.<br />
Als dann niemand mehr sprach, sagte er:<br />
Entschuldigen Sie, wenn ich auf etwas zurückkomme,<br />
was vorhin gesagt wurde. Ich bin langsam;<br />
(aber das war nicht der Fall, ich hatte bemerkt,<br />
dass ihm schon seit „vorhin" etwas auf der Zunge<br />
brannte,anscheinend etwas für ihn ganz Wichtiges.<br />
Er hatte sich aber zurückgehalten). Wir sprachen<br />
vorhin von dem Greis mit der zitternden Hand,<br />
27
sagte er, und dem Tropfen an der Nase, den er<br />
nicht mehr fühlt, und der Doktor lehnte für sich<br />
diesen Zustand ab.<br />
Nun, ich möchte nur bemerken, dass ich für mich<br />
diesen Zustand keineswegs ablehne. (Richard ist<br />
ungefahr 30, der Doktor in den Vierzigern.)<br />
Wissen wir denn, was es heist, 60 Jahre alt zu<br />
sein?<br />
Wir wissen es überhaupt nicht.<br />
Oder wussten wir mit 16 wie wir mit 30 sein<br />
würden?<br />
Wir haben uns etwas vorgestellt, etwas, was unserm<br />
Alter entsprach. Jetzt wissen wir, dass sich<br />
die Perspektive der Lebensansicht fortwahrend —<br />
mit dem Aelterwerden — verschiebt.<br />
Mit 16 wollten wir auf keinen Fall auch nur eins<br />
unserer Ideale aufgeben. (Aber das Leben hat sich<br />
starker erwiesen als alle Ideale, d.h. wir erkennen<br />
keine Ideale mehr an, die abseits vom Leben eine<br />
Existenz zu führen wünschen.) Wir würden niemals<br />
resignieren, dachten wir. Wir verachteten<br />
oder bemitleideten Menschen, die resigniert hatten.<br />
Aber das war ja alles nur, weil es damals so unserem<br />
Alter entsprach. Wussten wir denn überhaupt,<br />
was das ist: ein Mensch, der resigniert hat?<br />
Wie er fühlt, denkt, handelt? — Heute stellen wir<br />
selbst resignierte Menschen dar. Dies Erlebnis ist<br />
so gross, dass es uns jede Enttauschung vergessen<br />
lasst. Oder wir sind auf dem Standpunkt der 16jahrigen<br />
stehen geblieben.<br />
Hier unterbrach sich Richard. (Er nahm ein Stück<br />
28
ï er Kuchen. Ich denke, er wollte seine Begeisterung<br />
»ich hindern, mit ihm durchzugehen.) Plötzlich sprachen<br />
alle durcheinander:<br />
lich „Wie denn? Da wollte einer „gerne" alt werden,<br />
ist War das nicht vielleicht nichts anderes als „Furcht<br />
vorm Tode"? Oder schlaue Anpassung an das<br />
zu Schicksal, das uns garkeine Wahl lasst, wenn wir<br />
lange genug leben, jung zu bleiben oder Greis zu<br />
werden?"<br />
ein Nein, sagte Richard, nicht aus Ergebenheit gegen<br />
mein Schicksal wünsche ich alt und alter zu werun-<br />
den und die Gebrechen des Alters zu erfahren,<br />
ich | sondern darum, weil ich diese einzige Gelegenheit<br />
— nicht vorbeigehen lassen will, auch diese Seite des<br />
Lebens kennen zu lernen. 1st nicht „vor Alter<br />
ins mit den Handen zittern" eine Sache, die wir jetzt<br />
ich aus der Situation unserer Gesundheit betrachten<br />
ïen und uns darum nicht wünschen, die aber völlig<br />
ine anders ist, wenn wir selbst alt sind und sie tun.<br />
lie- Schatzen wir denn in der Kunst — da vorhin von<br />
ten Kunst die Rede war — nur die Werke der Grieiat-<br />
chen, nur die Jugend, die Kraft, die Fülle, oder hat<br />
nicht auch gerade der Doktor seine Begeisterung<br />
.111- für Gotik und die Alterswerke Rembrandts verer-<br />
kündet. Lieben wir in der Kunst nicht alle Epoat?<br />
chen, in denen grosse Persönlichkeiten geschaffen<br />
vir haben?<br />
ist Warum sollte im Leben die Sensation des Alterns<br />
sen ein geringeres Erlebnis sein als die der Jugend?<br />
16- Die Jugend haben wir erlebt, — er stand auf —<br />
wir waren selbst Jugend; an uns konnten andere<br />
ck sie begreifen. Wir lebten sie, wie wir jetzt das<br />
•<br />
29
Mittelalter leben. Und ich möchte keinesfalls auf<br />
das Schlusskapitel verzichten. Das Abnehmen der<br />
Krafte, wie Sie es nennen, das Verandern der Krafte<br />
und die damit verbundene Umwandlung, Verwandlung,<br />
ich wiinsche sie mitzumachen wie ich<br />
bei der Zunahme dabei war. Sonst meine ich,<br />
würde mir, meinem Ich, meiner Einmaligkeit, ein<br />
Teil der Möglichkeiten des Daseins entgehen.<br />
Vielleicht erringen wir mit dem Alter eine grössere<br />
Freiheit. Jetzt würden wir uns noch schamen,<br />
einenTropfen an derNase zu haben, dann schamen<br />
wir uns nicht mehr. Wir gehen leichter über alle<br />
Konventionen hinweg, wenn wir auch körperlich<br />
schwerfalliger gehen als früher. Vielleicht werden<br />
auch unsre Werke geistiger sein und weniger beschwert<br />
von Materie.<br />
Ah — warf man ein — Sie erwarten also vollkommenere,<br />
bessere Werke vom Alter?<br />
Ach, lassen wir die Werke, rief Richard, die werden<br />
wahrscheinlich nur schlechter sein. Ja, wahrscheinlich<br />
werden wir nur mehr verblöden, stumpfer<br />
werden. Schon jetzt fühle ich ein Vermindern<br />
der Krafte. Ich kann nicht mehr viel lesen, mein<br />
Kopf straubt sich, mehr als 10 Druckseiten aufzunehmen,<br />
wahrend ich früher ganze Bibliotheken<br />
verschlang. Auch beim Schachspiel kann ich nicht<br />
mehr kombinieren wie vor 2, 3 Jahren. Aber besteht<br />
denn das Leben aus Lesen oder Schach oder<br />
einer ahnlichen Beschaftigung? Gibt es da nicht<br />
noch ganz andere Dinge mitzumachen?<br />
Aber ware — er war nicht mehr aufzuhalten —<br />
aber ware das Altern auch nichts anderes als ein<br />
30
auf<br />
der<br />
LrSf-<br />
I Verich<br />
ich,<br />
ein<br />
?rösien,<br />
(men<br />
alle<br />
rlich<br />
|rden<br />
be-<br />
Abnehmen — in der Kunst wie im Leben gilt Kraft<br />
wie Schwache gleichviel.<br />
Wenn unser Alter ebenso erfiillt von sogenannter<br />
Schwache ist, wie es unsere Jugend von sogenannter<br />
Kraft war, dann sollten wir uns nicht beklagen,<br />
und ebenso völlig alt sein, wie wir seinerzeit völlig<br />
jung waren. Denn — das wiinschte ich so sehr zu<br />
betonen — etwas zu sein ist etwas ganz anderes als<br />
zu sehen, wie etwas ist.<br />
Das Schaffen eines schlechten Kunstwerkes gewahrt<br />
genau dieselbe Befriedigung wie das eines<br />
guten. NSmlich wahrend des Schaffens. Und für<br />
die Mutter ist das Austragen eines Napoleon genau<br />
dasselbe wie das eines Idioten.<br />
Etwas anderes ist das „Sehen", das Betrachten des<br />
Geschaffenen. Doch uns selber sehen wir nie. Denn<br />
wir wissen nicht, wie wir morgen sind. Wir schaffen<br />
uns, wir werden fortwahrend geschaffen.<br />
Wer ist, macht immer — eine komische Figur.<br />
Aber dass man überhaupt ist, überhaupt zu sein,<br />
das ist das grösste Erlebnis des Lebens in alien<br />
seinen Abschnitten, mag es sich nun auf die Jugend<br />
oder das Alter beziehen.<br />
Der Doktor sagte: ich bin von dem, was Richard<br />
sagt, berührt; aber ich bin nicht überzeugt. —<br />
Das blieb mir von dem Abend in der Erinnerung.<br />
31
P U B E R T A T<br />
But<br />
Ich bin — ich weiss nicht<br />
Mein Herz — ich kann mich nicht fassen —<br />
Es geht mir wirklich schlecht.<br />
Tommy sagt: Mensch, Kopf hoch —<br />
Tommy, dem ich sonst immer sagen muss: Haltung<br />
Tommy. Ich muss ihm dann einen Stoss geben,<br />
damit er sich aufrafft. Niemand kann so völlig<br />
verzweifelt sein wie der dicke Tommy.<br />
Hermann sagt: Mit dir ist was los. Nimm dich<br />
zusammen, Kerl.<br />
Kein Madchen guckt mich an. Sie wissen, dass ich<br />
nichts wert bin.<br />
Und Rut fïihrt nach Paris. Sie war hier noch die<br />
Einzige — nun ist überhaupt nichts mehr da —<br />
man kann sich schlafen legen. Ware das Gescheiteste.<br />
Wir bringen sie alle an die Bahn, Rut, das Prachtmadchen.<br />
Guten Tag, Alter, sagt sie und klopft<br />
dem Papa auf die Schulter. Und zur Mutter: Na,<br />
nun heule doch nicht zum Donnerwetter, schreit<br />
sie. Und zu Herman: Mach keine Schweinereien,<br />
wenn ich weg bin. Und Tommy, shake hands, auf<br />
Wiedersehen, alter Knabe, halt dich wacker.<br />
Und ich werde ganz Paris grüssen.<br />
Das sagt sie alles aus dem Coupéfenster. Wir stehen<br />
draussen am Zug und reden.<br />
Hab dir noch nicht Adieu gesagt, ruft sie. Ich gehe<br />
32
ans Fenster und will ihr die Hand driicken. Da<br />
beugt sie sich raus und gibt mir einen Kuss.<br />
Mir!<br />
Der Zug fahrt ab.<br />
Ich gebe Tommy einen Stoss: Mensch, sage ich,<br />
Haltung.<br />
Ich bin ganz glücklich. Aber alle sind niedergeschlagen,<br />
weil Rut, die Herrliche, fort ist, und wir<br />
gehen.<br />
Mensch, sage ich zu Tommy.<br />
Und jetzt verstehe ich: niimlich die ganze Zeit,<br />
als wir auf den Zug warteten, hatte ich Ruts Arm.<br />
Ich liess sie nicht locker. Nun geht sie weg. Und<br />
sie ist ja der einzige Mensch hier. Hier und überhaupt.<br />
Und darum hielt ich immer ihren Arm fest,<br />
wie wir so auf dem Bahnsteig hin und her gehen<br />
und warten und alle sprechen etwas. Der Zug<br />
kommt an. Lass jetzt endlich Rut los, zischt Tommy<br />
mich an. Und natürlich lass ich gleich los, denn<br />
der Zug kommt ja an und sie muss einsteigen. Ich<br />
denke, Tommy sagt das, weil der Zug kommt. Es<br />
argerte mich trotzdem. Aber jetzt verstehe ich, dass<br />
es die Eifersucht war. In Tommy kochte es, das<br />
begreife ich nun. Der Dicke kochte, etwas musste<br />
heraus, sonst explodierte er. Das Ventil zischte<br />
und liess Druck raus. —<br />
Rut ist weg. Hier ist nichts mehr los. Und mein<br />
Herz liegt wieder auf der Strasse.<br />
Ich bin krank. Ich liebe tausend Dinge. Ich kann<br />
mich nicht halten. Ich bin — ich weiss nicht.<br />
33
Sie schreibt ihm<br />
Ich schreibe ihm. Alles, was ich auf dem Herzen<br />
habe. Und das ist nicht wenig.<br />
Du..<br />
Ich stocke schon. Ich weiss nicht, wie ich anfange.<br />
Worte, das ist ja was Grausiges, wenn alles hindrangt,<br />
alles Gegenwart wünscht. Wie das zieht.<br />
Es verschlagt mir den Atem. Ich will mich in die<br />
Bahn setzen und hinfahren.<br />
Ich muss, ich muss schreiben; wenn ich jetzt nicht<br />
Gebrauch mache von dem einzigen Mittel, eine<br />
Verbindung herzustellen — Himmel, ich fiirchte<br />
fast, dass ich nicht schreiben werde. Ich weiss<br />
schon nichts mehr, was ich schreiben wollte. Mein<br />
Herz ist voll, ja, aber auch mein Kopf, mein ganzer<br />
Körper ist voll, ist übervoll von — ihm. Jetzt<br />
schreiben — dazu fehlt mir die Sachlichkeit. Ich<br />
bin Bewegung, ganz Welle, ganz Sturz, ganz Eifer,<br />
— nein, jetzt mich vor ein Blatt Papier setzen,<br />
denken — das ware wie Hinrichtung.<br />
Ich will bei dir sein, nichts andres als bei dir sein,<br />
und dann werde ich wohl auch etwas zu sagen<br />
wissen. Oder besser noch, still sein. Ich bin übervoll,<br />
und weiss garnichts als dich, als uns beide,<br />
zu fiihlen, deine Augen, zu sehen — und alles.<br />
Alles. Du. Dich.<br />
Ich sehe, es wird nichts draus. Es wird nichts aus<br />
dem Brief.<br />
Wird er es verstehen? Er muss das verstehen.<br />
Ich schreibe nicht.<br />
34
Ich warte und warte —<br />
Nachts<br />
Die Beleuchtung ist hier schlecht und die Strasse<br />
fast dunkel. Ich habe mich unter ein Portal gestellt.<br />
Es regnet.<br />
Ich warte — worauf?<br />
Es ist Nacht.<br />
Trostlos ist es und — jetzt wird Licht angemacht<br />
an dem Fenster.<br />
Eigentlich habe ich etwas anderes zu tun. Man hat<br />
Pflichten. Zum Lachen.<br />
Wer wartet?<br />
Ich habe keinen Grand mich zu beklagen. Im<br />
Gegenteil. Viele haben viel mehr Grund. Und doch.<br />
Dass es einem trotzdem so verzweifelt schlecht<br />
gehen kann!<br />
Ich glaube, jetzt habe ich einen Schatten da oben<br />
gesehen.<br />
Ich glaube, es geht mir schon besser.<br />
Donnerwetter, ist das aber ein Guss. Jetzt wird das<br />
Fenster aufgemacht — das kann nicht sein! Bei<br />
dem Wetter! Ich gebe mir eine Ohrfeige, die<br />
schmerzt. Also traume ich nicht.<br />
Es steht jemand am Fenster und sieht in die Nacht.<br />
Ich sehe rauf zum Fenster. Schritte hallen in der<br />
Strasse. Es regnet schrecklich. Man sieht keine<br />
zehn Meter weit.<br />
Das ist wie auf dem Land und nicht wie in einer<br />
grossen Stadt. Der Regen wascht die Strassen leer<br />
und taucht alles in Natur. Ich bin begeistert.<br />
35
Und da drüben ein matter Lichtschein und ein<br />
Schatten.<br />
Ich bin sehr begeistert. Ich habe vollkommen die<br />
Stimmung eines Gedichtes. Ich fantasiere eine Geschichte<br />
zusammen, die zum Schatten passt. Ich<br />
halte mich im Dunkel des Portals. Jetzt singe ich<br />
ein Lied auf das Leben. Es ist wunderbar und seltsam.<br />
Das Leben. Reich, stromend — man kann es<br />
nicht ausdenken.<br />
Dass man sich in Hauser einsperrt! Dass man<br />
nicht wandert, immer weiter! Wie eingezwangt<br />
lebt man das Leben, das wunderbare, mit seinen<br />
zarten Sonnenuntergangen, mit der Weite des Himmels<br />
und der Erde, ja mit seiner Grosse und Weite.<br />
Fast unbegrenzt ist es, und wir leben es wie — wie<br />
Leute, die fortwahrend was zu verlieren haben.<br />
Aengstlich lebenwir's.einfach feige, und jedenfalls<br />
ohne Grosse und Weite. Wie in einer Eierschale<br />
leben wir, beengt und vorsichtig, dass wir ja nicht<br />
die feine Schale zerbrechen. 1st das überhaupt das<br />
Leben? Das ist eine Erbarmlichkeit! Jetzt, jetzt,<br />
wie der Regen herunterprasselt, ich atme das, die<br />
Baume stehen wie geduckt und schwer atmend,<br />
ich rieche das, ich — der Teufel, ich gehe hinüber<br />
und klingle. Aber da ist gar kein Licht mehr und<br />
kein Schatten. Und der Himmel beginnt zu dümmern.<br />
36
Liebe<br />
Liebe ...<br />
Liebe Liebe Liebe liebe liebe Liebe Liebe Liebe<br />
Liebe Liebe Liebe ...<br />
Ich kann nichts anderes sagen, nichts anderes denken.<br />
Ich liebe wahnsinnig, bin ganz verriickt davon.<br />
Sie ist gar nicht da, ich weiss nicht, wo sie ist.<br />
Aber ich werde sie wiedersehen. Oder auch nicht.<br />
Ich werde krank davon. Es ist gleichgültig.<br />
Ich liebe ...<br />
Liebe liebe Liebe Liebe Liebe Liebe Liebe liebe<br />
liebe liebe —<br />
Das ist wunderbar. Und schmerzlich. Furchtbar<br />
schwer. Aber unbedingt das Wunderbarste, was<br />
es gibt — ohne das, ich wollte nicht leben, ich<br />
kann mir das Leben ohne das gar nicht vor^<br />
stellen.<br />
Es ist ja ein Unding: ein Leben ohne Liebe —<br />
haha, wirklich ein guter Witz.<br />
O ich liebe ...<br />
Man kann das im Grunde nicht sagen. Es ist eine<br />
Sache, ganz für einen selbst. Und dann: es hinausschreien<br />
...<br />
Sie lieben ja auch alle. Der Kondukteur und der<br />
Milchman. Und all die Madchen, überhaupt jeder,<br />
jeder, ich weiss es, dass sie ganz wahnsinnig lieben,<br />
so, wie sie es selber gar nicht wissen. Ich weiss es<br />
besser! Sie könnten ja gar nicht bestehen ohne<br />
eine alles überströmende Liebe, ohne dieses —<br />
Aus dem Weg gehen? Selbstverstandlich. Gehen Sie<br />
37
nur vorbei, ich mache Platz. Was kummert mich<br />
dieser Narr, der mir da auf die Füsse tritt. Der<br />
Teufel hole ihn, ungeschickter Patron! Ich liebe,<br />
ich liebe —<br />
Sie hat mir nicht mehr geschrieben, seit — ich<br />
weiss nicht. Ob ich je noch einen Brief bekomme?<br />
Hier ist die Luft reiner. Etwas Baume, ein kleiner<br />
Teich. Nicht mehr diese erdrückenden Steinmassen<br />
—<br />
Ehrlich gestanden, habe ich noch nie einen Brief<br />
von ihr bekommen. Ich stelle mir das nur so vor.<br />
Es ware — nun einfach — ich glaube nicht, dass<br />
ich es aushalten konnte.<br />
Ich sehe morgens nach der Post. Wahrhaftig, ein<br />
Brief! Von wem? Ich kenne die Handschrift nicht,<br />
aber ich weiss es sofort, es ist kein Zweifel möglich,<br />
dieser Brief ist von ihr. Von — und dann<br />
würde ich den Brief nicht öffnen. Ich würde ihn<br />
eine Stunde bei mir tragen, ohne ihn zu öffnen.<br />
Auch dann würde ich ihn nicht öffnen. Einen<br />
ganzen Tag lang nicht. Vielleicht noch langer.<br />
Nein, sein Inhalt kann mir unmöglich soviel Glück<br />
bringen, wie — dass sie mir geschrieben hat. Ich<br />
glaube sogar, der Inhalt würde mich etwas enttauschen.<br />
Einfach weil ich zuviel — aber kann<br />
man jemals zuviel lieben?<br />
Ja, ich glaube beinah, dass ich sie zuviel liebe.<br />
Es muss sie schliesslich langweilen, so einer wie<br />
ich, der eigentlich nichts anderes tut, als nur zu<br />
lieben und sonst — sonst? Es muss sie langweilen,<br />
d.h. wenn sie es wüsste. Wenn sie eine Ahnung<br />
hatte. Aber ich hüte mich, sie es merken zu lassen.<br />
38
Und doch, natürlich würde ich nichts lieber, als<br />
er irgendetwas für sie tun. Und dann? dann? das<br />
c, Dann interessiert mich nicht.<br />
Liebe . .. Ich will immer davon reden,<br />
li Ich will sie Euch beschreiben, sagen, wie sie ist.<br />
•? Sie ist schmal und ein wenig hasslich, ja, der<br />
er Mund ist nicht ganz so, wie er sein sollte, ja —<br />
s- nein, das lasst sich nicht beschreiben. Man kann<br />
nur einen Menschen beschreiben, die ausseren Foref<br />
men eines Menschen, aber niemals das Besondere,<br />
r. Einzige.<br />
ss Nun bin ich wieder zu Hause angelangt, zu Hause,<br />
d.h. auf meinem Zimmer, das kahl und gleichn<br />
• guitig, etwas unaufgeraumt und billig ist. Hier<br />
t, riecht es immer nach — ich erinnere mich von<br />
g- früher dieses Geruchs, aber weiss nicht, was es<br />
in ist.<br />
in Ich stelle mir vor, dass sie zu mir kommt, bei<br />
n. jedem Gerausch auf der Treppe stelle ich's mir<br />
>n vor. Und dann — vorbei. Die Schritte gehen weir.<br />
ter, vorbei an meiner Tür, die Treppe hinauf.<br />
•k Man muss schon, denke ich, ein Liebhaber der<br />
li Liebe sein, wenn man das alles ertragt — die —<br />
t- nun ja, all die Enttauschungen. Denn, genau bem<br />
sehen, erlebe ich doch nur Enttauschungen. Sie<br />
kommt nicht, sie schreibt nicht, ich sehe sie nicht<br />
e. — es ist schwer zu ertragen, wenn man doch so<br />
e fürchterlich liebt — und bestimmt halte ich das<br />
a nicht mehr lange aus. Marie sagte gestern, dass<br />
ï, ich sehr schlecht aussehe, und wirklich ist mir<br />
g ganz elend zu Mute. Es ist doch alles aussichtslos<br />
i. und so gar keine Hoffnung. Hoffnung? Worauf?<br />
39
Was hoffe ich denn? Ich weiss es selbst nicht. Aber<br />
immer so zu lieben und nur zu lieben, keinen andern<br />
Gedanken zu haben als diese Liebe — gewiss,<br />
gewiss, ich bin bereit zu leiden, das Aeusserste zu<br />
leiden, ich will mich nicht schonen, aber dies ist<br />
doch wirklich, nicht wahr, allzu hoffnungslos.<br />
Ich liebe immerzu und dann — so leer wird es<br />
plötzlich. So unwirklich, das Leben, alles, der Kopf<br />
wird leer, ich kann es mir nicht mehr vorstellen.<br />
Es miisste etwas geschehen. Aber es geschieht rein<br />
garnichts. Alle Menschen gehen und sind beschaftigt,<br />
aber ich — ich gehe zu Miidchen. Es lenkt<br />
mich ab. Aber dann komme ich wieder auf mein<br />
Zimmer. Schliesslich komme ich doch immer wieder<br />
auf mein Zimmer. Und dann — ich kann nicht,<br />
ich kann nicht. Ich liebe doch, ich liebe — bin ich<br />
denn ganz allein, bin ich denn wirklich der Einzige?<br />
Ach, ich hatte davon nicht sprechen sollen. Niemals.<br />
Das war der Fehler. Ich war so voll davon.<br />
So ganz — Und nun? Zu spat!<br />
Ich habe es gesagt, und nun bin ich wirklich einsam.<br />
Ausgestossen von alien. Ich habe wohl irgendetwas<br />
Unverzeihliches getan.<br />
40
Der Brief<br />
Geliebte ... Liebe ... Geliebtes ...<br />
du Gute, Schutzgeist, du Gute du, du Schone, Liebe,<br />
du Liebe denkt Richard und schreibt:<br />
Eva<br />
das malt er in unsichern rundlichen Buchstaben.<br />
Bei jedem Zeichen zögert er, alle Töne, alle Süsse<br />
malt er in das eine Wort. Wird sie's horen?<br />
O dass ihm doch die Beschwingtheit der sprachebeherrschenden<br />
Dichter geworden ware! jetzt beneidet<br />
er sie um ihre Macht. Wird sie fühlen, dass<br />
alle Innigkeit und Sehnsucht, deren ein Mensch<br />
(— eben so einer wie er — das ist es ja leider —<br />
ah — schrecklich, schrecklich * —) fjihig ist, in<br />
diesem Wort versammelt ist? Wird sie den Klang<br />
horen ihres vor Ueberfülle des Herzens wie gestammelten<br />
Namens?<br />
Richard zweifeit dran, der Zweifel macht ihn<br />
traurig. Und dann — was bleibt ihm auch sonst<br />
— überlasst er's dem Schicksal: Vielleicht! hofft<br />
* niemand kann aus seiner Haut — was soil er tun?<br />
Sich ganz geben, das Letzte — so wird doch wohl<br />
ein Menschliches zum Vorschein kommen, das wert<br />
ist, von einem Menschen geliebt zu werden. Alles,<br />
alles für den geliebten Menschen.' (so wird selbst<br />
ein Ricard unwiderstehlich —) ... Wenn er doch<br />
nur eine bessere Meinung von sich selbst hatte!...<br />
Ja, verglichen mit den andern! — wie sagte damals<br />
41
er — etwas von dieser Liebe muss doch haften<br />
bleiben am Brief, wenn ers auch nicht schreiben<br />
kann, wenn auch ein langer Tag vergeht, bis sie<br />
Mest, was er nicht hat schreiben können.<br />
Gaspard?: „Mit einem Bekannten verglichen bin<br />
ich ein Mensch, mit einem Menschen verglichen<br />
ein Esel" — Gut getroffen, so war es — ah ein<br />
Mensch wollte er sein, wenn auch nur ein kleiner<br />
Mensch, ein echter, für sie — und war nicht ein<br />
wirklicher Mensch in jedem Fall was Grosses! Für<br />
sie — er — ein Mensch — das musste sie aufrütteln<br />
aus ihrem Wahn, aus dieser kiinstlichen Welt des<br />
Kopfes zur wahren Wirklichkeit des Lebens — er<br />
wird den Alb der kranken Vergangenheit verscheuchen<br />
and an die Stelle derTrugbilder die volle Glut<br />
des immer gegenwartigen, immer sich erneuernden<br />
Augenblicks setzen. Durch die unerklarliche<br />
Liebe zu ihr fühlt er sich hierzu fahig, er, der<br />
kleine, der dumme Richard. Ja, wenn er doch<br />
immer dumm und klein bleibe! aber hatte er nicht<br />
seine heroischen Standen, in denen er Herschergesten<br />
oder spöttische Ueberlegenheit mimte —<br />
eine schlecht fundierte Ueberlegenheit! — Aber<br />
sie wird ihn heilen, ihn bessern. An ihr entfachen<br />
sich seine besten Fiihigkeiten, die schaffenden: er<br />
wird ein Mann sein nnd sie zu einer Frau machen!<br />
Dieses Madchen hat das Zeug zu einer wunderbaren<br />
Frau — er denkt an ihre besten Stunden: da<br />
sprach er und handelte, ohne zu denken, nicht er,<br />
ein Grösseres durch ihn; er fühlte sich in Einklang,<br />
gehorsam der unbegreiflichen Natur, ge-<br />
42
tragen von ihren unerhörten Gesetzen. Diese Stunde!<br />
das war die Wahrheit, das Leben — kein<br />
Gedanke! —<br />
Liebe Liebe du Liebste du Liebe —<br />
er sieht ihren Körper ansgestreckt, vom sanften<br />
Mondlicht die Plastik ihrer Gieder umschimmert,<br />
umdammert, nach den Seiten im Dunkel sich verlierend.<br />
Entzückt, begeistert, ganz von Inbrunst<br />
überflutet stretcht er zartlich über die festen Hügel<br />
und vibrierenden Ebenen. Er kann sich nicht satt<br />
sehen, nicht satt fühlen an der nachthell verschleierten<br />
Schönheit dieses geliebten unerweckten englischen<br />
Körpers und fliistert süsse zarte nuttige<br />
Worte, die mehr sind als Worte. Für sie: eine<br />
Bestdtigung, eine Wiedergeburt ihres Glaubens an<br />
sich, die Gewissheit einer neuen Blütezeit.<br />
Richard sieht das alles, hort es, riecht, schmeckt,<br />
fühlt die Geliebte, Sehnsucht überwaltigt ihn, umdunkelt<br />
ihn. Ohne Kraft malt er:<br />
dein Richard<br />
dann faltet er den Brief zusammen<br />
43
Bettelknabe<br />
Armer Knabe, Bettelknabe —<br />
Schenkt ihm eine kleine Gabe!<br />
Weiss denn einer, was er schenkt<br />
Und woran der Knabe denkt?<br />
Unser Knabe liebt Geschmeide<br />
Schone Kleider, Pelze, Seide.<br />
Arme, Beine im Bewegung<br />
Sehen ist ihm schon Erregung<br />
Handschuh, Schuhchen, alles Schicke<br />
Nascht, erhascht er mit dem Blicke<br />
Wenn so viele Fraun vorbeigehn<br />
Möchte er sich fast ent&èhweisehn.<br />
Und du gehst und schenkt ihm was<br />
Und du denkst, das ware was<br />
Denn er dankt dir so begliickt —<br />
Denn dein Gang hat ihn entziickt!<br />
So von euren tausend Gaben<br />
Schenkt ihr immer armen Knaben<br />
Doch ihr wisst nicht, was ihr schenkt<br />
Und der Bettelknabe denkt
U eb er die Unwissenheit<br />
Es ist beinah ausgeschlossen, dass man — ich<br />
meine: einfach dumm bleibt. Ich meine, es ist<br />
völlig ausgeschlossen, dass man so dumm bleibt,<br />
wie man geboren ist. D.h. warum sollte man nicht<br />
so dumm bleiben? Vielleicht noch sogar ein gutes<br />
Stuck dümmer werden? Die Dummheit sozusagen<br />
„entwickeln", gerade so wie man — nun zum Beispiel<br />
die Intelligenz entwickeln kann. Das scheint<br />
mir sogar ein sehr richtiger Gedanke: warum sollte<br />
sich die Dummheit nicht entwickeln lassen, genau<br />
wie die Intelligenz? Nur hat bisher noch niemand<br />
ein Interesse daran gehabt, sie bei sich selbst zu<br />
entwickeln, und daher blieb sie immer in ihrem<br />
Anfangsstadium stecken. Man war vollkommen zufrieden<br />
mit der Portion Dummheit, die „an sich",<br />
„als solche" bereits vorhanden war.<br />
Was ist überhaupt Dummheit? — Ich meinte etwas<br />
ganz anderes. Ich meinte nicht so sehr die Dummheit<br />
wie die Unwissenheit. Man kann, das wollte<br />
ich sagen, doch nicht — und mag man noch so abgeschlossen<br />
leben — unmöglich nichts von — nun<br />
sagen wir — den neuen Erfindungen — und so —<br />
horen. Man kann unmöglich nichts zu horen kriegen<br />
eben von all dem Neuen, das auf unseren Erde<br />
geschieht und geschaffen wird. Die Publikationsmittel<br />
sind auch so unerhört entwickelt, und gerade<br />
die Leiter dieser Publikations- und Popularisationsmittel<br />
sind versessen auf alles Neue, dessen<br />
sie nur habhaft werden können. Und ausserdem<br />
45
sprechen doch alle davon, jederman wird durch<br />
das Neue in Erstaunen versetzt, argert «ich dariiber<br />
oder begeistert sich daran, bleibt jedenfalls nicht<br />
völlig gleichgültig dem Neuen — nennen wir es<br />
einfach „das Neue" — gegeniiber. Und wenn es<br />
auch nur die Sache weniger ist, auf dieses Neue<br />
griindlicher einzugeben, sich genauer zu unterrichten<br />
— jederman wird jedenfalls etwas davon<br />
lauten horen. Und dies Gelaute geniigt ja den<br />
meisten (zu denen auch ich gehore), sie wollen ja<br />
meistens nur diese ungewisse Anregung des Neuen<br />
haben, um dann jeder auf seine Weise dariiber<br />
weiter zu phantasieren — was dann manche nennen:<br />
sich ein Urteil bilden.<br />
Mir geniigt es z.B. schon, wenn ich nur so etwas<br />
Ungefahres zu horen kriege, so die allgemeinsten<br />
Ideen und Richtlinien des Neuen — damit bin ich<br />
dann schon ganz zufrieden. Mehr Genaueres über<br />
so eine neue Sache zu erfahren, würde mich kaum<br />
interessieren. Ich würde es ja doch nicht verstehen<br />
— zumal da ich von dem alten Vorhandenen, mit<br />
dem ich grossgezogen bin, weit über die Halfte<br />
noch nicht verstanden habe.<br />
Ich meinte also, dass selbst die Dümmsten, die<br />
Allerungebildetsten und eben Dümmsten doch von<br />
diesen jeweilig neuen Dingen etwas werden lauten<br />
horen. Und das wird eben doch eine Veranderung,<br />
eine Korrektur ihrer "Weltanschauung zustande<br />
bringen — mag dann diese Weltanschauung auch<br />
nichts anderes sein als ein dumpfes, allgemeines<br />
Gefühl dem Leben und den nachsten Dingen gegenüber.<br />
46
Früher habe ich natürlich die Dummheit wie diese<br />
dumpfenAIlgemeingefühle gründlich verachtet. Bis<br />
ich merkte, dass ich selber dumm und eigentlich<br />
Kaum anderer als solcher unklaren Gefühle fahig<br />
bin. Darauf verachtete ich mich selbst — anders<br />
ging es ja garnicht. Das musste so sein. Doch langsam<br />
verlor die Selbstverachtung ihre Kraft — ich<br />
nahm mich hin, wie ich war — das Leben besiegte<br />
meine Vorurteile. —<br />
Also wir horen von dem Neuen einige Klange bis<br />
in unsere abseitige und stumpfe Welt dringen, und<br />
das bringt unser Denken in Bewegung — obgleich<br />
von eigentlichem folgerichtigen Denken bei unsereinem<br />
nicht gut die Rede sein kann. Unser Denken<br />
— das ist ja auch nur so eine Gefühlsduselei.<br />
Natürlich muss es Leute geben, die dies Neue, von<br />
dem wir horen, genau kennen, bei denen es entstanden<br />
ist, also die grossen klaren Geister, die<br />
Uebermenschen.die sich oft,wenn man ihre nahere<br />
Bekanntschaft macht, als einfache nette Leute entpuppen.<br />
Uebrigens nicht immer. Manchmal sind es<br />
wirklich ganz unertragliche Uebermenschen. Uns<br />
mit ihnen zu vergleichen ware glattweg Iacherliche<br />
Ueberhebung. Aber leider will es das Unglück, dass<br />
wir—im Gegensatz zu früher, zu unserer geliebten,<br />
etwaswirren.begeisterten und lacherlichen Jugendzeit.wo<br />
wir so vieles verachteten und bewunderten<br />
— dass wir im Gegensatz zu damals vor Lacherlichkeiten<br />
keine Angst mehr haben, und tatsachlich<br />
zuweilen einen Vergleich zwischen uns, den gewöhnlichen<br />
Menschen, und jenen Grossen, den<br />
Schöpfern des Neuen, anstellen, der, versteht sich,<br />
47
zu unseren Ungunsten ausfallen muss, aber doch<br />
immer einen ganz eigenen prickelnden Reiz für<br />
uns hat.<br />
Das Neue aber bewegt uns — soweit an uns etwas<br />
zu bewegen ist — auf eine besondere Art; auf eine<br />
andere Art als das Alte. Das Alte, mein Gott, das<br />
war ja schon immer da, schon ich weiss nicht wie<br />
lange. Das gehort bereits früheren Zeiten an, Menschen,<br />
die vor uns lebten, haben sich schon damit<br />
beschaftigt. Unser Verhaltnis dazu ist eigentlich<br />
schon vorausbestimmt. Ganz besonders aber hat<br />
sich jene Zeit mit dem Alten auseinandergesetzt,<br />
in der das Alte neu war. Eben wie wir uns — und<br />
gehören wir auch zu den Dümmsten — auf ganz<br />
besondere Art mit demheutigenNeuen auseinandersetzen.<br />
Dies Neue gehort ja irgendwie zu uns, es ist<br />
doch von derselben Zeit wie wir, es ist zeitgenössisch,<br />
es enthalt Gegenwart. Es mag so absurd sein<br />
wie es will — und zunachst erscheint es fast immer<br />
absurd — selbst das Vernünftigste, wenn es ungewohnt<br />
neu ist, sieht wie eine Fratze aus — jedenfalls<br />
ist es, wenn es auftaucht, von heute und jetzt,<br />
und wir als Jetztlebende haben dabei einWörtchen<br />
mitzusprechen. Wir sind, und wenn wir auch<br />
nichts weiter als unsere dumme Meinung darüber<br />
sagen können, doch sozusagen mitgestaltend an<br />
dem Neuen, an dem Gegenwartigen wirksam. Das<br />
ist es wohl, was das Neue als etwas von unserer<br />
Zeit, alsAusdruck der Gegenwart wichtig für unser<br />
Leben macht, dass wir uns unwillkürlich gedrungen<br />
fühlen, dazu Stellung zu nehmen. Was Plato<br />
oder Sokrates gesagt haben, damit mochten sich<br />
48
die Griechen damals auseinandersetzen, ja sie mussten<br />
es einfach tun. Für uns gehort das schon mehr<br />
zum Luxus. Dagegen das Neue, das die Gegenwart<br />
ausmacht — die Gegenwart, die doch noch immer<br />
das grösste Ereignis des Lebens, unseres Lebens<br />
ist, mag die Vergangenheit auch noch so glanzvoll<br />
gewesen sein — das Neue gehort zu uns und wir<br />
zu ihm. Da können wir uns nicht drücken.<br />
(Da ist mir versehentlich etwas ungeheuer Kluges<br />
entschlüpft: Die Gegenwart ist das grösste Ereignis<br />
des Lebens. Das ist ja eine geradezu aufregende<br />
Bemerkung. Na, Schwamm drüber. Lassen wir die<br />
Bemerkung über uns ergehen, wie wir auch den<br />
grössten Teil des Lebens und sogar der Gegenwart<br />
über uns ergehen lassen — Genug davon.)<br />
Also da hatten wir drei Punkte: erstens die Dummheit,<br />
das Unwissen, das ich für meinen Teil, was<br />
mich persönlich betrifft, als gegeben betrachte. —<br />
Früher hielt ich mich, versteht sich, für ziemlich<br />
klug; als ich namlich gerade anfing, ein paarDinge<br />
zu begreifen, so mit vierzehn Jahren ungefahr. Die<br />
paar Dinge, die ich damals begriff, wurden aber<br />
schnell wesenlos gegenüber der wahrhaft riesenhaften<br />
Menge von Dingen, die ich keineswegs begriff,<br />
— und zwar nicht einmal so sehr wegen<br />
meiner Unintelligenz nicht begriff, sondern aus —<br />
Geistesstumpfheit. Es interessierte mich einfach<br />
nicht, sie zu begreifen. Wir brauchen ja zum„eigentlichen"<br />
Leben so wenig zu begreifen. Ich liess also<br />
die Dinge, die mir nicht „lagen", meinen angeborenen<br />
Neigungen nicht entsprachen, fast unbeachtet.<br />
Und so sind sie mir denn auch ganzlich fremd und<br />
49
unbekanntgeblieben.Und ich kann mich ohne eitle<br />
Bescheidenheit zu den Unwissenden rechnen.<br />
Dann hatten wir zweitens das Neue, das es heutzutage<br />
in unserer Welt gibt, und das ich in meiner<br />
Unwissenheit summarisch „das Neue" nenne, das,<br />
was es friiher in dieser Weise nicht gegeben hat,<br />
die neuen Ideen, Anschauungen, Erfindungen, Einrichtungen,<br />
Formen usw. usw.<br />
Und drittens die Tatsache, dass selbst die Ungebildetsten,<br />
Dümmsten und Unwissendsten unmöglich<br />
von diesem Neuen nicht berührt werden können.<br />
Was aber nun dies Neue gerade heute, in unserer<br />
Zeit, in unserer Gegenwart ist, das zu sagen scheint<br />
mir, einem Unwissenden, ausserordentich schwer.<br />
Ich glaube sogar, dass es selbst einem Wissenden,<br />
einem der auf der „Höhe seiner Zeit" lebt, schwer<br />
fallen wiirde, dies klar zu sagen, denn nichts ist<br />
wohl schwerer, als einen Ueberblick zu haben über<br />
eineZeit,inder man selbst lebt,an der man also mit<br />
all seinen Begrenzungen tatigen Anteil nimmt. Eher<br />
wird vielleicht sogar derAbseitige, z.B.jemand, der<br />
in einem Lande wohnt, in dem es keine akuten<br />
Lebensprobleme gibt (also auch keine zu lösen gibt),<br />
der verhaltnismassig unbeteiligte, ungegenwartige<br />
Lebensbeschauer das alles richtig, nüchtern, objektiv<br />
sehen und auch ausdrücken können. Nur wird<br />
er wahrscheinlich keinen Drang verspüren, es auszudrücken,<br />
denn: es geht ihn ja nicht brennend an.<br />
Er lasst alles auf sich beruhen, hierin dem chinesischen<br />
Weisen Shnelnd: „und alles kommt in Ordnung".<br />
Er verschmaht die Fehler des Handelns,<br />
jene notwendigen Fehler, die jede Tat unumstöss-<br />
50
lich in sich schliesst. — Von ihm haben wir also<br />
keine Aufklarung zu erwarten.<br />
Da ich, wie schon bemerkt, nicht denEhrgeiz habe,<br />
etwas Kluges oder durchaus Richtiges zu sagen,<br />
will ich trotz aller Schwierigkeiten versuchen, dies,<br />
unser heutiges Neues, naher zu bezeichnen.<br />
Um es so umfassend wie möglich zu sagen: alles<br />
lauft darauf hinaus, uns zu beweisen, dass die<br />
Dinge nicht so sind.wiewir bisher annahmen, dass<br />
sie seien. Unsere Erlebnisse, die sich auf das Gefühl<br />
beziehen, werden samt und sonders ihres<br />
wesentlichsten Bestandteils, ihrer unmittelbaren<br />
Echtheit beraubt. Man fühlt namlich nicht so, wie<br />
man meint zu fiihlen. Man denkt nicht, wie man<br />
denkt zu denken. Nebenerscheinungen oder solche,<br />
die man bisher dafür gehalten hat, werden zu<br />
Hauptsachen. Die Umwertung aller Werte ist eine<br />
greifbare Tatsache, ein dauernder Prozess. Die Erfindungen<br />
auf technischem Gebiet könnten einen,<br />
der sich für Technik nicht interessiert, kalt lassen,<br />
wenn nicht auch der Uninteressierte zugleich feststellen<br />
miisste, das gerade sie es sind, die die Menschen<br />
mehr als alles andere verandern.Die altesten<br />
übernommenenGrundbegriffe bef inden sich in Auf -<br />
lösung. Die Zeit ist keine Zeit, der Raum kein Raum<br />
mehr. Das Atom hat langst seine Bedeutung verloren.<br />
Es dient zu rein nichts mehr — wahrend<br />
früher auf ihm die Welt nebst ihrer ganzen Entwicklung<br />
ruhte. Der Glaube ist für einen erwachsenenMenschen<br />
selbstverstandlich einUnding usw.<br />
Das ist nur Einiges, aber es ist schon genug. Ich<br />
meine, es ist genug für einen einfachen Menschen,<br />
51
um sich damit auseinanderzusetzen. Er hat für<br />
Jahre damit zu tun. —<br />
Man wird aus meiner Aufziihlung, wenn auch<br />
weiter nichts, so doch meine absolute Ahnungslosigkeit,<br />
Unwissenheit und Oberflachlichkeit in<br />
diesen Dingen, die ich das Neue nenne, herausgelesen<br />
haben. Ich habe also nicht geflunkert.<br />
Uebrigens erscheinen mir diese Dinge, wenn ich sie<br />
jetzt noch einmal lese, nicht einmal so neuartig, so<br />
ein spezielles Charakteristikum unserer Zeit. Ja,<br />
was ist das denn? Unserm Wissen ist der Boden<br />
entzogen durch eine riesige Masse Entdeckungen,<br />
die noch töglich anschwillt und uns zeigt, dass wir<br />
bisher auf unvollstandiger Kenntnis der Materie<br />
unsere Theorien aufbauten; Tatsachen verfliichtigensich<br />
zuPhantasieerscheinungen.wir kommen,<br />
je mehr Geister und Spukgestalten aus der Welt<br />
weg bewiesen werden, immer mehr dahinter, dass<br />
wir verhaltnismassig eigentlich fast nichts wissen<br />
(ausserdem aber mit diesem Nichtwissen praktisch<br />
doch eine ziemlicheMenge ausrichten können, und<br />
bereits ausgerichtet haben). Na, usw.<br />
Das lüuft für den Einzelnen und natürlich Unwissenden<br />
im Ganzen darauf hinaus, dass er sich auf<br />
nichtsverlassen kann,und jedeMeinung über etwas<br />
für ihn die Gefahr enthalt, dass sie morgen oder<br />
heute bereits schon widerlegt werden kann. Er,<br />
als Unwissender, kann es ja nicht kontrollieren, er<br />
muss hierin den Fachleuten vertrauen. Diese können<br />
allerdings auch wieder von Fachleuten widerlegt<br />
werden, aber sie haben wenigstens ein ganzes<br />
Arsenal von Wissen, ttie sie den Fachleuten, die sie
widerlegen wollen, entgegensetzen können. Was sie<br />
denn auch tun.DerUnwissende kann das nicht; der<br />
sieht nur, dass wieder mal etwas widerlegt ist. Die<br />
Situation stellt sich also ungefahr folgendermassen<br />
dar: alles, was wir wissen, wird fortwahrend widerlegt.<br />
Es ist zwar alles nicht gerade genau umgekehrt,<br />
wie wir bisher annahmen, dass es sei, aber<br />
jedenfalls anders. Und da kann man denn begreifen,<br />
dass einer ganz gern zu den Unwissenden gehort.<br />
Er braucht sich nicht fortwahrend zu korrigieren.<br />
Sagen wir mal grobweg: das Wissen ist eine Sache<br />
fürSpezialisten geworden.Diese können mehr oder<br />
weniger scharf umschreiben, was sie nicht wissen.<br />
Sie sind überhaupt in jeder Hinsicht praziser, genauer,<br />
deutlicher als der Unwissende. Für den<br />
Unwissenden gibt es aber — will er nicht dem<br />
fürchterlichsten Dilettantismus verfallen —. nur<br />
„Schweigen und Zusehen". Er weiss eben heute<br />
mehr denn je „überhaupt nichts". Das tatsachliche<br />
Wissen ist derart dem einfachen Leben entrückt,<br />
es bewegt sich auf so raffinierten Höhen, ist so<br />
kompliziert und abgründig, das der Laie am besten<br />
den Mund halt und garnicht erst den Versuch<br />
macht, sich eine Meinung zu bilden. Die Meinung<br />
kann ja doch nur auf Unwissen und Irrtum beruhen.<br />
Es fehlt ihm ja die Grundlage: dieKontrolle<br />
der Tatsachen. Er muss alles auf Treu und Glauben<br />
hinnehmen. Sollte er doch eine „richtige" Meinung<br />
haben, so muss er das demZufall danken. Ein folgerichtiges<br />
Denken an Hand von Tatsachen ist ihm<br />
unmöglich, weil er nicht alle der Wissenschaft<br />
gegenwartigen Tatsachen kennt. Eine Meinung ist<br />
53
ei ihm das Gleiche wie Aberglauben. Er sollte sich<br />
darauf beschranken, zu sagen: ich finde das schön;<br />
das unschön, das gefallt mir, das missfallt mir —<br />
also ganz imPersönlichen bleiben. Von richtig oder<br />
unrichtig im Sinne eines Urteils sollte er überhaupt<br />
nicht sprechen, von Weltanschauung ganz und gar<br />
absehen. Ueber Dinge reden, von denen man nichts<br />
oder fast nichts weiss, so reden, als ob man wüsste,<br />
ist doch nur Snobismus, eine leere Seifenblase: sie<br />
schuiert ganz hübsch, aber nicht einmal einem<br />
Luftzug halt sie stand, geschweige einem Stoss mit<br />
dem Seziermesser des Eingeweihten.<br />
Man mag mir nun glauben oder nicht, es ist doch<br />
wahr: dass, als ich anfing, dies alles zu sagen, ich<br />
keineswegs dieAbsicht hatte,zu irgendeinemResultat<br />
zu kommen, einen Schluss zu ziehen. Ich fing<br />
an zu reden, weil ich zufallig in einem Buch eine<br />
Stelle las (— vielmehr man las sie mir vor —), dass<br />
der Glaube an Gott einfach ein unentwickelt gebliebener<br />
Rest, ein Ueberbleibsel aus der Kindheit<br />
der Menschheit sei.<br />
So spricht ein Wissender, ein kluger Mann, ein<br />
Mensch mit tiefen Einsichten. Er iveiss es.<br />
Mir scheint zwar sehr wahrscheinlich, was er sagt,<br />
sehr einleuchtend (ich bewundere ihn sogar darum),<br />
aber ich weiss es nicht. Plötzlich ging mir ein Licht<br />
auf: ich kann so etwas garnicht wissen, ob Gott<br />
existiert oder nicht — wie kann ich es wissen,<br />
wenn er es mir selbst nicht beweist. Beweist er mir<br />
jedoch seine Existenz, so können alle Menschen<br />
beweisen, dass er nicht existieren kann—für mich<br />
existiert er dann doch. Und umgekehrt.<br />
54
Solches und vieles andere konnte man sagen, noch<br />
viel Gescheites — aber was ware damit gewonnen?<br />
Tatsachlich kann ich es nicht wissen, mir fehlt<br />
dazu die Kenntnis der Anhaltspunkte. Und darum<br />
sollte ich schweigen und — keine Meinung haben.<br />
Früher hielt ich es selbstverstandlich für meine<br />
Pflicht, mich um jedes und noch was zu kümmern,<br />
mich für alles zu interessieren, mir alles klar zu<br />
machen.<br />
So eine Art „höheresPflichtgefühl". Einem schwebte<br />
so etwas wie ein universeller Mensch vor, so ein<br />
All-Mensch.<br />
Nun, dieses Pflichtgefühl hat sich verloren.<br />
Jetzt meine ich, man sollte weniger meinen, weil<br />
man es doch nicht wissen kann.<br />
Doch auch das ist vielleicht schon „zuviel gemeint".<br />
55
D E R J U N G L I N G<br />
Unsere eigenen Verhaltnisse blieken<br />
wir immer sehr zartlich an<br />
(Serenus an Seneca)<br />
Material für eine Biographie<br />
W^ir sind Schöpfer? — Auch das. — Und dann<br />
sind wir Sammler von Material. Und dann sagen<br />
wir: da habt ihr das Material, werdet damit fertig,<br />
wie ihr wollt und könnt.<br />
Vergebens suche ich den Ausdruck für meine Liebe,<br />
für das Liebliche. Unsere Zeit der dröhnenden<br />
Technik, Geschrei, Rekorde ist nicht geschaffen für<br />
das Zarte. Dies Wunderbare muss schweigen. auch<br />
wenn es schwer fallt. In den Augen, im Anschaun<br />
mussen wir Trost finden. Diese Zeit ist dazu geschaffen,<br />
eine unstillbare Sehnsucht zum Innigen<br />
zu zuchten. Die Dichtungen früherer Jahrhunderte<br />
vergegenwartigen uns die Armseligkeit unseres<br />
eigenen Zustandes. Wenn wir still sind, wenn wir<br />
uns zurückziehen — das ist das Zeichen, dass wir<br />
grenzenlos lieben.<br />
Wenn es mir gelingt, den Dingen gegenüber Distanz<br />
zu wahren, werde ich meist die poëtische Note<br />
treffen.<br />
Dann auch der Phantasie Spielraum gönnen. D.h.,<br />
es gibt Phantasie, die sich am GegenstSndlichen<br />
56
entzündet. (Das ist die der Tatmenschen.) Ich meine<br />
eine, die zur Dichtung führt; verführt.<br />
Nicht undeutlich sein und nicht eindeutig, sondern<br />
vieldeutig sein.<br />
Den Sinn für psychologische Atmospharen beim<br />
Leser anregen.<br />
Nichts mit Nachdruck erstreben. —<br />
Uebrigens: warum sollte ein Buch auf jeder Seite<br />
gut sein?<br />
Wenn man dabei ist, sich die Begriffe von gut und<br />
böse oder schlecht abzugewöhnen, hat man die<br />
Pflicht, auch schlechtes nicht zu streichen.<br />
Wer die Spielregeln kennt, und sich also einrichtet,<br />
der wird in den meisten Fallen ohne viel Aufhebens<br />
das Gescheite tun. Die aber, die ihr Herz<br />
als Einsatz geben, beunruhigen sich bei den geringsten<br />
Anlassen. Immer übertreten sie die Gesetze,<br />
suchen Möglichkeiten, auch wo die TJnmöglichkeit<br />
klar zu Tage liegt. Was liegt ihnen am<br />
Erreichen! Mag der Meister sich in der Beschrankung<br />
zeigen — wir wissen, dass wir keine Meister<br />
sind, und darum plagen uns unsere Grenzen.<br />
Sie zu sprengen, machen wir stets aufs Neue<br />
die erstaunlichsten Anstrengungen, entfalten einen<br />
unverstandigen Aufwand an Gefühl. Wohl ein albernes<br />
Schauspiel für die besser, die gesunder Organisierten,<br />
die sich mit den Gewohnheiten der<br />
Welt glücklicher abfinden. Doch von Zeit zu Zeit<br />
beugt sich die Regel unserm Ansturm des Empfindens,<br />
das Ungewöhnliche wird Ereignis, und wir<br />
erf reuen uns einer herzhafterglühenden Ausnahme.<br />
57
Hera ist von den Madchen der farbigste Typ.<br />
Schwierig, ihr gerecht zu werden. Ich bin dazu<br />
nicht imstande. Doch ich merke, dass die Unpersönlichkeit,<br />
die im Handeln und in der Kunst<br />
Schwache bedeutet, für das Verstehen von Menschen<br />
und Werken von Vorteil sein kann. Ich<br />
glaube, besser zu verstehen. Ja, so viel besser zu<br />
verstehen, dass ich keine Erklarung mehr wage,<br />
ja, zu Zeiten sogar keine Handlung wage. Weil jedes<br />
Für und Wider, jede Helligkeit und jeder Schatten<br />
mir gleich gegenwartig sind.<br />
Und doch bin ich in Hera verliebt — und ware das<br />
keine Handlung, keine Entscheidung?! Ich liebe<br />
sie und, wie immer in solchen Fallen, ergere ich<br />
mich an ihr. D.h. ich übersehe „das Wichtige".<br />
Kleinigkeiten können mich aufbringen, mich aufbrauchen.<br />
Sie entscheiden plötzlich meine Neigungen.<br />
Wem aber dies an mir missfallt, den versöhne der<br />
Umstand, dass ich selbst meine Eigenschaften am<br />
furchtbarsten ausbaden muss. Habe du es einmal<br />
mit einem verkehrten Wesen zu tun! Da donnern<br />
Wetter, Berge stiirzen ein, dass eine lacherliche<br />
Maus geboren werde.<br />
Wie bewundere ich das Madchen, das mich zu nehmen<br />
weiss. Und Hera weiss es. Sie weiss mich in<br />
Wut zu setzen und zu versöhnen: das Spiel treibt<br />
sie gerne.<br />
Ich vergesse mit ihr die Zeit, da ich intensiv gegenwartig<br />
bin. Unverlegen sieht sie mir ruhig und<br />
spitzbübisch in die Augen — lassen Augen sich<br />
sagen? Da muss man hineinsehen! Und wirklich,<br />
58
ich sehe mich satt. — Dann werfen die Lippen<br />
sich auf, der Bliek wird verschwommen, die Arme<br />
strecken sich aus, und ich bin auf einmal recht<br />
gleichgiiltig.<br />
Sie begreift nicht, warum, und ich begreife es auch<br />
nicht. Aber plötzlich ist das Gefühl wie zerhauen:<br />
ich sehe nur noch ein grosses Kalb und langweile<br />
mich ungeheuer.<br />
Bewahre uns, o Taktgefühl, das Paradies, in dem<br />
wir wandeln, zwei Verliebte<br />
Nicht falie das verhangnisvolle Wort: Ich liebe dich<br />
Lass noch weiter<br />
Uns mit Vernunft und Trieb Verstecken spielen<br />
und verhüte<br />
Bejahrte bitterste Ehrfahrung, schlimme Reife<br />
Was irgend einem Ende ahnlich sehe<br />
Selten unterstützt das Leben vorgefasste Absichten.<br />
Es schiebt zwischen unsern ersten Gedanken und<br />
das Resultat Unvorhergesehenes, Neuigkeiten: die<br />
Situation ist verandert — und wer wollte sich auf<br />
die Dauer dem Leben widersetzen?<br />
So verzichten wir auf gedachte Resultate und lassen<br />
uns von unsern eigenen Unternehmungen überraschen<br />
und treiben, als ob es sich um fremde<br />
handelte.<br />
So alt wie ich bin, weiss ich wenig mit meiner<br />
Zukunft anzufangen.<br />
Wenn wir auch tausendmal unser Schicksal vorausbestimmen<br />
— wird es uns noch als dieselben<br />
59
antreffen, die wir im Augenblick sind? Wie verkehrt<br />
sind alle Voraussichten — in den folgenden<br />
Minuten.<br />
Andrerseits: wenn wir wirklich unser Denken<br />
sparen wollten — hatten wir wirklich etwas gespart?<br />
Im Gegenteil. Ich würde fürchten, als reicher<br />
Mann zu sterben.<br />
Eine zahe Neugier, die Sinnlichkeit besonnt den<br />
Weg.<br />
Hilf meinemTraum, gib meiner Sehnsucht Ziele. —<br />
Verderbliche Zweckmassigkeit!<br />
Wenn es mir gelingt, mich unklar auszudrücken,<br />
werde ich behaupten, etwas gewonnen zu haben.<br />
Nur nicht belehren.<br />
Nur nichts erklaren.<br />
Verstehe doch, worin der Zusammenhang liegt!<br />
Nicht im Sinn. Nicht im Sinn. Dann lag er ja auch<br />
im Unsinn.<br />
Und worin er wirklich liegt?<br />
Wenn der Arzt seine Mittel verrat, würden die<br />
Menschen weniger krank sein?<br />
Gönne ihnen ihr Unbehagen. Sie leben nicht zweimal.<br />
Und sollten hier die Erregung eines Missvergnügens<br />
versaumen!<br />
Edle Weisheit, die lehrt, dass wir nach dem Tode<br />
keine Gelegenheit mehr zum Unglück haben. — O<br />
Herr, ich verzeihe dir deine Sünden nicht, ich<br />
koste sie.<br />
Ich versuche, mich selbst möglichst richtig zu<br />
60
sehen. Jedoch nicht um der Wahrheit willen. Ich<br />
mache mir Spiegel. Das ist es. Und das nicht einmal<br />
wegen der Eitelkeit.<br />
Lotte liebt die Wahrheit. Sie sagt einem die unangenehmsten<br />
Dinge ganz unverblümt. Das nennt<br />
sie: einem die Wahrheit sagen.<br />
Ich mache mir Spiegel. Und von Zeit zu Zeit<br />
erhasche ich einen Blick, einen guten Blick, einen<br />
Ueberblick.<br />
Es hat etwas für sich, nichts zu besitzen: man<br />
tauscht sich weniger, durchschaut besser. Man muss<br />
immer und überall sich selbst einsetzen, da man<br />
sonst nichts einzusetzen hat. Und zum Versetzen<br />
auch nichts.<br />
Ich habe im Augenblick nur Schulden. Wenn ich<br />
jetzt sterbe, würde ich eine Menge Geld sparen.<br />
Was mir leicht fallt?<br />
Schweigen — zu Zeiten. Auch viel sprechen —<br />
manchmal. Dann: schweifend zu denken an dies,<br />
an jenes.<br />
Manchmal fallt mir leicht, wass mir manchmal<br />
schwer fallt.<br />
Nichts besonderes.<br />
Ah — ich liebe, ich liebe (aber sollte das nicht<br />
besser Geheimnis bleiben?) das Unausgesprochene.<br />
Wenn mich Madchen schlecht behandeln, wenn<br />
meine Eitelkeit gekrankt wird — dann, im Stillen,<br />
nachher, lachle ich — über mich.<br />
Nie mehr (denke ich) wird es mir so ernst sein,<br />
61
dass ich nicht noch ein Lacheln gewanne —<br />
spater —<br />
Ganze Haufen litt ich — früher — noch vor kurzem<br />
— ja auch zu leiden fallt mir leicht. Ich leide<br />
schnell, leicht und viel. Da ist es denn vernünftig,<br />
harmloser zu sein, als man es ohnehin schon ist —<br />
„die ganze Geschichte nicht so tragisch nehmen"<br />
— das erleichtert vieles.<br />
O Himmel, segne uns.<br />
TJns, die wir mehr besinnen als handeln, die wir<br />
mehr beachten als beachtet werden, die wir Dinge<br />
bedenken „dünn wie das Gedachte" und unter<br />
unserer eigenen Sonne nicht gedeihen wollen.<br />
Vergiss uns nicht!<br />
Heile uns. Verdamme uns. Tue jedenfalls irgend<br />
etwas mit uns. Für das Uebrige werden wir schon<br />
sorgen. Und wenn du zuviel tust, werden wir vom<br />
Gegenteil hinzutun.<br />
Man lernt, das kann man wohl behaupten, mit dem<br />
Aelterwerden ziemlich unangenehme Dinge.<br />
d.h. man konnte das auch so ausdrücken: man<br />
merkt immer deutlicher, dass sogar das Aelterwerden<br />
(und darauf hatten wir gehofft) (denn die<br />
Jugend denkt sich allerhand hinter der Fassade<br />
des Alters, dass sie noch nicht übersehen kann) —<br />
dass also das Aelterwerden unser Wesen nicht geeigneter<br />
und geneigter macht, der Welt und den<br />
Menschen, wie sie nun einmal sind — und dass wir<br />
sie nicht andern können, das wissen wir ja endlich<br />
auch durch und durch — sich zu bequemen.<br />
62
Auch wenn wir Vorurteile und Illusionen losgeworden<br />
sind,dieLagewird dadurch nicht erspriesslicher.<br />
Die Gefiihle haben wir so griindlich analysiert,<br />
dass uns nur mehr die gefallen mogen, bei<br />
denen wir das Denken vergessen. Und sollte es etwa<br />
Beobachtungen geben, die wir noch nicht angestellt<br />
hotten in Bezug auf die schöpferische Schwache<br />
der Menschen? Heisst Ansichten haben nicht, das<br />
Leben der Gegenwart vorwegnehmen, ihm seine<br />
Wirklichkeit rauben? Gleichen Absichten, die sich<br />
auf andere beziehen, mogen sie sichFreiheit.Glück,<br />
Verbesserung nennen, nicht den sogenannten verbrecherischen<br />
Handlungen wie Mord und Diebstahl?<br />
Wenn alles „Gute" seinen Lohn in sich tragt,<br />
so können wir auch niemand mehr „edler Taten"<br />
wegen bewundern, denn so ein Mensch ist nur ein<br />
Lohnknecht — und so sind wir auch die Achtung<br />
losgeworden. Im „Durchschauen" sind wir Meister,<br />
wir zucken die Achseln über den Erfolg, der<br />
uns doch immer nur die Kleinheit unserer Ziele<br />
vor Augen führt, und Reichtum kann uns gewiss<br />
nicht imponieren. Und dennoch drangen wir uns<br />
zu einem Werk. Dass muss allerdings (so weit sind<br />
wir nun) rein privater Natur sein.<br />
O eigner Weg voll Peinlichkeit, Verlegenheit.<br />
Welche Wohltat, andere verlegen zu sehen. Auch<br />
sie, denke ich, auch sie! Nicht ich alleine —<br />
So wird alles Grosse und Grosszügige den verkleinernden<br />
kleinen Schlagen unzahliger Minuten unterworfen.<br />
Wir fühlen uns den Besten nahe in den<br />
Augenblicken, da auch sie nicht wissen, wo rechts<br />
63
und links — da gewinnen sie unsere Herzen. Die<br />
Schwache verbindet uns ihnen, Starke treibt uns<br />
auseinander.<br />
Die sich selber wollen — welche Nachfolger werden<br />
die haben? Bedeutungslose! Schatten!<br />
O eigner Weg voll Peinlichkeit, Verlegenheit.<br />
Kahle möblierte Zimmer, in denen sich unsere<br />
Hauptsachen abspielen. — Es ist Frühling. — Ich<br />
öffne das Fenster, um auf eine tote Mauer zu sehen.<br />
Hier verkümmre ich, hier entfalte ich mich, hier<br />
bin ich ich. Wo anders könnt ich besser leben?<br />
Vielleicht wird etwas, ein kleines, von uns iibrig<br />
bleiben. Aber noch besser, wenn etwas von uns da<br />
ist, wenn wir da sind.<br />
Sich seinemSchicksal anschmiegend, seine Stimme<br />
erlauschend, seinem Ruf folgend.<br />
Ich habe oft versucht, Ordnung zu schaffen. Die<br />
Umstande (das Leben) sind dagegen. Sie scheinen<br />
die Unordnung mehr zu lieben.<br />
Ich habe mir vorgenommen, weder an meine Vergangenheit<br />
noch an die Zukunft zu denken. Dass<br />
man sich das auch noch vornehmen muss! Nein,<br />
ich werde es mir lieber nicht vornehmen.<br />
Dösen, mit einem schönenNamen:traumen, unnütz<br />
sein, unbrauchbar — es hat etwas Anziehendes.<br />
Sich der Gedanken entschlagen: das ist das grosse<br />
Geschenk, das wir uns selber machen können.<br />
Wie ein Dichter schlendern.<br />
Los von allen Verhaltnissen, ausser den eigensten.<br />
So ware das Leben — in jedemFall — zu geniessen.<br />
64
Selbst Krankheit ist dem Dichter erlaubt, ja angemessen.<br />
Auch müde kann er sein. Auch narrisch<br />
sein. Auch andere Gebrechen stehen ihm wohl an,<br />
machen ihn zuweilen noch poëtischer. Als Gesunder<br />
ware er verpflichtet, hier und da handelnd einzugreifen.<br />
Unser Verhaltnis zur Welt entsteht dadurch, dass<br />
wir handeln. Würden wir uns auf unsere Dichterrolle<br />
beschranken, zwecklos und schauend sein,<br />
wie es uns geziemt, wir waren ganz brauchbare<br />
Menschen.<br />
Indessen, wir vergessen nur zu oft, was wir ohne<br />
Umstande sein sollten.undverderben uns so manche<br />
gute Stunde. Wahrend unsere Umgebung uns das<br />
Gorgonenhaupt des Ziels und Nutzens vorhalt, uns<br />
mit dem furchtbarenBlick der materiellen Notwendigkeit<br />
hypnotisieren will, solltenwir uns in unsere<br />
eigenste Dichterhaut zurückziehen, d.h. nicht einmal<br />
zurückziehen, sondern einfach bleiben, wo wir<br />
sind und wo wir also hingehören.<br />
Aber: auch diese Haltung hat ihre Schattenseiten.<br />
Denn ganz ohne Handlung können wir unmöglich<br />
sein. So bekommt alles, was wir zu tun uns veranlasst<br />
fühlen,für uns eine übermiissigeBedeutung.<br />
Wir verlieren ein gut Teil der Leichtfertigkeit, die<br />
wir, um treffend zu handeln, doch auch nicht entbehren<br />
können.<br />
Der Dichter leidet zuviel unter „kleinen Verfehlungen".<br />
Zuviel? — Nein!<br />
Gerade das bezeichnet ihn als den Menschen, dessen<br />
Aufgabe nicht im Derben endet.<br />
65
D E R A U S F U H R L I C H E<br />
J U N G G E S E L L E<br />
(Bemerkungen unterivegs)<br />
HEFT I<br />
Du findest meine Arbeit schlecht? Macht nichts.<br />
Ich schreibe zu meinem Vergnügen.<br />
Ich hatte —<br />
Ich wünschte —<br />
Ich —<br />
schwer den Anfang zu finden<br />
Da ich wenig zu sagen habe, wahlte ich ein umfangreiches<br />
Thema.<br />
Schwierigkeit zu leben<br />
An und für sich würde man es ja nicht aushalten —<br />
aber das Leben selbst hilft einem immer wieder<br />
über das Leben hinweg oder es ertragen.<br />
Früher wollte ich immer etwas.<br />
Wie viel besser ist es, die Gelegenheiten wahrzunehmen.<br />
Und welche Delicatesse, Gelegenheiten<br />
vorbeigehen zu lassen.<br />
Die wir allen Reizen des Lebens offen stehen, werden<br />
uns auch den Wirkungen der Sensationen der<br />
Oberflache nicht entziehen.<br />
66
zu-<br />
Iten<br />
Ich war überzeugt, das Richtige zu wollen. Herrliche<br />
Zeiten, in denen man von etwas überzeugt ist.<br />
Und dann noch gar von etwas „Richtigem".<br />
Sobald ich Berechnungen in meine Handlungen einbeziehe,<br />
habe ich keine Freude mehr an ihnen. Nur<br />
die Handlung ohne Absicht belohnt mich.<br />
Darum: Zwecklosigkeit — das ist meine Berechnung.<br />
Stets wenn ich glaubte, eine Form des Lebens gefunden<br />
zu haben — aber auch sonst hatte ich über<br />
Mangel an Irrtümern nicht zu klagen.<br />
Zuerst dachte ich, man müsste sich den Menschen<br />
gleichmachen, um ihnen zu gefallen. Dann lernte<br />
ich einige kennen die gerade die liebten, die anders<br />
waren als sie — aus Ueberdruss an der eigenen Art.<br />
Manche liebten jemand wegen einer kleine Merkwürdigkeit<br />
oder ausgesprochener Fehler. Gecken,<br />
Verbrecher, Blödsinnige, alle erfreuten sich aus gewissen<br />
Gründen der Zuneigung gewisser Kreise,<br />
aus Gründen, die mit aller erdenklichen Logik im<br />
Voraus nicht zu bestimmen waren.<br />
Was sollte man tun, um den Menschen zu gefallen?<br />
Und welchen Menschen wollte man gefallen? Natürlich<br />
den Einzelnen! Den Persönlichkeiten.<br />
Denen aber gefiel kraft individuellen Geschmacks<br />
immer etwas anderes. Es war vergebliche Mühe,<br />
hier „bewusst" etwas erzielen zu wollen. Also kam<br />
ich zu dem Schlus, dass wegen der Unmöglichkcit<br />
des Unternehmens das Richtigste war, nicht gefal-<br />
67
len zu wollen. Stattdessen meinte ich lieber verachten<br />
zu sollen. Verachtung schien es, würde mir<br />
wenigtens die Achtung der besten der durchschauendsten<br />
Köpfe sichern. Verachtung und Gleichgültigkeit<br />
für die andern. Selbst wenn da keine hinreichenden<br />
Grunde zum Verachten waren. Man<br />
musste aus sich ein „Geheimnis" machen. Das Unverstiindliche<br />
schien am meisten Aussicht zu haben.<br />
Ehrfurcht und Interesse einzuflössen.<br />
So ungefahr formte es sich in meinem Hirn, was<br />
man schliesslich eine Meinung nennt, und bestimmte<br />
für eine Woche meine Haltung den Menschen<br />
gegenüber.<br />
Früher sagte man: Der Mensch ist so und so. (Das<br />
war ziemlich einfach).<br />
Jetzt heisst es: der Mensch ist immer anders. (Und<br />
w r<br />
ehe ihm, wenn er es nicht ist, wir würden sehr<br />
bald das Interesse an ihm verlieren.)<br />
Erfolge, die sich aus Irrtümem ergehen<br />
Ich schreibe eine kleine Geschichte von Johnnys<br />
Eifersucht. Spater lese ich sie Ruth vor.<br />
Jetzt gibt mir Ruth immer, wenn Johnny da ist,<br />
einen Kuss. (Sonst nie.) Die Geschichte von John<br />
nys Eifersucht hat gefallen.<br />
Friihling<br />
Im nahen Nachtigallenwaldchen wandeln die Liebespaare.<br />
Sie halt mir ihre Wange hin, die ungeliebte,<br />
und ich küsse sie folgsam wie ein Hündchen.<br />
68
(Das<br />
Der Hagestolz<br />
Ich war allein-ich bins allein<br />
Glückseligkeit, allein zu sein<br />
Ich war zu zwein, ich war einmal zu zwein<br />
Gelegentlich, welch Glück, zu zwein zu sein<br />
Auch mal zu drein kann reizend sein<br />
Doch wieder dann zurück<br />
Doch wahres Glück allein<br />
Bei mir-allein.<br />
Unvergessliches<br />
Das Erlebnis mit Eline wird mir immer unvergesslich<br />
sein, d.h. ich weis eigentlich nur noch, dass es<br />
mir unvergesslich sein würde.<br />
An das andere erinnere ich mich nicht mehr.<br />
Ich sagte: Wenn man hier im Café sitzt und sich die<br />
Leute anschaut, dann findet man doch, dass man<br />
der einzige vernünftige Mensch hier ist.<br />
Ja, sagt er, so wenig Phantasie hat man.<br />
69
HEFT II<br />
Alles hangt von unserer Anschauung ab. Aber unsere<br />
Anschauung hangt nicht von uns ab.<br />
Schweigen ist Gold. Ich hange nicht am Golde.<br />
Das Leben zwingt einen oft, sich zu aussern, auch<br />
wenn man nichts zu sagen hat.<br />
Denen es selbstverstandlich ist.<br />
Scherz für ungut.<br />
Wie soil einer schreiben, der schweigt, wenn er<br />
etwas zu sagen hat?<br />
Ich habe etwas zu verheimlichen. Also schreibe ich.<br />
Immer wieder siebzejhnjahrige, achtzehnjahrige,<br />
zwanzigjahrige. Wahrend ich alter werde.<br />
Er schwieg und strahlte aus: Mannlichkeit. Ein<br />
Blick, ein Handedruck, ein Streicheln. So wirkte<br />
er: herzverbrecherisch.<br />
Dass er kein Dichter war, wusste er, darum schwieg<br />
er. Schwieg er, hatte er etwas von einem Dichter.<br />
Die Sympathien strömten ihm zu, umsummten ihn.<br />
Er flatterte, schaukelte in der Süsse, im Duft des<br />
„Neigens der Herzen". Er konnte lachen, wenn er<br />
daran dachte. War glücklich untatig aussen, überschwenglich<br />
gefahrlich unsichtbar.<br />
Unmöglich auch nur den Schatten jener Fülle von<br />
70
Gedanken und Empfindungen einzufangen, die ihn<br />
bei seinen Unternehmungen bewegten. Allein schon<br />
die Sensation frischer Wasche beschwingt seinen<br />
Geist auf hervorragende Weise. Ihm gehorte die<br />
Welt, d.h. was wichtiger war, jene Frau, auf die er<br />
es abgesehen hatte. Im Kopf vereinigte er Lilly,<br />
Lucie, Lore, Laura, Liane und Lu zu einen Bouquet<br />
voll ununterbrochener Reize. Die wichtigsten Spekulationen<br />
wurden abgründig erwogen, mit nacheifernswerter<br />
Liebe gab er sich dem Thema seiner<br />
Verführungen hin.<br />
Ah, wie bald verschwindet der Anlass zu unsern<br />
Taten, und nur sie selber bleiben und fordern mit<br />
eigenem Leben ihre Gesetze. Nur anfangs sind wir<br />
die Schöpfer unserer Handlungen, die uns, fortgeschritten,<br />
an der Leine führen. Eben noch bedachten<br />
wir die Welt, und schon sind wir sie in<br />
eigener Person, da denn ein rechter Ueberblick<br />
versagt bleibt.<br />
Warum handelte er? Diese Frage warf er vergangenen<br />
Epochen zu. Er handelte jetzt. Die Schwarmerei<br />
des Betrachtens wich der der Taten.<br />
Er kostet in der Wirklichkeit den Luxus ungenutzter<br />
Situationen, Beziehungen, die das Unmögliche<br />
versprechen, bricht er ab.<br />
Wenn ihn mehr das Temperament oder die Angst,<br />
zu kurz zu kommen, die Eitelkeit, zu versaumen,<br />
die Neugierde, den Spannungsgrad der unbekannten<br />
Materie zu erproben, hinreisst, den Augenblick<br />
auf die Spitze zu treiben, bereut ers mit einem<br />
Nachgefühl von Geschmacklosigkeit.<br />
71
Durch Unvollendung der Phantasie Spielraum lassen<br />
— das belohnt den wahren Künstler in uns,<br />
der nichts mehr ersehnt als die „Kultur der feineren<br />
Sinnlichkeit".<br />
Was er wollte? Er wollte nichts. Er wollte: immer<br />
verliebt sein.<br />
Reizen nachgehen, sich begeistern, jagen, erhaschen,<br />
erobern, sich entziehen, müde sein und von<br />
neuen Reizen befeuert werden.<br />
Offen für alles Unerwartete, frei für alle auftauchenden<br />
Möglichkeiten.<br />
Gelegentliches mitnehmen. Den Zufall umarmen,<br />
ihn entwickeln, erschöpfen, auspressen — und unberührt<br />
bleiben.<br />
Schaudern vor dem Bleibenden. Sich durch Dauer<br />
belastet, geangstet fühlen. Ein ungenaues Verhaltnis<br />
zur Welt, zu den Menschen in seinen nicht<br />
zu bezeichnenden Grenzen bewahren. Seiltanzerkunst.<br />
Und das durch viele Jahre.<br />
Er verausgabt seine Energie im Ausbalancieren der<br />
verschiedenen Anforderungen, die man an ihn<br />
steilte, und der eigenen Wünsche, die ihn bald in<br />
gemütliche oder frivole Umgebung zogen, bald die<br />
besondere Frau umspielen liessen. Vor Resultaten<br />
schreckte er zurück. Die Furcht, sich einmal festzulegen,<br />
entwickelt seine Fahigkeiten des Gleitens,<br />
Jonglierens, Durchschlüpfens auf den höchsten<br />
Punkt, der fast ohne Vergleich ist und eigentlich<br />
72
l lasuns,eine-<br />
rhavon <br />
von niemand gehorig geschatzt wird, da er niemand,<br />
nur dem Künstler, und auch ihm zweifelhaft,<br />
zugute kommt.<br />
Für ihn ist es Zeit, schweigend die Gefühlstonleiter<br />
auf und ab zu laufen.<br />
Sie sprechen, sprechen, sprechen stundenlang über<br />
sichselber. Heute kommt nichts dabei heraus. Anderes<br />
entscheidet. Wenn sie redet, denkt er, dass<br />
sie eine grosse Nase hat, die in absehbarer Zeit<br />
noch grosser zu werden verspricht. Grobe Züge.<br />
Er antwortet und merkt, dass, um auszudriicken,<br />
was er sehr bestimmt im Blute hat, ihm die Heeresmacht<br />
der Adjektive mangelt. Er müsste ein Buch<br />
schreiben, um eine einzige dieser aus dem Urgrund<br />
seiner sehr unbestimmten Natur kommenden „atmospharischen"<br />
Empfindungen zu beschreiben.<br />
Er müsste ein Buch schreiben oder schweigen.<br />
Stattdessen reden sie stundenlang.<br />
Das Resultat ist: eine Stimmung.<br />
Ich selbst, sagte er, bin selbst etwas naiv und werde<br />
es bleiben. Das ist die Blutzusammmensetzung.<br />
Vielleicht wird es mir kraft Ueberlegung sogar gelingen<br />
(wenn man mir Zeit lasst), in einigen Fallen<br />
das Passende zu tun. Doch wird das nie spontan<br />
geschenen. — Wenn ich meine verschiedenen unwillkürlichen<br />
Situationen durchgehe, muss ich<br />
mich auslachen. Das ist peinlich einer Frau gegenüber.<br />
Aber welcher Mann ist denn der Eroberer,<br />
wie die Frau ihn ertraumt? Und wie schuljungenhaft<br />
ist im Grunde der Eroberer!<br />
73
Und dann lachelt die Frau, und wieder ist er blamiert.<br />
Sie braucht nur zu lacheln — er aber muss<br />
reden, reden. Manchmal verrat einen Schweigen<br />
mehr. Und darum redet er immer, damit sie nicht<br />
merkt, dass er keine Persönlichkeit ist. Er denkt<br />
Frauen fliegen auf Persönlichkeiten. Obwohl er<br />
schon hundertmal böse werden musste, weil sie<br />
ihm mit einem Esel untreu wurden.<br />
Friiher meinte er manchmal, was er sagte. Jetzt<br />
hoffte er, es nicht denken zu mussen.<br />
Seine Zeit mit Glück versaumen.<br />
Sollte es nicht gelingen, das Unberechenbare zu<br />
f ixieren!<br />
Sogar<br />
Es konnte Nachwirkungen haben.<br />
Hatte sogar welche.<br />
Aber welche?<br />
Und von welchen Anlassen konnte man sie ableiten?<br />
Vorgefasste Ideen eines Junggesellen.<br />
Das Leben ist kurz. Wie Frauenliebe. In der Kürze<br />
liegt die Würze.<br />
Die Leute denken, wir verführen zu unserm Vergnügen,<br />
wahrend wir einem Pflichtgefühl folgen.<br />
Ehe denn die Ehe war und die Gesetze zum Schutz<br />
der Impotenz erfunden wurden, warst du o gött-<br />
74
licher Funke der Geschlechtlichkeit von Ewigkeit<br />
zu Ewigkeit.<br />
Frauen sind Naturereignisse.<br />
Wenn man die Frauen begreifen will, muss man<br />
sich nicht zuviel Gedanken über ihre Handlungen<br />
machen. Sie machen sich auch keine.<br />
Manner kennen Frauen auf eine Art, wie Frauen<br />
die Frauen nie kennen können.<br />
Ich trage es jedem Madchen ernsthaft nach, wenn<br />
ich mich nicht in sie verlieben kann.<br />
Wenn man verliebt ist, benimmt man sich dumm;<br />
aber noch dümmer ist es, nicht verliebt zu sein.<br />
75
HEFT III<br />
Denn wenn wir wussten, was wir schreiben —<br />
würden wir schreiben?<br />
Mit dem Zerstören anfangen. (Dem Zerstören dessen,<br />
was man nicht geschaffen hat.)<br />
Das Ende vorwegnehmen, indem man verrat, worauf<br />
das Ganze abzielt.<br />
Auf den Anfang zuschreiben.<br />
Im Augenblick, da man endet, das Interesse begraben.<br />
Dem Unbekannten nicht vorbeugen durch<br />
Ansichten oder Formen.<br />
Jeden Augenblick des Schreibens zu inspirieren<br />
suchen. Das kann zum Teil durch rechtzeitige<br />
Unterbrechungen geschehen.<br />
(Ein kahlgeschorener Mann, der einen prachtvollen<br />
Haarwuchs hat — das ist immerhin etwas!<br />
Aber wem nur mehr sparlich die Haarchen kommen,<br />
mag er doch kahl geschoren gehen, es hat<br />
wenig zu bedeuten.)<br />
Die grossen (versteckten) Möglichkeiten erzeugen<br />
die grosse Spannung im Werk. (In dem Kahlkopf<br />
den Haarschopf ahnen lassen!)<br />
Und wenn wir sagten, wir harten keine — war<br />
nicht auch das — Weltanschauung!<br />
Sich aussern, ohne sich zu verraten: der Gipfel des<br />
Zu-Erreichenden.<br />
Es gibt Gedanken, die verbirgt man am besten<br />
dadurch, dass man sie ausspricht. Ueberhaupt ist<br />
76
des-<br />
wor-<br />
die Oeffentlichkeit ein sicherer Schlupfwinkel für<br />
die, die die Wahrheit über sich versteekt zu halten<br />
wünschen.<br />
Ich will allein sein, also begebe ich mich ins Getiimmel.<br />
Es war so, dass wir für unsere Seele ein paar neue<br />
Landschaften brauchten. Aber immer wieder neue?<br />
Wohin sollte das fiihren? (Wohin hatte das schon<br />
geführt?!) Warum sollten wir unsere Gefühlskrafte<br />
nicht auch einmal statt in die Breite in die Tiefe<br />
projizieren? Es kam auf einen Versuch an. Ein<br />
Versuch, der uns möglicherweise die Freiheit<br />
kostete.<br />
Wir sind das Opfer unserer Bedürfnisse. Unsere<br />
Wünsche, wenn sie erfüllt sind, zeitigen eine traurige<br />
Leere und Verlassenheit.<br />
So bekamen wir es über, oberflachlich zu sein.<br />
Reisen: oder vor sich selber davonlaufen, wahrend<br />
man sich sucht.<br />
Man kommt auf Reisen im besten Fall um die<br />
Erde, selten zu sich selbst.<br />
77
Im Vorüber<br />
Blicke hinter dem Buffet,<br />
wenn ich wo zu Mittag speise,<br />
oder irgends auf der Reise<br />
lacheln sie aus dem Coupé.<br />
Auf den Strassen im Vorüber<br />
winken Augen: bist ein Lieber.<br />
Das ist überall ein Ueben<br />
im Vorübergehn zu lieben.<br />
Am Meer<br />
Am Meer — dies ist das Gerausch<br />
Ein Haus — dies ist die Kulisse.<br />
Sie — er — das ist das Lustspiel.<br />
Gesehen durch die Augen eines Trottels.<br />
Ein blonder Kopf zerzaust vom Wind.<br />
Eine spöttische Grimasse, von Mondlicht beglanzt<br />
und beschattet.<br />
Die Wellen donnern in der Dunkelheit. Lichter<br />
blitzen da vorne und hinten, wenn man gute Augen<br />
hat.<br />
Augen, die lebendig lachen, die Menschen leuchtend<br />
verachten.<br />
Augen, die nur lieben, deren Innigkeit wie Wasser<br />
schwimmt, können nicht so scharf sehen.<br />
„Geliebter"<br />
„Beruhige Dich."<br />
Mit schlechter Stimme ein Lied, alter Schlager<br />
78
einer Grosstadt Europas, oder ein Kindervers gegen<br />
den Sturm gerufen. Zitate aus allen Landern, Lebenslagen<br />
und Hamlet. Mit dem Stock im Sand getappt,<br />
sie eingehenkt, stolpert mit, er, ein junger<br />
Mann, markiert altere Mannlichkeit.<br />
Zuriick ins warme Haus. Klavier geschlagen. Schuhe<br />
aus, indem die andre Hand ein Buch rauslangt.<br />
Pfeife stopfen. Tee und: Trautes Heim — Glück<br />
allein.<br />
Wie dann plötzlich ungekannte Gebiete Leben<br />
(für uns) gewinnen. Eben noch kritisierten wir<br />
heftig, da wirft uns ein Wind in eine nie erwartete<br />
Ortschaft, in ein verpöntes Milieu, in uns<br />
fernliegende Umstande, und schon erfüllt der Herzschlag<br />
dieser totgemeinten Gegend uns selbst.<br />
Oder gerade das Pulsieren der Dürre zieht uns so<br />
machtig an, dass wir Stadte und Betrieb beiseitelassen<br />
und uns in die Intensitat der sogenannten<br />
Einsamkeit einbeissen und dann behaupten, dass<br />
dort eine Fülle herrsche, die wir an den allbekannten<br />
Platzen und zwischen der Menge vergebens<br />
suchen.<br />
79
HEFT IV<br />
Die wahren Schicksalsschlage werden uns von<br />
denen beigebracht, die wir lieben. Bei den andern<br />
machen wir uns nichts draus.<br />
Ueber manches machen wir uns so unsere eigenen<br />
Gedanken. Und immer andere. Unsere Gedanken<br />
gehören weniger uns als den Stunden und Tagen,<br />
an denen wir sie haben.<br />
Mag es doch immerhin ein Anderer schon gesagt<br />
haben. Sollten wir ihm diese Wahrheit missgönnen?<br />
oder er uns? Wir wollen nicht urn jeden<br />
Preis originell sein, sicher nicht um den Preis<br />
dessen, was wir nicht sagen.<br />
Ueber Erziehung<br />
Jemand tut irgendwas.<br />
Einer bemerkt dazu: aber so etwas tut man doch<br />
nicht.<br />
Ein dritter Jemand regt sich darüber auf, ist empört:<br />
dass einer es tut, beweist, dass man es doch<br />
tut — gegebenenfalls. Man tut es: einfach eben<br />
doch.<br />
Hierzu aussert ein Vierter: es ist wahr: in der<br />
Theorie wird man niemals zugeben, dass man<br />
irgend etwas nicht tut. Man tut alles — gelegentlich<br />
und — je nachdem. Aber andererseits kann<br />
man beobachten, dass diese Aeusserung „Aber so<br />
etwas tut man doch nicht" — so verkehrt sie sein<br />
mag, so spontan gewisse Naturen sie ablehnen wer-<br />
80
den, bei Einigen eine hervorragende erzieherische<br />
Wirkung ausübt: sie tun es wirklich nicht mehr.<br />
Ich meinte, dass sie eine irrige Anschauung vom<br />
Leben hatte. Nach drei Jahren war sie in ihre Anschauung<br />
hineingewachsen, sie steilte sie mit ihrer<br />
Person dar. Jetzt musste ich zugeben, dass sie in<br />
Bezug auf sich recht hatte.<br />
Was mich betrifft, ist ihre Anschauung noch immer<br />
verkehrt.<br />
Es gibt Falie, in denen man aus Verlegenheit herzlich<br />
wird und nachher die Menschen, zu denen<br />
man's war, einfach hasst. Weil sie einen in die<br />
Verlegenheit brachten.<br />
Oder in der Bahn. Du bist wütend, weil der Mensch<br />
dir gegenüber sich ausgezeichnet unterhalt oder<br />
Schuhe trögt, die du albern findest. Er zieht vielleicht<br />
die Augenbrauen hoch, und du haltst ihn<br />
deshalb für so dumm, dass du ihm gern ein paar<br />
reinhauen möchtest. Keineswegs hattest du übrigens<br />
den Mut dazu. Und du, um dich selbst zu<br />
lautern, bietest ihm höflich deine Zeitung an. Oder<br />
machst unangenehme Gerausche, um ihn zu beleidigen.<br />
Ich für mein Teil schreibe in dies Heft und driicke<br />
dadurch allen Mitreisenden meine Verachtung aus,<br />
die ich für sie empfinde, weil sie rein nichts von<br />
meinen Angelegenheiten wissen.<br />
Briefe über die man sich argert, soli man zerreissen,<br />
bevor man sie gelesen hat.<br />
81
Vorsicht!<br />
Wie gerne lassen wir Erfahrungen, die wir selbst<br />
teuer bezahlt haben, anderen zu gute kommen.<br />
Wie zurückhaltend sollten wir in der Beziehung<br />
sein!<br />
Es ist was Fatales um einen lehrhaften Menschen.<br />
Ich möchte verkünden: Liebe, die sich auf dringt,<br />
führt zu Katastrophen.<br />
Aber ich beherrsche mich und bin still.<br />
Verstehen? Etwas verstehen, oder Menschen? Ich<br />
weiss nicht.<br />
Verstehen Sie jemand? Ja, Sie meinen? Da haben<br />
Sie Gliick.<br />
Aber nun denken Sie mal an Margot, die tatsachlich<br />
falsch versteht, und für ihr eigenes Leben<br />
doch richtig — da wird einem schwindlig. Sie<br />
lebt ein konsequentes eigenes Leben mit einem<br />
Haufen von tatsachlich falschem Verstehen. Angenommen<br />
jetzt, sie würde das alles richtig verstehen,<br />
konnte sie da noch ihr eigenes Leben so<br />
konsequent leben? Oder: in wieweit werden wir<br />
durch richtiges Verstehen an uns selber verhindert?<br />
Wahrscheinlich sollten wir uns mit Verstehen<br />
gar nicht so lange aufhalten. Aber dann<br />
wieder: für den Einen ist gerade diese Beschaftigung<br />
sein Vorwartskommen. Es ist ja doch unmöglich,<br />
alle Seiten in Betracht zu ziehen, von<br />
denen man ein Licht auf eine Sache werfen konnte.<br />
Wir sind immer aufs Neue zur Vereinfachung<br />
gezwungen. Oder wir verlieren uns in einem Labyrint<br />
— Und wie gerne verlieren wir uns.<br />
82
Ernst nehmen<br />
Sie nahm sich seblst nicht sehr ernst.<br />
Sie war erstaunlich gross und gut gewachsen.<br />
Es ist merkwürdig, wenn ein grosser Mensch in<br />
vieler Hinsicht von kleinem Format ist.<br />
Dann fand sich jemand, der sie ernst nahm. Und<br />
tatsachlich: sie gewann dadurch.<br />
Er versetzte ihr Komplimente und Peitschenhiebe.<br />
Sie reagierte auf ihn wie ein ernstzunehmender<br />
Mensch.<br />
Ich aber habe keine Lust, Komplimente oder Peitschenhiebe<br />
auszuteilen und darum wird mir diese<br />
Frau niemals blühen, niemals leuchten.<br />
Ich nehme sie nicht sehr ernst.<br />
Ein Unterschied besteht sicher darin: ob wir<br />
einen Menschen auf die gesellschaftlich übliche<br />
Art kennen lernen, d. h., ob uns ein neues Gesicht<br />
gewissermassen serviert wird, oder ob wir eine<br />
Bekanntschaft nach eigenem Gut dunken! vom Zaune<br />
brechen. (Die Raubrittertugenden kommen hier<br />
besser zu ihrem Recht. Es gibt immer Augenblicke,<br />
da es angemessen ist, entschieden durchzugreifen,<br />
wenn man auch sonst vielleicht zarte und empfindsame<br />
Handlungen bevorzugt.)<br />
Manchmal war i c h es, den man sich vom Zaune<br />
brach. Das war weniger nach meinem Geschmack.<br />
Ich werfe mich in den Mantel — tatsachlich: Ich<br />
werfe mich rein, wie ein Abenteurer — und dann:<br />
auf Strassenraub und Unerwartetes.<br />
83
(Liebe füllt die Zeit aus.)<br />
O Gott, der du mir eingabst, Worte der Liebe zu<br />
stammeln, auch da ich nichts fuhlte —<br />
ach sie dachten, Liebe sprache zu ihnen, und sie<br />
erbebten — betrogene Herzen<br />
Uebrigens<br />
Uebrigens gab es sicher einige Tage (und mehrere<br />
Nachte) im Jahr, in denen ich sehr für's Heiraten<br />
war.<br />
Ob ich bei Frauen Erfolg habe? —<br />
Was soil man auf eine oberflachlige Frage recht<br />
Leichtfertiges erwidern?<br />
„Erfolg hat, wer das Nachstliegende ergreift". Es<br />
liegt so nahe, dass es jeder normalerweise ergreifen<br />
kann. Begniige ich mich also mit dem erstenbesten<br />
Nachsten — wie sollte ich nicht allzuviel Erfolg<br />
haben. Wird man wahlerischer, wird auch der<br />
Erfolg seltener und wertvoller.<br />
Habe ich keinen, wo ich ihn wiinsche — vielleicht<br />
wiinsche ich ihn dann nicht mehr.<br />
Habe ich Erfolg, wo ich ihn nicht wiinsche, darf<br />
ich ihn verachten, was meine Einbildung und<br />
Sicherheit machtig starkt.<br />
Gewiss hat man in einigen Fachern seine Routine.<br />
Aber was reizt den edlen Jager: Schwierigkeiten!<br />
Der wahrhaft grosse Liebhaber wird wenig Erfolg<br />
haben — hierin gleicht er dem Unfahigen — da<br />
er ihn an den unmöglichsten Platzen erjagen will.<br />
Daher, wer von sich sagt, ich habe Erfolg bei den<br />
Frauen, verrat seinen mittelmassigen Geschmack.<br />
84
Pech<br />
Liebe ich mal, ist's auch nicht recht. Fahre 3 Stunden,<br />
um — nur um zu sehen, dass sie mit einem<br />
Andern — wollte sie abholen — übrigens: alterer<br />
Herr — übrigens, gehts mich nichts an. Liebe ich<br />
sie vielleicht darum weniger — vielleicht — das<br />
werd ich spater wissen. Augenblicklch sehe ich<br />
nur meine Liebe genarrt — oder ist es beinah eine<br />
Erleichterung? Plötzlich fühle ich mich fahig zu<br />
heroischen Entschlüssen — Lacherlich! — Besser<br />
die sentimentale schrage Haltung bewahren, die<br />
mir steht wie der Stab dem Baumchen, das umzukippen<br />
droht. Und doch — und doch — aber es<br />
soil nicht sein. Schluss. Schnelle Abfahrt hilft mir.<br />
s Das Leben grinst wieder mal über ein seltenes<br />
n reines Gefühl. Und ich mit ihm. Obgleich ich der<br />
n Geschundene bin. — Ja?<br />
g Und was verliert das Madchen? frage ich.<br />
•r Diese Frage lasst darauf schliessen,. dass ich noch<br />
im Besitz meiner Eitelkeit bin: Nichts verloren,<br />
il nichts gewonnen.<br />
Doch! Mein Gefühl für sie! Das gehort unter die<br />
f Rubrik: Unverwüstliche Gewinne.<br />
d<br />
Der Bohémien ist ein Mensch, der das Bürgerliche<br />
nicht hasst, sondern dessen Sehnsucht dahin geht,<br />
ein ruhiges geordnetes Leben zu führen, was ihm<br />
aber infolge seiner Veranlagung nie gelingt.<br />
Der ausführliche Junggeselle ist ein Mensch, der<br />
die Ehe nicht scheut. Er steht zu ihr völlig neutral<br />
(— vor drei Wochen hatte ich geschrieben, er<br />
wünscht sie herbei —). Alle Versuche aber, sich<br />
85
zu verheiraten, missglücken infolge seiner Veranlagung.<br />
Es kommt nie dazu. Und er auch nie.<br />
Einige betrachten den Junggesellen voll Mitleid ob<br />
seiner Einsamkeit, einige voll Neid ob seiner Freiheit.<br />
Einige lassen ihm auch Gerechtigkeit widerfahren.<br />
86
Richard stirbt<br />
Richard war gegen die dreissig, als er starb.<br />
Er hatte schon öfter gekrankelt, aber diesmal hatte<br />
es ihn ernstlich gefasst. Er selber rechnete wohl<br />
damit, dass es nun Schluss sei. —<br />
Eines Tages besucht ihn ein Freund (das bin ich).<br />
Man hatte Richards Bett ans Fenster geschoben.<br />
Der Freund setzte sich zu ihm.<br />
Ich habe das Glück, sagte Richard, dass ich jetzt<br />
hier bin und nicht in der Stadt. Dass ich die Baumkronen<br />
sehe und ein grosses Stuck Himmel. Ich<br />
liebe die Natur, wahrhaftig, mehr als sich denken<br />
lasst. Vor der Natur denke ich nicht, ich bin einfach<br />
da, wie ein Stuck von ihr.<br />
Er war redselig diesen Mittag. — Und der Freund<br />
hörte ihm stille zu.<br />
Ich verstehe nicht, dass ich es soviele Jahre in der<br />
Stadt ausgehalten habe. Und doch wusste ich auch<br />
der Stadt Reize abzugewinnen, aber ich litt auch<br />
unter ihr. Ich litt, wenn ich graue Gesichter sah,<br />
87
die in diese Steinwüste eingepfercht waren, trostlose<br />
Gesichter, befangen in den Suggestionen des<br />
Verkehrs, der Geschafte. Oder keiner Geschafte.<br />
Schreckliche Geschichter gibt es da, furchtbare<br />
Strassen, die wie Anklagen sind, Hauserreihen wie<br />
Faustschlage gegen die Natur.<br />
Und gerade in der Stadt habe ich die Menschen<br />
besonders geliebt, die wie Natur waren. Ich denke,<br />
aus Mangel an Natur.<br />
Hier kann ich ruhig liegen, in die Blatter sehen,<br />
die der Wind bewegt, oder die ruhig im Abend<br />
warten auf die Nacht. Hier liebe ich nicht die<br />
Menschen allein und ich habe auch keine besondere<br />
Sehnsucht nach ihnen.<br />
Oh die Stadt! Mit ihren Steinen, Asphalt, Beton<br />
und Eisen. Es ist kein Wunder, dass man es da<br />
nicht ertragen kann ohne die Frauen. Wenn ich an<br />
sie denke, denke ich an Landschaften. Madchen, die<br />
wie ein See sind mit hohem Schilf an den Ufern,<br />
oder wie ein Wald, durch den einen ein Sturm<br />
führt, oder wie ein Berg, von dem aus man in<br />
Schluchten sieht und über weite Ebenen. Manche<br />
sind auch wie Tiere, Rehe oder Kühe, die auf einer<br />
Wiese stehen — immer ist Natur mit ihnen. Aber<br />
die, an denen die Stadt klebte, konnte ich eigentlich<br />
nicht ausstehen. Stadt hatte ich ja mehr als genug<br />
um mich herum. Landschaften suchte ich! Frauen,<br />
Madchen und junge Manner — es war wohl nichts<br />
anderes als meine Sehnsucht nach der Natur, die<br />
sich in ihnen ein wenig erfüllte.<br />
Ja, und dann wird man alter! Hier liege ich — es<br />
ist wie eine Erfüllung und Auflösung aller Fragen.<br />
88
Baume und Himmel, der Geruch von Gras. Ohne<br />
Sehnsucht! — Hattest Du geglaubt, dass ich ohne<br />
Sehnsucht zu denken bin? ... Aber wozu denken?!<br />
Und auch, dass das alles aufhören wird, finde ich<br />
ganz in der Ordnung. Die Sensation des Alters, sagte<br />
er lachelnd, werd ich nun nicht erleben, aber es<br />
ist garnicht wie ein Verzicht. Es muss auch Leute<br />
geben, die mit dreissig Jahren sterben.<br />
Und da frage ich mich, wenn ich hier so liege, was<br />
ich eigentlich bin — nicht gewesen bin, sondern<br />
im Ganzen bin, Vergangenheit und Zukunft eingerechnet.<br />
Und da merke ich, wenn ich es in Worte fassen<br />
will, dass es entschwindet oder dass es unwahr<br />
wird.<br />
Siehst Du den Vogel da auf dem Zweig. Eine Blaumeise.<br />
Die sitzt da jeden Tag zu gewissen Zeiten,<br />
sie muss ihr Nest in der Nahe haben ... Ein wundervoller<br />
Himmel! —<br />
er sah in die Wolken, die sich langsam fortbewegten<br />
und veranderten.<br />
Der Freund sah Richard an. Er lag da, seine<br />
dunkelgriinen Augen blickten offen, seine Haut,<br />
etwas bleich, das dunkle wenige Haar — das Hemd<br />
bis zum Hals zugeknöpft — man müsste unwillkiirlich<br />
an einen Mönch denken. Der Freund dachte:<br />
ein Mensch.<br />
Ja,was ist man?sagte er.Und was ist man anderen?<br />
Die andern! nickte Richard, den Blick in Wolken<br />
undBliittern.Man begreift sich selber erst an ihnen.<br />
Man wiinscht, ihnen etwas zu sein, etwas Gutes und<br />
Klares, weil man ihnen eben etwas Gutes wiinscht,<br />
89
aus Dankbarkeit, weil man so sehr viel von ihnen<br />
empfangen hat. Weil man sie liebt.<br />
Aber sie haben einen nicht nötig, sie glauben, dass<br />
sie einen nicht nötig haben, und für viele stimmt<br />
das. Wenn ich etwas sein kann, so kann ich nur<br />
wenigen etwas sein, das weiss ich. Wenigen, aber<br />
doch vielleicht mehr als man denkt. Denn unsere<br />
Menschen, das sind die stillen, die, die keinen<br />
Radau machen, und denen die Raudaumacher<br />
wenig anhaben können. — Nein, wir sind nicht<br />
schwach! Man soil das Zarte nicht mit dem Schwachen<br />
verwechseln. Viele, die Krach machen, sind<br />
Schwachlinge, und sie mussen den Larm machen,<br />
um sich selbst glauben zu machen, dass sie stark<br />
seien. Sie sind verdammt schwach. Aber manch<br />
einer von uns hat eine Starke, von denen sich die<br />
larmenden Schulbuben nicht traumen lassen. —<br />
Weisst Du, sagte er lebhaft und sah den Freund<br />
amüsiert an, was mir an mir am besten gefallt?<br />
Dass ich mich von all diesen Leuten, die Heilmittel<br />
und Botschaften predigen, die gross sind im Ausüben<br />
von Suggestionen und einen zu einer bestimmten<br />
Ansicht verleiten wollen — dass ich mich<br />
von niemandem habe verrückt machen lassen. Das<br />
lag daran, (er wurde sehr ernst), dass ich selber<br />
immer noch ein bischen verrückter war als jene.<br />
Ich hatte meine eigene Verrücktheit, an die sie alle<br />
nicht herankamen, und das war — ich selber:<br />
Richard —<br />
Ich spreche schon in der Vergangenheit und bin<br />
doch noch da. Die Gedanken eilen ein Stückchen<br />
voraus.<br />
90
Ich bin noch da ... — das sagte er kaum hörbar.<br />
Plötzlich schlief er. Es schien wenigstens so. Der<br />
Freund hielt sich ruhig auf seinem Stuhl.<br />
Nach einiger Zeit bewegte Richard Kopf und Arm,<br />
sah den Freund aus unruhigen Augen an. Er schien<br />
nicht recht zu wissen, wo er war.<br />
Dann atmete er tief, fast seufzend.<br />
Wie lange habe ich geschlafen, fragte er besorgt. —<br />
Vielleicht fünf Minuten.<br />
Es verging eine Weile. Schweigen.<br />
Ich hatte einmal etwas geschrieben, sagte Richard^<br />
(Er war nicht mehr gelassen wie vor dem Schlaf.<br />
Er beeilte sich mit den Worten.) Von einem Menschen,<br />
der hingerichtet wird, und der nun die Tage<br />
und Stunden bis dahin auf die bestmögliche Art<br />
ausnutzen will. Und was tut er? Was denkst Du<br />
wohl, was er tut? — Garnichts besonderes. Er lebt<br />
genau so hin wie ehedem — das heisst — er ist<br />
natiirlich in seiner Zelle eingeschlossen, und kann<br />
daher nicht viel tun — aber seine Gedanken, die<br />
doch frei sind, zu gehen, wohin sie wollen, machen<br />
gar keine besonderen Spriinge, es gelingt ihm keine<br />
Steigerung oder was man vielleicht einen Schluss,<br />
eine Zusammenfassung nennen könnte.<br />
Ich fiihle, dass das ganz richtig gesehen war. Wir<br />
sind, was wir sind, schliesslich unser ganzes Leben<br />
lang und durch unser Leben — und doch, siehst<br />
Du, ist da ein immerwahrender Wunsch, sich selber<br />
zu sehen, man möchte über sich hinaussehen.<br />
Sich sehen im Zusammenhang mit dem, was man<br />
so die Welt nennt, für die man nie recht fassbar<br />
war, und in der man doch gelebt hat.<br />
91
Und wenn dieser Wunsch gross genug ist... es ist<br />
mir, als ob ich mit Dir rede, obgleich Du doch kein<br />
Wort sagst. Du sitzt hier, du kannst so wunderbar<br />
zuhören, und so ist es, als ob wir uns unterhielten.<br />
— Ich habe hier die Tage gelegen, mit der Natur<br />
gelebt und eigentlich nichts gedacht. Vielleicht,<br />
dass mein Verurteilter auch darum so garnichts besonderes<br />
mehr dachte, weil ihn niemand mehr besuchte.<br />
Du sitzt hier und es ist, als ob die Welt ins<br />
Zimmer gekommen ist.<br />
Ja, ich habe noch meine kleine Rechnung zu begleichen<br />
— mit der Welt — ein grossartiges Wort.<br />
Mit der Welt und den Menschen, die of fenbar anders<br />
sind als ich, und dennoch immer und immer wieder<br />
Forderungen am mich steilten, die ich natürlich<br />
nicht erfüllte.<br />
So ist das: die Welt, die Menschen stellen Forderungen,<br />
sie drangen uns zur Stellungnahme, und<br />
dabei will man nichts anderes sein als man selber,<br />
und eben dies argert sie.<br />
Wir wollen diese Sache doch einmal durchdenken<br />
(ich hiitte nicht gedacht, dass ich heute noch denken<br />
würde. Ich dankeDir, dassDu gekommen bist.)<br />
Ja, wir wollen das einmal soweit durchdenken, wie<br />
nur möglich; denn, siehst Du, das ist ein alter Groll<br />
von mir gegen die Welt mit ihren Ansprüchen. Das<br />
hat mich schon oft gepeinigt, und ich will es mir<br />
nun vom Herzen schaffen (vielleicht, dass die Geschichte<br />
von meinem Verurteilten doch nicht richtig<br />
war). — Und Du spielst dabei die Rolle der<br />
Welt. —<br />
Denn dass wir kampfen sollen, Kampfer sein sollen,<br />
92
das ist auch so eine von den Forderungen, die die<br />
Welt an uns stellt, (und heute mehr fordert vielleicht<br />
als in manchen anderen ruhigeren Zeiten).<br />
Ich habe mich niemals recht als Kampfer gefühlt.<br />
Aber nun denn: wir wollen sehen, ob wir nicht<br />
auch fechten können. Wollen doch auch noch einmal<br />
der Forderung der Welt nachkommen, und<br />
sehen, was bei diesem Kampf herauskommt, der<br />
recht eigentlich gegen die Welt gerichtet ist. Wollen<br />
sehen, ob wir die Welt zwingen, auf ihren Platz,<br />
in ihre Grenze zwingen können.<br />
Und Du, Paul, bist die Welt, Du musst parieren.<br />
Ja, ich will mir das vom Herzen schaffen und vom<br />
Halse. Die Vorwürfe, die ich einzustecken hatte,<br />
weil ich nicht so war, wie sie mich wollte.<br />
Was wollte sie denn? und welch Recht hatte sie,<br />
zu wollen?<br />
Ach, wenn wir uns auf das Recht einlassen, so wird<br />
die Welt Grunde genug finden, ihr Recht zu beweisen.<br />
Diese Frage lassen wir hübsch beiseite. Ich<br />
frage anders.<br />
Warum fordert die Welt überhaupt von uns? (Warum<br />
lasst sie uns nicht in Ruhe?) Warum will sie,<br />
das wir sind, wie sie will? Aus Interesse an uns?<br />
Zu unserem Besten?<br />
Nun, wir sind keine Kinder mehr. Um unser Bestes<br />
schert sie sich den Teufel. — Wer stirbt hier?! Wer<br />
lost mir meine Schwierigkeiten?<br />
Nein, nichts anderes als Machthunger ist es und<br />
reinster, völligster Egoismus. — Ihre Wege soil<br />
man laufen. Sie kann es nicht ertragen, dass man<br />
eigene Wege geht. Darum verleumdet sie die eigenen<br />
93
Wege der Menschen. In ihrem Trott soli man sich<br />
bewegen. Jede Selbstandigkeit ist ihr zuwider.<br />
Und was für Wege können denn das nun sein, die<br />
Weltenwege?DummeTrottelwege, wenn esgutgeht,<br />
Höllenwege, wenn der Teufel los ist. Wir aber, die<br />
wir unserer eigenen Verrücktheit nachlaufen —<br />
denn so verrückt wie einer, der versucht, er selbst<br />
zu sein, ist niemand — sind ihr ein Dorn im Auge.<br />
Wir lassen sie fühlen, dass sie nicht allmachtig ist,<br />
ja wir lassen sie wohl auch ein wenig Verachtung<br />
spüren—und das kann sie in ihrer aufgedonnerten<br />
Schwache nicht ertragen. An uns sieht sie, wie<br />
schwach und nichtig sie ist. Und da bewirft sie<br />
uns mit Dreck. Unzeitgemass nennt sie uns, Egoisten,<br />
Weltflüchtler, Unnütze, weil ihre törichten<br />
Fragen nicht auch uns bewegen.<br />
Für sie sollten wir leben! —Da frage ich, wo denn<br />
hier der Egoist steekt?!<br />
Für wen denn sonst leben wir und für wen sonst<br />
denn könnten wir leben?Nicht für die Kurzsichtigkeit<br />
der Welt, nicht nach ihrem Willen leben wir<br />
für die Welt. Nach unserm Gesetz suchen und leben<br />
wir ein Leben lang, wir entwickeln unsere eigene<br />
Welt, und so fügen wir der Welt ein — wenn auch<br />
kleines — Neues hinzu.<br />
Egoisten? Genau das Gegenteil! Hinströmende und<br />
Gebende sind wir, nach unsern Gaben, so wie es<br />
uns gegeben ist. — Unnütze? Die Allernützlichsten,<br />
aber nicht dem engen Verstande.<br />
Weltflüchtler? Ja, weil sie uns banalisieren will,<br />
und grob und dumm und unselbstandig machen<br />
will, wie sie selber ist.<br />
94
Wir fliehen sie eine Zeit. Und am Ende kommt<br />
alles an sie zuriick, was wir gelebt haben. Hochmiitig<br />
sagt sie dann, dass sie uns nicht braucht,<br />
dass sie unsere Gabe nicht haben will. Aber ich<br />
versichere Dir, dass es nur Hochmut ist. Schliesslich<br />
nimmt sie unsere Gaben doch, spater, irgendwann<br />
einmal, und briistet sich mit uns und sagt: er<br />
gehorte mir an.<br />
Wie armselig ist diese Welt, dass sie von uns fordern<br />
muss, von uns Aermsten. Steht es so erbarmlich<br />
mit ihr, dass sie ohne unseren Teil und Hilfe<br />
garnicht mehr auskommt? So wollen wir ihr denn<br />
ein kleines Almosen geben!<br />
Hier — (er nahm die Hand des Freundes) — was<br />
hast Du dazu zu sagen, Welt ? Wo bleibst Du, Jammerwelt<br />
und Egoist, mit Deinen unverschamten Forderungen?<br />
Garnichts sagst Du? — Ich aber bin ein<br />
Vampir (in seine Augen kam ein kleines Feuer;<br />
mehr liessen seine Krafte nicht zu), ein Vampir<br />
und sauge Dir Deine Kraft aus, Dein Blut und<br />
Leben. Ich werde leben und Du musst sterben,<br />
Welt! zitterst Du nicht?! — Ach Du — er liess<br />
den Freund los — mit Deiner Unbeweglichkeit und<br />
Sicherheit! Ihr alle mit Eurer scheinbaren Sicherheit<br />
— ich glaub' sie euch nicht. Woher nehmt ihr<br />
sie denn? Auch mir selber glaub ich sie nicht,<br />
obgleich mir ja im Augenblick recht kampferisch<br />
zu Mute ist und ich so ziemlich auf alles gefasst<br />
bin. Aber Du wirst fortgehen, es wird dunkel<br />
werden, und ich werde allein und schwach<br />
sein.<br />
Und wenn ich sagte, dass ich nie auf eure Welt-<br />
95
Verrücktheiten hereingefallen bin, so stimmt das<br />
ja garnicht.Hundertmal, tausendmal bin ich hereingefallen!—oh,<br />
wie bin ich verwundbar, noch jetzt!<br />
Auf alles bin ich hereingefallen, was nur irgend<br />
den Anstrich des Menschlichen hatte. Wie hatte ich<br />
auch nicht sollen? Aber das war ja ein gesegnetes,<br />
wenn auch ein schmerzliches Hereinfallen. Mit<br />
Leidenschaft bin ich hereingefallen. Ich wollte gewissermassen<br />
hereinfallen, — und bin nicht darüber<br />
zum Menschenhasser geworden. Denn, siehst<br />
Du, ich habe es immer so gehalten — ich meine,<br />
diese Auffassung war mir die natürliche — dass<br />
man mich nicht hereingelegt hatte (und so konnte<br />
ich meine Enttauschungen niemandem nachtragen).<br />
Nicht ich war hereingelegt worden, sondern ich<br />
liess mich hereinlegen. Verstehst Du den Unterschied?<br />
Das war keine Passivitat, ich war nicht<br />
das Opfer, sondern ich war sehr aktiv dabei beteiligt.<br />
Also was sehr Positives. Ich nahm jeden<br />
Reinfall als eine Lehre und einen Gewinn.<br />
Ach, es ist doch gut, wenn man redet. Manchmal<br />
kommt man doch durch's Reden auf ganz gute<br />
Sachen.<br />
Verstehst Du also: reingelegt worden bin ich niemals,<br />
sondern: ich liess mich reinlegen. Mea culpa.<br />
Und so lernte ich die Menschen auf eine tiefere<br />
Weise kennen, als ich es ohne solche Enttauschungen<br />
gekonnt hatte. Ja, ich war versessen darauf<br />
sie kennen zu lernen, einfach besessen war ich.<br />
Warum wollte ich sie denn kennen lernen? —<br />
Manche gehen mit Tieren undPflanzen um; mir genügt<br />
es aber, wenn ich sie sehe. Bei den Menschen<br />
96
aber geniigt mir nicht das blosse Anschauen. Nein.<br />
Und was mich tiefst und zuinnerst verwunden kann,<br />
das sind eben auch: Menschen. Warum denn, warum<br />
denn? Warum war es mir denn nicht gleichgültig,<br />
warum ging ich denn nicht einfach weiter? Warum<br />
noch eben musste ich dagegen kampfen, dass<br />
sie mich einen Unniitzen nannten — nein, ganz und<br />
gar nicht war es mir gleichgültig, ungeheuer gingen<br />
sie mich an, die Menschen. Und nun meine ich<br />
doch, ja ich kann es nicht anders denken, dass,<br />
was mich trieb, sie kennen zu lernen, was diese<br />
unabweisbare Forderung an mich steilte, mich<br />
ihnen immer wieder aufs Neue zu verbinden, dass<br />
es — Liebe war.<br />
Richard schwieg wie verdutzt.<br />
.... dass es Liebe war, wiederholte er, — liess den<br />
Ton der Worte nochmals erklingen, (er wollte sich<br />
offenbar vergewissern, ob der Klang auch gut war<br />
und echt.)<br />
Er sann eine Weile.<br />
Es stimmt, es stimmt, sagte er dann hastig.<br />
Es stimmt.<br />
Entschuldige, wandte er sich zum Freunde (das<br />
andere hatte er wie für sich gesprochen), ich habe<br />
einen kleinen Schreck bekommen.<br />
Manchmal denkt man etwas und sagt es dann, und<br />
dann merkt man, dass es nicht stimmt. Kennst Du<br />
das auch? Durch das Ausprechen bekommt der Gedanke<br />
eine neue Wirlichkeit, und in dieser Wirklichkeit<br />
muss er seine Echheit aufs Neue beweisen,<br />
und da erweist es sich denn oft, dass es mit dieser<br />
Echtheit nicht weit her ist — auch mit Taten geht<br />
97
es mir haufig so — ich will etwas tun; aber ich<br />
muss es erst wirklich tun, um zu sehen, ob es<br />
falsch ist. (Meistens ist es falsch.)<br />
Es stimmt also wirklich, dass ich die Menschen<br />
liebe. Ich kann es sagen, ohne dass es falsch wird.<br />
Ja ich liebe sie, ich liebe sie.<br />
Dass ich das nicht gewusst habe! Und als ob ich es<br />
nicht gewusst habe! Habe ich es nicht selber heute<br />
noch gesagt. Und doch sehe ich das plözlich in<br />
einem — ja, wie eine Offenbarung ist es. — Komisch,<br />
komisch.<br />
So ist das. Die Welt, so sagten wir ja wohl, die<br />
Welt will Macht und ich — ich liebe sie.<br />
Es klingt ja beinahe wie eine Rechtfertigung. Ich<br />
liebe sie, weil — weil — als ob die Liebe nach<br />
Gründen fragt, als ob die Liebe nicht genug, ja<br />
unzahlige Grunde fande.<br />
Vielleicht liebe ich sie — ich weiss, viele sind einfach<br />
so, dass sie besser nicht waren — weil sie sich<br />
lieben lassen, — manche lassen sich garnicht lieben,<br />
aber diese muss man vielleicht noch viel mehr<br />
lieben. — Vielleicht liebe ich sie wegen dieser einzigen<br />
Gelegenheit, zu lieben! Was ware ich, was<br />
bin ich denn, wenn ich — nicht lieben kann.<br />
Und jetzt, verstehst Du, auch darum war ich nicht<br />
zu fassen. Auch darum konnte mich das, was man<br />
so die Welt nennt, nicht kriegen und nicht Sndern.<br />
Was lag mir denn an ihren Meinungen und Richtungen!<br />
Sie will Macht. Ich suche und will Liebe,<br />
und wo ich nicht lieben kann, da ist es, als ob ich<br />
garnicht da bin.<br />
Und darum kenne ich im Grunde auch nur eine<br />
98
Welt, die lieben kann. Die andere Welt, die die Zeit<br />
ausmacht, ist für mich niemals rechte Wirklichkeit<br />
gewesen. Und ich war niemals rechte Wirklichkeit<br />
für sie. Wie oft habe ich mich schon von gescheiten<br />
Leuten wegdiskutieren horen, sie gaben mir viele<br />
gute und logische Grunde, die mir meine Existenz<br />
wegbewiesen. Und doch Iebte ich (ja lebe sogar<br />
noch). Unzeitgemass bin ich genannt —- gescholten<br />
sollte ich sagen, denn hierin lag immer ein schwerer<br />
Vorwurf der Zeit — und insofern die Liebe eine<br />
dauerhafte Angelegenheit ist und eigentlich nicht<br />
eine Erfindung von heute, haben sie auch ganz<br />
recht.<br />
Unzeitgemass sind wir, ja wir, denn das ist ja gewiss<br />
— und es ware plumpeste Ueberheblichkeit,<br />
es anders zu denken — denn wir sind einer wie<br />
hunderttausend.— dass zu allen Zeiten diese Unzeitgemassen<br />
leben und sein werden. Und wenn das<br />
nicht ware, dann müsste es mich betrüben, dass<br />
nicht doch das eine oder andere von mir übrigbleiben<br />
wird. Du bist ja mein Universalerbe (lachelte<br />
er), was das beschriebene Papier betrifft — mach<br />
damit, was Dir gut dunkt — (denn vielleicht würde<br />
der eine oder der andere ein Wort darunter finden,<br />
das ihm wohltate — ich meine das wegen der<br />
„Nützlichkeit" meines Lebens) — aber mach Dir<br />
vor allem keine Sorgen darüber; auch ich mache<br />
niir nun keine Sorgen mehr. Alle Zeiten haben ihre<br />
Unzeitgemassen, und es ist kein Grund, zu meinen,<br />
dass unsere Worte die nicht erreichten, die es wohl<br />
zuweilen recht nötig haben, ermutigt zu werden.<br />
(Mussen sie sich doch gegen eine ganze Welt auf-<br />
99
echt halten!) — Unsere Worte! nicht meine —<br />
denn wenn es — zufallig — meine sein sollten —<br />
unsere Worte können nicht verloren gehen, denn<br />
sie werden immer wieder gesagt werden, von mir<br />
oder anderen.<br />
Verzeihe, dass ich so schrecklich viel geredet habe.<br />
Ich bin doch froh, dass ich's durchgesprochen<br />
habe. Ich bin froh. — Und müde.<br />
Und Du hast ja nun garnichts gesagt. Die ganze<br />
Zeit hast Du mich reden lassen. Du bist doch die<br />
Welt, musstest meine Hiebe parieren — und stattdessen<br />
schweigst Du. Machst es Dir bequem. Bedeutet<br />
das, dass die Welt mich keiner Antwort für<br />
wert halt? Oder soli es gar heissen, dass ich recht<br />
habe? Mit dem, was ich sagte? — UmGottes Willen,<br />
ich habe .. . das ware doch ... nein, so war das<br />
nicht gemeint. (Ich will nicht recht haben; ich bin<br />
kein Sieger). Ich wollte nur meine Meinung sagen,<br />
ja eigentlich wollte ich erst einmal selber wissen,<br />
was ich meine und wie ichs mir denke. Und nun<br />
hab ich's gesagt. Und nun soil die Welt ihre Meinung<br />
sagen. Nun? Die Welt schweigt. Auch gut. Ich bin<br />
müde. Geh jetzt — nein, weisst Du, nein. Nein. Es<br />
wird dunkel. Ich möchte nicht allein sein. Hast Du<br />
noch Zeit? Viel Zeit? — Da auf dem Tisch, links,<br />
bei den Papieren, da muss ein Heft liegen: Blatter<br />
von damals. Ich habe es lange nicht gelesen, es ist<br />
von damals. Willst Du es lesen? Mach das Licht an.<br />
Ich schliesse die Augen.<br />
100
<strong>RICHARD</strong>S HEFT<br />
Vorwort<br />
M an kann nicht schreiben ohne —<br />
schwer zu sagen, sehr schwer zu sagen, höchst<br />
bedenklich es zu sagen —<br />
nun, man meint doch immerhin, etwas zu wissen,<br />
wenn man schreibt.<br />
Und ganz verkehrt scheint mir das auch nicht.<br />
Man lebt doch, und so weiss man auch.<br />
Es soli nicht gleich heissen, wenn man schreibt:<br />
hort mir zu, ich habe die letzte Weisheit zu verkünden.<br />
Das muss es nicht unbedingt bedeuten.<br />
Und doch weiss man irgend ein Aeusserstes. Und<br />
zwar meine ich, dass jeder Mensch, aber auch<br />
jeder so etwas Aeusserstes weiss; auch ein jeder,<br />
so töricht er immer sein mag, lebt doch — wenigstens<br />
manchmal — sein Leben. Ein Leben, das,<br />
wenn es auch nichts weiter als Nachafferei ware,<br />
doch zugleich sein eigenes, einmaliges, nichtwiederholbares<br />
Leben ist.<br />
Und wenn nun die Bemiihung dahin ginge, dieses<br />
eine, einmalige, originale Leben — so unorginell<br />
es im Allgemeinen auch sein mag — das Besondere<br />
meines Lebens, meines Ich's aufzuschreiben,<br />
um diese Kleinigkeit, diese Nichtigkeit, die, wie<br />
das Meiste, wie fast alles sehr schnell vergessen<br />
sein wird, um dies atomische Etwas zu verewigen,<br />
festzuhalten (für ein paar Jahre — was wird es<br />
weiter sein?) —<br />
101
ich weiss nicht mehr, wie ich diesen Satz angefangen<br />
habe, — was aber dies betrifft: was es<br />
weiter sein wird? ja so meine ich allerdings, dass<br />
es etwas Weiteres sein wird. Nicht für ein paar<br />
Jahre, nicht um diesem Ich noch einige Jahre eines<br />
weiteren Lebens im Gedachtnis der Menschen zu<br />
sichern, würde man so etwas schreiben; dieses Ich<br />
kann ja garnicht sterben, dieses ausserste Wissen,<br />
diese Einmaligkeit und — Vollstandigkeit —• obgleich<br />
das immerhinviel gesagt heisst:„kann nicht<br />
sterben" — dies ist zu gröblich gesagt und muss<br />
missverstanden werden — denn hier ist weder das<br />
Wort „sterben" noch „geborenwerden" am Platz —<br />
nein, nicht darum handelt es sich — sondern um<br />
eine „grössere Verwirklichung".<br />
Man konnte ja auch malen oder musizieren oder<br />
(sonst irgendwelche) Schlachten schlagen. Man<br />
kann aber auch das Wort wahlen und — schreiben.<br />
Und bei diesemSchreiben konnte man geführt sein<br />
von dem Gedanken, dass man etwas Einmaliges<br />
weiss; ich will nicht sagen: etwas Unersetzliches<br />
— o garnicht! es kommt garnicht auf dies Einmalige<br />
meines Lebens an, sondern: es ist einfach<br />
da. Es istvollkommen gleichgültig, steht über jedem<br />
Werturteil, über jeder Meinung, nein, nicht über,<br />
sondern jenseits, oder besser abseits, ausserhalb<br />
jeder Meinung. Es ist da. Und dieses Dasein starker,<br />
kraftiger, wirklicher noch zu machen, dieses<br />
Leben mehr und starker zu haben, zu halten, zu<br />
atmen, zu leben, zu sein, — darum schreibe und<br />
schreibe und schreibe ich. Ich schreibe immer<br />
weiter.<br />
102
Jeder weiss sein Leben, lebt es eben und ist es.<br />
Und ich um ein Uebriges zu tun, schreibe es. Und<br />
Wahrenddessen, wahrend es immer und immer geschrieben<br />
wird, ist es da und ich lebe es<br />
Nochmals die Unw r<br />
issenheit<br />
Es ist bedenklich.<br />
Ich sehe den Mond. Ich verstehe ihn nicht. Und<br />
ich fuhle was dabei. Wie er sein Licht über die<br />
Landschaft giesst —<br />
Stille<br />
Es ist bedenklich; das ist höchst bedenklich.<br />
Ich bedenke, dass unsere Zeit gegen Romantik ist,<br />
gegen „unvernünftige Gefühle", gegen „das Zwecklose",<br />
und für Sachlichkeit. Dass unsere Kultur in<br />
den Stadten gemacht wird. Dass die Wissenschaft<br />
sich aller Gegenstande bemachtigt hat,und dass uns<br />
vollkommenen Laien das eine oder andere Wort<br />
oder Resultat der Wissenschaft zu Ohren gekommen<br />
ist. Alles, aber auch rein alles und nicht zuletzt<br />
das Unbegreifliche und Feme ist in die Sphare<br />
wissenschaftlicher Untersuchung gerückt. Haben<br />
wir aber dies und jenes davon aufgeschnappt, fühlen<br />
wir uns als noch grössere, schabigere Laien als<br />
zuvor. „Die Wissensform der modernen westlichen<br />
Bildung in Bezug auf die Welt ist die kritischwissenschaftliche."<br />
Ich frage mich also beim Anblick des Nachthimmels,<br />
was ich vom Mond und von den Sternen<br />
103
weiss. Es komt sehr wenig dabei heraus. Ich stehe<br />
beschamt gegenüber dem Gewissen unserer Kultur<br />
(das ja in gewisser Hinsicht auch mein Gewissen<br />
ist), und das die Forderung stellt, dass man weiss,<br />
wissenschaftlich gründlich und kritisch weiss, und<br />
das für's Nicht-wissen höchstens ein bischen überlegene<br />
Verachtung übrig hat. Ich komme mir leicht<br />
erbarmlich vor. Nicht gegenüber demWeltall, nein,<br />
gegenüber dem, was Menschen zusammengetragen<br />
und aufgebaut haben, gegenüber demmenschlichen<br />
Wissen, gegenüber der heroischen Leistung jenes<br />
Geschlechts, von dem ich ein Teil bin, an dessen<br />
bewundernswerter Arbeit ich aber keinen Teil<br />
habe. Ein Schabiger, Erbarmlicher.<br />
Das bischen, was ich vom Mond und den Sternen<br />
weiss, ist zu wenig, um nach dem Masstab<br />
heutigen Wissens als Wissen überhaupt in Betracht<br />
zu kommen.<br />
Weiter aber: das Bedürfnis, nun also mehr vom<br />
Sternenhimmel zu erfahren, verflüchtigt sich sogleich,<br />
da in der laienhaften Vorstellung die gegenwartige<br />
Wissenschaft als ein Koloss von so erdrükkendem<br />
Gewicht empfunden wird, dass einem alle<br />
Lust entschwindet, in ihr Gebiet einzubrechen.<br />
Wissen ohne Wissenschaft ist heute und also für<br />
uns Heutige kein Wissen mehr, wird auch vom<br />
Laien nicht mehr als solches angesehen; und so<br />
verzichtet er, der Laie, um sich nicht mit verachtlichem<br />
Halbwissen anzufüllen, ganz und gar auf<br />
die Vermehrung seiner Kenntnisse, soweit sie ihm<br />
im praktischen Leben ohne Nutzen sind. Er überlasst<br />
das Wissen den Spezialisten, den Wissen-<br />
104
schaftlern, und begnügt sich damit, den Mond und<br />
die Sterne „schön" zu finden.<br />
Und so, durch seine eigene hohe Forderung vom<br />
Wissen (die Forderung seiner westlichen Kultur)<br />
zum offiziellen Nichtwissen verurteilt, kommt er in<br />
Opposition zu seiner Kultur, zu seiner Zeit. Er, da<br />
ihm „die Sachlichkeit" verriegelt ist, fiihlt sich<br />
zur Romantik hingezogen, bekommt Sinn für das<br />
Nutz- und Sinnlose. Er ist ausgeschlossen vom Sinn<br />
seiner Zeit und — also gedrungen — gewinnt er<br />
sich und damit seiner Zeit ein neues Feld der eigensten<br />
Betatigung, einen neuen Sinn für dasNicht-<br />
Wissenschaftliche (einen neuen Kunstsinn). —<br />
Da ist noch immer der Mond, etwas fortgewandelt,<br />
giesst sein Licht über dieBaume und macht schrage<br />
Schatten.<br />
Es ist nicht mehr bedenklich, dazustehen und dies<br />
ganze grosse magische Panorama zu betrachten,<br />
ohne zu wissen, ohne zu meinen, ohne zu denken.<br />
Immerhin können wir, auch in dieser wissenschaftlichen<br />
Welt, uns auf die Ur-Wahrheiten berufen:<br />
es soil einmal einer durch meine Nase atmen, mit<br />
meinen Augen diesen Mond sehen, mit meinem<br />
Körper hier dastehen. Es würde ihm schwerfallen.<br />
Wir leben alle, wir sind alle und wissen darum alle<br />
etwas — Unwissenschaftliches. Etwas Tieferes oder<br />
wie mans nennen will. Weshalb auch ein jeder,<br />
auch der Unwissendste, der Wissenschaft in gewisser<br />
Hinsicht immer überlegen sein wird.<br />
105
Blatter in den Wind geschrieben<br />
Vielleicht ist zwischen vielen Worten eins<br />
Das wie ein Schuss imSchwarzen sitzt<br />
Das wie ein Blick der Gottheit blitzt<br />
Vielleicht ist zwischen vielen Worten keins<br />
Blatter in den Wind geschrieben —<br />
das ist vom Leben iibriggeblieben.<br />
Worte in den Wind geschrieben —<br />
nur ein Buch ist iibriggeblieben.<br />
Nur ein Buch?<br />
Ist's nicht genug?<br />
Frag nicht so klug!<br />
Was bleibt einem von einem Buch, das man gelesen<br />
hat? — Vielleicht ein Satz, der einen für uns besonderen<br />
Gedanken ausdrückt, oder der einen Gedanken<br />
auf besondere Weise ausdrückt. Vielleicht<br />
sogar mehrere Satze, wenn man ein gutes Gedachtnis<br />
hat. Vom Gedachtnis hangt fürs Wissen viel ab.<br />
Doch wenn wir auch alle Einzelheiten vergessen,<br />
uns bleibt als — verschwommenes — Gesamtergebnis<br />
unserer Lektüre ein Gefühl der Sympathie,<br />
des Widerwillens, der Gleichgültigkeit, Bewunderung<br />
oder dergleichen.<br />
Ungefahre Gefühle — das ist unsere „Bildung"!<br />
Beim Bücherlesen laufen wir das Risiko, dass wir<br />
106
Gedanken fertig vorfinden, „Wahrheiten", die wir<br />
auf dem Wege waren, selbst zu entdecken. Dass<br />
wir „zu schnell" „zu klug" werden.<br />
Literatur: was nicht aufgeschrieben ist, ist nie geschehen.<br />
Für den Schreiber ist das Schreiben zugleich sein<br />
Material, seine Sinnlichkeit —<br />
für uns ist es „nur denken" —<br />
Gedanken — das ist zu wenig, wenn es den Menschen<br />
befriedigen soil.<br />
Der Gedanke — der Gedanke ist schliesslich auch<br />
nur „eine Art zu denken".<br />
Zu wenig weniger als zuviel Erlebnis hindert am<br />
Schreiben.<br />
Ein grosser Teil aller Produktion entsteht aus einem<br />
Restgefühl. Es fehlt einem was, man will es ausfüllen.<br />
Ich bedauerte, viele Tage nichts geschrieben zu<br />
haben. Da ich nun schreibe, ist das Bedauern fort<br />
und kein Gefühl, dass ich was nachzuholen hatte.<br />
Fasse ich meine Gedanken, Meinungen, Gefühle in<br />
Worte, bekommen sie was Entschiedenes, Deutüches,<br />
Endgültiges, was sie — unausgesprochen —<br />
nicht haben. (Weil ich in der Handhabung der<br />
Sprache unbeholfen bin?)<br />
Ich bewundere besonders jene Schriftsteller, die<br />
107
Gleitendes, Unbestimmtes, vage Geahntes überzeugend<br />
aussprechen können, ohne fest zu werden. Die<br />
in der Sprache das Schwebende bewahren, ohne<br />
schwach zu sein.<br />
Das Unaussprechliche auszusprechen — das ist es,<br />
was ich wünsche.<br />
Die wichtigsten Dinge sind unsagbar. Darum erwarte<br />
man nicht zu viel von einem Buch.<br />
Worte erreichen uns ja nur gelegentlich. Das Leben<br />
aber spricht zu uns taglich und in unendlich verschiedenen<br />
Sprachen (von denen wir übrigens die<br />
meisten nicht verstehen).<br />
Fassen wir das also so zusammen: dass der grösste<br />
Teil dessen, was sich in einem bewegt, was einen<br />
bewegt, sich nicht dazu hergibt, ausgesprochen zu<br />
werden.<br />
Und dass ich also, in steter Bereitschaft zu notieren,<br />
abwarten muss, bis Sagensmögliches bei mir<br />
vorgeht.<br />
Welch Glück, dass unser Leben, Denken und die<br />
Sprache nicht so erstarrt sind, dass man sie festnageln<br />
kann.<br />
„Gib mir einen Punkt ausserhalb der Erde, und ich<br />
hebe die Welt aus den Angeln" soil Archimedes<br />
gesagt haben. Lass deinen Geist einen Standpunkt<br />
ausserhalb der Erde einnehmen, und du kannst<br />
die Menschheit mit fortreissen. So haben es die<br />
grossen Religionsstifter getan. Sie Hessen ihren<br />
108
Geist im Himmel, in derUnendlichkeit Fuss fassen,<br />
und von dort aus bewegten sie ihre Volksgenossen.<br />
Aber es ist gewagt, seinem Geist diesen Sprung<br />
zuzumuten, den Sprung hinaus ins Weltall. Der gewöhnliche<br />
Sterbliche verliert sich bereits, wenn er<br />
nur ein paar Meter von sich selber fortdenkt.<br />
Sei nicht klüger als du selbst bist.<br />
Die Weisheit wird niemals ein Massenartikel werden,<br />
da sie jeder selbst erwerben muss.<br />
Man kann Weisheiten ruhig herausschreien, sie<br />
werden doch nie der Menge zugute kommen.<br />
Man behalt sie darum besser stille für sich, auf dass<br />
sie, da ihnen eine weite Wirkung versagt ist, wenigstens<br />
interne Wirkungen tun.<br />
Urteilen — eine der schwierigsten, gefahrlichsten<br />
Sache von der Welt.<br />
Das urteilende Denken, das zum Hochmut und<br />
nicht zur Bescheidenheit führt, ist auf falscher<br />
Fahrte.<br />
Sich ein zugrundeliegendes Lebensgefühl ermitteln<br />
und erhalten, das unabhöngig sei von den<br />
Ereignissen — eine Art „philosophisches Gefühl"<br />
— das Denken kann uns doch nie genügen.<br />
Es braucht nicht alles Gesagte „richtig" zu s.ein,<br />
es gibt noch andere Eigenschaften, die es wertvoll<br />
machen können.<br />
109
Man kann nicht alles und jedes über den Leisten<br />
des Verstandes hauen.<br />
Hat jedermann das Recht, uns auf die Vernunft hin<br />
anzusprechen?<br />
Voraussetzung ist, dass der Jedermann selbst vernünftig<br />
sei.<br />
In vielen Fallen ist er aber nur naseweiss, und wir<br />
können ihn gewiss mit einem Spottwort abführen.<br />
Ja, einem Unverstandigen vernünftig begegnen,<br />
ware allzu gewissenhaft.<br />
Verstand? — Recht gut für den Verstandigen!<br />
Unverstand muss man anders bandigen.<br />
Das ist auch keine rechte Vernunft, die uns nur<br />
schwach und elend macht.<br />
Sei du nur immer verrückt — wenn du diese Verrücktheit<br />
nötig hast zum Ausgleich, zum vernünftigen<br />
Leben.<br />
Sei um Gottes willen nicht wegen der Vernunft<br />
vernünftig!<br />
Es gibt eine Art, Fragen zu stellen, durch die man<br />
alles aus einem Menschen herausbekommt. Ich war<br />
heute das Opfer dieser Art des Fragestellens —<br />
wofür ich mich ohrfeigen könnte.<br />
Manche Leute behalten in einer Diskussion recht<br />
und im Leben Unrecht. (Umgekehrt ist mir lieber)<br />
Zuweilen gehen wir aus einer Unterhaltung unfreier<br />
hervor als wir hineingeraten sind.<br />
110
•isten<br />
ver-<br />
Wenn ich bei einer Diskussion recht behalte, wenn<br />
man mir recht gibt, komme ich stets in Verlegenheit<br />
— ich weiss dann weder was für eine Miene<br />
ich aufsetzen, noch was ich weiter sagen soil.<br />
Das kommt vor:<br />
Man hort ein Wort von einem Menschen — und<br />
begreift seinen Geist. Man hort eine ganze Rede von<br />
ihm — und man versteht überhaupt nichts mehr.<br />
Man muss die Menschen kennen, um ihre Aeusserungen<br />
zu verstehen.<br />
Wenn ein Mensch uns nicht versteht, so liegt die<br />
Schuld hieran nicht immer an ihm.<br />
Als Knabe war ich stets entrüstet, wenn ich missverstanden<br />
wurde Jetzt erstaune ich glücklich,<br />
Ver- wenn ich recht begriffen werde.<br />
ïünf-<br />
unft<br />
m a n<br />
w a r<br />
un-<br />
Das Meiste, was man an den meisten Menschen hat,<br />
n a t m a n<br />
nicht durch Worte. Das Sprechen, das<br />
zwischen den Menschen unvermeidbare, verhindert<br />
sogar Vieles.<br />
Mit manchen ware man gerne zusammen, wenn<br />
nicht der Zwang und die Gewohnheit des Sprechens<br />
waren.<br />
Im Stillesein konnte man sich mit vielen besser<br />
verstehen. Aber wer hat den Mut, in Gesellschaft<br />
den Mund zu halten?!<br />
Wenn man wirklich sagen konnte, was man meint,<br />
"ware man bald ausgesprochen.<br />
Ill
Klarheit ist auch nur eine Art, die Dinge zu sehen,<br />
aber bedeutet noch nicht, sie richtig zu sehen.<br />
Dass, wenn wir etwas meinen, wir auch zugleich<br />
meinen, dass unsere Meinung was Richtiges enthalte.<br />
Infolgedessen eine Berechtigung bestehe, aus unserer<br />
Meinung Folgen abzuleiten — immer noch in<br />
der Annahme, dass es sich um „was Richtiges"<br />
handle. Wir aus diesen Folgen schliesslich allgemeine<br />
Schliisse Ziehen, und so am Ende zu einem<br />
Weltbild oder Teilbild der Welt gelangen, aufgebaut<br />
auf unserm instinktiven Fiihlen, unserm Meinen.<br />
Dass wir doch einmal begreifen: dass unser Meinen<br />
undAnschauen derDinge mit Richtig und Unrichtig<br />
wenig zu tun hat, und dass es sich darum auch<br />
garnicht handelt. Dass wir uns mit dieser Welt<br />
nicht durchaus zu identifizieren brauchen, sondern:<br />
dass wir selbst etwas sind, ein winzig kleiner<br />
Zusatz der vorhandenenWelt, diewir bereits durch<br />
unser Vorhandensein ein klein wenig verandern;<br />
und dass ein jeder in seinem Dasein eine Variation<br />
der Welt darstellt.<br />
Was ist eine Meinung wert? Genau soviel wie der<br />
Mensch, der sie aussert.<br />
Aber ich — naiv — lasse mich ernsthaft mit jederman<br />
in ein Gesprach ein.<br />
Kann man auch ohne Meinungen leben?<br />
Der Mensch lasst den Menschen nicht in Ruhe; wir<br />
zwingen einander, Stellung zu nehmen.<br />
112
Vorteil des Alleinseins:<br />
Man wird nicht um seine Meinung gefragt. Braucht<br />
also nicht zu urteilen.<br />
Sprechen „über jemand" — eine leidenschaftliche<br />
Beschaftigung vieler Menschen.<br />
Man beurteilt einen Menschen — Seht euch seine<br />
Eltern an! dann werdet ihr ihm vieles verzeihen.<br />
Einen durchschauen — in dem Wort liegt ein entwertendes<br />
Urteil, und in dem Maasse wie es entwertet,<br />
bedeutet es auch Missverstehen.<br />
Wenn man das Verrückte nicht versteht, hat man<br />
wenigAussicht, etwas von denMenschen und ihren<br />
Handlungen zu begreifen.<br />
Wenn einer etwas völlig Unsinniges mit genügendem<br />
Elan und Ueberzeugung (dass es das einzig<br />
Wahre sei) tut, so bekommt es tatsachlich ein gewisses<br />
Wirklichkeitsrecht. Und die Leute denken,<br />
weil etwas da sei, müsse es auch was zu bedeuten<br />
haben.<br />
Wenn ein kleiner Mensch grössenwahnsinnig ist,<br />
merken wir bald das Paradoxe der Situation.<br />
Wenn aber ein grosser Mann grössenwahnsinnig ist<br />
(was auch vorkommt), begreifen wir's überhaupt<br />
nicht. Er hatt es doch, meinen wir, wahrhaftig,<br />
nicht nötig.<br />
113
Man verlangt zuviel von den Menschen, wenn man<br />
Gerechtigkeit von ihnen erwartet. Wir sind keine<br />
Götter. Und sogar bei den Göttern ist Gerechtigkeit<br />
was Seltenes.<br />
Richard.<br />
Er wollte von keinem Menschen etwas; aber nicht,<br />
weil er nichts von ihnen wollte, sondern weil er<br />
dann am meisten an ihnen hatte.<br />
Die Dummheit ist eine Naturanlage der Menschen.<br />
Ich wage nicht, sie ihretwegen zu verurteilen.<br />
Aber die Lebhaftigkeit, mit der manche Menschen<br />
dumm sind, ist doch recht irritierend.<br />
Die Dummen zu den Klugen: Seid froh, dass wir<br />
dumm sind, sonst würde man euren Wert nicht zu<br />
schatzen wissen.<br />
Manchmal halt man sich deshalb für klug,weil man<br />
keine Gelegenheit hat, Dummheiten zu machen.<br />
Manchmal hindern einen nur die Umstande, in dem<br />
einem entsprechenden Umfang Allotria zu treiben.<br />
Wenn man frei seinen Neigungen leben könnte -—<br />
wie viele würden etwas Gescheites tun?<br />
Was bleibt von den Menschen übrig, wenn man sie<br />
isoliert, wenn jeder ganz auf sich gestellt ist?<br />
Die Leute schimpfen immer, wenn man anders ist<br />
als sie, oder als sie es wollen.<br />
P.: Erstens verlangt man von den anderen alles,<br />
114
was man selbst ist, und dann noch etwas eigenes<br />
dazu.<br />
Ueberlasse dich deinen Gedanken und tue nichts.<br />
Wenn du dann auf dem besten Wege bist, grössenwahnsinnig<br />
zu werden, führt dich die Arbeit wieder<br />
auf dein Maas zurück.Wir arbeiten uns gesund, wir<br />
arbeiten uns normal.<br />
Die Dinge elementar sehen, bringt elementare<br />
Handlungen hervor. Wer die Dinge kompliziert<br />
sieht, kommt schwer zum Handeln.<br />
Immer wieder drangen einen die Umstande, eine<br />
Rolle zu spielen; wahrend man gar keine spielen<br />
will; und wenn eine Rolle, dann keine aufgedrangte.<br />
Gute Frage: Was tut der Mensch in den Situationen,<br />
da er nicht weiss, was er tun soil?<br />
Sich selbst wiederzufinden, ist immer wieder eine<br />
angenehme Ueberraschung.<br />
Lebensökonomie bezieht sich nicht allein aufs<br />
Materielle sondern auch aufs Gefühl.<br />
Nicht über unsere inneren Verhaltnisse leben!<br />
Sind wir zur Arbeit geboren?<br />
Zwar macht das Schaffen selbst einen oft gliicklich<br />
—<br />
Aber wenn man schon vorher glücklich ist?!<br />
115
Man verlangt von sich, solange man den Begriff der<br />
Entwicklung noch nicht aufgegeben hat, dass die<br />
Arbeit mit den Jahren „immer besser" werde.<br />
In dem, was man kann, ist man nicht eitel. Eitel ist<br />
man in seinen Unsicherheiten.<br />
Ueberlegen sein. Die wahre Ueberlegenheit aussert<br />
sich unmerklich für den Unterlegenen.<br />
Es gibt auch noch für den Geringsten Lebewesen,<br />
denen er sich überlegen fiihlen kann.<br />
Wem's Spass macht, der geniesse das.<br />
Ich bin lieber verlegen, als überlegen. Empfinde<br />
mich da mehr „zu Hause".<br />
Ueberschatzte Geringe verhindern die wahre Würdigung<br />
der Besseren.<br />
In einer gewissen Entfernung sieht man keine<br />
Details, sieht man nur das grosse Ganze. Darum<br />
ist die distanzierte Haltung im Leben oft empfehlenswert.<br />
Der grosse Lebenssinn halt alles, auch das Ungereimteste<br />
zusammen. Wir können garnichts so Ausgefallenes<br />
bedenken, das nicht schliesslich im Bilde<br />
des Grossenganzen einen „Sinn" bekame.<br />
Wir sind manchmal gross, weil die Umstande gross<br />
sind und Kleinheit (unsere alte geliebte Kleinheit)<br />
Selbstvernichtung bedeutete. — (Ach, da liegt kein<br />
116
Verdienst drin. Aber auch können wir uns wenig-<br />
stens keinen Vorwurf machen.)<br />
Alles ist interessant — von einem gewissen Gesichtspunkt<br />
aus betrachtet, also auch das Langweilige.<br />
Aber das ist noch kein Grund, dass wir selber langweilig<br />
sind.<br />
Wenn da einMensch selbstbewusst auftritt—früher<br />
hat mir das mal imponiert.<br />
Kühnheit — aus diesem Gesichtspunkt betrachtet<br />
bin ich feige.<br />
Mut, Kühnheit — Der Teufel hole mich, wenn ich<br />
nicht endlich kiihn werde. (Er hat mich schon geholt.)<br />
Mut<br />
das ist es, war ich gerne hatte ..<br />
Wege zu gehen, die noch keiner gegangen ist<br />
Doch ich habe nicht den Mut dazu<br />
Dazu gehort Mut<br />
Mut!<br />
Ich wage nicht einmal<br />
vom Viermeter-Brett mich in den Raum zu stürzen,<br />
da doch unten das Wasser mich auffangt<br />
Mich zu werfen ins Ungewisse<br />
wo das Leben mich auffangt —<br />
ich wage es nicht, ich feiges Aas<br />
117
Die Feigheit zum Leben entspringt einem zu geringen<br />
Körpergefühl. In die geistigen Abwege treiben<br />
einen physische Unregelmassigkeiten.<br />
Mach dir Bewegung, Mensch! Tummle dich!<br />
Miidigkeit durch gesteigerte Aktivitat beseitigen.<br />
Durch Mehrbewegung das schwere Blut in lebhafteren<br />
Umlauf, in Schwung versetzen, den ganzen<br />
Körper in Tatigkeitsrythmus bringen und so die<br />
tragen Stoffe, das Einschlafernde vertreiben.<br />
Gedicht<br />
Manchmal<br />
schwer..<br />
das Leben ...<br />
Das Leben ist zu schwer für gewöhnlicheMenschen.<br />
Und die ausserordentlichen Menschen sind zu gering<br />
an Zahl, die ganze Last fallt doch immer wieder<br />
den gewöhnlichen Menschen zu.<br />
Kinder sind am Tage wohl zehnmal, zwanzigmal<br />
und öfter glücklich und unglücklich. Und sie vergessen<br />
das eine über dem andern.<br />
Trinken auch wir aus diesem Jugendbron! Ueben<br />
wir das Vergessen!<br />
Das Leben ist dann immer schwer, wenn man müde<br />
ist und Anforderungen an sich stellt, die man nicht<br />
erfüllen kann.<br />
Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein. Man braucht<br />
viel Zeit.<br />
118
Etwas zeigen zu wollen (als Künstler), schliesst<br />
immer schon ein Quantum Anmassung ein. Aber<br />
gar zeigen zu wollen, was man nicht kann, ist verzweiflungsvoll.<br />
Man istwenig und will viel.Eine Unmöglichkeit!<br />
Und diese Unmöglichkeit, die man stürmender<br />
Hand möglich machen will, dieses zu hoch gesteckte<br />
Ziel, zerstört uns unser Leben, zerreisst unsere<br />
Harmonie.<br />
Wir haben unser Streben zu hoch gestellt<br />
Freudenverderber an der eignen Welt<br />
O Gott,Du treibst uns durch dieseMühle des Lebens<br />
— es ist nicht recht erheiternd, mit eigenen Augen<br />
zu sehen, wie man zu Spreu zermahlen wird.<br />
Wir sind dazu da, vergessen zu werden. Wir sind<br />
kein Material für Unsterblichkeit.<br />
Was wir doch mit uns viel und immerfort zu tun<br />
haben! Wir sind ja standig — bewusst oder unbewusst<br />
— um die Ordnung unseres Lebens bemüht.<br />
Abstossend, anziehend, verteilend, zusammenfassend.<br />
Immer beschaftigt, das Verhaltnis zu uns<br />
selbst und zu unserer Umgebung in glücklicher<br />
Ausgeglichenheit schwebend zu erhalten.<br />
Wir sagen zwar sehr selbstbewusst: wir leben, aber<br />
in den meisten Fallen hiesse es richtiger: wir werden<br />
gelebt. Mit dem Sterben ist es gerade so.<br />
Mutmassungen über den Wert des Lebens: etwas<br />
119
mehr wie nichts und ein gut Teil weniger, als der<br />
Larm darüber uns glauben lassen will.<br />
Zu manchenZeiten will man fur ein Menschenleben<br />
auf dieser Erde keinen Pfennig geben, und ein<br />
andermal ist es eine recht gute Kapitalsanlage.<br />
Es kommt auch darauf an,wer lebt. Und zwar nicht<br />
nur in irdischer Hinsicht, nicht nur im Hinblick<br />
auf menschliche Schiitzung. Auch die Weltseele<br />
scheint sich aus grossen Seelen mehr zu machen<br />
als aus den kleinen. Klein und gross, schwach und<br />
stark — das sind wohl bleibende Grundmotive für<br />
unsere Schatzung.<br />
Ich meine, auf dieser Erde wird im allgemeinen<br />
das Starke und Grosse immer mehr gelten, als das<br />
Kleine und Schwache. Das Ueberragende, Besondere<br />
mehr als dasMittelmassige.Durchschnittliche,<br />
Alltagliche. Warum das? Ich glaube, dem umfassendsten<br />
Grund hierfür auf der Spur zu sein: Unser<br />
ganzes Weltsystem (nicht nur unser Sonnensystem)<br />
drangt — so sagen es die neuesten Forschungen —<br />
nach Expansion, ist im dauernden Zustand der<br />
Spannung nach aussen. Der Wille, der Wunsch<br />
zum „Grosseren" liegt also der Welt, der Welt im<br />
umfassendsten Sinn, zu Grunde.<br />
Und der Mensch wird von seinem Milieu (der Welt)<br />
einfach in diese Bewegung mit hineingezogen, —<br />
gerissen. Er bewundert, beneidet, verehrt das Grosse,<br />
in ihm selbst liegt der Wunsch zum Grossen.<br />
Vor Gott soil ja alles gleich sein, das Grosse wie<br />
das Kleine. Ich habe aber den Verdacht, dass, insofern<br />
er der Schöpfer dieser nach Expansion stre-<br />
120
enden Welt ist, auch vor ihm das Grosse mehr<br />
bedeutet als das Kleine.<br />
Andere mogen weise sein, geistreich sein; mir bekommt<br />
es nicht. Ich kann's mir nicht leisten.<br />
Wenn ich einmal etwas recht Kluges gesagt habe,<br />
besonders in Gesellschaft, vor Menschen — das<br />
verfolgt mich noch durch Jahre, wie ein Damon,<br />
macht mich ganz elend. Wie ein grosser Katzenjammer<br />
ist es, wenn man sich etwas über seine<br />
Krafte zumutet. Ich will dann alles wieder rückgangig<br />
machen, was ich gesagt habe, den Leuten<br />
erklaren, dass ich doch nur ein Tölpel bin — aber<br />
sie werden es schon selbst gemerkt haben.<br />
Es mag ja ganz richtig sein, was ich da sagte, nur:<br />
ich hatte es nicht sagen dürfen.<br />
Verstehen — ich — die Welt? Mit nichten —<br />
Doch ich versteh: man muss sich nach ihr richten.<br />
Tiefe ist mir nicht gegeben<br />
Darum muss ich flüchtig leben<br />
Ich schlage wie ein Derwisch meine Brust<br />
Gehore nicht ins Himmelreich der Guten<br />
Bin nur Gefass für wenige Minuten<br />
Mein Leben ist hauptsachlich Zeitverlust<br />
;,Die Welt, das Leben sind nur, weil Ich bin<br />
„Mein Denken erst gibt ihnen ihren Sinn —<br />
Mein eignes Leben doch ist ohne Sinn<br />
Und Welt und Leben rollen drüber hin<br />
121
InsDunkel meinesAnfangswünsch ich michzurück<br />
lm Mutterleib liegt uranfanglich Glück<br />
Fastenpredigt<br />
Wie's schon bekanntlich in der Bibel steht:<br />
Berufen viele, wen'ge auserwahlt.<br />
Drum prüfe peinlich, ob du auserkoren;<br />
Wenn nicht, dann, rat ich, drücke dich bei Zeiten.<br />
Man schert die Leute oder wird geschoren,<br />
Sonst gibst hier weiter keine Möglichkeiten.<br />
Ich bin ein bischen glücklich — nicht sehr<br />
ich bin ein bischen unglücklich — nicht sehr<br />
ich bin von allem immer nur ein bischen, — nicht mehf<br />
mein Leben ist ein bischen leicht und ein bischen leef<br />
Der Zweifel ist das Zeichen, dass wir leben —<br />
So sagt man. — Schön. — Doch hatte ich daneben<br />
Auch gerne irgendwelche Sicherheit,<br />
Was zweifelsfreies. Aber weit und breit<br />
1st nichts zu sehn.—Vielleicht doch in der Nahe —<br />
Ich greif den Fuss und beiss mir in die Zehe —<br />
Verdammt, das Blut! — das schmerzt ganz ungemeiD<br />
Und überzeugt mich gründlich, da zu sein.<br />
Die Angewohnheit, sich selbst stets zu beobachten.<br />
Gelegentlich reagiert man „trotzdem" unbewusst.<br />
Man lachelt. Plötzlich denkt man: nun lachle ich;<br />
ich lachle: also scheint mir die Situation eines<br />
Lachelns wert — Und man denkt: wie naiv ich<br />
doch bin. — Und man ist es.<br />
122
Gehe noch immer rum wie ein Vierzehnjahriger<br />
und frage mich bei jedem Menschen nach seinem<br />
„Sinn".<br />
Was können wir in der Hauptsache an einem Menschen<br />
haben? Dass er ein Mensch ist.<br />
Und zwar werden wir durch diejenigen menschlichen<br />
Eigenschaften besonders angezogen werden,<br />
zu denen eine ursprüngliche Bewunderung oder<br />
Neigung uns eingeboren ist. Danach wahlen wir<br />
unsere Helden und Lehrer.<br />
Wir leiden wegen unserer schlechten Zusammensetzung.<br />
Aber obgleich das Leiden oft schlimm ist,<br />
können wir es doch nicht missen. Es bestatigt uns,<br />
dass wir leben und unsern Wert. Wir leiden unsere<br />
Unebenheiten aus, wir leiden uns in den Rythmus<br />
des Lebens hinein.<br />
Sich selbst zu entfliehen ist nur selten das Mittel,<br />
um zu sich selber zu kommen.<br />
Zum Wohl des inneren Menschen gehort wenigstens<br />
eine Stunde Alleinsein taglich.<br />
Kommt einer von einer weiten Reise zurück in die<br />
alten altgewohntenVerhaltnisse—dies wird immer<br />
als eineAbschwachung empfunden.Unterwegs war<br />
alles voll Spannung, Erlebnis, Neuigkeit und Interesse,<br />
voll angedeuteter, geahnter Möglichkeiten,<br />
gesteigertenLebendigkeit.Und nun findet man sich<br />
123
auf dem bis zum Ueberdruss bekannten und beackerten<br />
Felde wieder.<br />
Mein Leben ist „wie von der Reise zuriick". Eine<br />
Abschwachung, ein Schatten seines wirklichen Inhalts.<br />
Der Nachteil, wenn man viele Jahre am selben Ort<br />
bleibt: man denkt zuviel in und über alten Verhaltnissen,<br />
die doch für immer unfruchtbar geworden<br />
sind.<br />
An den schlechten Tagen fühlen wir genau den<br />
Uebergang, wenn die Gedanken, geschlagen durch<br />
die Mattigkeit des Körpers, sich vom Leben ab —<br />
und dem Tode zuwenden. An den besseren ahnen<br />
wir, was unser Geist unternehmen könnte, wenn<br />
wir gesünder waren. Da gibt es eine Menge Stoff,<br />
den er gerne in Angriff nahme, aber im Augenblick<br />
stellt sich Unbehagen ein, verursacht durch physisches<br />
Unbehagen; wir sind flügellahm.<br />
Kranksein<br />
Nicht bei Verstande sein, ausgeliefert den regellosenVorstellungen<br />
eines krankenHirns,aus seinem<br />
Ich gejagt — und bei all dem noch einen Zipfel<br />
der Gesundheit haltend, was uns wissen macht,<br />
dass unser Geist nicht aus eigener Kraft den Weg<br />
des Lebens zurückfinden kann — eine entsetzliche<br />
Sache, von der ihm manche Nachtstunde eine Kostprobe<br />
zu schmecken gibt.<br />
124
Dann immer wieder taucht die erschreckende<br />
Frage auf: ob das nun auch wirklich das Leben<br />
sei: dieser Augenblick; der Ort an dem wir sind;<br />
wir selbst: das Leben. — Oder? Ja, was sonst? Und<br />
nur weil es garnichts anderes sein kann, so ist es<br />
schliesslich „immer wieder das Leben".<br />
Das ist, zum Teufel, ist vielleicht nur Traum<br />
Gedanken, grauenvoll, man glaubt es kaum<br />
Und schemenhafte Bilder ohne Sinn<br />
Ich zweifle dran, ob ich es selber bin<br />
Der hier so liegt und in das Laken pisst<br />
Und ob das wirklich auch. das Leben ist.<br />
Eine Vision verfolgt ihn durch die Nacht: der Ver-<br />
rückte mit normalen Eigenschaften.<br />
Ein ganz leerer, fast mechanischer Mensch, dessen<br />
Mechanismus so gut lauft, dass man ihn für einen<br />
gewöhnlichen Menschen halt.<br />
Welch grauenvoller Irrtum—wenn man selber leer<br />
ist! —<br />
Er hatte Angst vor Tod und Grab<br />
Und musste immer daran denken,<br />
Besonders nachts lenkt ihn nichts ab.<br />
Da malt ihm seine Phantasie i<br />
Aus einem Nichts das graue Ende<br />
Mit tausend Schrecken wie noch nie.<br />
125
Er sieht sich schon verwest und steif<br />
Von Würmern grasslich angefressen<br />
Und zum Vergessen überreif.<br />
Das wird bei ihm zur Leidenschaft<br />
In allem Leben nachzuspüren<br />
Was irgend morsch und leichenhaft.<br />
Und achtet drauf, wenn was verdirbt<br />
Wenn Kriege, Seuchen Menschen schlingen<br />
Und zittert, dass er selber stirbt —<br />
Das Dasein zu ertragen fallt<br />
Verdammt oft schwer. In seinen Augen<br />
1st jederman ein stiller Held.<br />
Sind wir wirklich auf Gesundheit angewiesen?<br />
Dieses Leben, merken wir, ist für das Leben gemacht.<br />
Für wenigstens ein Mindestmass von Gesundheit.<br />
Was darunter ist, mag sich in eine Höhle<br />
zurückziehen und sich in Gedanken mit dem Himmel,<br />
der Holle oder sonst einer Welt beschaftigen,<br />
aber nicht mit dieser, nicht mit dem Leben unserer<br />
Erde, und gewiss nicht mit dem Leben der eigenen<br />
kraftigeren Tage.<br />
Vielleicht, dass die Pressung, die das Schicksal<br />
zuweilen ausübt, uns — als Menschen — zugute<br />
kommt.<br />
Wie viele Menschen zeigen im Unglück einen Mehrwert!<br />
(Um im Glück alsbald wieder nichtig zu<br />
werden).<br />
126
B h r _<br />
zu<br />
Möchte uns doch dieser Zuwachs an Qualitat bleiben!<br />
sollten wir uns auch einmal wieder besser befinden.Dass<br />
ein leichteres Leben uns nicht leichter<br />
mache, die Errungenschaften des Dunkels und der<br />
Resignation nicht fortspüle!<br />
Sobald sich der Körper aber auch nur einigermassen<br />
wohl befindet, der Kopf frei ist, stellt sich<br />
Heiterkeit ein. Die wiedergewonnene Verbundenheit<br />
mit demGesund-Normalen macht uns froh. Wir<br />
denken nicht mehr in Fetzen und Sprüngen, unser<br />
Denken ist kein lebensabseitiger Vorgang mehr,<br />
sondern geschieht aus einem Impuls wie Tasten,<br />
Schmecken, Fühlen oder Verdauen.<br />
Das schone Glück des Zumlebenerwecktseins dessen,<br />
der schon den Tod geschmeckt hat.<br />
Der Glükliche will nicht enden. Hat er auch eigentlich<br />
nichts mehr zu sagen. — Man müsste einen<br />
Menschen bei der Hand haben und — unendlich<br />
reden. Oder — oder etwas anderes. In jedem Fall,<br />
wovon man voll ist, überfliessen.<br />
Da werden — vor Freude — Wünsche laut in<br />
einem, an die man lange nicht gedacht hat, nicht<br />
gedacht, dass sie noch lebten. Das Vermogen zu<br />
wünschen und viele andre verschlafene Krafte<br />
recken den Kopf hoch. — Man lebt! bei dieser<br />
Erde! eine tolle Sache. —<br />
— Einigen helfen gelegentlich ein paar Tranen,<br />
die Freude zu tragen.<br />
„Von Tranen, von zarten Gefühlen spricht man<br />
127
nicht, das ist nicht mannlich. — Man verbirgt als<br />
Mann seine Schwiichen."<br />
Wenn aber unsere Schwachen unsere Starke sind?!<br />
Es will mir so vorkommen, als ob „mannlich, Mannlichkeit,<br />
mannhaft" oft nur eine andere Bezeichnung<br />
für „damlich" ist.<br />
G. sagt: Die grössten Menschen, die ich kannte,<br />
waren demütig.<br />
Wenn demnach Demut eine Tugend der Grössten<br />
ist, ist es dann für uns kleine Leute anmassend,<br />
demütig zu sein?<br />
Der tüchtige Mensch betrachtet das Leben als eine<br />
Zeit, die der Arbeit gehort. Der weise Mensch als<br />
eine Weile, die ihm gehort; er nimmt sich die Zeit,<br />
Gedanken nachzuhangen.<br />
Wenn man nun tuchtig und weise zugleich ist?<br />
Einfach sein. Handlungen vermeiden. Nur das<br />
Unvermeidliche tun, das, wozu wir uns unbedingt<br />
gedrungen fühlen. Das wird dann — auch für uns<br />
selbst — glaubhaft sein. Wir werden uns dann selbst<br />
nicht mehr bezweifeln mussen, wie wir Armen es<br />
bei einer reicheren Tatigkeit sicherlich tun, die<br />
uns notwendig auf Abwege führt.<br />
1st das noch mein eigenes Leben?<br />
Keine Schleichwege, keine Verliebtheiten, nichts<br />
Unregelmassiges.<br />
Und mein bester Spass, Verschwiegenheit — entwertet,<br />
unbrauchbar.<br />
128
Ich bin kein Richter und kein Gericht<br />
Ich bin ein Dichter — mein Wille geschehe nicht.<br />
Ich weiss ganz genau, was ich will.<br />
Namlich: ich wills garnicht so genau wissen.<br />
Immer wieder: viel allein sein, viel bei sich sein,<br />
viel mit sich sein. —-<br />
Und das kann man sogar laut sagen; denn die ganze<br />
Zeitrichtung ist dem entgegengesetzt, alles wird in<br />
Massen zusammengetrieben, alles wird en gros betrieben,<br />
sodass unmöglich die Masse uns horen<br />
wird, sondern nur die wenigen, die ahnliche Neigungen<br />
mit uns verbinden.<br />
Nicht das Viele —<br />
das Wenige ist das Erlebnis<br />
Vieles kann uns ablenken. Ein Zuviel führt uns<br />
wieder auf uns selbst zurück.<br />
Wem wenig begegnet, der erlebt das Wenige umfassend.<br />
Eine Vielheit von Eindrücken verhindert<br />
haufig das Aufkommen eines Erlebnisses.<br />
Es hat mich oft gewundert, Leute zu sehen, die<br />
durch allerhand Katastrophen und Schicksalsschlage<br />
getroffen waren, und die daraus hervorgingen<br />
wie Schulkinder, die noch nichts gelernt<br />
haben.<br />
Wir produzieren selbst unsere Erlebnisse. Ein<br />
Erlebnis ist nur insofern eins, als wir von uns aus<br />
129
zu einem uns begegnenden ausserenEreignis etwas<br />
eigenes Inneres hinzuzugeben haben.<br />
Daher z.B. eine grosse Anzahl von Menschen trotz<br />
allerEreignisse undBegebenheiten in ihrem ganzen<br />
Leben nichts lernen. Sie halten sich was zugute auf<br />
ihr „interessantes" Leben, sie meinen,, dass es von<br />
aussen kame, sie bleiben „Narren ihr Lebenlang".<br />
Unsichere Seelen.<br />
Sie kontrollieren jeden Abend an den Ereignissen<br />
des Tages ihre ..Weltanschauung". Ob auch alles<br />
„gestimmt" hat.<br />
O kindlicher Mensch, kannst du dich nie selbst<br />
vergessen und deine enge Welt! Immer urteilen,<br />
vergleichen, selbstbehaupten. Nicht einfach dazusein!<br />
sondern sich das Dasein erst immer wieder<br />
beweisen zu mussen.<br />
Gut, wir sind alle „biologisch Gefangene". Wir<br />
leben in einem Gefangnis, kommen friiher oder<br />
spater zur Hinrichtung.<br />
Aber nach dem ersten Schrecken hieriiber beginnt<br />
die Gewöhnungund schliesslich gewöhnen wir uns<br />
wirklich an unseren Zustand. Und dann sehen wir,<br />
dass es auch im Gefangnis Leben gibt, kleine Freuden<br />
und lohnende Stunden.<br />
Wir sind Resignierte, doch Geniesser.<br />
Ueber das Uebertreiben.<br />
Ich übertreibe möglichst wenig — nicht wegen der<br />
Ehrlichkeit oder derWahrheit—aus beiden mache<br />
ich mir wenig, ja eigentlich habe ich gegen beide<br />
130
eine Abneigung, sie treten immer mit solcherSelbstsicherheit<br />
auf, einem Stolz oder gar mit dieser<br />
dünkelhaften Bescheidenheit, nein, ich mag sie<br />
nicht — ich iibertreibe allein darum ungern, weil<br />
mich die Wirkungen, die sich aus Uebertreibungen<br />
ergeben, nicht befriedigen. Es sei denn, dass es<br />
einemMenschen natiirlich ist, zu iibertreiben.Dann<br />
mag er es tun. Die Wirkung wird natiirlich sein.<br />
Und das sind die angenehmsten Wirkungen, ich<br />
möchte sagen, die mir genehmsten.<br />
Wir schimpfen nicht mehr auf die Dummheit —<br />
alien Hochmut haben wir fahren lassen — wenn es<br />
nur die „eigene, ursprüngliche Dummheit" ist. Sie<br />
ist uns im Leben schliesslich mehr wert als angeeignete,<br />
nachgesprochene Klugheit.<br />
Die Jugend will das Absolute. Klugheiten in der<br />
Form von Dummheiten zu sagen, ist die Weisheit<br />
reiferer Jahre.<br />
Ich kann's schwer ertragen, dass das, was ich<br />
mache, falsch ist.<br />
Daran muss man sich aber wohl gewonnen.—Denn<br />
wie vieles ist — nachher — falsch. Und manches<br />
schon vorher. Manches machen wir mit Bewusstsein<br />
falsch. Wir treiben's verkehrt, wir sind töricht.<br />
-— Ich weiss es etwas besser als ich's treibe.<br />
Meiner Oberflachlichkeit in meiner Arbeit mehr<br />
Rechnung tragen!<br />
Sie ist ein zu wichtiger, eigener Teil von mir; eine<br />
Kraft, ja eine Tugend. Meine Heiterkeit!<br />
131
Fehler — natürlich haben und machen wir die alle.<br />
Es kommt nur auf eine gute Organisation an: wie<br />
wir unsere Fehler disponieren.<br />
Ich würde in der gleichen Lage wie mein Vater die<br />
gleichen Fehler machen, und darum scheue ich<br />
mich, in die gleiche Lage zu kommen.<br />
Wenn ich mir selbst nichts vorzuwerfen hatte,<br />
konnte ich unmöglich die Fehler anderer ertragen.<br />
Darum: Gott sei Dank, dass ich nicht rechtschaffen<br />
bin.<br />
Man bedenke, dass Gott als einem wahren Schöpfer<br />
auch die Verwegenheit desKünstlers eignet.Wie<br />
beispielsweise von einem Maler, wenn man ihn<br />
über seine Bilder befragt, so wird also auch von<br />
Gott, sollte man sich um Aufschluss über seine<br />
Werke an ihn wenden, keine direkte Antwort zu<br />
erwarten sein.<br />
Lasst uns das Leben leicht nehmen — ohne Furcht<br />
vor Oberflachlichkeit und Banalitat. Es bleibt doch<br />
immer schwer und anspruchsvoll und fordernd<br />
genug.<br />
Wenn sonst nichts — das Leben macht uns schon<br />
zum Mann, zur Frau, zum Menschen.<br />
Das Leben gewinnt es.<br />
Das Leben — wird sind es.<br />
132
Der zusammengenommene Mensch.<br />
Man ist das zuzeiten.<br />
Aber dann auch: sich gehen lassen, völlig off en und<br />
gelost sein, einatmen, ausströmen und sich irgendwo<br />
hinwerfen. Eindringen, ahnen — Geheimnis.<br />
Für wen denn sich zusammennehmen, wenn doch<br />
gerade die Sehnsucht das Mittel ist — unendlicher<br />
zu werden? —<br />
Das Leben ist toll,<br />
und geheimnisvoll.<br />
Sich begnügen — o Himmel —<br />
und dankbar sein, sogar von Herzen dankbar für<br />
alles, was man hat —<br />
und vergessen, wonach eine immerwahrendeSehnsucht<br />
uns durchzieht —<br />
nein! das ist nicht zu vergessen!<br />
Ueberall trage ich meine Sehnsucht mit mir herum.<br />
Ich b v<br />
in dumm<br />
Doch weil ich liebe, überall, innig und leise,<br />
Bin ich auch weise.<br />
Man kann auch Sehnsucht überspannen. Plötzlich<br />
erschlafft sie.<br />
Wir eingewöhnen uns dem Tag, wie er ist, ohne<br />
den Gegenstand, nach dem so lange wir uns sehnten.<br />
Nüchterheit tritt ein. —<br />
133
Sehnsucht ist ein Gift, eine Zauberkraft, die uns so<br />
aus uns selbst Ziehen kann, dass wir ernstlich erkranken.<br />
Meine Kunst: dieSchwere desLebens leicht fühlen.<br />
Meine Tapferkeit: dass ich mich nicht vor der Oberflachlichkeit<br />
fiirchte.<br />
Man gebe von allem Vertrackten, was einem geschieht,<br />
sich selbst die Schuld. (Man nimmt also<br />
die Schuld der Welt auf sich.)<br />
Und dann sei man gnadig gegen sich und verzeihe<br />
sich seine Siinden.<br />
Warum sollen wir strenger gegen uns sein als Gott,<br />
der uns unsere Siinden verzeiht?<br />
Man denkt wohl einmal: ich habe mich nicht selber<br />
gemacht und so bin ich auch nicht „für alles verantwortlich".<br />
Bleibt die Frage: wenn man sich selber gemacht<br />
hatte, ob man besser ware, als man ist.<br />
Irren ist menschlich, und darum schlagt der<br />
menschliche Mensch den Irrtum nicht geringer an<br />
als die gelungene Tat. Ja, er liebt den andern gerade<br />
um seines Irrtums willen.<br />
„Ob ich viele Madchen geliebt habe"?<br />
Ich liebe überhaupt.<br />
Ich würde alle Frauen lieben, wenn es manche mir<br />
nicht unmöglich machten.<br />
134
Ich habe versucht, meinem Herzen alles zuzutrauen,<br />
zuzumuten. — Dazu muss man wohl Richard<br />
sein, um an die Unendlichkeit des Gefühlt, an seine<br />
unbegrenzte Formungskraft zu glauben.<br />
Und noch einmal: Machen wir uns das Leben so<br />
leicht, so bequem, seien wir so oberflachlich wie<br />
nur möglich. Das Leben selbst sorgt schon für<br />
Schwere, für alle Arten von Noten und Schwierigkeiten<br />
und driingt uns ins Abgriindige, in die Tiefe.<br />
Setzen wir dem unseren leichten Sinn, unseren<br />
Schwung entgegen. Das gibt eine gute Balance.<br />
Ein gescheiter Mann erzahlt:<br />
Es ist bekannt, wie sich Till Uilenspiegel benahm,<br />
als er in Gesellschaft einiger Handswerksburschen<br />
bei grosser Hitze eine Wanderung in gebirgiger<br />
Gegend machte. Immer, wenn es hinaufging, und<br />
die Burschen stöhnten und klagten wahrend des<br />
mühseligen Aufstiegs, war Uilenspiegel fröhlich<br />
und lachte, indem er des folgenden Abstiegs gedachte.<br />
Beim Abstieg aber, wenn die Burschen<br />
guter Dinge waren und leicht dahinschritten, weinte<br />
und seufzte Uilenspiegel, weil er den folgenden<br />
Aufstieg voraussah.<br />
Wenn es nun einen Berg hinaufgeht, mache ich es<br />
"wie Uilenspiegel. Geht es aber hinab, so tue ich,<br />
als ob ichs selber ware.<br />
Achte darauf, glücklich zu sein. G. drückt das so<br />
aus: Je individueller man ist, desto mehr tut man<br />
für die Allgemeinheit.<br />
135
ich sage: sei gliicklich. — Dann wirst du für die<br />
Menschen ein Glück sein.<br />
Was einer ist, das geht von ihm aus zu den anderen.<br />
Ich kenne keinen Menschen, der nicht der Mühe<br />
wert ware.<br />
Man muss nur nichts von ihnen verlangen, was sie<br />
nicht freiwillig geben. Man muss sie erkennen in<br />
dem, was sie sind, nicht in dem, was sie — einer<br />
überheblichen Meinung nach — sein sollten. Und<br />
alle s/nd etwas. Sie leben ja, auch sie haben ja<br />
„alles durchzumachen". Dies Leben ist schon so,<br />
dass es aus jedem etwas macht.<br />
Scheltet sie nur; aber wenn ihr scheltet, denkt<br />
nicht dran, was ihr selber seid. Das Schelten würde<br />
euch sonst vergehn.<br />
Versteht nur, sie zu nehmen, und ihr werdet mir<br />
zugeben, dass „an jedem etwas dran ist".<br />
Nur ein liebendes Herz kann weise sein.<br />
Nur wer uns liebt, kann uns ermessen. Erspürt<br />
unser Geheimnis —<br />
Darum: nicht Klugheit begreift die Welt, die wahre<br />
Weisheit heisst Liebe.<br />
136<br />
Ende des Heftes
Richard war schon lange eingeschlafen. Als ich es<br />
bemerkte, hatte ich leise für mich gelesen. Nun<br />
legte ich das Heft zurück auf denTisch und schlich<br />
auf den Fussspitzen hinaus.<br />
137
1<br />
s<br />
A<br />
L<br />
L<br />
B<br />
I<br />
'1
I N H A L T<br />
I.<br />
Die Deutung seiner Handschrift . . 5<br />
Richard 8<br />
Ein Abend 25<br />
II. PUBERTAT<br />
Rut 32<br />
Sie schreibt ihm . . . . . . 34<br />
Nachts 35<br />
Liebe . . . • • • .37<br />
Der Brief M<br />
Bettelknabe *4<br />
Ueber die Unwissenheit . . . 45<br />
III. DER JUNG LING<br />
Material für eine Biographie . . . 56<br />
HeftI<br />
Heft II<br />
IV. DER AUSFÜHRLICHE<br />
JUNGGESELLE<br />
6 G<br />
7 0
Heft 111 76<br />
Heft IV 80<br />
V<br />
Richard stirbt 87<br />
<strong>RICHARD</strong>S HEFT 101<br />
Vorwort . . . . . . 101<br />
Nochmals die Univissenheit . . 103<br />
Blatter in den Wind geschrieben . 106
•
K 1101<br />
7/T VI