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RICHARD i

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<strong>RICHARD</strong> i


D£JOMQ


i<br />

J<br />

R I C H A R D


R I C H A R D<br />

VON<br />

PAUL


Geschrieben in clcn Jahren 1921 — 1925<br />

I


Allesvon Richard und über ihn, dessen ich hab-<br />

haft werden konnte, ist hier vereinigt, um sein<br />

Bild für die, die seine Bekanntschaft suchen,<br />

so vollstdndig wie möglich zu machen.<br />

Die Deutung seiner Handschrift.<br />

(Richards Einsamkeit)<br />

,,Sie sind sehr einsam. Auch zwischen vielen Menschen<br />

bleiben Sie's."<br />

Einsam? — Lassen Sie einmal überlegen ... Einsam<br />

... Einsamkeit... Man sagt das ja wohl von<br />

grossen Mannern zuweilen, dass sie im Grunde bei<br />

allem Erfolg, bei aller Zuneigung der Menschen<br />

Einsame waren. Und erst recht, wenn sie keinen<br />

Erfolg hatten. Sie waren allein ... sie litten auch<br />

wohl darunter — hm ... also da muss ich Ihnen<br />

doch sagen, dass ich garnicht allein bin, im Gegenteil,<br />

ich fühle eine grosse Verbundenheit — ich bin<br />

sehnsuchtsvoll, ja, aber einsam... das heisst, natürlich<br />

bin ich auch einsam, wie jeder Mensch es ja<br />

schliesslich ist; das ist eben meine Verbundenheit,<br />

dass ich bin wie — fast alle. Man ist allein, aber<br />

manleidet nicht darunter, oder wenn man leidet,so<br />

ist es ein wunderbares Gefühl — denn schliesslich<br />

ist es ja doch ein Gefühl, dieses Einsam-sein. Und<br />

also, wenn ich es bin, so habe ich es nur sehr<br />

angenehm bemerkt...


„1st man denn nicht einsam, wenn man sich selbst<br />

noch nicht gefunden hat?!"<br />

So, Sie meinen, dass ich mich selbst noch nicht<br />

gefunden habe?<br />

„Ja, lieber Richard, Sie schweben in der Luft,<br />

(lachelnd) Sie irrlichtelieren etwas allzuviel urnher.<br />

Es fehlt Ihnen etwas Festigkeit — "<br />

Ich schwebe in der Luft — Warten Sie . .. ja —<br />

das ist ja eine fabelhafte Idee! Das haben Sie<br />

wirklich ausgezeichnet bemerkt. Das ist so: ich<br />

schwebe in der Luft. Aber doch in einer sehr<br />

guten Luft! Und das ist doch die Hauptsache. Dass<br />

die Luft gut ist! Ja, ich schwebe ... Da haben Sie<br />

mich in ein paar Worten vollkommen ausgedriickt.<br />

— Aber dass ich mich noch nicht gefunden habe,<br />

da irren Sie sich doch wohl. Eben dass ich<br />

schwebe, das bin ich ja. Und wem dies gegeben<br />

ist, der versuche auch garnicht, Boden unter die<br />

Füsse zu kriegen. Sondern er lerne, nur immer<br />

besser zu schweben, so dass manch ein Bodenstandiger<br />

wünschen möchte, so zu schweben —<br />

Ah — ich möchte .. . geben Sie mir Ihre Hand —<br />

ich bin sehr begeistert. Weil Sie das so gut gesagt<br />

haben — Ich irrlichteliere zu viel? ich sollte mehr<br />

festes ... mehr, Sie meinen wie ein Mann? — Ach<br />

Sie — Moralpeter! — Nein, eben gerade nichts<br />

Festes! Nur so — in der Luft schweben! ...<br />

Nein, ich werde es nie zu etwas bringen, das meinen<br />

Sie doch. Aber wozu denn auch? Und zu was<br />

denn? Schwebe ich denn nicht in der Luft? 1st das<br />

denn nicht meine Sehnsucht, mein Gliick, schweifend<br />

zu denken und mit allen verbunden zu sein,<br />

6


mit all den andern, die auch sich sehnen, all die<br />

Frauen und Miidchen und — ja, die Jungens, die<br />

jungen Manner. Und auch die alteren! Sehnsucht<br />

zu haben — das ist eben (leise) mein Dichter-sein,<br />

dies, dass wir alle allein sind und uns sehnen. Die<br />

Sehnsucht zu den andern zu lieben in den Menschen,<br />

und zu wissen: auch ich, ich wie alle andern<br />

—<br />

Ja ich weiss: das Festere, das Gröbere, das verachtet<br />

das. Sie finden mich ziemlich verachtlich,<br />

weil — weil ich garnichts „bin", ich nichts mache<br />

und mich nicht durchsetze. So garnicht wollend<br />

und wie eine Frau eben meistens will, dass der<br />

Mann sei. Sie argern sich auch wohl an mir, viele<br />

argert das. Aber lassen Sie: auch diese Manner mit<br />

ihren Tatenl und Sie selber, meine Liebe, sind<br />

doch — einsam, sind doch — kleine Kinder. Kinderchen,<br />

die Manner spielen, und Sie, kleine Mathilde,<br />

sind ja das richtige verlorene Ei in dieser<br />

reklamehaften selbstgewissen Welt. Und darin<br />

eben, in ihrer Verlorenheit, in ihrem Kindchensein,<br />

da ist grade der Punkt, wo ich Sie ganz besonders<br />

gut verstehe.<br />

Wer einmal ein Junge oder ein Madchen war in<br />

seinem Leben, der vergisst das nicht. Und allein<br />

bei denen, die das wirklich vergessen haben, fiihle<br />

ich mich fremd und wie ausgestossen. — Sie aber<br />

und ich und all die andern sind eins in unserer<br />

Einsamkeit und Sehnsucht. — Ja, so, nun werde<br />

ich auch noch pathetisch. Aber das kommt davon,<br />

weil Sie diese diskrete Stelle berührt haben, diese<br />

Sache, mein eigenste Sache — dann, dann strömts<br />

7


eben über. — Sie wissen doch, dass ich auch den<br />

Mund halten kann, aber bei so einer schrecklich<br />

wichtigen Sache, dann muss ich reden und kann<br />

nicht aufhören und ...<br />

Richard<br />

Richard liebte unklare Situationen.<br />

Damit meine ich, schon etwas sehr Bezeichnendes<br />

über seinen Charakter gesagt zu haben.<br />

Er schatzte die Offenheit kolossal oder Menschen,<br />

die, was sie taten, nicht verheimlichten. Und dann<br />

sagte er sich, dass in ihnen etwas Primitives steckte,<br />

eine Sache, mit der zu Ieben ja ganz schön war,<br />

denn sie vereinfachte vieles, aber das Primitive<br />

konnte er nicht loben; denn die ganze Entwicklung<br />

lief doch zum Komplizierten hin, benutzte<br />

das Primitive nur als Grundlage. Aber wohl dem,<br />

der diese Grundlage noch nicht verloren hatte.<br />

Franz hatte gesprachsweise einmal auf einen Vorwurf<br />

wegen der Verwirrung des modernen Lebens<br />

geantwortet: wir sind gottseidank kompliziert; also<br />

er meinte, dass das ein Vorzug sei gegenüber den<br />

„Einfaltigen". Kompliziert hiess aber nicht feige,<br />

und Richard liebte (für sich) die unklaren Situationen,<br />

das Nebelhafte — übrigens war das auch<br />

sein Lieblingswetter: nassfeucht, undurchsichtiggraue<br />

Luft, nebelhafte Verschleierungen der Baume,<br />

HSuser, Strassen, Menschen. Silbrige unbestimmte<br />

Silhouetten, die, naher kommend, deutlich<br />

wurden, im Vorbeigleiten ihre fast genaue Zeich-<br />

8


nung zeigten, doch immer noch umwoben von<br />

atmospharischen Triibungen, und hinter ihm alsbald<br />

wieder völlig vergeisterten.<br />

Vorbeigehen, — gleiten — wie köstlich dem, der<br />

Entscheidungen hasst. Oder fürchtet. Er konnte<br />

nicht leugnen, dass Angst dabei war. Feigheit bis<br />

zu einem gewissen Grad, übrigens eine ganz vernünftige<br />

Feigheit, die oft nützlich war. Ja, solange<br />

sie vernünftig und überlegt war, konnte man's verteidigen,<br />

aber die instinktmassige (und um die<br />

handelte es sich doch), die war schon gemeiner.<br />

Und so gleichgültig war er auch nicht, dass er<br />

sagte: warum nicht feige — was liegt daran? Er<br />

fand Feigheit, die im Blut lag, argerlich und hatte<br />

was drum gegeben, sie los zu sein, z.B. Geld. Er<br />

hatte ganz gern etwas Geld dafür springen lassen.<br />

Aber hier hiess es, Energie gegen sich selbst anwenden.<br />

Verdammt unangenehm. —<br />

Nun mussen wir uns erinnern, dass die unklaren<br />

Situationen den grössten Platz im Leben einnehmen.<br />

Die Scheidewege mit den Wegweisern Ja<br />

und Nein sind geradezu Seltenheiten. Die Meisten<br />

kommen doch überhaupt nur ein einziges Mal in<br />

ihrer Laufbahn an so einen Ort und wahlen — also<br />

meine Bekannten wahlen dann infolge durch Gewöhnung<br />

verdorbener Instinkte den falschen Weg.<br />

Und ausser meinen Bekannten kenne ich kaum<br />

jemand. Daher weiss ich nicht, was die andern<br />

tun. Wahrscheinlich machen sie es richtiger —<br />

denn die Welt ist noch nicht zugrunde gegangen.<br />

Würden sie aber alle das Falsche wahlen, würde<br />

die Welt dann nicht zu Grunde gehen? Nein. Die<br />

9


Welt kümmert sich einen kalten Dreck um die<br />

menschlichen Entscheidungen. Und die Menschheit<br />

kümmert sich — lezten Endes, letzten Endes<br />

— auch nicht drum. Die Menschheit und die Welt<br />

— und meinetwegen Gott oder sonst eine umfassende<br />

Instanz — können garnicht zu Grunde gehen,<br />

bevor nicht ihre Zeit abgelaufen ist. Das wird<br />

mir niemand weissmachen, dass etwas vor „seiner<br />

Zeit" zu Grunde gehen kann. Und die Zeit hat ihr<br />

Gesetz, wir haben sie nicht in der Gewalt. Wir<br />

hatten sie aber in der Gewalt, wenn von unseren<br />

Entscheidungen das Lebensmass der Welt abhinge.<br />

Bitte sehen Sie sich doch mal die Welt an, ich<br />

meine, die Erde, und lesen Sie mal die Zeitungen:<br />

Kriege, Krankheiten, Erdbeben, Verbrechen — also<br />

wenn es nach den Zeitungen ginge, dann, Herr,<br />

ware die Welt schon langst nicht mehr. Aber die<br />

Lebenskraft, die Gesundheit, das Normale, jawohl<br />

das Normale, das Gesunde, die natürliche, gesunde,<br />

normale Lebenskraft, die ist eben ein bischen grosser<br />

— (seitdem wir Geschichte kennen) — grosser<br />

als die Vernichtung, Zersetzung, der Tod. Sie ist<br />

grosser, — denn wie gesagt und wie Sie selbst<br />

zugeben mussen: die Menschheit, wenns an ihr<br />

lage, ware schon langst erledigt — sie ist grosser,<br />

ein bischer grosser, und wir können nichts machen.<br />

Ich meine, in Bezug auf den Lauf der Welt, nicht<br />

wahr, das meinen Sie doch auch, können wir nichts<br />

machen. Wir können doch nur höchstens uns selbst<br />

prügeln oder kaputt machen und höchstens noch<br />

ein paar Andere, die sich das gefallen lassen. Aber<br />

das Gros wird sich wehren — aus bloder Freude<br />

10


am Leben. Was haben sie denn von ihrem Leben,<br />

zum Donnerwetter? Nichts, nichts haben sie eben<br />

ausser ihrem Leben, und darum verteidigen sie<br />

löwenartig ihren einzigen Besitz. Wir aber, wir<br />

haben ja mehr als das Leben: wir haben die Ideen,<br />

die ins Leben hineinschneiden, selbstandige Lebewesen,<br />

die unser Leben ruinieren oder erhöhen.<br />

Ja, wir lassen uns vielleicht priigeln; denn wir sind<br />

schliesslich auf das Leben nicht angewiesen.<br />

Sehen Sie, zu solchen Schlussfolgerungen kommt<br />

man, weil man denkt.<br />

Und da wird es Ihnen wohl klar, dass mit Denken<br />

keine Schöpfung zustande kommt. Eher vernichtet<br />

das Denken die Schöpfung, dazu ist es viel<br />

geeigneter. Vielleicht haben Sie schon bemerkt,<br />

dass die grossen Schöpfer der Erde meist keine<br />

klugen Menschen waren; das Genie — doch halt!<br />

warum soil ich von fremden Leuten reden? —<br />

Aber ich fürchte, nicht deutlich gewesen zu sein.<br />

(Schon wieder Furcht!) Namlich: Richard liebte<br />

die unklaren Situationen. Und dann wollte er<br />

seine Feigheit loswerden, die sich hinter den Unklarheiten<br />

verbarg. Ein Widerspruch. Nur einer.<br />

Ich meine, er war auch sentimental. Wenn er sich<br />

mit Friedrich verglich — und das war auch so<br />

ein Unglück: immer Vergleichungen — also mit<br />

Friedrich verglichen, dem zahen Bürschlein, dem<br />

kleinen Mann der rauhen Wirklichkeit, wie er<br />

sich selber ironisch nannte, der behauptete, Glück<br />

würde ihn unglücklich machen, er brauche Widerstiinde,<br />

er sei das gewohnt, diesem tollen Jungen<br />

mit der verteufelten Durchsetzungskraft — neu-<br />

11


lich kommt er zu mir, hat drei Nachte nicht geschlafen,<br />

kein Zimmer, die Wirtin hat ihn hinausgesetzt,<br />

er treibt sich in den Cafés herum, in Wartesalen<br />

verbringt er die Zeit bis zum Morgen —<br />

kommt zu mir und legt los, setzt mir seine Plane<br />

auseinander. Mir missfiel seine Unordnung in der<br />

letzten Zeit, und ich hatte mir ausgedacht, wie er<br />

da herauskame, in ruhigere Verhaltnisse, dass er<br />

sein Geschaft erweitern und in ein paar Monaten<br />

geregelt und durchaus, sagen wir, auskömmlich<br />

leben konnte — das wollte ich ihm sagen, wollte<br />

ihm Vorschlage machen. Aber nein, Tausende will<br />

er verdienen, monatlich einige Tausende mit seinem<br />

alten hölzernen Clownskasten von Filmapparat<br />

— es imponierte mir, wie er all das Geld so vor<br />

mich hinzauberte. Er sprach mit dem Feuer eines<br />

unternehmenden, seiner Fahigkeiten, seines Wertes<br />

sicheren Jünglings, wusste alles farbig und<br />

deutlich zu machen. Es riss mich hin. Ich kam mir<br />

mit meinen soliden Vorschliigen (die ich hiibsch<br />

fiir mich behielt — er hatte kaum hingehört, als<br />

ich davon anfangen wollte) etwas spiessig vor und<br />

schwieg — was soli man auch sagen, wenn sozusagen<br />

das Leben selbst in seiner Fiille sich vor uns<br />

ausbreitet — man schweigt — und dann bat er<br />

mich lachelnd um eine Mark.<br />

Er hatte mich zu packen gewusst, eine kleine<br />

diskrete Stelle in mir berührt, meine vage Sicherheit<br />

erschiittert, und diese Bitte um eine Mark<br />

wirklich charmant herausgebracht — ich gab sie<br />

ihm, als materiellen Zoll meiner Achtung — also<br />

mit diesem kurzgeschorenen Friedrich verglichen<br />

12


•war Richard tatsachlich von schauderhafter, oft<br />

hündischer Sentimentalitat.<br />

Solche unglückseligen Vergleiche drangten sich<br />

einem wider Willen auf, und das Schlimmste daran<br />

waren die fatalen Wertungen, die an sich verrückt<br />

waren. Theoretisch wies Richard selbstverstandlich<br />

Beurteihingen jeder Art weit von sich, aber<br />

praktisch stiessen sie ihm fortwahrend auf. Mochte<br />

sich auch der Verstand verneinend dazu stellen,<br />

sein Blut erwies sich starker als Ueberlegungen,<br />

Ueberzeugungen, Meinungen oder sonstige Ausgeburten<br />

des Gehirns. Und zwar Wertungen, Massstabe,<br />

die nichts taten als sich andern. Denn wenn<br />

einem Menschen die genügende Kraft der Argumente<br />

gegeben war — wie sollte er sich da nicht<br />

rechtfertigen? Das Gaukelspiel der Sprache im<br />

Dienste der eigenen Ueberzeugung musste jedermann<br />

freisprechen.<br />

So, wenn wir Jemand verachten, dann aber bei<br />

Gelegenheit ihn selber horen, so ergibt sich, dass<br />

er durchaus seinem Wesen entsprechend in diesem<br />

wie in den übrigen Fallen gehandelt hat. Ja, er<br />

wird uns überzeugen, dass er ist wie er ist, handelt<br />

wie er handelt, und überhaupt nichts anderes besseres<br />

tun kann, als er tut. Und wenn wir ihn am<br />

Ende auch vielleicht nicht achten werden, wir<br />

mussen ihm dennoch recht geben. Schliesslich hat<br />

auch Jeder das Recht auf seine Fehler, die Freiheit,<br />

auf seine Weise zu Grunde zu gehen oder zu leben,<br />

was dasselbe ist.<br />

So war jeder Mensch Richard gegenüber gerechtfertigt,<br />

wenn er nur mit ausreichendem Nachdruck<br />

13


Erklarungen abgab. Konnte ers aber nicht, so war<br />

er dennoch im Recht, denn Richards Gerechtigkeit<br />

wollte niemand verurteilen, nur weil ihm die Sprache<br />

nicht nachgab. Er sagte sich: Konnte dieser<br />

Mensch reden wie beispielsweise Sokrates oder Cicero,<br />

er würde alles erklaren, und ich würde ihn<br />

freisprechen. Denn ich würde ihn verstehen, verstenen<br />

so wie er es meint, wie er selber es versteht.<br />

Richard, bis über die Ohren verliebt —• ein Zustand,<br />

in dem wir ihn schon ziemlich haufig gesehen<br />

haben, ein etwas alberner Zustand, namlich<br />

für den bedachtigen Zuschauer —- aber man sei<br />

nur selbst einmal verliebt, so wird man anders<br />

darüber denken.<br />

Und diesmal hatte er sogar gute Gründe: Mirjam,<br />

das hübsche, kleine, dunkle, weibliche Wesen hatte<br />

ihm auf eine so unschuldig innige Art tief in die<br />

Augen gesehen, dass er deutlich seine Verpflichtung<br />

zur Begeisterung empfand. Alles drum und<br />

dran war ihm diesmal fast gleichgültig, aber ihrer<br />

Augen wegen setzte er sich tatsachlich am Ende<br />

der Woche auf die Bahn. Denn hier war es der<br />

Fall, dass, wie wohl mehr geschieht, die Umstande<br />

das Zustandekommen naherer Beziehungen erschwerten,<br />

indem sie einige Dutzend Kilometer<br />

zwischen die Leutchen legten, von deren gegenseitiger<br />

innerer Aktivitat so viel gefordert wurde,<br />

um ein glückliches Verhaltnis herzustellen.<br />

Mirjam hatte angedeutet, dass sie am Sonnabend<br />

Nachmittag vielleicht frei sei. Angekommen, geht<br />

14


Richard auf Umwegen, um eine gehorige Zeit abzupassen,<br />

zu ihrem Haus.<br />

Er klingelt; man lasst ihn ein, lasst ihn warten.<br />

Schliesslich erscheint Mirjam, verandert, zerstreut,<br />

uninteressiert. Nichts von innigen Augen,<br />

die sich in einen treuherzig, ja hingebend hineinbohren,<br />

stattdessen: Reserve, Beherrschtheit.<br />

Wir kennen die Ursache von Mirjams Haltung:<br />

zwischen der ersten Begegnung mit Richard und<br />

diesem Sonnabendnachmittag lagen acht Tage, und<br />

die Tage gehen fiir ein junges hübsches weibliches<br />

Wesen mit anziehendem Bliek nicht immer erlebnislos<br />

vorbei.<br />

Richard also durfte sich wieder auf die Bahn setzen<br />

und seine paar Dutzend Kilometer zuriickfahren,<br />

und wahrend eine frühlingsgrüne Landschaft<br />

an ihm vorbeiglitt (auf dem Hinweg hatte<br />

er nicht auf sie geachtet), dankte er dem Himmel,<br />

dass er diesmal so leichten Kaufes davongekommen<br />

sei. Enthoben allen Forderungen des Entzücktseins<br />

erfiillt ihn das erhebende Bewusstsein<br />

seiner Freiheit.<br />

Ich hatte gehofft, mit diesen wenigen Worten diese<br />

kurze Angelegenheit zu erledigen — schliesslich<br />

war es ja eigentich gerade das Gegenteil von<br />

dem, was man ein Erlebnis nennt — aber hier<br />

kommen wir auf das, was schon neulich bemerkt<br />

wurde: dass nfimlich ein Erlebnis materiell zwar<br />

in dem besteht, was „passiert", seine geistige Bedeutung<br />

aber erst erhalt durch das, was wir von<br />

uns aus dazutun. Und so ist es auch mit dieser Ge-<br />

15


schichte, die wir schnellstens loszusein dachten,<br />

dieser erlebnislosen Geschichte: jetzt erst, da sie<br />

vorbei ist, fangt sie an, für Richard ein Erlebnis<br />

zu werden.<br />

Er konnte also Mirjam aus der Liste seiner Verliebungen<br />

streichen. Sie wünschte of f ensichtlich keine<br />

nahere Bekanntschaft, und er wünschte nicht, sich<br />

aufzudrangen. Garnicht überhaupt daran zu denken,<br />

dass er „eine Eroberung" machen wollte.<br />

Richard hasste gewollte Eroberungen. Wenn er<br />

ohne Absicht wirkte, war es ihm recht; er selbst<br />

auch liebte nur die unbeabsichtigten Wirkungen.<br />

Gerade dass Mirjams Bliek scheinbar bewusstlos<br />

sich dem seinen eingehangt hatte, hatte ihn gerührt.<br />

Sie stand damals da, ein wenig krumm,<br />

sodass sie noch kleiner erschien als sie war, den<br />

Kopf etwas seitlich geneigt, den linken Fuss fast<br />

einwarts — eine Stellung ohne Berechnung, eine<br />

ganz unwillkürliche Stellung wie der Körper sie<br />

wohl ein nehmen kann, wenn die Gedanken mit<br />

fernliegenden Dingen beschaftigt sind. Und wie aus<br />

der Ferne war dabei ihr Bliek in seinen geglitten,<br />

ein tiefer herzergreifender Bliek, den er verdammt<br />

gerne noch einmal gesehen hatte. Richard war<br />

erschüttert, war heimlich durchbohrt, wahrend er<br />

lebhaft sprach und irgendetwas irgendwelchen<br />

Leuten erklarte, die dabeistanden.<br />

Als er gelegentlich wieder nach Mirjam blickte,<br />

stand sie noch immer so traumverloren. Etwas<br />

f eucht-glanzendes strahlte von dort zu ihm, grub sich<br />

ein, blieb ihm in Erinnerung als etwas Köstliches,<br />

etwas, das verdiente, nicht vergessen zu werden.<br />

16


;hten,<br />

ia sie<br />

lebnis<br />

Und nun -wollte das Madchen -wohl selber, dass er<br />

vergessen sollte. Alles war nun Bewusstsein gewesen,<br />

nichts mehr von „Spiegel der Seele". Das<br />

Seelchen beherrschte sich hübsch. Wusste es überhaupt,<br />

dass es sich einmal verraten hatte?<br />

Manchmal schamen sich die Menschen des Besten,<br />

was sie besitzen. Oder sie zeigen es nur den Auserwahlten.<br />

Aber das war ja, zum Teufel, schon wieder<br />

Berechnung! Man war sich also seiner herrlichsten<br />

Gabe bewusst und man ging ökonomisch<br />

mit ihr um. Das Beste war bereits verdorben, angefressen<br />

durch das Wissen um seinen Wert.<br />

Und darum kostete es Richard keine Mühe, Mirjam<br />

sofort aufzugeben. Er hatte einen wundervollen<br />

Eindruck gehabt, in einem Augenblick, da sie sich<br />

gehen liess. Ein Augenblick, ein Anblick für Götter!<br />

Nun aber liess sie sich nicht gehen, sie kontrollierte<br />

sich, sie hielt es für nötig, sich in Richards Gegenwart<br />

zu kontrollieren. Das verdarb Richard das<br />

ganze Vergnügen an seiner Gegenwart bei ihr.<br />

So war das. Gewiss, er war traurig, dass dieses<br />

Schone, dieser ergreifende und rührende Bliek<br />

nur etwas Zufalliges gewesen sein sollte. In ihrer<br />

Unbefangenheit hatte Mirjam sich ihm „offenbart",<br />

er hatte in einer seltenen Minute das „Beste" dieses<br />

Menschen gesehen. Das Beste aber, das ist ja wohl<br />

klar, ruft wiederum in dem, der es im andern zu<br />

erfassen vermag, das eigene Beste hervor. Und<br />

Richard war also bereit, Mirjam sein Bestes zu<br />

geben. Worin dies Beste bestand, wusste er nicht,<br />

und das war auch nicht nötig. Es war, wenn man<br />

es denn inWorte f assen will, die Zusammenfassung,<br />

17


die Summe aller positiven Qualitaten, die in seiner<br />

Natur zerstreut lagen. Er fühlte in sich eine Spannung,<br />

der er vertrauen konnte.<br />

Also eine Wirkung auf Gegenseitigkeit. Und wenn<br />

nun auf der Gegenseite die Wirkung ausblieb, so<br />

blieb alles aus.<br />

„Dass man die eigene Schönheit verleugnet, dachte<br />

Richard, verleugnet zugunsten — hm — zugunsten<br />

der Lebensberechnung. Dass man den Gott in sich<br />

verleugnet und sich zwingt, „vernünftig" zu sein.<br />

Es ist verstandlich (— draussen zog allerhand<br />

Landschaft vorbei mit Wiesen undKühen und Wind<br />

und sehr fernen Baumchen) — es ist verstandlich,<br />

weil es immer so ist. Es sollte unverstandlich sein!<br />

Man vertraut den andern nicht mehr, weil man<br />

wohl einmal enttauscht wurde — man vertraut<br />

vielleicht sich selber nicht mehr. Man hat Angst zu<br />

geben. Erbarmliches Leben! Wahrhaftig, wahrhaftig,<br />

wenn man aus diesem Leben ein Kontobuch<br />

machte, dann — er spuckte drauf — dann allerdings<br />

war das Leben mit jeder Minute, die man<br />

lebte, zu teuer bezahlt. Arme Madchen, arme Mirjam<br />

im besondern. Da sie aber wohl selbst von<br />

ihrer Armut nichts merkte, wohl gar im Gegenteil<br />

diese Bescheidung in Bezug auf ihre Möglichkeiten<br />

sehr gut fand, dies, was Richard erbarmliche<br />

Rechnerei nannte, als vernünftige Beschrankung<br />

im günstigen Sinne beurteilte, so war ja diese arme<br />

Mirjam keineswegs zu bedauern, sondern eher wegen<br />

ihrer Haltung zu loben. In ihrem Sinne entschieden<br />

zu loben, nicht in Richards Sinne. Zwei<br />

Aehnliche — denn dass sie sich ahnlich in einem<br />

18


estimmten tiefenPunkt ihresWesens, harten beide<br />

in jenem Augenblick, dem Bliek derAugen, erkannt<br />

— zwei Aehnliche waren einige Sekunden ihrer<br />

Existenz in vollkommener Uebereinstimmung gewesen,<br />

wundervolle Sekunden, die waren „wie das<br />

Leben selbst", und sofort hatten sie sich wieder<br />

geschieden.<br />

Richard wollte nicht mehr dran denken, aber<br />

dachte noch oft daran. Es war eine Erfahrung<br />

mehr, die er beherzigte. Gewiss, er wurde reifer<br />

durch all die Erfahrungen, die er in sich aufnahm,<br />

er wurde klüger, weiser, aber er anderte deswegen<br />

sein Verhalten nicht. Er wollte sich das Leben<br />

nicht verarmen durch Klugheit, durch Berechnung,<br />

und sein Leben war: sich durch das Weibliche<br />

inspirieren zu lassen. Er war weniger, wenn<br />

er „nur er selbst" als wenn er ein „Doppelklang"<br />

war. Und darum suchte er immer seinen Doppelklang.<br />

Und so sehen wir ihn denn auch alsbald nach<br />

neuer Eingebung Umschau halten.<br />

Ais sie anfingen, war sie einschmeichelnd, und als<br />

sie aufhörten, wurde sie grob und scheusslich. —<br />

Aber Richard lernt nicht. Er liebt noch immer,<br />

wie je.<br />

Es kann geschehen was will, Richard — wenigstens<br />

in diesem Punkte — lernt nichts; er weiss...<br />

Er weiss es besser als alles Geschehen.<br />

„Und vielleicht bist Du sogar verheiratet, und wer<br />

19


weiss, wie vielen Madchen Du das alles schon gesagt<br />

hast" — das Madchen war sehr böse.<br />

Richard hielt sie f est: „Vielleicht habe ich es schon<br />

vielen gesagt, und es ist auch so, dass ich viele<br />

schön finde. — Das horst Du nicht gern?"<br />

„O es ist mir gleichgültig, wie vielen Du es schon<br />

gesagt hast. Lass mich los!"<br />

Richard war zu begeistert, und das Madchen zu<br />

böse; er wollte sanft sein, musste aber fest zupacken;<br />

sie wollte sich los machen.<br />

Plötzlich war der Hund weg. Beide standen auf<br />

und riefen seinen Namen. Pfiffen. Oben auf der<br />

Promenade war er nicht, und am Meer war nichts<br />

zu sehen. Es war vollkommen dunkel. Das Madchen<br />

dachte an den Hund und wie sie den Mann<br />

nur loswerde, und Richard hatte gerne den Hund<br />

zurückgeschafft, er fühlte sich schuldig. Er wusste<br />

nicht, was er tun sollte. Das Madchen rief noch<br />

ein paar Mal nach dem Hund, sie sah in die Nacht<br />

hinaus, auf's Meer; ihr war zum Heulen.<br />

Richard rief noch einmal. Der Hund blieb weg.<br />

Als er dem Madchen die Hand zum Abschied hinhielt,<br />

nahm sie sie nicht. Das argerte ihn; er versuchte<br />

noch einmal, ihrer habhaft zu werden. Vergebens.<br />

Das Madchen ging langsam den Kai hinauf, sah<br />

sich dabei fortwahrend nach dem Hund um.<br />

Richard trottete nach Hause. Er verwünschte sich.<br />

Richard hatte gehofft, etwas besonderes zu sein<br />

oder wenigstens zu werden, doch je alter er wurde,<br />

desto enger schloss sich der Kreis der Alltaglich-<br />

20


keiten um ihn. Unentrinnbar. Und da er sah, dass<br />

er in keinem Fall ein grosser Mann war, beschloss<br />

er, allen Zwang und Streben fahren zu lassen und<br />

nur natürlich zu sein, er selbst zu sein.<br />

Jetzt war aber die Frage: wie war er? Es gab wohl<br />

eine Menge Situationen, die ihm keine Schwierigkeiten<br />

bereiteten. Aber gelegentlich musste ihm der<br />

Verstand helfen. Und bei solcher Gelegenheit musste<br />

er wissen, wer und was und wie er war, um: sich<br />

entsprechend zu handeln.<br />

Wenn er doch eine Ueberzeugung hatte: überzeugt<br />

ist er von seiner Begrenztheit — und vielleicht ist<br />

sogar die nur zeitlich — überzeugt aber sonst: ob<br />

etwas richtig oder falsch — wer weiss das? — und<br />

wenn nun selbst sein Leben verfehlt ist — die Einmaligkeit<br />

des Lebens bewahrt ihm seinen Reiz,<br />

auch wenn man es verfehlt — man kann nur einmal<br />

ein verfehltes Leben erleben, wie man nur einmal<br />

es erfüllen kann. — Vielleicht erfüllte er es,<br />

indem er danebenhieb — o Gott, es gab für uns<br />

wenig zu wissen, ein Wissen, das gewiss höchst<br />

zweifelhaft war, nur wenig echtes in unserer Welt,<br />

und ein Gott mochte wissen, ob es echt war —<br />

nein, keine Ueberzeugung! das war das Resultat<br />

seiner Ueberlegung — das Leben enthielt alles,<br />

und man konnte machen, was man wollte, man<br />

lebte es mit —<br />

Oft hatte er bestimmte Vorahnungen, eine Stimme<br />

sagte ihm, dass er etwas nicht tun solle.<br />

Manchmal tut er es dann doch, obgleich er genau<br />

weiss, dass ihm daraus Unannehmlichkeiten ent-<br />

21


stehen. Er wartet auf die Art der Unannehmlichkeiten<br />

(sie können von allen Seiten anriicken). Und<br />

es geschieht nichts dergleichen, sondern es war<br />

ganz richtig, dass er's tat.<br />

Und so hat er Vorahnungen auf allen möglichen<br />

Gebieten, die sich zum grössten Teil als überflüssig<br />

erweisen, da sie sich nicht erfüllen.<br />

Richard war auch weich. Er war auch schwach.<br />

Ich bin bereit, alles mögliche Schlechte von ihm<br />

zu sagen.<br />

Also: Richard sass vor einem Café in der Sonne.<br />

Auf dem Tischchen vor ihm stand ein Glas mit<br />

einer farbigen trinkbaren Flüssigkeit. Es lagen da<br />

einige Stückchen Zucker und kleines Geback. Richard<br />

dachte an vieles und nichts, er sass da, um<br />

sich auszulüften.<br />

Ein Mann kam an seinen Tisch, murmelte etwas<br />

und hielt seine Hand hin. Ein Bettler offenbar.<br />

Richard verspürte eine unmittelbare Abneigung,<br />

innen schüttelte ihn etwas. Er sah den Mann an, der<br />

weiss Gott weder wohlhabend noch glücklich zu<br />

sein schien. Richard schüttelte den Kopf, er wollte,<br />

dass der Mann sich entferne. (Das war alles, was er<br />

wollte.)<br />

Darauf kam er sich hundserbarmlich vor. Er griff<br />

schnell in seine Tasche und gab dem Mann ein paar<br />

Pfennige. Der Mann dankte und ging.<br />

Darauf kam sich Richard noch erbarmlicher vor.<br />

Ein andermal. — Richard sitzt wieder irgendwo<br />

an der Strasse und wieder streckt sich eine Hand<br />

aus: bittend, fordernd.<br />

22


Und da Richard nun schon lange weiss, dass diese<br />

Pfennige ihm Uebelkeit und Brechreiz verursachen,<br />

gibt er ein Silberstiick.<br />

Und da fragt er sich kurz darauf, ob er völlig verrückt<br />

geworden sei.<br />

Und ob er nur dann mit ruhigem Gewissen öffentlich<br />

speisen oder trinken könne, wenn er das<br />

Doppelte des Betrages bei sich habe, den er zu<br />

verzehren gedenke.<br />

Und ob von ruhigem Gewissen gegenüber einem<br />

Bettler bei ihm überhaupt die Rede sein könne.<br />

Und ob — und noch ein Haufen Fragen, auf die es<br />

für ihn keine Antwort gibt.<br />

Es ist da ein Ton in der Welt — da von Richard<br />

die Rede ist, wollen wir ihn Richards Ton nennen<br />

(so hat wohl jeder Mensch einen bestimmten Ton,<br />

auf den sein Wesen abgestimmt ist) — wenn der<br />

angeschlagen wird, dann ist Richard. Da gibt es<br />

kein Denken oder Bedenken, kein Reden oder Sinnen<br />

oder Traumen, sonder das Dasein in höchsteigener<br />

Person tritt auf. Ein unschöpferischer<br />

Zustand der Harmonie und des Seins, eine vollkommen<br />

wache lebenerfüllende „Sache".<br />

Und eben wegen dieses Tons, d.h. dass er selbst,<br />

Richard, sozusagen im All vorhanden war und<br />

erklang, dass die Entsprechung seines Grundtons<br />

in der Schöpfung lebte, und dass er dies wusste,<br />

immer — eben deswegen war Richard Optimist,<br />

d.h. er konnte die Welt nicht schlecht finden, konnte<br />

dass Leben nicht verdammen.<br />

23


Richard betete. Dabei dachte er an junge Madchen.<br />

Er sah die Vollkommenheit der Schöpfung,<br />

wenn er an sie dachte, sie waren „das Göttliche"<br />

für ihn, Gottes beste gelungenste Leistung. Er<br />

dachte nicht an eine, sondern — wenn er an die<br />

Madchen dachte, die er kannte und gekannt hatte,<br />

so erinnerte er sich merkwürdigerweise nur an<br />

etwas, das entzücken konnte, nicht an ihre Worte<br />

oder Handlungen, die ihn oft gepeinigt hatten,<br />

sondern an das — nennen wir's: die Atmosphare,<br />

die sie umgab, das Atmospharische, das sie bewirkten<br />

und wirkten. Eine Schwingung die von innen<br />

ausging, und die seine Seele — (Verzeihung für<br />

„Seele") — einatmete, einsog und als etwas verwandtes,<br />

also „seelisches" empfand. Etwas was<br />

mit Hauch, Anhauch des Edelsten, Feinsten, Zartesten,<br />

Reinsten, fast Engelhaften, was in einem<br />

Menschen sein kann, was im Menschlich-Irdischen<br />

auch verwoben ist, eben nur wörtlich-klaglich bezeichnet<br />

ist.<br />

Er dachte an Frauen, und er dankte der Schöpfung<br />

für das Vorhandensein dieser geheimnisvoll wundersamen<br />

Erganzung und Möglichkeit des Mannlichen,<br />

durch Verbindung zu einer unerwarteten<br />

Höhe und Vollendung zu gelangen. Er verehrte (ja<br />

ganz unwillkürlich-spontan) imWeiblichen dasEreignis<br />

des Daseins, dessen immer neues Erlebnis<br />

eine rasende Entfaltung seiner Wesens bedeutete.<br />

Wahrhaftig, unser Richard war fromm, sentimental<br />

ausgedrückt; im Grunde war er — bescheiden.<br />

Worauf ? Auf sein Mensch-sein, auf sein Mann-sein.<br />

24


Ein Abend<br />

Sie sprachen von kiinstlerischen Angelegenheiten.<br />

Dr. A. liebte nicht derartige zum Teil schwierige<br />

Gesprache. Es argerte ihn, dass in seinem Haus<br />

immer „Gesprache" geführt wurden. Niemals kam<br />

ein leichter Ton auf, niemals wurden harmlose<br />

Spiele gespielt, keine Karten, kein Domino, nicht<br />

einmal Schach (selbst Schach war nicht bedeutend<br />

genug, die Hausgenossen zu beschaftigen): man<br />

musste sich tiefsinnig unterhalten.<br />

Und ich habe mir die Bemerkungen, die der Dokter<br />

machte, so zu erklaren versucht: dass er einfach<br />

dieses „geistverehrenden" Tones satt war, er wollte<br />

Luft haben. Und so hatten seine Bemerkungen<br />

manchmal etwas uniiberlegtes, jugendlich-naives<br />

(aus einem unwillkiirlichen Protest heraus).<br />

Sie sprachen z.B. darüber, dass auch jeder grösste<br />

Künstler eine gewisse „Manier" in seinen Ausdrucksmitteln<br />

entwickelt habe. Und einer ausserte,<br />

dass ihn das store: dass nicht alles reine Inspiration<br />

sei im Kunstwerk, sondern auch immer viel<br />

Handwerk und Routine dabei.<br />

Sie kennen ja derartige Gesprache. Einmal im<br />

Monat here ich mir so etwas ganz gerne mit an.<br />

Und dann sprachen sie auch iiber die Werke der<br />

Künstler, besonders über die Alterswerke. Ob<br />

nicht gewöhnlich mit dem Aelterwerden auch ein<br />

Abnehmen der Geisteskrüfte festzustellen sei, und<br />

ob sich das nicht in den Werken bemerkbar mache.<br />

Einer sagte: die Maler mussen mindestens 60<br />

Jahre alt werden, dann erst ist es ihnen möglich,<br />

25


Bilder zu schaffen, überlegene, geheimnisvolle, erstaunliche<br />

Werke. Denken Sie an Tizian, an Rembrandt,<br />

Frans Hals.<br />

Wirklich haben diese Meister in ihren Alterswerken<br />

ein Etwas, dass den Jugendarbeiten fehlt: ich<br />

möchte sagen, etwas Mystisches, etwas Ungewollt<br />

- unerklarliches und — packendes, eine geistige<br />

Sphare von hohen Graden.<br />

Und dann sprach man vom Alter überhaupt, vom<br />

Altwerden.<br />

Wie da Greise mit den Handen zittern, das Essen<br />

fast nicht mehr zum Munde führen können, beim<br />

Trinken den Trank verschutten und nicht merken,<br />

wenn ihnen ein Tropfen an der Nase hangt.<br />

Dr. A. sagte: ich wünsche, vorher zu sterben. Es<br />

ist mir ein schrecklicher Gedanke, dies Bild der<br />

menschlichen Gebrechlichkeit einmal selber darstellen<br />

zu sollen.<br />

Hierin stimmte man ihm bei: Was ware auch<br />

dagegen einzuwenden gewesen? Kein Mensch fühlt<br />

gerne die Abnahme seiner körperlichen und geistigen<br />

Krafte, dies langsame Eintrocknen der Lebenssafte.<br />

Niemand fallt gern andern zur Last oder lasst<br />

sich bedauern. Jedenfalls kein normaler, gesunder<br />

und tatiger Mensch. Der Dokter sagte sogar, er<br />

würde sich schamen, als so gebrochener Greis<br />

unsere Erde noch zu belasten.<br />

Finden Sie denn selbst, fragte man, den Anblick<br />

eines zittrigen Greises so furchtbar?<br />

Er sagte: Nein. Ich habe zwar zunachst ein spontanes<br />

Abwehrgefühl bei seinem Anblick. Etwas<br />

straubt sich in mir. Das ist aber nur im ersten Au-<br />

26


genblick. Dann finde ich mehr etwas Rührendes,<br />

ja vielleicht sogar etwas Liebes, Anheimelndes im<br />

Anschaun des Mannes.<br />

Dann sprach man (glaube ich) von Christus. Der<br />

ist ja wirklich ein unerschöpfliches Thema. Ich<br />

weiss nicht mehr, wie man gerade auf Christus<br />

kam. Aber bei einer so schweifenden Unterhaltung<br />

kann man schliesslich auf alles kommen. Und auf<br />

Christus kann man schliesslich immer und von<br />

allen Punkten kommen. (Das beweisen, sagte jemand,<br />

die Priester, die wie die Katzen auf ihren<br />

Füssen immer bei Christus landen). Erna sagte,<br />

dass er ihr unsympatisch sei. (Ich habe vergessen,<br />

warum).<br />

Wir tranken etwas, rauchten. Lena reichte GebSck.<br />

(Sie war hauptsachlich Richards wegen hier.)<br />

Ich erinnere mich, dass ich bei Richard eine gewisse<br />

Unruhe bemerkte, oder eigentlich eine auffallende<br />

Zurückgezogenheit. Er hatte sich erst lebhaft<br />

an der Unterhaltung beteiligt. Jetzt schwieg<br />

er schon eine Weile. Lena fragte, ob er auch alles<br />

verstande (man sprach im Landesdialekt). Er bejahte<br />

und schwieg weiter, ein ausgezeichneter<br />

Zuhörer.<br />

Als dann niemand mehr sprach, sagte er:<br />

Entschuldigen Sie, wenn ich auf etwas zurückkomme,<br />

was vorhin gesagt wurde. Ich bin langsam;<br />

(aber das war nicht der Fall, ich hatte bemerkt,<br />

dass ihm schon seit „vorhin" etwas auf der Zunge<br />

brannte,anscheinend etwas für ihn ganz Wichtiges.<br />

Er hatte sich aber zurückgehalten). Wir sprachen<br />

vorhin von dem Greis mit der zitternden Hand,<br />

27


sagte er, und dem Tropfen an der Nase, den er<br />

nicht mehr fühlt, und der Doktor lehnte für sich<br />

diesen Zustand ab.<br />

Nun, ich möchte nur bemerken, dass ich für mich<br />

diesen Zustand keineswegs ablehne. (Richard ist<br />

ungefahr 30, der Doktor in den Vierzigern.)<br />

Wissen wir denn, was es heist, 60 Jahre alt zu<br />

sein?<br />

Wir wissen es überhaupt nicht.<br />

Oder wussten wir mit 16 wie wir mit 30 sein<br />

würden?<br />

Wir haben uns etwas vorgestellt, etwas, was unserm<br />

Alter entsprach. Jetzt wissen wir, dass sich<br />

die Perspektive der Lebensansicht fortwahrend —<br />

mit dem Aelterwerden — verschiebt.<br />

Mit 16 wollten wir auf keinen Fall auch nur eins<br />

unserer Ideale aufgeben. (Aber das Leben hat sich<br />

starker erwiesen als alle Ideale, d.h. wir erkennen<br />

keine Ideale mehr an, die abseits vom Leben eine<br />

Existenz zu führen wünschen.) Wir würden niemals<br />

resignieren, dachten wir. Wir verachteten<br />

oder bemitleideten Menschen, die resigniert hatten.<br />

Aber das war ja alles nur, weil es damals so unserem<br />

Alter entsprach. Wussten wir denn überhaupt,<br />

was das ist: ein Mensch, der resigniert hat?<br />

Wie er fühlt, denkt, handelt? — Heute stellen wir<br />

selbst resignierte Menschen dar. Dies Erlebnis ist<br />

so gross, dass es uns jede Enttauschung vergessen<br />

lasst. Oder wir sind auf dem Standpunkt der 16jahrigen<br />

stehen geblieben.<br />

Hier unterbrach sich Richard. (Er nahm ein Stück<br />

28


ï er Kuchen. Ich denke, er wollte seine Begeisterung<br />

»ich hindern, mit ihm durchzugehen.) Plötzlich sprachen<br />

alle durcheinander:<br />

lich „Wie denn? Da wollte einer „gerne" alt werden,<br />

ist War das nicht vielleicht nichts anderes als „Furcht<br />

vorm Tode"? Oder schlaue Anpassung an das<br />

zu Schicksal, das uns garkeine Wahl lasst, wenn wir<br />

lange genug leben, jung zu bleiben oder Greis zu<br />

werden?"<br />

ein Nein, sagte Richard, nicht aus Ergebenheit gegen<br />

mein Schicksal wünsche ich alt und alter zu werun-<br />

den und die Gebrechen des Alters zu erfahren,<br />

ich | sondern darum, weil ich diese einzige Gelegenheit<br />

— nicht vorbeigehen lassen will, auch diese Seite des<br />

Lebens kennen zu lernen. 1st nicht „vor Alter<br />

ins mit den Handen zittern" eine Sache, die wir jetzt<br />

ich aus der Situation unserer Gesundheit betrachten<br />

ïen und uns darum nicht wünschen, die aber völlig<br />

ine anders ist, wenn wir selbst alt sind und sie tun.<br />

lie- Schatzen wir denn in der Kunst — da vorhin von<br />

ten Kunst die Rede war — nur die Werke der Grieiat-<br />

chen, nur die Jugend, die Kraft, die Fülle, oder hat<br />

nicht auch gerade der Doktor seine Begeisterung<br />

.111- für Gotik und die Alterswerke Rembrandts verer-<br />

kündet. Lieben wir in der Kunst nicht alle Epoat?<br />

chen, in denen grosse Persönlichkeiten geschaffen<br />

vir haben?<br />

ist Warum sollte im Leben die Sensation des Alterns<br />

sen ein geringeres Erlebnis sein als die der Jugend?<br />

16- Die Jugend haben wir erlebt, — er stand auf —<br />

wir waren selbst Jugend; an uns konnten andere<br />

ck sie begreifen. Wir lebten sie, wie wir jetzt das<br />

•<br />

29


Mittelalter leben. Und ich möchte keinesfalls auf<br />

das Schlusskapitel verzichten. Das Abnehmen der<br />

Krafte, wie Sie es nennen, das Verandern der Krafte<br />

und die damit verbundene Umwandlung, Verwandlung,<br />

ich wiinsche sie mitzumachen wie ich<br />

bei der Zunahme dabei war. Sonst meine ich,<br />

würde mir, meinem Ich, meiner Einmaligkeit, ein<br />

Teil der Möglichkeiten des Daseins entgehen.<br />

Vielleicht erringen wir mit dem Alter eine grössere<br />

Freiheit. Jetzt würden wir uns noch schamen,<br />

einenTropfen an derNase zu haben, dann schamen<br />

wir uns nicht mehr. Wir gehen leichter über alle<br />

Konventionen hinweg, wenn wir auch körperlich<br />

schwerfalliger gehen als früher. Vielleicht werden<br />

auch unsre Werke geistiger sein und weniger beschwert<br />

von Materie.<br />

Ah — warf man ein — Sie erwarten also vollkommenere,<br />

bessere Werke vom Alter?<br />

Ach, lassen wir die Werke, rief Richard, die werden<br />

wahrscheinlich nur schlechter sein. Ja, wahrscheinlich<br />

werden wir nur mehr verblöden, stumpfer<br />

werden. Schon jetzt fühle ich ein Vermindern<br />

der Krafte. Ich kann nicht mehr viel lesen, mein<br />

Kopf straubt sich, mehr als 10 Druckseiten aufzunehmen,<br />

wahrend ich früher ganze Bibliotheken<br />

verschlang. Auch beim Schachspiel kann ich nicht<br />

mehr kombinieren wie vor 2, 3 Jahren. Aber besteht<br />

denn das Leben aus Lesen oder Schach oder<br />

einer ahnlichen Beschaftigung? Gibt es da nicht<br />

noch ganz andere Dinge mitzumachen?<br />

Aber ware — er war nicht mehr aufzuhalten —<br />

aber ware das Altern auch nichts anderes als ein<br />

30


auf<br />

der<br />

LrSf-<br />

I Verich<br />

ich,<br />

ein<br />

?rösien,<br />

(men<br />

alle<br />

rlich<br />

|rden<br />

be-<br />

Abnehmen — in der Kunst wie im Leben gilt Kraft<br />

wie Schwache gleichviel.<br />

Wenn unser Alter ebenso erfiillt von sogenannter<br />

Schwache ist, wie es unsere Jugend von sogenannter<br />

Kraft war, dann sollten wir uns nicht beklagen,<br />

und ebenso völlig alt sein, wie wir seinerzeit völlig<br />

jung waren. Denn — das wiinschte ich so sehr zu<br />

betonen — etwas zu sein ist etwas ganz anderes als<br />

zu sehen, wie etwas ist.<br />

Das Schaffen eines schlechten Kunstwerkes gewahrt<br />

genau dieselbe Befriedigung wie das eines<br />

guten. NSmlich wahrend des Schaffens. Und für<br />

die Mutter ist das Austragen eines Napoleon genau<br />

dasselbe wie das eines Idioten.<br />

Etwas anderes ist das „Sehen", das Betrachten des<br />

Geschaffenen. Doch uns selber sehen wir nie. Denn<br />

wir wissen nicht, wie wir morgen sind. Wir schaffen<br />

uns, wir werden fortwahrend geschaffen.<br />

Wer ist, macht immer — eine komische Figur.<br />

Aber dass man überhaupt ist, überhaupt zu sein,<br />

das ist das grösste Erlebnis des Lebens in alien<br />

seinen Abschnitten, mag es sich nun auf die Jugend<br />

oder das Alter beziehen.<br />

Der Doktor sagte: ich bin von dem, was Richard<br />

sagt, berührt; aber ich bin nicht überzeugt. —<br />

Das blieb mir von dem Abend in der Erinnerung.<br />

31


P U B E R T A T<br />

But<br />

Ich bin — ich weiss nicht<br />

Mein Herz — ich kann mich nicht fassen —<br />

Es geht mir wirklich schlecht.<br />

Tommy sagt: Mensch, Kopf hoch —<br />

Tommy, dem ich sonst immer sagen muss: Haltung<br />

Tommy. Ich muss ihm dann einen Stoss geben,<br />

damit er sich aufrafft. Niemand kann so völlig<br />

verzweifelt sein wie der dicke Tommy.<br />

Hermann sagt: Mit dir ist was los. Nimm dich<br />

zusammen, Kerl.<br />

Kein Madchen guckt mich an. Sie wissen, dass ich<br />

nichts wert bin.<br />

Und Rut fïihrt nach Paris. Sie war hier noch die<br />

Einzige — nun ist überhaupt nichts mehr da —<br />

man kann sich schlafen legen. Ware das Gescheiteste.<br />

Wir bringen sie alle an die Bahn, Rut, das Prachtmadchen.<br />

Guten Tag, Alter, sagt sie und klopft<br />

dem Papa auf die Schulter. Und zur Mutter: Na,<br />

nun heule doch nicht zum Donnerwetter, schreit<br />

sie. Und zu Herman: Mach keine Schweinereien,<br />

wenn ich weg bin. Und Tommy, shake hands, auf<br />

Wiedersehen, alter Knabe, halt dich wacker.<br />

Und ich werde ganz Paris grüssen.<br />

Das sagt sie alles aus dem Coupéfenster. Wir stehen<br />

draussen am Zug und reden.<br />

Hab dir noch nicht Adieu gesagt, ruft sie. Ich gehe<br />

32


ans Fenster und will ihr die Hand driicken. Da<br />

beugt sie sich raus und gibt mir einen Kuss.<br />

Mir!<br />

Der Zug fahrt ab.<br />

Ich gebe Tommy einen Stoss: Mensch, sage ich,<br />

Haltung.<br />

Ich bin ganz glücklich. Aber alle sind niedergeschlagen,<br />

weil Rut, die Herrliche, fort ist, und wir<br />

gehen.<br />

Mensch, sage ich zu Tommy.<br />

Und jetzt verstehe ich: niimlich die ganze Zeit,<br />

als wir auf den Zug warteten, hatte ich Ruts Arm.<br />

Ich liess sie nicht locker. Nun geht sie weg. Und<br />

sie ist ja der einzige Mensch hier. Hier und überhaupt.<br />

Und darum hielt ich immer ihren Arm fest,<br />

wie wir so auf dem Bahnsteig hin und her gehen<br />

und warten und alle sprechen etwas. Der Zug<br />

kommt an. Lass jetzt endlich Rut los, zischt Tommy<br />

mich an. Und natürlich lass ich gleich los, denn<br />

der Zug kommt ja an und sie muss einsteigen. Ich<br />

denke, Tommy sagt das, weil der Zug kommt. Es<br />

argerte mich trotzdem. Aber jetzt verstehe ich, dass<br />

es die Eifersucht war. In Tommy kochte es, das<br />

begreife ich nun. Der Dicke kochte, etwas musste<br />

heraus, sonst explodierte er. Das Ventil zischte<br />

und liess Druck raus. —<br />

Rut ist weg. Hier ist nichts mehr los. Und mein<br />

Herz liegt wieder auf der Strasse.<br />

Ich bin krank. Ich liebe tausend Dinge. Ich kann<br />

mich nicht halten. Ich bin — ich weiss nicht.<br />

33


Sie schreibt ihm<br />

Ich schreibe ihm. Alles, was ich auf dem Herzen<br />

habe. Und das ist nicht wenig.<br />

Du..<br />

Ich stocke schon. Ich weiss nicht, wie ich anfange.<br />

Worte, das ist ja was Grausiges, wenn alles hindrangt,<br />

alles Gegenwart wünscht. Wie das zieht.<br />

Es verschlagt mir den Atem. Ich will mich in die<br />

Bahn setzen und hinfahren.<br />

Ich muss, ich muss schreiben; wenn ich jetzt nicht<br />

Gebrauch mache von dem einzigen Mittel, eine<br />

Verbindung herzustellen — Himmel, ich fiirchte<br />

fast, dass ich nicht schreiben werde. Ich weiss<br />

schon nichts mehr, was ich schreiben wollte. Mein<br />

Herz ist voll, ja, aber auch mein Kopf, mein ganzer<br />

Körper ist voll, ist übervoll von — ihm. Jetzt<br />

schreiben — dazu fehlt mir die Sachlichkeit. Ich<br />

bin Bewegung, ganz Welle, ganz Sturz, ganz Eifer,<br />

— nein, jetzt mich vor ein Blatt Papier setzen,<br />

denken — das ware wie Hinrichtung.<br />

Ich will bei dir sein, nichts andres als bei dir sein,<br />

und dann werde ich wohl auch etwas zu sagen<br />

wissen. Oder besser noch, still sein. Ich bin übervoll,<br />

und weiss garnichts als dich, als uns beide,<br />

zu fiihlen, deine Augen, zu sehen — und alles.<br />

Alles. Du. Dich.<br />

Ich sehe, es wird nichts draus. Es wird nichts aus<br />

dem Brief.<br />

Wird er es verstehen? Er muss das verstehen.<br />

Ich schreibe nicht.<br />

34


Ich warte und warte —<br />

Nachts<br />

Die Beleuchtung ist hier schlecht und die Strasse<br />

fast dunkel. Ich habe mich unter ein Portal gestellt.<br />

Es regnet.<br />

Ich warte — worauf?<br />

Es ist Nacht.<br />

Trostlos ist es und — jetzt wird Licht angemacht<br />

an dem Fenster.<br />

Eigentlich habe ich etwas anderes zu tun. Man hat<br />

Pflichten. Zum Lachen.<br />

Wer wartet?<br />

Ich habe keinen Grand mich zu beklagen. Im<br />

Gegenteil. Viele haben viel mehr Grund. Und doch.<br />

Dass es einem trotzdem so verzweifelt schlecht<br />

gehen kann!<br />

Ich glaube, jetzt habe ich einen Schatten da oben<br />

gesehen.<br />

Ich glaube, es geht mir schon besser.<br />

Donnerwetter, ist das aber ein Guss. Jetzt wird das<br />

Fenster aufgemacht — das kann nicht sein! Bei<br />

dem Wetter! Ich gebe mir eine Ohrfeige, die<br />

schmerzt. Also traume ich nicht.<br />

Es steht jemand am Fenster und sieht in die Nacht.<br />

Ich sehe rauf zum Fenster. Schritte hallen in der<br />

Strasse. Es regnet schrecklich. Man sieht keine<br />

zehn Meter weit.<br />

Das ist wie auf dem Land und nicht wie in einer<br />

grossen Stadt. Der Regen wascht die Strassen leer<br />

und taucht alles in Natur. Ich bin begeistert.<br />

35


Und da drüben ein matter Lichtschein und ein<br />

Schatten.<br />

Ich bin sehr begeistert. Ich habe vollkommen die<br />

Stimmung eines Gedichtes. Ich fantasiere eine Geschichte<br />

zusammen, die zum Schatten passt. Ich<br />

halte mich im Dunkel des Portals. Jetzt singe ich<br />

ein Lied auf das Leben. Es ist wunderbar und seltsam.<br />

Das Leben. Reich, stromend — man kann es<br />

nicht ausdenken.<br />

Dass man sich in Hauser einsperrt! Dass man<br />

nicht wandert, immer weiter! Wie eingezwangt<br />

lebt man das Leben, das wunderbare, mit seinen<br />

zarten Sonnenuntergangen, mit der Weite des Himmels<br />

und der Erde, ja mit seiner Grosse und Weite.<br />

Fast unbegrenzt ist es, und wir leben es wie — wie<br />

Leute, die fortwahrend was zu verlieren haben.<br />

Aengstlich lebenwir's.einfach feige, und jedenfalls<br />

ohne Grosse und Weite. Wie in einer Eierschale<br />

leben wir, beengt und vorsichtig, dass wir ja nicht<br />

die feine Schale zerbrechen. 1st das überhaupt das<br />

Leben? Das ist eine Erbarmlichkeit! Jetzt, jetzt,<br />

wie der Regen herunterprasselt, ich atme das, die<br />

Baume stehen wie geduckt und schwer atmend,<br />

ich rieche das, ich — der Teufel, ich gehe hinüber<br />

und klingle. Aber da ist gar kein Licht mehr und<br />

kein Schatten. Und der Himmel beginnt zu dümmern.<br />

36


Liebe<br />

Liebe ...<br />

Liebe Liebe Liebe liebe liebe Liebe Liebe Liebe<br />

Liebe Liebe Liebe ...<br />

Ich kann nichts anderes sagen, nichts anderes denken.<br />

Ich liebe wahnsinnig, bin ganz verriickt davon.<br />

Sie ist gar nicht da, ich weiss nicht, wo sie ist.<br />

Aber ich werde sie wiedersehen. Oder auch nicht.<br />

Ich werde krank davon. Es ist gleichgültig.<br />

Ich liebe ...<br />

Liebe liebe Liebe Liebe Liebe Liebe Liebe liebe<br />

liebe liebe —<br />

Das ist wunderbar. Und schmerzlich. Furchtbar<br />

schwer. Aber unbedingt das Wunderbarste, was<br />

es gibt — ohne das, ich wollte nicht leben, ich<br />

kann mir das Leben ohne das gar nicht vor^<br />

stellen.<br />

Es ist ja ein Unding: ein Leben ohne Liebe —<br />

haha, wirklich ein guter Witz.<br />

O ich liebe ...<br />

Man kann das im Grunde nicht sagen. Es ist eine<br />

Sache, ganz für einen selbst. Und dann: es hinausschreien<br />

...<br />

Sie lieben ja auch alle. Der Kondukteur und der<br />

Milchman. Und all die Madchen, überhaupt jeder,<br />

jeder, ich weiss es, dass sie ganz wahnsinnig lieben,<br />

so, wie sie es selber gar nicht wissen. Ich weiss es<br />

besser! Sie könnten ja gar nicht bestehen ohne<br />

eine alles überströmende Liebe, ohne dieses —<br />

Aus dem Weg gehen? Selbstverstandlich. Gehen Sie<br />

37


nur vorbei, ich mache Platz. Was kummert mich<br />

dieser Narr, der mir da auf die Füsse tritt. Der<br />

Teufel hole ihn, ungeschickter Patron! Ich liebe,<br />

ich liebe —<br />

Sie hat mir nicht mehr geschrieben, seit — ich<br />

weiss nicht. Ob ich je noch einen Brief bekomme?<br />

Hier ist die Luft reiner. Etwas Baume, ein kleiner<br />

Teich. Nicht mehr diese erdrückenden Steinmassen<br />

—<br />

Ehrlich gestanden, habe ich noch nie einen Brief<br />

von ihr bekommen. Ich stelle mir das nur so vor.<br />

Es ware — nun einfach — ich glaube nicht, dass<br />

ich es aushalten konnte.<br />

Ich sehe morgens nach der Post. Wahrhaftig, ein<br />

Brief! Von wem? Ich kenne die Handschrift nicht,<br />

aber ich weiss es sofort, es ist kein Zweifel möglich,<br />

dieser Brief ist von ihr. Von — und dann<br />

würde ich den Brief nicht öffnen. Ich würde ihn<br />

eine Stunde bei mir tragen, ohne ihn zu öffnen.<br />

Auch dann würde ich ihn nicht öffnen. Einen<br />

ganzen Tag lang nicht. Vielleicht noch langer.<br />

Nein, sein Inhalt kann mir unmöglich soviel Glück<br />

bringen, wie — dass sie mir geschrieben hat. Ich<br />

glaube sogar, der Inhalt würde mich etwas enttauschen.<br />

Einfach weil ich zuviel — aber kann<br />

man jemals zuviel lieben?<br />

Ja, ich glaube beinah, dass ich sie zuviel liebe.<br />

Es muss sie schliesslich langweilen, so einer wie<br />

ich, der eigentlich nichts anderes tut, als nur zu<br />

lieben und sonst — sonst? Es muss sie langweilen,<br />

d.h. wenn sie es wüsste. Wenn sie eine Ahnung<br />

hatte. Aber ich hüte mich, sie es merken zu lassen.<br />

38


Und doch, natürlich würde ich nichts lieber, als<br />

er irgendetwas für sie tun. Und dann? dann? das<br />

c, Dann interessiert mich nicht.<br />

Liebe . .. Ich will immer davon reden,<br />

li Ich will sie Euch beschreiben, sagen, wie sie ist.<br />

•? Sie ist schmal und ein wenig hasslich, ja, der<br />

er Mund ist nicht ganz so, wie er sein sollte, ja —<br />

s- nein, das lasst sich nicht beschreiben. Man kann<br />

nur einen Menschen beschreiben, die ausseren Foref<br />

men eines Menschen, aber niemals das Besondere,<br />

r. Einzige.<br />

ss Nun bin ich wieder zu Hause angelangt, zu Hause,<br />

d.h. auf meinem Zimmer, das kahl und gleichn<br />

• guitig, etwas unaufgeraumt und billig ist. Hier<br />

t, riecht es immer nach — ich erinnere mich von<br />

g- früher dieses Geruchs, aber weiss nicht, was es<br />

in ist.<br />

in Ich stelle mir vor, dass sie zu mir kommt, bei<br />

n. jedem Gerausch auf der Treppe stelle ich's mir<br />

>n vor. Und dann — vorbei. Die Schritte gehen weir.<br />

ter, vorbei an meiner Tür, die Treppe hinauf.<br />

•k Man muss schon, denke ich, ein Liebhaber der<br />

li Liebe sein, wenn man das alles ertragt — die —<br />

t- nun ja, all die Enttauschungen. Denn, genau bem<br />

sehen, erlebe ich doch nur Enttauschungen. Sie<br />

kommt nicht, sie schreibt nicht, ich sehe sie nicht<br />

e. — es ist schwer zu ertragen, wenn man doch so<br />

e fürchterlich liebt — und bestimmt halte ich das<br />

a nicht mehr lange aus. Marie sagte gestern, dass<br />

ï, ich sehr schlecht aussehe, und wirklich ist mir<br />

g ganz elend zu Mute. Es ist doch alles aussichtslos<br />

i. und so gar keine Hoffnung. Hoffnung? Worauf?<br />

39


Was hoffe ich denn? Ich weiss es selbst nicht. Aber<br />

immer so zu lieben und nur zu lieben, keinen andern<br />

Gedanken zu haben als diese Liebe — gewiss,<br />

gewiss, ich bin bereit zu leiden, das Aeusserste zu<br />

leiden, ich will mich nicht schonen, aber dies ist<br />

doch wirklich, nicht wahr, allzu hoffnungslos.<br />

Ich liebe immerzu und dann — so leer wird es<br />

plötzlich. So unwirklich, das Leben, alles, der Kopf<br />

wird leer, ich kann es mir nicht mehr vorstellen.<br />

Es miisste etwas geschehen. Aber es geschieht rein<br />

garnichts. Alle Menschen gehen und sind beschaftigt,<br />

aber ich — ich gehe zu Miidchen. Es lenkt<br />

mich ab. Aber dann komme ich wieder auf mein<br />

Zimmer. Schliesslich komme ich doch immer wieder<br />

auf mein Zimmer. Und dann — ich kann nicht,<br />

ich kann nicht. Ich liebe doch, ich liebe — bin ich<br />

denn ganz allein, bin ich denn wirklich der Einzige?<br />

Ach, ich hatte davon nicht sprechen sollen. Niemals.<br />

Das war der Fehler. Ich war so voll davon.<br />

So ganz — Und nun? Zu spat!<br />

Ich habe es gesagt, und nun bin ich wirklich einsam.<br />

Ausgestossen von alien. Ich habe wohl irgendetwas<br />

Unverzeihliches getan.<br />

40


Der Brief<br />

Geliebte ... Liebe ... Geliebtes ...<br />

du Gute, Schutzgeist, du Gute du, du Schone, Liebe,<br />

du Liebe denkt Richard und schreibt:<br />

Eva<br />

das malt er in unsichern rundlichen Buchstaben.<br />

Bei jedem Zeichen zögert er, alle Töne, alle Süsse<br />

malt er in das eine Wort. Wird sie's horen?<br />

O dass ihm doch die Beschwingtheit der sprachebeherrschenden<br />

Dichter geworden ware! jetzt beneidet<br />

er sie um ihre Macht. Wird sie fühlen, dass<br />

alle Innigkeit und Sehnsucht, deren ein Mensch<br />

(— eben so einer wie er — das ist es ja leider —<br />

ah — schrecklich, schrecklich * —) fjihig ist, in<br />

diesem Wort versammelt ist? Wird sie den Klang<br />

horen ihres vor Ueberfülle des Herzens wie gestammelten<br />

Namens?<br />

Richard zweifeit dran, der Zweifel macht ihn<br />

traurig. Und dann — was bleibt ihm auch sonst<br />

— überlasst er's dem Schicksal: Vielleicht! hofft<br />

* niemand kann aus seiner Haut — was soil er tun?<br />

Sich ganz geben, das Letzte — so wird doch wohl<br />

ein Menschliches zum Vorschein kommen, das wert<br />

ist, von einem Menschen geliebt zu werden. Alles,<br />

alles für den geliebten Menschen.' (so wird selbst<br />

ein Ricard unwiderstehlich —) ... Wenn er doch<br />

nur eine bessere Meinung von sich selbst hatte!...<br />

Ja, verglichen mit den andern! — wie sagte damals<br />

41


er — etwas von dieser Liebe muss doch haften<br />

bleiben am Brief, wenn ers auch nicht schreiben<br />

kann, wenn auch ein langer Tag vergeht, bis sie<br />

Mest, was er nicht hat schreiben können.<br />

Gaspard?: „Mit einem Bekannten verglichen bin<br />

ich ein Mensch, mit einem Menschen verglichen<br />

ein Esel" — Gut getroffen, so war es — ah ein<br />

Mensch wollte er sein, wenn auch nur ein kleiner<br />

Mensch, ein echter, für sie — und war nicht ein<br />

wirklicher Mensch in jedem Fall was Grosses! Für<br />

sie — er — ein Mensch — das musste sie aufrütteln<br />

aus ihrem Wahn, aus dieser kiinstlichen Welt des<br />

Kopfes zur wahren Wirklichkeit des Lebens — er<br />

wird den Alb der kranken Vergangenheit verscheuchen<br />

and an die Stelle derTrugbilder die volle Glut<br />

des immer gegenwartigen, immer sich erneuernden<br />

Augenblicks setzen. Durch die unerklarliche<br />

Liebe zu ihr fühlt er sich hierzu fahig, er, der<br />

kleine, der dumme Richard. Ja, wenn er doch<br />

immer dumm und klein bleibe! aber hatte er nicht<br />

seine heroischen Standen, in denen er Herschergesten<br />

oder spöttische Ueberlegenheit mimte —<br />

eine schlecht fundierte Ueberlegenheit! — Aber<br />

sie wird ihn heilen, ihn bessern. An ihr entfachen<br />

sich seine besten Fiihigkeiten, die schaffenden: er<br />

wird ein Mann sein nnd sie zu einer Frau machen!<br />

Dieses Madchen hat das Zeug zu einer wunderbaren<br />

Frau — er denkt an ihre besten Stunden: da<br />

sprach er und handelte, ohne zu denken, nicht er,<br />

ein Grösseres durch ihn; er fühlte sich in Einklang,<br />

gehorsam der unbegreiflichen Natur, ge-<br />

42


tragen von ihren unerhörten Gesetzen. Diese Stunde!<br />

das war die Wahrheit, das Leben — kein<br />

Gedanke! —<br />

Liebe Liebe du Liebste du Liebe —<br />

er sieht ihren Körper ansgestreckt, vom sanften<br />

Mondlicht die Plastik ihrer Gieder umschimmert,<br />

umdammert, nach den Seiten im Dunkel sich verlierend.<br />

Entzückt, begeistert, ganz von Inbrunst<br />

überflutet stretcht er zartlich über die festen Hügel<br />

und vibrierenden Ebenen. Er kann sich nicht satt<br />

sehen, nicht satt fühlen an der nachthell verschleierten<br />

Schönheit dieses geliebten unerweckten englischen<br />

Körpers und fliistert süsse zarte nuttige<br />

Worte, die mehr sind als Worte. Für sie: eine<br />

Bestdtigung, eine Wiedergeburt ihres Glaubens an<br />

sich, die Gewissheit einer neuen Blütezeit.<br />

Richard sieht das alles, hort es, riecht, schmeckt,<br />

fühlt die Geliebte, Sehnsucht überwaltigt ihn, umdunkelt<br />

ihn. Ohne Kraft malt er:<br />

dein Richard<br />

dann faltet er den Brief zusammen<br />

43


Bettelknabe<br />

Armer Knabe, Bettelknabe —<br />

Schenkt ihm eine kleine Gabe!<br />

Weiss denn einer, was er schenkt<br />

Und woran der Knabe denkt?<br />

Unser Knabe liebt Geschmeide<br />

Schone Kleider, Pelze, Seide.<br />

Arme, Beine im Bewegung<br />

Sehen ist ihm schon Erregung<br />

Handschuh, Schuhchen, alles Schicke<br />

Nascht, erhascht er mit dem Blicke<br />

Wenn so viele Fraun vorbeigehn<br />

Möchte er sich fast ent&èhweisehn.<br />

Und du gehst und schenkt ihm was<br />

Und du denkst, das ware was<br />

Denn er dankt dir so begliickt —<br />

Denn dein Gang hat ihn entziickt!<br />

So von euren tausend Gaben<br />

Schenkt ihr immer armen Knaben<br />

Doch ihr wisst nicht, was ihr schenkt<br />

Und der Bettelknabe denkt


U eb er die Unwissenheit<br />

Es ist beinah ausgeschlossen, dass man — ich<br />

meine: einfach dumm bleibt. Ich meine, es ist<br />

völlig ausgeschlossen, dass man so dumm bleibt,<br />

wie man geboren ist. D.h. warum sollte man nicht<br />

so dumm bleiben? Vielleicht noch sogar ein gutes<br />

Stuck dümmer werden? Die Dummheit sozusagen<br />

„entwickeln", gerade so wie man — nun zum Beispiel<br />

die Intelligenz entwickeln kann. Das scheint<br />

mir sogar ein sehr richtiger Gedanke: warum sollte<br />

sich die Dummheit nicht entwickeln lassen, genau<br />

wie die Intelligenz? Nur hat bisher noch niemand<br />

ein Interesse daran gehabt, sie bei sich selbst zu<br />

entwickeln, und daher blieb sie immer in ihrem<br />

Anfangsstadium stecken. Man war vollkommen zufrieden<br />

mit der Portion Dummheit, die „an sich",<br />

„als solche" bereits vorhanden war.<br />

Was ist überhaupt Dummheit? — Ich meinte etwas<br />

ganz anderes. Ich meinte nicht so sehr die Dummheit<br />

wie die Unwissenheit. Man kann, das wollte<br />

ich sagen, doch nicht — und mag man noch so abgeschlossen<br />

leben — unmöglich nichts von — nun<br />

sagen wir — den neuen Erfindungen — und so —<br />

horen. Man kann unmöglich nichts zu horen kriegen<br />

eben von all dem Neuen, das auf unseren Erde<br />

geschieht und geschaffen wird. Die Publikationsmittel<br />

sind auch so unerhört entwickelt, und gerade<br />

die Leiter dieser Publikations- und Popularisationsmittel<br />

sind versessen auf alles Neue, dessen<br />

sie nur habhaft werden können. Und ausserdem<br />

45


sprechen doch alle davon, jederman wird durch<br />

das Neue in Erstaunen versetzt, argert «ich dariiber<br />

oder begeistert sich daran, bleibt jedenfalls nicht<br />

völlig gleichgültig dem Neuen — nennen wir es<br />

einfach „das Neue" — gegeniiber. Und wenn es<br />

auch nur die Sache weniger ist, auf dieses Neue<br />

griindlicher einzugeben, sich genauer zu unterrichten<br />

— jederman wird jedenfalls etwas davon<br />

lauten horen. Und dies Gelaute geniigt ja den<br />

meisten (zu denen auch ich gehore), sie wollen ja<br />

meistens nur diese ungewisse Anregung des Neuen<br />

haben, um dann jeder auf seine Weise dariiber<br />

weiter zu phantasieren — was dann manche nennen:<br />

sich ein Urteil bilden.<br />

Mir geniigt es z.B. schon, wenn ich nur so etwas<br />

Ungefahres zu horen kriege, so die allgemeinsten<br />

Ideen und Richtlinien des Neuen — damit bin ich<br />

dann schon ganz zufrieden. Mehr Genaueres über<br />

so eine neue Sache zu erfahren, würde mich kaum<br />

interessieren. Ich würde es ja doch nicht verstehen<br />

— zumal da ich von dem alten Vorhandenen, mit<br />

dem ich grossgezogen bin, weit über die Halfte<br />

noch nicht verstanden habe.<br />

Ich meinte also, dass selbst die Dümmsten, die<br />

Allerungebildetsten und eben Dümmsten doch von<br />

diesen jeweilig neuen Dingen etwas werden lauten<br />

horen. Und das wird eben doch eine Veranderung,<br />

eine Korrektur ihrer "Weltanschauung zustande<br />

bringen — mag dann diese Weltanschauung auch<br />

nichts anderes sein als ein dumpfes, allgemeines<br />

Gefühl dem Leben und den nachsten Dingen gegenüber.<br />

46


Früher habe ich natürlich die Dummheit wie diese<br />

dumpfenAIlgemeingefühle gründlich verachtet. Bis<br />

ich merkte, dass ich selber dumm und eigentlich<br />

Kaum anderer als solcher unklaren Gefühle fahig<br />

bin. Darauf verachtete ich mich selbst — anders<br />

ging es ja garnicht. Das musste so sein. Doch langsam<br />

verlor die Selbstverachtung ihre Kraft — ich<br />

nahm mich hin, wie ich war — das Leben besiegte<br />

meine Vorurteile. —<br />

Also wir horen von dem Neuen einige Klange bis<br />

in unsere abseitige und stumpfe Welt dringen, und<br />

das bringt unser Denken in Bewegung — obgleich<br />

von eigentlichem folgerichtigen Denken bei unsereinem<br />

nicht gut die Rede sein kann. Unser Denken<br />

— das ist ja auch nur so eine Gefühlsduselei.<br />

Natürlich muss es Leute geben, die dies Neue, von<br />

dem wir horen, genau kennen, bei denen es entstanden<br />

ist, also die grossen klaren Geister, die<br />

Uebermenschen.die sich oft,wenn man ihre nahere<br />

Bekanntschaft macht, als einfache nette Leute entpuppen.<br />

Uebrigens nicht immer. Manchmal sind es<br />

wirklich ganz unertragliche Uebermenschen. Uns<br />

mit ihnen zu vergleichen ware glattweg Iacherliche<br />

Ueberhebung. Aber leider will es das Unglück, dass<br />

wir—im Gegensatz zu früher, zu unserer geliebten,<br />

etwaswirren.begeisterten und lacherlichen Jugendzeit.wo<br />

wir so vieles verachteten und bewunderten<br />

— dass wir im Gegensatz zu damals vor Lacherlichkeiten<br />

keine Angst mehr haben, und tatsachlich<br />

zuweilen einen Vergleich zwischen uns, den gewöhnlichen<br />

Menschen, und jenen Grossen, den<br />

Schöpfern des Neuen, anstellen, der, versteht sich,<br />

47


zu unseren Ungunsten ausfallen muss, aber doch<br />

immer einen ganz eigenen prickelnden Reiz für<br />

uns hat.<br />

Das Neue aber bewegt uns — soweit an uns etwas<br />

zu bewegen ist — auf eine besondere Art; auf eine<br />

andere Art als das Alte. Das Alte, mein Gott, das<br />

war ja schon immer da, schon ich weiss nicht wie<br />

lange. Das gehort bereits früheren Zeiten an, Menschen,<br />

die vor uns lebten, haben sich schon damit<br />

beschaftigt. Unser Verhaltnis dazu ist eigentlich<br />

schon vorausbestimmt. Ganz besonders aber hat<br />

sich jene Zeit mit dem Alten auseinandergesetzt,<br />

in der das Alte neu war. Eben wie wir uns — und<br />

gehören wir auch zu den Dümmsten — auf ganz<br />

besondere Art mit demheutigenNeuen auseinandersetzen.<br />

Dies Neue gehort ja irgendwie zu uns, es ist<br />

doch von derselben Zeit wie wir, es ist zeitgenössisch,<br />

es enthalt Gegenwart. Es mag so absurd sein<br />

wie es will — und zunachst erscheint es fast immer<br />

absurd — selbst das Vernünftigste, wenn es ungewohnt<br />

neu ist, sieht wie eine Fratze aus — jedenfalls<br />

ist es, wenn es auftaucht, von heute und jetzt,<br />

und wir als Jetztlebende haben dabei einWörtchen<br />

mitzusprechen. Wir sind, und wenn wir auch<br />

nichts weiter als unsere dumme Meinung darüber<br />

sagen können, doch sozusagen mitgestaltend an<br />

dem Neuen, an dem Gegenwartigen wirksam. Das<br />

ist es wohl, was das Neue als etwas von unserer<br />

Zeit, alsAusdruck der Gegenwart wichtig für unser<br />

Leben macht, dass wir uns unwillkürlich gedrungen<br />

fühlen, dazu Stellung zu nehmen. Was Plato<br />

oder Sokrates gesagt haben, damit mochten sich<br />

48


die Griechen damals auseinandersetzen, ja sie mussten<br />

es einfach tun. Für uns gehort das schon mehr<br />

zum Luxus. Dagegen das Neue, das die Gegenwart<br />

ausmacht — die Gegenwart, die doch noch immer<br />

das grösste Ereignis des Lebens, unseres Lebens<br />

ist, mag die Vergangenheit auch noch so glanzvoll<br />

gewesen sein — das Neue gehort zu uns und wir<br />

zu ihm. Da können wir uns nicht drücken.<br />

(Da ist mir versehentlich etwas ungeheuer Kluges<br />

entschlüpft: Die Gegenwart ist das grösste Ereignis<br />

des Lebens. Das ist ja eine geradezu aufregende<br />

Bemerkung. Na, Schwamm drüber. Lassen wir die<br />

Bemerkung über uns ergehen, wie wir auch den<br />

grössten Teil des Lebens und sogar der Gegenwart<br />

über uns ergehen lassen — Genug davon.)<br />

Also da hatten wir drei Punkte: erstens die Dummheit,<br />

das Unwissen, das ich für meinen Teil, was<br />

mich persönlich betrifft, als gegeben betrachte. —<br />

Früher hielt ich mich, versteht sich, für ziemlich<br />

klug; als ich namlich gerade anfing, ein paarDinge<br />

zu begreifen, so mit vierzehn Jahren ungefahr. Die<br />

paar Dinge, die ich damals begriff, wurden aber<br />

schnell wesenlos gegenüber der wahrhaft riesenhaften<br />

Menge von Dingen, die ich keineswegs begriff,<br />

— und zwar nicht einmal so sehr wegen<br />

meiner Unintelligenz nicht begriff, sondern aus —<br />

Geistesstumpfheit. Es interessierte mich einfach<br />

nicht, sie zu begreifen. Wir brauchen ja zum„eigentlichen"<br />

Leben so wenig zu begreifen. Ich liess also<br />

die Dinge, die mir nicht „lagen", meinen angeborenen<br />

Neigungen nicht entsprachen, fast unbeachtet.<br />

Und so sind sie mir denn auch ganzlich fremd und<br />

49


unbekanntgeblieben.Und ich kann mich ohne eitle<br />

Bescheidenheit zu den Unwissenden rechnen.<br />

Dann hatten wir zweitens das Neue, das es heutzutage<br />

in unserer Welt gibt, und das ich in meiner<br />

Unwissenheit summarisch „das Neue" nenne, das,<br />

was es friiher in dieser Weise nicht gegeben hat,<br />

die neuen Ideen, Anschauungen, Erfindungen, Einrichtungen,<br />

Formen usw. usw.<br />

Und drittens die Tatsache, dass selbst die Ungebildetsten,<br />

Dümmsten und Unwissendsten unmöglich<br />

von diesem Neuen nicht berührt werden können.<br />

Was aber nun dies Neue gerade heute, in unserer<br />

Zeit, in unserer Gegenwart ist, das zu sagen scheint<br />

mir, einem Unwissenden, ausserordentich schwer.<br />

Ich glaube sogar, dass es selbst einem Wissenden,<br />

einem der auf der „Höhe seiner Zeit" lebt, schwer<br />

fallen wiirde, dies klar zu sagen, denn nichts ist<br />

wohl schwerer, als einen Ueberblick zu haben über<br />

eineZeit,inder man selbst lebt,an der man also mit<br />

all seinen Begrenzungen tatigen Anteil nimmt. Eher<br />

wird vielleicht sogar derAbseitige, z.B.jemand, der<br />

in einem Lande wohnt, in dem es keine akuten<br />

Lebensprobleme gibt (also auch keine zu lösen gibt),<br />

der verhaltnismassig unbeteiligte, ungegenwartige<br />

Lebensbeschauer das alles richtig, nüchtern, objektiv<br />

sehen und auch ausdrücken können. Nur wird<br />

er wahrscheinlich keinen Drang verspüren, es auszudrücken,<br />

denn: es geht ihn ja nicht brennend an.<br />

Er lasst alles auf sich beruhen, hierin dem chinesischen<br />

Weisen Shnelnd: „und alles kommt in Ordnung".<br />

Er verschmaht die Fehler des Handelns,<br />

jene notwendigen Fehler, die jede Tat unumstöss-<br />

50


lich in sich schliesst. — Von ihm haben wir also<br />

keine Aufklarung zu erwarten.<br />

Da ich, wie schon bemerkt, nicht denEhrgeiz habe,<br />

etwas Kluges oder durchaus Richtiges zu sagen,<br />

will ich trotz aller Schwierigkeiten versuchen, dies,<br />

unser heutiges Neues, naher zu bezeichnen.<br />

Um es so umfassend wie möglich zu sagen: alles<br />

lauft darauf hinaus, uns zu beweisen, dass die<br />

Dinge nicht so sind.wiewir bisher annahmen, dass<br />

sie seien. Unsere Erlebnisse, die sich auf das Gefühl<br />

beziehen, werden samt und sonders ihres<br />

wesentlichsten Bestandteils, ihrer unmittelbaren<br />

Echtheit beraubt. Man fühlt namlich nicht so, wie<br />

man meint zu fiihlen. Man denkt nicht, wie man<br />

denkt zu denken. Nebenerscheinungen oder solche,<br />

die man bisher dafür gehalten hat, werden zu<br />

Hauptsachen. Die Umwertung aller Werte ist eine<br />

greifbare Tatsache, ein dauernder Prozess. Die Erfindungen<br />

auf technischem Gebiet könnten einen,<br />

der sich für Technik nicht interessiert, kalt lassen,<br />

wenn nicht auch der Uninteressierte zugleich feststellen<br />

miisste, das gerade sie es sind, die die Menschen<br />

mehr als alles andere verandern.Die altesten<br />

übernommenenGrundbegriffe bef inden sich in Auf -<br />

lösung. Die Zeit ist keine Zeit, der Raum kein Raum<br />

mehr. Das Atom hat langst seine Bedeutung verloren.<br />

Es dient zu rein nichts mehr — wahrend<br />

früher auf ihm die Welt nebst ihrer ganzen Entwicklung<br />

ruhte. Der Glaube ist für einen erwachsenenMenschen<br />

selbstverstandlich einUnding usw.<br />

Das ist nur Einiges, aber es ist schon genug. Ich<br />

meine, es ist genug für einen einfachen Menschen,<br />

51


um sich damit auseinanderzusetzen. Er hat für<br />

Jahre damit zu tun. —<br />

Man wird aus meiner Aufziihlung, wenn auch<br />

weiter nichts, so doch meine absolute Ahnungslosigkeit,<br />

Unwissenheit und Oberflachlichkeit in<br />

diesen Dingen, die ich das Neue nenne, herausgelesen<br />

haben. Ich habe also nicht geflunkert.<br />

Uebrigens erscheinen mir diese Dinge, wenn ich sie<br />

jetzt noch einmal lese, nicht einmal so neuartig, so<br />

ein spezielles Charakteristikum unserer Zeit. Ja,<br />

was ist das denn? Unserm Wissen ist der Boden<br />

entzogen durch eine riesige Masse Entdeckungen,<br />

die noch töglich anschwillt und uns zeigt, dass wir<br />

bisher auf unvollstandiger Kenntnis der Materie<br />

unsere Theorien aufbauten; Tatsachen verfliichtigensich<br />

zuPhantasieerscheinungen.wir kommen,<br />

je mehr Geister und Spukgestalten aus der Welt<br />

weg bewiesen werden, immer mehr dahinter, dass<br />

wir verhaltnismassig eigentlich fast nichts wissen<br />

(ausserdem aber mit diesem Nichtwissen praktisch<br />

doch eine ziemlicheMenge ausrichten können, und<br />

bereits ausgerichtet haben). Na, usw.<br />

Das lüuft für den Einzelnen und natürlich Unwissenden<br />

im Ganzen darauf hinaus, dass er sich auf<br />

nichtsverlassen kann,und jedeMeinung über etwas<br />

für ihn die Gefahr enthalt, dass sie morgen oder<br />

heute bereits schon widerlegt werden kann. Er,<br />

als Unwissender, kann es ja nicht kontrollieren, er<br />

muss hierin den Fachleuten vertrauen. Diese können<br />

allerdings auch wieder von Fachleuten widerlegt<br />

werden, aber sie haben wenigstens ein ganzes<br />

Arsenal von Wissen, ttie sie den Fachleuten, die sie


widerlegen wollen, entgegensetzen können. Was sie<br />

denn auch tun.DerUnwissende kann das nicht; der<br />

sieht nur, dass wieder mal etwas widerlegt ist. Die<br />

Situation stellt sich also ungefahr folgendermassen<br />

dar: alles, was wir wissen, wird fortwahrend widerlegt.<br />

Es ist zwar alles nicht gerade genau umgekehrt,<br />

wie wir bisher annahmen, dass es sei, aber<br />

jedenfalls anders. Und da kann man denn begreifen,<br />

dass einer ganz gern zu den Unwissenden gehort.<br />

Er braucht sich nicht fortwahrend zu korrigieren.<br />

Sagen wir mal grobweg: das Wissen ist eine Sache<br />

fürSpezialisten geworden.Diese können mehr oder<br />

weniger scharf umschreiben, was sie nicht wissen.<br />

Sie sind überhaupt in jeder Hinsicht praziser, genauer,<br />

deutlicher als der Unwissende. Für den<br />

Unwissenden gibt es aber — will er nicht dem<br />

fürchterlichsten Dilettantismus verfallen —. nur<br />

„Schweigen und Zusehen". Er weiss eben heute<br />

mehr denn je „überhaupt nichts". Das tatsachliche<br />

Wissen ist derart dem einfachen Leben entrückt,<br />

es bewegt sich auf so raffinierten Höhen, ist so<br />

kompliziert und abgründig, das der Laie am besten<br />

den Mund halt und garnicht erst den Versuch<br />

macht, sich eine Meinung zu bilden. Die Meinung<br />

kann ja doch nur auf Unwissen und Irrtum beruhen.<br />

Es fehlt ihm ja die Grundlage: dieKontrolle<br />

der Tatsachen. Er muss alles auf Treu und Glauben<br />

hinnehmen. Sollte er doch eine „richtige" Meinung<br />

haben, so muss er das demZufall danken. Ein folgerichtiges<br />

Denken an Hand von Tatsachen ist ihm<br />

unmöglich, weil er nicht alle der Wissenschaft<br />

gegenwartigen Tatsachen kennt. Eine Meinung ist<br />

53


ei ihm das Gleiche wie Aberglauben. Er sollte sich<br />

darauf beschranken, zu sagen: ich finde das schön;<br />

das unschön, das gefallt mir, das missfallt mir —<br />

also ganz imPersönlichen bleiben. Von richtig oder<br />

unrichtig im Sinne eines Urteils sollte er überhaupt<br />

nicht sprechen, von Weltanschauung ganz und gar<br />

absehen. Ueber Dinge reden, von denen man nichts<br />

oder fast nichts weiss, so reden, als ob man wüsste,<br />

ist doch nur Snobismus, eine leere Seifenblase: sie<br />

schuiert ganz hübsch, aber nicht einmal einem<br />

Luftzug halt sie stand, geschweige einem Stoss mit<br />

dem Seziermesser des Eingeweihten.<br />

Man mag mir nun glauben oder nicht, es ist doch<br />

wahr: dass, als ich anfing, dies alles zu sagen, ich<br />

keineswegs dieAbsicht hatte,zu irgendeinemResultat<br />

zu kommen, einen Schluss zu ziehen. Ich fing<br />

an zu reden, weil ich zufallig in einem Buch eine<br />

Stelle las (— vielmehr man las sie mir vor —), dass<br />

der Glaube an Gott einfach ein unentwickelt gebliebener<br />

Rest, ein Ueberbleibsel aus der Kindheit<br />

der Menschheit sei.<br />

So spricht ein Wissender, ein kluger Mann, ein<br />

Mensch mit tiefen Einsichten. Er iveiss es.<br />

Mir scheint zwar sehr wahrscheinlich, was er sagt,<br />

sehr einleuchtend (ich bewundere ihn sogar darum),<br />

aber ich weiss es nicht. Plötzlich ging mir ein Licht<br />

auf: ich kann so etwas garnicht wissen, ob Gott<br />

existiert oder nicht — wie kann ich es wissen,<br />

wenn er es mir selbst nicht beweist. Beweist er mir<br />

jedoch seine Existenz, so können alle Menschen<br />

beweisen, dass er nicht existieren kann—für mich<br />

existiert er dann doch. Und umgekehrt.<br />

54


Solches und vieles andere konnte man sagen, noch<br />

viel Gescheites — aber was ware damit gewonnen?<br />

Tatsachlich kann ich es nicht wissen, mir fehlt<br />

dazu die Kenntnis der Anhaltspunkte. Und darum<br />

sollte ich schweigen und — keine Meinung haben.<br />

Früher hielt ich es selbstverstandlich für meine<br />

Pflicht, mich um jedes und noch was zu kümmern,<br />

mich für alles zu interessieren, mir alles klar zu<br />

machen.<br />

So eine Art „höheresPflichtgefühl". Einem schwebte<br />

so etwas wie ein universeller Mensch vor, so ein<br />

All-Mensch.<br />

Nun, dieses Pflichtgefühl hat sich verloren.<br />

Jetzt meine ich, man sollte weniger meinen, weil<br />

man es doch nicht wissen kann.<br />

Doch auch das ist vielleicht schon „zuviel gemeint".<br />

55


D E R J U N G L I N G<br />

Unsere eigenen Verhaltnisse blieken<br />

wir immer sehr zartlich an<br />

(Serenus an Seneca)<br />

Material für eine Biographie<br />

W^ir sind Schöpfer? — Auch das. — Und dann<br />

sind wir Sammler von Material. Und dann sagen<br />

wir: da habt ihr das Material, werdet damit fertig,<br />

wie ihr wollt und könnt.<br />

Vergebens suche ich den Ausdruck für meine Liebe,<br />

für das Liebliche. Unsere Zeit der dröhnenden<br />

Technik, Geschrei, Rekorde ist nicht geschaffen für<br />

das Zarte. Dies Wunderbare muss schweigen. auch<br />

wenn es schwer fallt. In den Augen, im Anschaun<br />

mussen wir Trost finden. Diese Zeit ist dazu geschaffen,<br />

eine unstillbare Sehnsucht zum Innigen<br />

zu zuchten. Die Dichtungen früherer Jahrhunderte<br />

vergegenwartigen uns die Armseligkeit unseres<br />

eigenen Zustandes. Wenn wir still sind, wenn wir<br />

uns zurückziehen — das ist das Zeichen, dass wir<br />

grenzenlos lieben.<br />

Wenn es mir gelingt, den Dingen gegenüber Distanz<br />

zu wahren, werde ich meist die poëtische Note<br />

treffen.<br />

Dann auch der Phantasie Spielraum gönnen. D.h.,<br />

es gibt Phantasie, die sich am GegenstSndlichen<br />

56


entzündet. (Das ist die der Tatmenschen.) Ich meine<br />

eine, die zur Dichtung führt; verführt.<br />

Nicht undeutlich sein und nicht eindeutig, sondern<br />

vieldeutig sein.<br />

Den Sinn für psychologische Atmospharen beim<br />

Leser anregen.<br />

Nichts mit Nachdruck erstreben. —<br />

Uebrigens: warum sollte ein Buch auf jeder Seite<br />

gut sein?<br />

Wenn man dabei ist, sich die Begriffe von gut und<br />

böse oder schlecht abzugewöhnen, hat man die<br />

Pflicht, auch schlechtes nicht zu streichen.<br />

Wer die Spielregeln kennt, und sich also einrichtet,<br />

der wird in den meisten Fallen ohne viel Aufhebens<br />

das Gescheite tun. Die aber, die ihr Herz<br />

als Einsatz geben, beunruhigen sich bei den geringsten<br />

Anlassen. Immer übertreten sie die Gesetze,<br />

suchen Möglichkeiten, auch wo die TJnmöglichkeit<br />

klar zu Tage liegt. Was liegt ihnen am<br />

Erreichen! Mag der Meister sich in der Beschrankung<br />

zeigen — wir wissen, dass wir keine Meister<br />

sind, und darum plagen uns unsere Grenzen.<br />

Sie zu sprengen, machen wir stets aufs Neue<br />

die erstaunlichsten Anstrengungen, entfalten einen<br />

unverstandigen Aufwand an Gefühl. Wohl ein albernes<br />

Schauspiel für die besser, die gesunder Organisierten,<br />

die sich mit den Gewohnheiten der<br />

Welt glücklicher abfinden. Doch von Zeit zu Zeit<br />

beugt sich die Regel unserm Ansturm des Empfindens,<br />

das Ungewöhnliche wird Ereignis, und wir<br />

erf reuen uns einer herzhafterglühenden Ausnahme.<br />

57


Hera ist von den Madchen der farbigste Typ.<br />

Schwierig, ihr gerecht zu werden. Ich bin dazu<br />

nicht imstande. Doch ich merke, dass die Unpersönlichkeit,<br />

die im Handeln und in der Kunst<br />

Schwache bedeutet, für das Verstehen von Menschen<br />

und Werken von Vorteil sein kann. Ich<br />

glaube, besser zu verstehen. Ja, so viel besser zu<br />

verstehen, dass ich keine Erklarung mehr wage,<br />

ja, zu Zeiten sogar keine Handlung wage. Weil jedes<br />

Für und Wider, jede Helligkeit und jeder Schatten<br />

mir gleich gegenwartig sind.<br />

Und doch bin ich in Hera verliebt — und ware das<br />

keine Handlung, keine Entscheidung?! Ich liebe<br />

sie und, wie immer in solchen Fallen, ergere ich<br />

mich an ihr. D.h. ich übersehe „das Wichtige".<br />

Kleinigkeiten können mich aufbringen, mich aufbrauchen.<br />

Sie entscheiden plötzlich meine Neigungen.<br />

Wem aber dies an mir missfallt, den versöhne der<br />

Umstand, dass ich selbst meine Eigenschaften am<br />

furchtbarsten ausbaden muss. Habe du es einmal<br />

mit einem verkehrten Wesen zu tun! Da donnern<br />

Wetter, Berge stiirzen ein, dass eine lacherliche<br />

Maus geboren werde.<br />

Wie bewundere ich das Madchen, das mich zu nehmen<br />

weiss. Und Hera weiss es. Sie weiss mich in<br />

Wut zu setzen und zu versöhnen: das Spiel treibt<br />

sie gerne.<br />

Ich vergesse mit ihr die Zeit, da ich intensiv gegenwartig<br />

bin. Unverlegen sieht sie mir ruhig und<br />

spitzbübisch in die Augen — lassen Augen sich<br />

sagen? Da muss man hineinsehen! Und wirklich,<br />

58


ich sehe mich satt. — Dann werfen die Lippen<br />

sich auf, der Bliek wird verschwommen, die Arme<br />

strecken sich aus, und ich bin auf einmal recht<br />

gleichgiiltig.<br />

Sie begreift nicht, warum, und ich begreife es auch<br />

nicht. Aber plötzlich ist das Gefühl wie zerhauen:<br />

ich sehe nur noch ein grosses Kalb und langweile<br />

mich ungeheuer.<br />

Bewahre uns, o Taktgefühl, das Paradies, in dem<br />

wir wandeln, zwei Verliebte<br />

Nicht falie das verhangnisvolle Wort: Ich liebe dich<br />

Lass noch weiter<br />

Uns mit Vernunft und Trieb Verstecken spielen<br />

und verhüte<br />

Bejahrte bitterste Ehrfahrung, schlimme Reife<br />

Was irgend einem Ende ahnlich sehe<br />

Selten unterstützt das Leben vorgefasste Absichten.<br />

Es schiebt zwischen unsern ersten Gedanken und<br />

das Resultat Unvorhergesehenes, Neuigkeiten: die<br />

Situation ist verandert — und wer wollte sich auf<br />

die Dauer dem Leben widersetzen?<br />

So verzichten wir auf gedachte Resultate und lassen<br />

uns von unsern eigenen Unternehmungen überraschen<br />

und treiben, als ob es sich um fremde<br />

handelte.<br />

So alt wie ich bin, weiss ich wenig mit meiner<br />

Zukunft anzufangen.<br />

Wenn wir auch tausendmal unser Schicksal vorausbestimmen<br />

— wird es uns noch als dieselben<br />

59


antreffen, die wir im Augenblick sind? Wie verkehrt<br />

sind alle Voraussichten — in den folgenden<br />

Minuten.<br />

Andrerseits: wenn wir wirklich unser Denken<br />

sparen wollten — hatten wir wirklich etwas gespart?<br />

Im Gegenteil. Ich würde fürchten, als reicher<br />

Mann zu sterben.<br />

Eine zahe Neugier, die Sinnlichkeit besonnt den<br />

Weg.<br />

Hilf meinemTraum, gib meiner Sehnsucht Ziele. —<br />

Verderbliche Zweckmassigkeit!<br />

Wenn es mir gelingt, mich unklar auszudrücken,<br />

werde ich behaupten, etwas gewonnen zu haben.<br />

Nur nicht belehren.<br />

Nur nichts erklaren.<br />

Verstehe doch, worin der Zusammenhang liegt!<br />

Nicht im Sinn. Nicht im Sinn. Dann lag er ja auch<br />

im Unsinn.<br />

Und worin er wirklich liegt?<br />

Wenn der Arzt seine Mittel verrat, würden die<br />

Menschen weniger krank sein?<br />

Gönne ihnen ihr Unbehagen. Sie leben nicht zweimal.<br />

Und sollten hier die Erregung eines Missvergnügens<br />

versaumen!<br />

Edle Weisheit, die lehrt, dass wir nach dem Tode<br />

keine Gelegenheit mehr zum Unglück haben. — O<br />

Herr, ich verzeihe dir deine Sünden nicht, ich<br />

koste sie.<br />

Ich versuche, mich selbst möglichst richtig zu<br />

60


sehen. Jedoch nicht um der Wahrheit willen. Ich<br />

mache mir Spiegel. Das ist es. Und das nicht einmal<br />

wegen der Eitelkeit.<br />

Lotte liebt die Wahrheit. Sie sagt einem die unangenehmsten<br />

Dinge ganz unverblümt. Das nennt<br />

sie: einem die Wahrheit sagen.<br />

Ich mache mir Spiegel. Und von Zeit zu Zeit<br />

erhasche ich einen Blick, einen guten Blick, einen<br />

Ueberblick.<br />

Es hat etwas für sich, nichts zu besitzen: man<br />

tauscht sich weniger, durchschaut besser. Man muss<br />

immer und überall sich selbst einsetzen, da man<br />

sonst nichts einzusetzen hat. Und zum Versetzen<br />

auch nichts.<br />

Ich habe im Augenblick nur Schulden. Wenn ich<br />

jetzt sterbe, würde ich eine Menge Geld sparen.<br />

Was mir leicht fallt?<br />

Schweigen — zu Zeiten. Auch viel sprechen —<br />

manchmal. Dann: schweifend zu denken an dies,<br />

an jenes.<br />

Manchmal fallt mir leicht, wass mir manchmal<br />

schwer fallt.<br />

Nichts besonderes.<br />

Ah — ich liebe, ich liebe (aber sollte das nicht<br />

besser Geheimnis bleiben?) das Unausgesprochene.<br />

Wenn mich Madchen schlecht behandeln, wenn<br />

meine Eitelkeit gekrankt wird — dann, im Stillen,<br />

nachher, lachle ich — über mich.<br />

Nie mehr (denke ich) wird es mir so ernst sein,<br />

61


dass ich nicht noch ein Lacheln gewanne —<br />

spater —<br />

Ganze Haufen litt ich — früher — noch vor kurzem<br />

— ja auch zu leiden fallt mir leicht. Ich leide<br />

schnell, leicht und viel. Da ist es denn vernünftig,<br />

harmloser zu sein, als man es ohnehin schon ist —<br />

„die ganze Geschichte nicht so tragisch nehmen"<br />

— das erleichtert vieles.<br />

O Himmel, segne uns.<br />

TJns, die wir mehr besinnen als handeln, die wir<br />

mehr beachten als beachtet werden, die wir Dinge<br />

bedenken „dünn wie das Gedachte" und unter<br />

unserer eigenen Sonne nicht gedeihen wollen.<br />

Vergiss uns nicht!<br />

Heile uns. Verdamme uns. Tue jedenfalls irgend<br />

etwas mit uns. Für das Uebrige werden wir schon<br />

sorgen. Und wenn du zuviel tust, werden wir vom<br />

Gegenteil hinzutun.<br />

Man lernt, das kann man wohl behaupten, mit dem<br />

Aelterwerden ziemlich unangenehme Dinge.<br />

d.h. man konnte das auch so ausdrücken: man<br />

merkt immer deutlicher, dass sogar das Aelterwerden<br />

(und darauf hatten wir gehofft) (denn die<br />

Jugend denkt sich allerhand hinter der Fassade<br />

des Alters, dass sie noch nicht übersehen kann) —<br />

dass also das Aelterwerden unser Wesen nicht geeigneter<br />

und geneigter macht, der Welt und den<br />

Menschen, wie sie nun einmal sind — und dass wir<br />

sie nicht andern können, das wissen wir ja endlich<br />

auch durch und durch — sich zu bequemen.<br />

62


Auch wenn wir Vorurteile und Illusionen losgeworden<br />

sind,dieLagewird dadurch nicht erspriesslicher.<br />

Die Gefiihle haben wir so griindlich analysiert,<br />

dass uns nur mehr die gefallen mogen, bei<br />

denen wir das Denken vergessen. Und sollte es etwa<br />

Beobachtungen geben, die wir noch nicht angestellt<br />

hotten in Bezug auf die schöpferische Schwache<br />

der Menschen? Heisst Ansichten haben nicht, das<br />

Leben der Gegenwart vorwegnehmen, ihm seine<br />

Wirklichkeit rauben? Gleichen Absichten, die sich<br />

auf andere beziehen, mogen sie sichFreiheit.Glück,<br />

Verbesserung nennen, nicht den sogenannten verbrecherischen<br />

Handlungen wie Mord und Diebstahl?<br />

Wenn alles „Gute" seinen Lohn in sich tragt,<br />

so können wir auch niemand mehr „edler Taten"<br />

wegen bewundern, denn so ein Mensch ist nur ein<br />

Lohnknecht — und so sind wir auch die Achtung<br />

losgeworden. Im „Durchschauen" sind wir Meister,<br />

wir zucken die Achseln über den Erfolg, der<br />

uns doch immer nur die Kleinheit unserer Ziele<br />

vor Augen führt, und Reichtum kann uns gewiss<br />

nicht imponieren. Und dennoch drangen wir uns<br />

zu einem Werk. Dass muss allerdings (so weit sind<br />

wir nun) rein privater Natur sein.<br />

O eigner Weg voll Peinlichkeit, Verlegenheit.<br />

Welche Wohltat, andere verlegen zu sehen. Auch<br />

sie, denke ich, auch sie! Nicht ich alleine —<br />

So wird alles Grosse und Grosszügige den verkleinernden<br />

kleinen Schlagen unzahliger Minuten unterworfen.<br />

Wir fühlen uns den Besten nahe in den<br />

Augenblicken, da auch sie nicht wissen, wo rechts<br />

63


und links — da gewinnen sie unsere Herzen. Die<br />

Schwache verbindet uns ihnen, Starke treibt uns<br />

auseinander.<br />

Die sich selber wollen — welche Nachfolger werden<br />

die haben? Bedeutungslose! Schatten!<br />

O eigner Weg voll Peinlichkeit, Verlegenheit.<br />

Kahle möblierte Zimmer, in denen sich unsere<br />

Hauptsachen abspielen. — Es ist Frühling. — Ich<br />

öffne das Fenster, um auf eine tote Mauer zu sehen.<br />

Hier verkümmre ich, hier entfalte ich mich, hier<br />

bin ich ich. Wo anders könnt ich besser leben?<br />

Vielleicht wird etwas, ein kleines, von uns iibrig<br />

bleiben. Aber noch besser, wenn etwas von uns da<br />

ist, wenn wir da sind.<br />

Sich seinemSchicksal anschmiegend, seine Stimme<br />

erlauschend, seinem Ruf folgend.<br />

Ich habe oft versucht, Ordnung zu schaffen. Die<br />

Umstande (das Leben) sind dagegen. Sie scheinen<br />

die Unordnung mehr zu lieben.<br />

Ich habe mir vorgenommen, weder an meine Vergangenheit<br />

noch an die Zukunft zu denken. Dass<br />

man sich das auch noch vornehmen muss! Nein,<br />

ich werde es mir lieber nicht vornehmen.<br />

Dösen, mit einem schönenNamen:traumen, unnütz<br />

sein, unbrauchbar — es hat etwas Anziehendes.<br />

Sich der Gedanken entschlagen: das ist das grosse<br />

Geschenk, das wir uns selber machen können.<br />

Wie ein Dichter schlendern.<br />

Los von allen Verhaltnissen, ausser den eigensten.<br />

So ware das Leben — in jedemFall — zu geniessen.<br />

64


Selbst Krankheit ist dem Dichter erlaubt, ja angemessen.<br />

Auch müde kann er sein. Auch narrisch<br />

sein. Auch andere Gebrechen stehen ihm wohl an,<br />

machen ihn zuweilen noch poëtischer. Als Gesunder<br />

ware er verpflichtet, hier und da handelnd einzugreifen.<br />

Unser Verhaltnis zur Welt entsteht dadurch, dass<br />

wir handeln. Würden wir uns auf unsere Dichterrolle<br />

beschranken, zwecklos und schauend sein,<br />

wie es uns geziemt, wir waren ganz brauchbare<br />

Menschen.<br />

Indessen, wir vergessen nur zu oft, was wir ohne<br />

Umstande sein sollten.undverderben uns so manche<br />

gute Stunde. Wahrend unsere Umgebung uns das<br />

Gorgonenhaupt des Ziels und Nutzens vorhalt, uns<br />

mit dem furchtbarenBlick der materiellen Notwendigkeit<br />

hypnotisieren will, solltenwir uns in unsere<br />

eigenste Dichterhaut zurückziehen, d.h. nicht einmal<br />

zurückziehen, sondern einfach bleiben, wo wir<br />

sind und wo wir also hingehören.<br />

Aber: auch diese Haltung hat ihre Schattenseiten.<br />

Denn ganz ohne Handlung können wir unmöglich<br />

sein. So bekommt alles, was wir zu tun uns veranlasst<br />

fühlen,für uns eine übermiissigeBedeutung.<br />

Wir verlieren ein gut Teil der Leichtfertigkeit, die<br />

wir, um treffend zu handeln, doch auch nicht entbehren<br />

können.<br />

Der Dichter leidet zuviel unter „kleinen Verfehlungen".<br />

Zuviel? — Nein!<br />

Gerade das bezeichnet ihn als den Menschen, dessen<br />

Aufgabe nicht im Derben endet.<br />

65


D E R A U S F U H R L I C H E<br />

J U N G G E S E L L E<br />

(Bemerkungen unterivegs)<br />

HEFT I<br />

Du findest meine Arbeit schlecht? Macht nichts.<br />

Ich schreibe zu meinem Vergnügen.<br />

Ich hatte —<br />

Ich wünschte —<br />

Ich —<br />

schwer den Anfang zu finden<br />

Da ich wenig zu sagen habe, wahlte ich ein umfangreiches<br />

Thema.<br />

Schwierigkeit zu leben<br />

An und für sich würde man es ja nicht aushalten —<br />

aber das Leben selbst hilft einem immer wieder<br />

über das Leben hinweg oder es ertragen.<br />

Früher wollte ich immer etwas.<br />

Wie viel besser ist es, die Gelegenheiten wahrzunehmen.<br />

Und welche Delicatesse, Gelegenheiten<br />

vorbeigehen zu lassen.<br />

Die wir allen Reizen des Lebens offen stehen, werden<br />

uns auch den Wirkungen der Sensationen der<br />

Oberflache nicht entziehen.<br />

66


zu-<br />

Iten<br />

Ich war überzeugt, das Richtige zu wollen. Herrliche<br />

Zeiten, in denen man von etwas überzeugt ist.<br />

Und dann noch gar von etwas „Richtigem".<br />

Sobald ich Berechnungen in meine Handlungen einbeziehe,<br />

habe ich keine Freude mehr an ihnen. Nur<br />

die Handlung ohne Absicht belohnt mich.<br />

Darum: Zwecklosigkeit — das ist meine Berechnung.<br />

Stets wenn ich glaubte, eine Form des Lebens gefunden<br />

zu haben — aber auch sonst hatte ich über<br />

Mangel an Irrtümern nicht zu klagen.<br />

Zuerst dachte ich, man müsste sich den Menschen<br />

gleichmachen, um ihnen zu gefallen. Dann lernte<br />

ich einige kennen die gerade die liebten, die anders<br />

waren als sie — aus Ueberdruss an der eigenen Art.<br />

Manche liebten jemand wegen einer kleine Merkwürdigkeit<br />

oder ausgesprochener Fehler. Gecken,<br />

Verbrecher, Blödsinnige, alle erfreuten sich aus gewissen<br />

Gründen der Zuneigung gewisser Kreise,<br />

aus Gründen, die mit aller erdenklichen Logik im<br />

Voraus nicht zu bestimmen waren.<br />

Was sollte man tun, um den Menschen zu gefallen?<br />

Und welchen Menschen wollte man gefallen? Natürlich<br />

den Einzelnen! Den Persönlichkeiten.<br />

Denen aber gefiel kraft individuellen Geschmacks<br />

immer etwas anderes. Es war vergebliche Mühe,<br />

hier „bewusst" etwas erzielen zu wollen. Also kam<br />

ich zu dem Schlus, dass wegen der Unmöglichkcit<br />

des Unternehmens das Richtigste war, nicht gefal-<br />

67


len zu wollen. Stattdessen meinte ich lieber verachten<br />

zu sollen. Verachtung schien es, würde mir<br />

wenigtens die Achtung der besten der durchschauendsten<br />

Köpfe sichern. Verachtung und Gleichgültigkeit<br />

für die andern. Selbst wenn da keine hinreichenden<br />

Grunde zum Verachten waren. Man<br />

musste aus sich ein „Geheimnis" machen. Das Unverstiindliche<br />

schien am meisten Aussicht zu haben.<br />

Ehrfurcht und Interesse einzuflössen.<br />

So ungefahr formte es sich in meinem Hirn, was<br />

man schliesslich eine Meinung nennt, und bestimmte<br />

für eine Woche meine Haltung den Menschen<br />

gegenüber.<br />

Früher sagte man: Der Mensch ist so und so. (Das<br />

war ziemlich einfach).<br />

Jetzt heisst es: der Mensch ist immer anders. (Und<br />

w r<br />

ehe ihm, wenn er es nicht ist, wir würden sehr<br />

bald das Interesse an ihm verlieren.)<br />

Erfolge, die sich aus Irrtümem ergehen<br />

Ich schreibe eine kleine Geschichte von Johnnys<br />

Eifersucht. Spater lese ich sie Ruth vor.<br />

Jetzt gibt mir Ruth immer, wenn Johnny da ist,<br />

einen Kuss. (Sonst nie.) Die Geschichte von John­<br />

nys Eifersucht hat gefallen.<br />

Friihling<br />

Im nahen Nachtigallenwaldchen wandeln die Liebespaare.<br />

Sie halt mir ihre Wange hin, die ungeliebte,<br />

und ich küsse sie folgsam wie ein Hündchen.<br />

68


(Das<br />

Der Hagestolz<br />

Ich war allein-ich bins allein<br />

Glückseligkeit, allein zu sein<br />

Ich war zu zwein, ich war einmal zu zwein<br />

Gelegentlich, welch Glück, zu zwein zu sein<br />

Auch mal zu drein kann reizend sein<br />

Doch wieder dann zurück<br />

Doch wahres Glück allein<br />

Bei mir-allein.<br />

Unvergessliches<br />

Das Erlebnis mit Eline wird mir immer unvergesslich<br />

sein, d.h. ich weis eigentlich nur noch, dass es<br />

mir unvergesslich sein würde.<br />

An das andere erinnere ich mich nicht mehr.<br />

Ich sagte: Wenn man hier im Café sitzt und sich die<br />

Leute anschaut, dann findet man doch, dass man<br />

der einzige vernünftige Mensch hier ist.<br />

Ja, sagt er, so wenig Phantasie hat man.<br />

69


HEFT II<br />

Alles hangt von unserer Anschauung ab. Aber unsere<br />

Anschauung hangt nicht von uns ab.<br />

Schweigen ist Gold. Ich hange nicht am Golde.<br />

Das Leben zwingt einen oft, sich zu aussern, auch<br />

wenn man nichts zu sagen hat.<br />

Denen es selbstverstandlich ist.<br />

Scherz für ungut.<br />

Wie soil einer schreiben, der schweigt, wenn er<br />

etwas zu sagen hat?<br />

Ich habe etwas zu verheimlichen. Also schreibe ich.<br />

Immer wieder siebzejhnjahrige, achtzehnjahrige,<br />

zwanzigjahrige. Wahrend ich alter werde.<br />

Er schwieg und strahlte aus: Mannlichkeit. Ein<br />

Blick, ein Handedruck, ein Streicheln. So wirkte<br />

er: herzverbrecherisch.<br />

Dass er kein Dichter war, wusste er, darum schwieg<br />

er. Schwieg er, hatte er etwas von einem Dichter.<br />

Die Sympathien strömten ihm zu, umsummten ihn.<br />

Er flatterte, schaukelte in der Süsse, im Duft des<br />

„Neigens der Herzen". Er konnte lachen, wenn er<br />

daran dachte. War glücklich untatig aussen, überschwenglich<br />

gefahrlich unsichtbar.<br />

Unmöglich auch nur den Schatten jener Fülle von<br />

70


Gedanken und Empfindungen einzufangen, die ihn<br />

bei seinen Unternehmungen bewegten. Allein schon<br />

die Sensation frischer Wasche beschwingt seinen<br />

Geist auf hervorragende Weise. Ihm gehorte die<br />

Welt, d.h. was wichtiger war, jene Frau, auf die er<br />

es abgesehen hatte. Im Kopf vereinigte er Lilly,<br />

Lucie, Lore, Laura, Liane und Lu zu einen Bouquet<br />

voll ununterbrochener Reize. Die wichtigsten Spekulationen<br />

wurden abgründig erwogen, mit nacheifernswerter<br />

Liebe gab er sich dem Thema seiner<br />

Verführungen hin.<br />

Ah, wie bald verschwindet der Anlass zu unsern<br />

Taten, und nur sie selber bleiben und fordern mit<br />

eigenem Leben ihre Gesetze. Nur anfangs sind wir<br />

die Schöpfer unserer Handlungen, die uns, fortgeschritten,<br />

an der Leine führen. Eben noch bedachten<br />

wir die Welt, und schon sind wir sie in<br />

eigener Person, da denn ein rechter Ueberblick<br />

versagt bleibt.<br />

Warum handelte er? Diese Frage warf er vergangenen<br />

Epochen zu. Er handelte jetzt. Die Schwarmerei<br />

des Betrachtens wich der der Taten.<br />

Er kostet in der Wirklichkeit den Luxus ungenutzter<br />

Situationen, Beziehungen, die das Unmögliche<br />

versprechen, bricht er ab.<br />

Wenn ihn mehr das Temperament oder die Angst,<br />

zu kurz zu kommen, die Eitelkeit, zu versaumen,<br />

die Neugierde, den Spannungsgrad der unbekannten<br />

Materie zu erproben, hinreisst, den Augenblick<br />

auf die Spitze zu treiben, bereut ers mit einem<br />

Nachgefühl von Geschmacklosigkeit.<br />

71


Durch Unvollendung der Phantasie Spielraum lassen<br />

— das belohnt den wahren Künstler in uns,<br />

der nichts mehr ersehnt als die „Kultur der feineren<br />

Sinnlichkeit".<br />

Was er wollte? Er wollte nichts. Er wollte: immer<br />

verliebt sein.<br />

Reizen nachgehen, sich begeistern, jagen, erhaschen,<br />

erobern, sich entziehen, müde sein und von<br />

neuen Reizen befeuert werden.<br />

Offen für alles Unerwartete, frei für alle auftauchenden<br />

Möglichkeiten.<br />

Gelegentliches mitnehmen. Den Zufall umarmen,<br />

ihn entwickeln, erschöpfen, auspressen — und unberührt<br />

bleiben.<br />

Schaudern vor dem Bleibenden. Sich durch Dauer<br />

belastet, geangstet fühlen. Ein ungenaues Verhaltnis<br />

zur Welt, zu den Menschen in seinen nicht<br />

zu bezeichnenden Grenzen bewahren. Seiltanzerkunst.<br />

Und das durch viele Jahre.<br />

Er verausgabt seine Energie im Ausbalancieren der<br />

verschiedenen Anforderungen, die man an ihn<br />

steilte, und der eigenen Wünsche, die ihn bald in<br />

gemütliche oder frivole Umgebung zogen, bald die<br />

besondere Frau umspielen liessen. Vor Resultaten<br />

schreckte er zurück. Die Furcht, sich einmal festzulegen,<br />

entwickelt seine Fahigkeiten des Gleitens,<br />

Jonglierens, Durchschlüpfens auf den höchsten<br />

Punkt, der fast ohne Vergleich ist und eigentlich<br />

72


l lasuns,eine-<br />

rhavon <br />

von niemand gehorig geschatzt wird, da er niemand,<br />

nur dem Künstler, und auch ihm zweifelhaft,<br />

zugute kommt.<br />

Für ihn ist es Zeit, schweigend die Gefühlstonleiter<br />

auf und ab zu laufen.<br />

Sie sprechen, sprechen, sprechen stundenlang über<br />

sichselber. Heute kommt nichts dabei heraus. Anderes<br />

entscheidet. Wenn sie redet, denkt er, dass<br />

sie eine grosse Nase hat, die in absehbarer Zeit<br />

noch grosser zu werden verspricht. Grobe Züge.<br />

Er antwortet und merkt, dass, um auszudriicken,<br />

was er sehr bestimmt im Blute hat, ihm die Heeresmacht<br />

der Adjektive mangelt. Er müsste ein Buch<br />

schreiben, um eine einzige dieser aus dem Urgrund<br />

seiner sehr unbestimmten Natur kommenden „atmospharischen"<br />

Empfindungen zu beschreiben.<br />

Er müsste ein Buch schreiben oder schweigen.<br />

Stattdessen reden sie stundenlang.<br />

Das Resultat ist: eine Stimmung.<br />

Ich selbst, sagte er, bin selbst etwas naiv und werde<br />

es bleiben. Das ist die Blutzusammmensetzung.<br />

Vielleicht wird es mir kraft Ueberlegung sogar gelingen<br />

(wenn man mir Zeit lasst), in einigen Fallen<br />

das Passende zu tun. Doch wird das nie spontan<br />

geschenen. — Wenn ich meine verschiedenen unwillkürlichen<br />

Situationen durchgehe, muss ich<br />

mich auslachen. Das ist peinlich einer Frau gegenüber.<br />

Aber welcher Mann ist denn der Eroberer,<br />

wie die Frau ihn ertraumt? Und wie schuljungenhaft<br />

ist im Grunde der Eroberer!<br />

73


Und dann lachelt die Frau, und wieder ist er blamiert.<br />

Sie braucht nur zu lacheln — er aber muss<br />

reden, reden. Manchmal verrat einen Schweigen<br />

mehr. Und darum redet er immer, damit sie nicht<br />

merkt, dass er keine Persönlichkeit ist. Er denkt<br />

Frauen fliegen auf Persönlichkeiten. Obwohl er<br />

schon hundertmal böse werden musste, weil sie<br />

ihm mit einem Esel untreu wurden.<br />

Friiher meinte er manchmal, was er sagte. Jetzt<br />

hoffte er, es nicht denken zu mussen.<br />

Seine Zeit mit Glück versaumen.<br />

Sollte es nicht gelingen, das Unberechenbare zu<br />

f ixieren!<br />

Sogar<br />

Es konnte Nachwirkungen haben.<br />

Hatte sogar welche.<br />

Aber welche?<br />

Und von welchen Anlassen konnte man sie ableiten?<br />

Vorgefasste Ideen eines Junggesellen.<br />

Das Leben ist kurz. Wie Frauenliebe. In der Kürze<br />

liegt die Würze.<br />

Die Leute denken, wir verführen zu unserm Vergnügen,<br />

wahrend wir einem Pflichtgefühl folgen.<br />

Ehe denn die Ehe war und die Gesetze zum Schutz<br />

der Impotenz erfunden wurden, warst du o gött-<br />

74


licher Funke der Geschlechtlichkeit von Ewigkeit<br />

zu Ewigkeit.<br />

Frauen sind Naturereignisse.<br />

Wenn man die Frauen begreifen will, muss man<br />

sich nicht zuviel Gedanken über ihre Handlungen<br />

machen. Sie machen sich auch keine.<br />

Manner kennen Frauen auf eine Art, wie Frauen<br />

die Frauen nie kennen können.<br />

Ich trage es jedem Madchen ernsthaft nach, wenn<br />

ich mich nicht in sie verlieben kann.<br />

Wenn man verliebt ist, benimmt man sich dumm;<br />

aber noch dümmer ist es, nicht verliebt zu sein.<br />

75


HEFT III<br />

Denn wenn wir wussten, was wir schreiben —<br />

würden wir schreiben?<br />

Mit dem Zerstören anfangen. (Dem Zerstören dessen,<br />

was man nicht geschaffen hat.)<br />

Das Ende vorwegnehmen, indem man verrat, worauf<br />

das Ganze abzielt.<br />

Auf den Anfang zuschreiben.<br />

Im Augenblick, da man endet, das Interesse begraben.<br />

Dem Unbekannten nicht vorbeugen durch<br />

Ansichten oder Formen.<br />

Jeden Augenblick des Schreibens zu inspirieren<br />

suchen. Das kann zum Teil durch rechtzeitige<br />

Unterbrechungen geschehen.<br />

(Ein kahlgeschorener Mann, der einen prachtvollen<br />

Haarwuchs hat — das ist immerhin etwas!<br />

Aber wem nur mehr sparlich die Haarchen kommen,<br />

mag er doch kahl geschoren gehen, es hat<br />

wenig zu bedeuten.)<br />

Die grossen (versteckten) Möglichkeiten erzeugen<br />

die grosse Spannung im Werk. (In dem Kahlkopf<br />

den Haarschopf ahnen lassen!)<br />

Und wenn wir sagten, wir harten keine — war<br />

nicht auch das — Weltanschauung!<br />

Sich aussern, ohne sich zu verraten: der Gipfel des<br />

Zu-Erreichenden.<br />

Es gibt Gedanken, die verbirgt man am besten<br />

dadurch, dass man sie ausspricht. Ueberhaupt ist<br />

76


des-<br />

wor-<br />

die Oeffentlichkeit ein sicherer Schlupfwinkel für<br />

die, die die Wahrheit über sich versteekt zu halten<br />

wünschen.<br />

Ich will allein sein, also begebe ich mich ins Getiimmel.<br />

Es war so, dass wir für unsere Seele ein paar neue<br />

Landschaften brauchten. Aber immer wieder neue?<br />

Wohin sollte das fiihren? (Wohin hatte das schon<br />

geführt?!) Warum sollten wir unsere Gefühlskrafte<br />

nicht auch einmal statt in die Breite in die Tiefe<br />

projizieren? Es kam auf einen Versuch an. Ein<br />

Versuch, der uns möglicherweise die Freiheit<br />

kostete.<br />

Wir sind das Opfer unserer Bedürfnisse. Unsere<br />

Wünsche, wenn sie erfüllt sind, zeitigen eine traurige<br />

Leere und Verlassenheit.<br />

So bekamen wir es über, oberflachlich zu sein.<br />

Reisen: oder vor sich selber davonlaufen, wahrend<br />

man sich sucht.<br />

Man kommt auf Reisen im besten Fall um die<br />

Erde, selten zu sich selbst.<br />

77


Im Vorüber<br />

Blicke hinter dem Buffet,<br />

wenn ich wo zu Mittag speise,<br />

oder irgends auf der Reise<br />

lacheln sie aus dem Coupé.<br />

Auf den Strassen im Vorüber<br />

winken Augen: bist ein Lieber.<br />

Das ist überall ein Ueben<br />

im Vorübergehn zu lieben.<br />

Am Meer<br />

Am Meer — dies ist das Gerausch<br />

Ein Haus — dies ist die Kulisse.<br />

Sie — er — das ist das Lustspiel.<br />

Gesehen durch die Augen eines Trottels.<br />

Ein blonder Kopf zerzaust vom Wind.<br />

Eine spöttische Grimasse, von Mondlicht beglanzt<br />

und beschattet.<br />

Die Wellen donnern in der Dunkelheit. Lichter<br />

blitzen da vorne und hinten, wenn man gute Augen<br />

hat.<br />

Augen, die lebendig lachen, die Menschen leuchtend<br />

verachten.<br />

Augen, die nur lieben, deren Innigkeit wie Wasser<br />

schwimmt, können nicht so scharf sehen.<br />

„Geliebter"<br />

„Beruhige Dich."<br />

Mit schlechter Stimme ein Lied, alter Schlager<br />

78


einer Grosstadt Europas, oder ein Kindervers gegen<br />

den Sturm gerufen. Zitate aus allen Landern, Lebenslagen<br />

und Hamlet. Mit dem Stock im Sand getappt,<br />

sie eingehenkt, stolpert mit, er, ein junger<br />

Mann, markiert altere Mannlichkeit.<br />

Zuriick ins warme Haus. Klavier geschlagen. Schuhe<br />

aus, indem die andre Hand ein Buch rauslangt.<br />

Pfeife stopfen. Tee und: Trautes Heim — Glück<br />

allein.<br />

Wie dann plötzlich ungekannte Gebiete Leben<br />

(für uns) gewinnen. Eben noch kritisierten wir<br />

heftig, da wirft uns ein Wind in eine nie erwartete<br />

Ortschaft, in ein verpöntes Milieu, in uns<br />

fernliegende Umstande, und schon erfüllt der Herzschlag<br />

dieser totgemeinten Gegend uns selbst.<br />

Oder gerade das Pulsieren der Dürre zieht uns so<br />

machtig an, dass wir Stadte und Betrieb beiseitelassen<br />

und uns in die Intensitat der sogenannten<br />

Einsamkeit einbeissen und dann behaupten, dass<br />

dort eine Fülle herrsche, die wir an den allbekannten<br />

Platzen und zwischen der Menge vergebens<br />

suchen.<br />

79


HEFT IV<br />

Die wahren Schicksalsschlage werden uns von<br />

denen beigebracht, die wir lieben. Bei den andern<br />

machen wir uns nichts draus.<br />

Ueber manches machen wir uns so unsere eigenen<br />

Gedanken. Und immer andere. Unsere Gedanken<br />

gehören weniger uns als den Stunden und Tagen,<br />

an denen wir sie haben.<br />

Mag es doch immerhin ein Anderer schon gesagt<br />

haben. Sollten wir ihm diese Wahrheit missgönnen?<br />

oder er uns? Wir wollen nicht urn jeden<br />

Preis originell sein, sicher nicht um den Preis<br />

dessen, was wir nicht sagen.<br />

Ueber Erziehung<br />

Jemand tut irgendwas.<br />

Einer bemerkt dazu: aber so etwas tut man doch<br />

nicht.<br />

Ein dritter Jemand regt sich darüber auf, ist empört:<br />

dass einer es tut, beweist, dass man es doch<br />

tut — gegebenenfalls. Man tut es: einfach eben<br />

doch.<br />

Hierzu aussert ein Vierter: es ist wahr: in der<br />

Theorie wird man niemals zugeben, dass man<br />

irgend etwas nicht tut. Man tut alles — gelegentlich<br />

und — je nachdem. Aber andererseits kann<br />

man beobachten, dass diese Aeusserung „Aber so<br />

etwas tut man doch nicht" — so verkehrt sie sein<br />

mag, so spontan gewisse Naturen sie ablehnen wer-<br />

80


den, bei Einigen eine hervorragende erzieherische<br />

Wirkung ausübt: sie tun es wirklich nicht mehr.<br />

Ich meinte, dass sie eine irrige Anschauung vom<br />

Leben hatte. Nach drei Jahren war sie in ihre Anschauung<br />

hineingewachsen, sie steilte sie mit ihrer<br />

Person dar. Jetzt musste ich zugeben, dass sie in<br />

Bezug auf sich recht hatte.<br />

Was mich betrifft, ist ihre Anschauung noch immer<br />

verkehrt.<br />

Es gibt Falie, in denen man aus Verlegenheit herzlich<br />

wird und nachher die Menschen, zu denen<br />

man's war, einfach hasst. Weil sie einen in die<br />

Verlegenheit brachten.<br />

Oder in der Bahn. Du bist wütend, weil der Mensch<br />

dir gegenüber sich ausgezeichnet unterhalt oder<br />

Schuhe trögt, die du albern findest. Er zieht vielleicht<br />

die Augenbrauen hoch, und du haltst ihn<br />

deshalb für so dumm, dass du ihm gern ein paar<br />

reinhauen möchtest. Keineswegs hattest du übrigens<br />

den Mut dazu. Und du, um dich selbst zu<br />

lautern, bietest ihm höflich deine Zeitung an. Oder<br />

machst unangenehme Gerausche, um ihn zu beleidigen.<br />

Ich für mein Teil schreibe in dies Heft und driicke<br />

dadurch allen Mitreisenden meine Verachtung aus,<br />

die ich für sie empfinde, weil sie rein nichts von<br />

meinen Angelegenheiten wissen.<br />

Briefe über die man sich argert, soli man zerreissen,<br />

bevor man sie gelesen hat.<br />

81


Vorsicht!<br />

Wie gerne lassen wir Erfahrungen, die wir selbst<br />

teuer bezahlt haben, anderen zu gute kommen.<br />

Wie zurückhaltend sollten wir in der Beziehung<br />

sein!<br />

Es ist was Fatales um einen lehrhaften Menschen.<br />

Ich möchte verkünden: Liebe, die sich auf dringt,<br />

führt zu Katastrophen.<br />

Aber ich beherrsche mich und bin still.<br />

Verstehen? Etwas verstehen, oder Menschen? Ich<br />

weiss nicht.<br />

Verstehen Sie jemand? Ja, Sie meinen? Da haben<br />

Sie Gliick.<br />

Aber nun denken Sie mal an Margot, die tatsachlich<br />

falsch versteht, und für ihr eigenes Leben<br />

doch richtig — da wird einem schwindlig. Sie<br />

lebt ein konsequentes eigenes Leben mit einem<br />

Haufen von tatsachlich falschem Verstehen. Angenommen<br />

jetzt, sie würde das alles richtig verstehen,<br />

konnte sie da noch ihr eigenes Leben so<br />

konsequent leben? Oder: in wieweit werden wir<br />

durch richtiges Verstehen an uns selber verhindert?<br />

Wahrscheinlich sollten wir uns mit Verstehen<br />

gar nicht so lange aufhalten. Aber dann<br />

wieder: für den Einen ist gerade diese Beschaftigung<br />

sein Vorwartskommen. Es ist ja doch unmöglich,<br />

alle Seiten in Betracht zu ziehen, von<br />

denen man ein Licht auf eine Sache werfen konnte.<br />

Wir sind immer aufs Neue zur Vereinfachung<br />

gezwungen. Oder wir verlieren uns in einem Labyrint<br />

— Und wie gerne verlieren wir uns.<br />

82


Ernst nehmen<br />

Sie nahm sich seblst nicht sehr ernst.<br />

Sie war erstaunlich gross und gut gewachsen.<br />

Es ist merkwürdig, wenn ein grosser Mensch in<br />

vieler Hinsicht von kleinem Format ist.<br />

Dann fand sich jemand, der sie ernst nahm. Und<br />

tatsachlich: sie gewann dadurch.<br />

Er versetzte ihr Komplimente und Peitschenhiebe.<br />

Sie reagierte auf ihn wie ein ernstzunehmender<br />

Mensch.<br />

Ich aber habe keine Lust, Komplimente oder Peitschenhiebe<br />

auszuteilen und darum wird mir diese<br />

Frau niemals blühen, niemals leuchten.<br />

Ich nehme sie nicht sehr ernst.<br />

Ein Unterschied besteht sicher darin: ob wir<br />

einen Menschen auf die gesellschaftlich übliche<br />

Art kennen lernen, d. h., ob uns ein neues Gesicht<br />

gewissermassen serviert wird, oder ob wir eine<br />

Bekanntschaft nach eigenem Gut dunken! vom Zaune<br />

brechen. (Die Raubrittertugenden kommen hier<br />

besser zu ihrem Recht. Es gibt immer Augenblicke,<br />

da es angemessen ist, entschieden durchzugreifen,<br />

wenn man auch sonst vielleicht zarte und empfindsame<br />

Handlungen bevorzugt.)<br />

Manchmal war i c h es, den man sich vom Zaune<br />

brach. Das war weniger nach meinem Geschmack.<br />

Ich werfe mich in den Mantel — tatsachlich: Ich<br />

werfe mich rein, wie ein Abenteurer — und dann:<br />

auf Strassenraub und Unerwartetes.<br />

83


(Liebe füllt die Zeit aus.)<br />

O Gott, der du mir eingabst, Worte der Liebe zu<br />

stammeln, auch da ich nichts fuhlte —<br />

ach sie dachten, Liebe sprache zu ihnen, und sie<br />

erbebten — betrogene Herzen<br />

Uebrigens<br />

Uebrigens gab es sicher einige Tage (und mehrere<br />

Nachte) im Jahr, in denen ich sehr für's Heiraten<br />

war.<br />

Ob ich bei Frauen Erfolg habe? —<br />

Was soil man auf eine oberflachlige Frage recht<br />

Leichtfertiges erwidern?<br />

„Erfolg hat, wer das Nachstliegende ergreift". Es<br />

liegt so nahe, dass es jeder normalerweise ergreifen<br />

kann. Begniige ich mich also mit dem erstenbesten<br />

Nachsten — wie sollte ich nicht allzuviel Erfolg<br />

haben. Wird man wahlerischer, wird auch der<br />

Erfolg seltener und wertvoller.<br />

Habe ich keinen, wo ich ihn wiinsche — vielleicht<br />

wiinsche ich ihn dann nicht mehr.<br />

Habe ich Erfolg, wo ich ihn nicht wiinsche, darf<br />

ich ihn verachten, was meine Einbildung und<br />

Sicherheit machtig starkt.<br />

Gewiss hat man in einigen Fachern seine Routine.<br />

Aber was reizt den edlen Jager: Schwierigkeiten!<br />

Der wahrhaft grosse Liebhaber wird wenig Erfolg<br />

haben — hierin gleicht er dem Unfahigen — da<br />

er ihn an den unmöglichsten Platzen erjagen will.<br />

Daher, wer von sich sagt, ich habe Erfolg bei den<br />

Frauen, verrat seinen mittelmassigen Geschmack.<br />

84


Pech<br />

Liebe ich mal, ist's auch nicht recht. Fahre 3 Stunden,<br />

um — nur um zu sehen, dass sie mit einem<br />

Andern — wollte sie abholen — übrigens: alterer<br />

Herr — übrigens, gehts mich nichts an. Liebe ich<br />

sie vielleicht darum weniger — vielleicht — das<br />

werd ich spater wissen. Augenblicklch sehe ich<br />

nur meine Liebe genarrt — oder ist es beinah eine<br />

Erleichterung? Plötzlich fühle ich mich fahig zu<br />

heroischen Entschlüssen — Lacherlich! — Besser<br />

die sentimentale schrage Haltung bewahren, die<br />

mir steht wie der Stab dem Baumchen, das umzukippen<br />

droht. Und doch — und doch — aber es<br />

soil nicht sein. Schluss. Schnelle Abfahrt hilft mir.<br />

s Das Leben grinst wieder mal über ein seltenes<br />

n reines Gefühl. Und ich mit ihm. Obgleich ich der<br />

n Geschundene bin. — Ja?<br />

g Und was verliert das Madchen? frage ich.<br />

•r Diese Frage lasst darauf schliessen,. dass ich noch<br />

im Besitz meiner Eitelkeit bin: Nichts verloren,<br />

il nichts gewonnen.<br />

Doch! Mein Gefühl für sie! Das gehort unter die<br />

f Rubrik: Unverwüstliche Gewinne.<br />

d<br />

Der Bohémien ist ein Mensch, der das Bürgerliche<br />

nicht hasst, sondern dessen Sehnsucht dahin geht,<br />

ein ruhiges geordnetes Leben zu führen, was ihm<br />

aber infolge seiner Veranlagung nie gelingt.<br />

Der ausführliche Junggeselle ist ein Mensch, der<br />

die Ehe nicht scheut. Er steht zu ihr völlig neutral<br />

(— vor drei Wochen hatte ich geschrieben, er<br />

wünscht sie herbei —). Alle Versuche aber, sich<br />

85


zu verheiraten, missglücken infolge seiner Veranlagung.<br />

Es kommt nie dazu. Und er auch nie.<br />

Einige betrachten den Junggesellen voll Mitleid ob<br />

seiner Einsamkeit, einige voll Neid ob seiner Freiheit.<br />

Einige lassen ihm auch Gerechtigkeit widerfahren.<br />

86


Richard stirbt<br />

Richard war gegen die dreissig, als er starb.<br />

Er hatte schon öfter gekrankelt, aber diesmal hatte<br />

es ihn ernstlich gefasst. Er selber rechnete wohl<br />

damit, dass es nun Schluss sei. —<br />

Eines Tages besucht ihn ein Freund (das bin ich).<br />

Man hatte Richards Bett ans Fenster geschoben.<br />

Der Freund setzte sich zu ihm.<br />

Ich habe das Glück, sagte Richard, dass ich jetzt<br />

hier bin und nicht in der Stadt. Dass ich die Baumkronen<br />

sehe und ein grosses Stuck Himmel. Ich<br />

liebe die Natur, wahrhaftig, mehr als sich denken<br />

lasst. Vor der Natur denke ich nicht, ich bin einfach<br />

da, wie ein Stuck von ihr.<br />

Er war redselig diesen Mittag. — Und der Freund<br />

hörte ihm stille zu.<br />

Ich verstehe nicht, dass ich es soviele Jahre in der<br />

Stadt ausgehalten habe. Und doch wusste ich auch<br />

der Stadt Reize abzugewinnen, aber ich litt auch<br />

unter ihr. Ich litt, wenn ich graue Gesichter sah,<br />

87


die in diese Steinwüste eingepfercht waren, trostlose<br />

Gesichter, befangen in den Suggestionen des<br />

Verkehrs, der Geschafte. Oder keiner Geschafte.<br />

Schreckliche Geschichter gibt es da, furchtbare<br />

Strassen, die wie Anklagen sind, Hauserreihen wie<br />

Faustschlage gegen die Natur.<br />

Und gerade in der Stadt habe ich die Menschen<br />

besonders geliebt, die wie Natur waren. Ich denke,<br />

aus Mangel an Natur.<br />

Hier kann ich ruhig liegen, in die Blatter sehen,<br />

die der Wind bewegt, oder die ruhig im Abend<br />

warten auf die Nacht. Hier liebe ich nicht die<br />

Menschen allein und ich habe auch keine besondere<br />

Sehnsucht nach ihnen.<br />

Oh die Stadt! Mit ihren Steinen, Asphalt, Beton<br />

und Eisen. Es ist kein Wunder, dass man es da<br />

nicht ertragen kann ohne die Frauen. Wenn ich an<br />

sie denke, denke ich an Landschaften. Madchen, die<br />

wie ein See sind mit hohem Schilf an den Ufern,<br />

oder wie ein Wald, durch den einen ein Sturm<br />

führt, oder wie ein Berg, von dem aus man in<br />

Schluchten sieht und über weite Ebenen. Manche<br />

sind auch wie Tiere, Rehe oder Kühe, die auf einer<br />

Wiese stehen — immer ist Natur mit ihnen. Aber<br />

die, an denen die Stadt klebte, konnte ich eigentlich<br />

nicht ausstehen. Stadt hatte ich ja mehr als genug<br />

um mich herum. Landschaften suchte ich! Frauen,<br />

Madchen und junge Manner — es war wohl nichts<br />

anderes als meine Sehnsucht nach der Natur, die<br />

sich in ihnen ein wenig erfüllte.<br />

Ja, und dann wird man alter! Hier liege ich — es<br />

ist wie eine Erfüllung und Auflösung aller Fragen.<br />

88


Baume und Himmel, der Geruch von Gras. Ohne<br />

Sehnsucht! — Hattest Du geglaubt, dass ich ohne<br />

Sehnsucht zu denken bin? ... Aber wozu denken?!<br />

Und auch, dass das alles aufhören wird, finde ich<br />

ganz in der Ordnung. Die Sensation des Alters, sagte<br />

er lachelnd, werd ich nun nicht erleben, aber es<br />

ist garnicht wie ein Verzicht. Es muss auch Leute<br />

geben, die mit dreissig Jahren sterben.<br />

Und da frage ich mich, wenn ich hier so liege, was<br />

ich eigentlich bin — nicht gewesen bin, sondern<br />

im Ganzen bin, Vergangenheit und Zukunft eingerechnet.<br />

Und da merke ich, wenn ich es in Worte fassen<br />

will, dass es entschwindet oder dass es unwahr<br />

wird.<br />

Siehst Du den Vogel da auf dem Zweig. Eine Blaumeise.<br />

Die sitzt da jeden Tag zu gewissen Zeiten,<br />

sie muss ihr Nest in der Nahe haben ... Ein wundervoller<br />

Himmel! —<br />

er sah in die Wolken, die sich langsam fortbewegten<br />

und veranderten.<br />

Der Freund sah Richard an. Er lag da, seine<br />

dunkelgriinen Augen blickten offen, seine Haut,<br />

etwas bleich, das dunkle wenige Haar — das Hemd<br />

bis zum Hals zugeknöpft — man müsste unwillkiirlich<br />

an einen Mönch denken. Der Freund dachte:<br />

ein Mensch.<br />

Ja,was ist man?sagte er.Und was ist man anderen?<br />

Die andern! nickte Richard, den Blick in Wolken<br />

undBliittern.Man begreift sich selber erst an ihnen.<br />

Man wiinscht, ihnen etwas zu sein, etwas Gutes und<br />

Klares, weil man ihnen eben etwas Gutes wiinscht,<br />

89


aus Dankbarkeit, weil man so sehr viel von ihnen<br />

empfangen hat. Weil man sie liebt.<br />

Aber sie haben einen nicht nötig, sie glauben, dass<br />

sie einen nicht nötig haben, und für viele stimmt<br />

das. Wenn ich etwas sein kann, so kann ich nur<br />

wenigen etwas sein, das weiss ich. Wenigen, aber<br />

doch vielleicht mehr als man denkt. Denn unsere<br />

Menschen, das sind die stillen, die, die keinen<br />

Radau machen, und denen die Raudaumacher<br />

wenig anhaben können. — Nein, wir sind nicht<br />

schwach! Man soil das Zarte nicht mit dem Schwachen<br />

verwechseln. Viele, die Krach machen, sind<br />

Schwachlinge, und sie mussen den Larm machen,<br />

um sich selbst glauben zu machen, dass sie stark<br />

seien. Sie sind verdammt schwach. Aber manch<br />

einer von uns hat eine Starke, von denen sich die<br />

larmenden Schulbuben nicht traumen lassen. —<br />

Weisst Du, sagte er lebhaft und sah den Freund<br />

amüsiert an, was mir an mir am besten gefallt?<br />

Dass ich mich von all diesen Leuten, die Heilmittel<br />

und Botschaften predigen, die gross sind im Ausüben<br />

von Suggestionen und einen zu einer bestimmten<br />

Ansicht verleiten wollen — dass ich mich<br />

von niemandem habe verrückt machen lassen. Das<br />

lag daran, (er wurde sehr ernst), dass ich selber<br />

immer noch ein bischen verrückter war als jene.<br />

Ich hatte meine eigene Verrücktheit, an die sie alle<br />

nicht herankamen, und das war — ich selber:<br />

Richard —<br />

Ich spreche schon in der Vergangenheit und bin<br />

doch noch da. Die Gedanken eilen ein Stückchen<br />

voraus.<br />

90


Ich bin noch da ... — das sagte er kaum hörbar.<br />

Plötzlich schlief er. Es schien wenigstens so. Der<br />

Freund hielt sich ruhig auf seinem Stuhl.<br />

Nach einiger Zeit bewegte Richard Kopf und Arm,<br />

sah den Freund aus unruhigen Augen an. Er schien<br />

nicht recht zu wissen, wo er war.<br />

Dann atmete er tief, fast seufzend.<br />

Wie lange habe ich geschlafen, fragte er besorgt. —<br />

Vielleicht fünf Minuten.<br />

Es verging eine Weile. Schweigen.<br />

Ich hatte einmal etwas geschrieben, sagte Richard^<br />

(Er war nicht mehr gelassen wie vor dem Schlaf.<br />

Er beeilte sich mit den Worten.) Von einem Menschen,<br />

der hingerichtet wird, und der nun die Tage<br />

und Stunden bis dahin auf die bestmögliche Art<br />

ausnutzen will. Und was tut er? Was denkst Du<br />

wohl, was er tut? — Garnichts besonderes. Er lebt<br />

genau so hin wie ehedem — das heisst — er ist<br />

natiirlich in seiner Zelle eingeschlossen, und kann<br />

daher nicht viel tun — aber seine Gedanken, die<br />

doch frei sind, zu gehen, wohin sie wollen, machen<br />

gar keine besonderen Spriinge, es gelingt ihm keine<br />

Steigerung oder was man vielleicht einen Schluss,<br />

eine Zusammenfassung nennen könnte.<br />

Ich fiihle, dass das ganz richtig gesehen war. Wir<br />

sind, was wir sind, schliesslich unser ganzes Leben<br />

lang und durch unser Leben — und doch, siehst<br />

Du, ist da ein immerwahrender Wunsch, sich selber<br />

zu sehen, man möchte über sich hinaussehen.<br />

Sich sehen im Zusammenhang mit dem, was man<br />

so die Welt nennt, für die man nie recht fassbar<br />

war, und in der man doch gelebt hat.<br />

91


Und wenn dieser Wunsch gross genug ist... es ist<br />

mir, als ob ich mit Dir rede, obgleich Du doch kein<br />

Wort sagst. Du sitzt hier, du kannst so wunderbar<br />

zuhören, und so ist es, als ob wir uns unterhielten.<br />

— Ich habe hier die Tage gelegen, mit der Natur<br />

gelebt und eigentlich nichts gedacht. Vielleicht,<br />

dass mein Verurteilter auch darum so garnichts besonderes<br />

mehr dachte, weil ihn niemand mehr besuchte.<br />

Du sitzt hier und es ist, als ob die Welt ins<br />

Zimmer gekommen ist.<br />

Ja, ich habe noch meine kleine Rechnung zu begleichen<br />

— mit der Welt — ein grossartiges Wort.<br />

Mit der Welt und den Menschen, die of fenbar anders<br />

sind als ich, und dennoch immer und immer wieder<br />

Forderungen am mich steilten, die ich natürlich<br />

nicht erfüllte.<br />

So ist das: die Welt, die Menschen stellen Forderungen,<br />

sie drangen uns zur Stellungnahme, und<br />

dabei will man nichts anderes sein als man selber,<br />

und eben dies argert sie.<br />

Wir wollen diese Sache doch einmal durchdenken<br />

(ich hiitte nicht gedacht, dass ich heute noch denken<br />

würde. Ich dankeDir, dassDu gekommen bist.)<br />

Ja, wir wollen das einmal soweit durchdenken, wie<br />

nur möglich; denn, siehst Du, das ist ein alter Groll<br />

von mir gegen die Welt mit ihren Ansprüchen. Das<br />

hat mich schon oft gepeinigt, und ich will es mir<br />

nun vom Herzen schaffen (vielleicht, dass die Geschichte<br />

von meinem Verurteilten doch nicht richtig<br />

war). — Und Du spielst dabei die Rolle der<br />

Welt. —<br />

Denn dass wir kampfen sollen, Kampfer sein sollen,<br />

92


das ist auch so eine von den Forderungen, die die<br />

Welt an uns stellt, (und heute mehr fordert vielleicht<br />

als in manchen anderen ruhigeren Zeiten).<br />

Ich habe mich niemals recht als Kampfer gefühlt.<br />

Aber nun denn: wir wollen sehen, ob wir nicht<br />

auch fechten können. Wollen doch auch noch einmal<br />

der Forderung der Welt nachkommen, und<br />

sehen, was bei diesem Kampf herauskommt, der<br />

recht eigentlich gegen die Welt gerichtet ist. Wollen<br />

sehen, ob wir die Welt zwingen, auf ihren Platz,<br />

in ihre Grenze zwingen können.<br />

Und Du, Paul, bist die Welt, Du musst parieren.<br />

Ja, ich will mir das vom Herzen schaffen und vom<br />

Halse. Die Vorwürfe, die ich einzustecken hatte,<br />

weil ich nicht so war, wie sie mich wollte.<br />

Was wollte sie denn? und welch Recht hatte sie,<br />

zu wollen?<br />

Ach, wenn wir uns auf das Recht einlassen, so wird<br />

die Welt Grunde genug finden, ihr Recht zu beweisen.<br />

Diese Frage lassen wir hübsch beiseite. Ich<br />

frage anders.<br />

Warum fordert die Welt überhaupt von uns? (Warum<br />

lasst sie uns nicht in Ruhe?) Warum will sie,<br />

das wir sind, wie sie will? Aus Interesse an uns?<br />

Zu unserem Besten?<br />

Nun, wir sind keine Kinder mehr. Um unser Bestes<br />

schert sie sich den Teufel. — Wer stirbt hier?! Wer<br />

lost mir meine Schwierigkeiten?<br />

Nein, nichts anderes als Machthunger ist es und<br />

reinster, völligster Egoismus. — Ihre Wege soil<br />

man laufen. Sie kann es nicht ertragen, dass man<br />

eigene Wege geht. Darum verleumdet sie die eigenen<br />

93


Wege der Menschen. In ihrem Trott soli man sich<br />

bewegen. Jede Selbstandigkeit ist ihr zuwider.<br />

Und was für Wege können denn das nun sein, die<br />

Weltenwege?DummeTrottelwege, wenn esgutgeht,<br />

Höllenwege, wenn der Teufel los ist. Wir aber, die<br />

wir unserer eigenen Verrücktheit nachlaufen —<br />

denn so verrückt wie einer, der versucht, er selbst<br />

zu sein, ist niemand — sind ihr ein Dorn im Auge.<br />

Wir lassen sie fühlen, dass sie nicht allmachtig ist,<br />

ja wir lassen sie wohl auch ein wenig Verachtung<br />

spüren—und das kann sie in ihrer aufgedonnerten<br />

Schwache nicht ertragen. An uns sieht sie, wie<br />

schwach und nichtig sie ist. Und da bewirft sie<br />

uns mit Dreck. Unzeitgemass nennt sie uns, Egoisten,<br />

Weltflüchtler, Unnütze, weil ihre törichten<br />

Fragen nicht auch uns bewegen.<br />

Für sie sollten wir leben! —Da frage ich, wo denn<br />

hier der Egoist steekt?!<br />

Für wen denn sonst leben wir und für wen sonst<br />

denn könnten wir leben?Nicht für die Kurzsichtigkeit<br />

der Welt, nicht nach ihrem Willen leben wir<br />

für die Welt. Nach unserm Gesetz suchen und leben<br />

wir ein Leben lang, wir entwickeln unsere eigene<br />

Welt, und so fügen wir der Welt ein — wenn auch<br />

kleines — Neues hinzu.<br />

Egoisten? Genau das Gegenteil! Hinströmende und<br />

Gebende sind wir, nach unsern Gaben, so wie es<br />

uns gegeben ist. — Unnütze? Die Allernützlichsten,<br />

aber nicht dem engen Verstande.<br />

Weltflüchtler? Ja, weil sie uns banalisieren will,<br />

und grob und dumm und unselbstandig machen<br />

will, wie sie selber ist.<br />

94


Wir fliehen sie eine Zeit. Und am Ende kommt<br />

alles an sie zuriick, was wir gelebt haben. Hochmiitig<br />

sagt sie dann, dass sie uns nicht braucht,<br />

dass sie unsere Gabe nicht haben will. Aber ich<br />

versichere Dir, dass es nur Hochmut ist. Schliesslich<br />

nimmt sie unsere Gaben doch, spater, irgendwann<br />

einmal, und briistet sich mit uns und sagt: er<br />

gehorte mir an.<br />

Wie armselig ist diese Welt, dass sie von uns fordern<br />

muss, von uns Aermsten. Steht es so erbarmlich<br />

mit ihr, dass sie ohne unseren Teil und Hilfe<br />

garnicht mehr auskommt? So wollen wir ihr denn<br />

ein kleines Almosen geben!<br />

Hier — (er nahm die Hand des Freundes) — was<br />

hast Du dazu zu sagen, Welt ? Wo bleibst Du, Jammerwelt<br />

und Egoist, mit Deinen unverschamten Forderungen?<br />

Garnichts sagst Du? — Ich aber bin ein<br />

Vampir (in seine Augen kam ein kleines Feuer;<br />

mehr liessen seine Krafte nicht zu), ein Vampir<br />

und sauge Dir Deine Kraft aus, Dein Blut und<br />

Leben. Ich werde leben und Du musst sterben,<br />

Welt! zitterst Du nicht?! — Ach Du — er liess<br />

den Freund los — mit Deiner Unbeweglichkeit und<br />

Sicherheit! Ihr alle mit Eurer scheinbaren Sicherheit<br />

— ich glaub' sie euch nicht. Woher nehmt ihr<br />

sie denn? Auch mir selber glaub ich sie nicht,<br />

obgleich mir ja im Augenblick recht kampferisch<br />

zu Mute ist und ich so ziemlich auf alles gefasst<br />

bin. Aber Du wirst fortgehen, es wird dunkel<br />

werden, und ich werde allein und schwach<br />

sein.<br />

Und wenn ich sagte, dass ich nie auf eure Welt-<br />

95


Verrücktheiten hereingefallen bin, so stimmt das<br />

ja garnicht.Hundertmal, tausendmal bin ich hereingefallen!—oh,<br />

wie bin ich verwundbar, noch jetzt!<br />

Auf alles bin ich hereingefallen, was nur irgend<br />

den Anstrich des Menschlichen hatte. Wie hatte ich<br />

auch nicht sollen? Aber das war ja ein gesegnetes,<br />

wenn auch ein schmerzliches Hereinfallen. Mit<br />

Leidenschaft bin ich hereingefallen. Ich wollte gewissermassen<br />

hereinfallen, — und bin nicht darüber<br />

zum Menschenhasser geworden. Denn, siehst<br />

Du, ich habe es immer so gehalten — ich meine,<br />

diese Auffassung war mir die natürliche — dass<br />

man mich nicht hereingelegt hatte (und so konnte<br />

ich meine Enttauschungen niemandem nachtragen).<br />

Nicht ich war hereingelegt worden, sondern ich<br />

liess mich hereinlegen. Verstehst Du den Unterschied?<br />

Das war keine Passivitat, ich war nicht<br />

das Opfer, sondern ich war sehr aktiv dabei beteiligt.<br />

Also was sehr Positives. Ich nahm jeden<br />

Reinfall als eine Lehre und einen Gewinn.<br />

Ach, es ist doch gut, wenn man redet. Manchmal<br />

kommt man doch durch's Reden auf ganz gute<br />

Sachen.<br />

Verstehst Du also: reingelegt worden bin ich niemals,<br />

sondern: ich liess mich reinlegen. Mea culpa.<br />

Und so lernte ich die Menschen auf eine tiefere<br />

Weise kennen, als ich es ohne solche Enttauschungen<br />

gekonnt hatte. Ja, ich war versessen darauf<br />

sie kennen zu lernen, einfach besessen war ich.<br />

Warum wollte ich sie denn kennen lernen? —<br />

Manche gehen mit Tieren undPflanzen um; mir genügt<br />

es aber, wenn ich sie sehe. Bei den Menschen<br />

96


aber geniigt mir nicht das blosse Anschauen. Nein.<br />

Und was mich tiefst und zuinnerst verwunden kann,<br />

das sind eben auch: Menschen. Warum denn, warum<br />

denn? Warum war es mir denn nicht gleichgültig,<br />

warum ging ich denn nicht einfach weiter? Warum<br />

noch eben musste ich dagegen kampfen, dass<br />

sie mich einen Unniitzen nannten — nein, ganz und<br />

gar nicht war es mir gleichgültig, ungeheuer gingen<br />

sie mich an, die Menschen. Und nun meine ich<br />

doch, ja ich kann es nicht anders denken, dass,<br />

was mich trieb, sie kennen zu lernen, was diese<br />

unabweisbare Forderung an mich steilte, mich<br />

ihnen immer wieder aufs Neue zu verbinden, dass<br />

es — Liebe war.<br />

Richard schwieg wie verdutzt.<br />

.... dass es Liebe war, wiederholte er, — liess den<br />

Ton der Worte nochmals erklingen, (er wollte sich<br />

offenbar vergewissern, ob der Klang auch gut war<br />

und echt.)<br />

Er sann eine Weile.<br />

Es stimmt, es stimmt, sagte er dann hastig.<br />

Es stimmt.<br />

Entschuldige, wandte er sich zum Freunde (das<br />

andere hatte er wie für sich gesprochen), ich habe<br />

einen kleinen Schreck bekommen.<br />

Manchmal denkt man etwas und sagt es dann, und<br />

dann merkt man, dass es nicht stimmt. Kennst Du<br />

das auch? Durch das Ausprechen bekommt der Gedanke<br />

eine neue Wirlichkeit, und in dieser Wirklichkeit<br />

muss er seine Echheit aufs Neue beweisen,<br />

und da erweist es sich denn oft, dass es mit dieser<br />

Echtheit nicht weit her ist — auch mit Taten geht<br />

97


es mir haufig so — ich will etwas tun; aber ich<br />

muss es erst wirklich tun, um zu sehen, ob es<br />

falsch ist. (Meistens ist es falsch.)<br />

Es stimmt also wirklich, dass ich die Menschen<br />

liebe. Ich kann es sagen, ohne dass es falsch wird.<br />

Ja ich liebe sie, ich liebe sie.<br />

Dass ich das nicht gewusst habe! Und als ob ich es<br />

nicht gewusst habe! Habe ich es nicht selber heute<br />

noch gesagt. Und doch sehe ich das plözlich in<br />

einem — ja, wie eine Offenbarung ist es. — Komisch,<br />

komisch.<br />

So ist das. Die Welt, so sagten wir ja wohl, die<br />

Welt will Macht und ich — ich liebe sie.<br />

Es klingt ja beinahe wie eine Rechtfertigung. Ich<br />

liebe sie, weil — weil — als ob die Liebe nach<br />

Gründen fragt, als ob die Liebe nicht genug, ja<br />

unzahlige Grunde fande.<br />

Vielleicht liebe ich sie — ich weiss, viele sind einfach<br />

so, dass sie besser nicht waren — weil sie sich<br />

lieben lassen, — manche lassen sich garnicht lieben,<br />

aber diese muss man vielleicht noch viel mehr<br />

lieben. — Vielleicht liebe ich sie wegen dieser einzigen<br />

Gelegenheit, zu lieben! Was ware ich, was<br />

bin ich denn, wenn ich — nicht lieben kann.<br />

Und jetzt, verstehst Du, auch darum war ich nicht<br />

zu fassen. Auch darum konnte mich das, was man<br />

so die Welt nennt, nicht kriegen und nicht Sndern.<br />

Was lag mir denn an ihren Meinungen und Richtungen!<br />

Sie will Macht. Ich suche und will Liebe,<br />

und wo ich nicht lieben kann, da ist es, als ob ich<br />

garnicht da bin.<br />

Und darum kenne ich im Grunde auch nur eine<br />

98


Welt, die lieben kann. Die andere Welt, die die Zeit<br />

ausmacht, ist für mich niemals rechte Wirklichkeit<br />

gewesen. Und ich war niemals rechte Wirklichkeit<br />

für sie. Wie oft habe ich mich schon von gescheiten<br />

Leuten wegdiskutieren horen, sie gaben mir viele<br />

gute und logische Grunde, die mir meine Existenz<br />

wegbewiesen. Und doch Iebte ich (ja lebe sogar<br />

noch). Unzeitgemass bin ich genannt —- gescholten<br />

sollte ich sagen, denn hierin lag immer ein schwerer<br />

Vorwurf der Zeit — und insofern die Liebe eine<br />

dauerhafte Angelegenheit ist und eigentlich nicht<br />

eine Erfindung von heute, haben sie auch ganz<br />

recht.<br />

Unzeitgemass sind wir, ja wir, denn das ist ja gewiss<br />

— und es ware plumpeste Ueberheblichkeit,<br />

es anders zu denken — denn wir sind einer wie<br />

hunderttausend.— dass zu allen Zeiten diese Unzeitgemassen<br />

leben und sein werden. Und wenn das<br />

nicht ware, dann müsste es mich betrüben, dass<br />

nicht doch das eine oder andere von mir übrigbleiben<br />

wird. Du bist ja mein Universalerbe (lachelte<br />

er), was das beschriebene Papier betrifft — mach<br />

damit, was Dir gut dunkt — (denn vielleicht würde<br />

der eine oder der andere ein Wort darunter finden,<br />

das ihm wohltate — ich meine das wegen der<br />

„Nützlichkeit" meines Lebens) — aber mach Dir<br />

vor allem keine Sorgen darüber; auch ich mache<br />

niir nun keine Sorgen mehr. Alle Zeiten haben ihre<br />

Unzeitgemassen, und es ist kein Grund, zu meinen,<br />

dass unsere Worte die nicht erreichten, die es wohl<br />

zuweilen recht nötig haben, ermutigt zu werden.<br />

(Mussen sie sich doch gegen eine ganze Welt auf-<br />

99


echt halten!) — Unsere Worte! nicht meine —<br />

denn wenn es — zufallig — meine sein sollten —<br />

unsere Worte können nicht verloren gehen, denn<br />

sie werden immer wieder gesagt werden, von mir<br />

oder anderen.<br />

Verzeihe, dass ich so schrecklich viel geredet habe.<br />

Ich bin doch froh, dass ich's durchgesprochen<br />

habe. Ich bin froh. — Und müde.<br />

Und Du hast ja nun garnichts gesagt. Die ganze<br />

Zeit hast Du mich reden lassen. Du bist doch die<br />

Welt, musstest meine Hiebe parieren — und stattdessen<br />

schweigst Du. Machst es Dir bequem. Bedeutet<br />

das, dass die Welt mich keiner Antwort für<br />

wert halt? Oder soli es gar heissen, dass ich recht<br />

habe? Mit dem, was ich sagte? — UmGottes Willen,<br />

ich habe .. . das ware doch ... nein, so war das<br />

nicht gemeint. (Ich will nicht recht haben; ich bin<br />

kein Sieger). Ich wollte nur meine Meinung sagen,<br />

ja eigentlich wollte ich erst einmal selber wissen,<br />

was ich meine und wie ichs mir denke. Und nun<br />

hab ich's gesagt. Und nun soil die Welt ihre Meinung<br />

sagen. Nun? Die Welt schweigt. Auch gut. Ich bin<br />

müde. Geh jetzt — nein, weisst Du, nein. Nein. Es<br />

wird dunkel. Ich möchte nicht allein sein. Hast Du<br />

noch Zeit? Viel Zeit? — Da auf dem Tisch, links,<br />

bei den Papieren, da muss ein Heft liegen: Blatter<br />

von damals. Ich habe es lange nicht gelesen, es ist<br />

von damals. Willst Du es lesen? Mach das Licht an.<br />

Ich schliesse die Augen.<br />

100


<strong>RICHARD</strong>S HEFT<br />

Vorwort<br />

M an kann nicht schreiben ohne —<br />

schwer zu sagen, sehr schwer zu sagen, höchst<br />

bedenklich es zu sagen —<br />

nun, man meint doch immerhin, etwas zu wissen,<br />

wenn man schreibt.<br />

Und ganz verkehrt scheint mir das auch nicht.<br />

Man lebt doch, und so weiss man auch.<br />

Es soli nicht gleich heissen, wenn man schreibt:<br />

hort mir zu, ich habe die letzte Weisheit zu verkünden.<br />

Das muss es nicht unbedingt bedeuten.<br />

Und doch weiss man irgend ein Aeusserstes. Und<br />

zwar meine ich, dass jeder Mensch, aber auch<br />

jeder so etwas Aeusserstes weiss; auch ein jeder,<br />

so töricht er immer sein mag, lebt doch — wenigstens<br />

manchmal — sein Leben. Ein Leben, das,<br />

wenn es auch nichts weiter als Nachafferei ware,<br />

doch zugleich sein eigenes, einmaliges, nichtwiederholbares<br />

Leben ist.<br />

Und wenn nun die Bemiihung dahin ginge, dieses<br />

eine, einmalige, originale Leben — so unorginell<br />

es im Allgemeinen auch sein mag — das Besondere<br />

meines Lebens, meines Ich's aufzuschreiben,<br />

um diese Kleinigkeit, diese Nichtigkeit, die, wie<br />

das Meiste, wie fast alles sehr schnell vergessen<br />

sein wird, um dies atomische Etwas zu verewigen,<br />

festzuhalten (für ein paar Jahre — was wird es<br />

weiter sein?) —<br />

101


ich weiss nicht mehr, wie ich diesen Satz angefangen<br />

habe, — was aber dies betrifft: was es<br />

weiter sein wird? ja so meine ich allerdings, dass<br />

es etwas Weiteres sein wird. Nicht für ein paar<br />

Jahre, nicht um diesem Ich noch einige Jahre eines<br />

weiteren Lebens im Gedachtnis der Menschen zu<br />

sichern, würde man so etwas schreiben; dieses Ich<br />

kann ja garnicht sterben, dieses ausserste Wissen,<br />

diese Einmaligkeit und — Vollstandigkeit —• obgleich<br />

das immerhinviel gesagt heisst:„kann nicht<br />

sterben" — dies ist zu gröblich gesagt und muss<br />

missverstanden werden — denn hier ist weder das<br />

Wort „sterben" noch „geborenwerden" am Platz —<br />

nein, nicht darum handelt es sich — sondern um<br />

eine „grössere Verwirklichung".<br />

Man konnte ja auch malen oder musizieren oder<br />

(sonst irgendwelche) Schlachten schlagen. Man<br />

kann aber auch das Wort wahlen und — schreiben.<br />

Und bei diesemSchreiben konnte man geführt sein<br />

von dem Gedanken, dass man etwas Einmaliges<br />

weiss; ich will nicht sagen: etwas Unersetzliches<br />

— o garnicht! es kommt garnicht auf dies Einmalige<br />

meines Lebens an, sondern: es ist einfach<br />

da. Es istvollkommen gleichgültig, steht über jedem<br />

Werturteil, über jeder Meinung, nein, nicht über,<br />

sondern jenseits, oder besser abseits, ausserhalb<br />

jeder Meinung. Es ist da. Und dieses Dasein starker,<br />

kraftiger, wirklicher noch zu machen, dieses<br />

Leben mehr und starker zu haben, zu halten, zu<br />

atmen, zu leben, zu sein, — darum schreibe und<br />

schreibe und schreibe ich. Ich schreibe immer<br />

weiter.<br />

102


Jeder weiss sein Leben, lebt es eben und ist es.<br />

Und ich um ein Uebriges zu tun, schreibe es. Und<br />

Wahrenddessen, wahrend es immer und immer geschrieben<br />

wird, ist es da und ich lebe es<br />

Nochmals die Unw r<br />

issenheit<br />

Es ist bedenklich.<br />

Ich sehe den Mond. Ich verstehe ihn nicht. Und<br />

ich fuhle was dabei. Wie er sein Licht über die<br />

Landschaft giesst —<br />

Stille<br />

Es ist bedenklich; das ist höchst bedenklich.<br />

Ich bedenke, dass unsere Zeit gegen Romantik ist,<br />

gegen „unvernünftige Gefühle", gegen „das Zwecklose",<br />

und für Sachlichkeit. Dass unsere Kultur in<br />

den Stadten gemacht wird. Dass die Wissenschaft<br />

sich aller Gegenstande bemachtigt hat,und dass uns<br />

vollkommenen Laien das eine oder andere Wort<br />

oder Resultat der Wissenschaft zu Ohren gekommen<br />

ist. Alles, aber auch rein alles und nicht zuletzt<br />

das Unbegreifliche und Feme ist in die Sphare<br />

wissenschaftlicher Untersuchung gerückt. Haben<br />

wir aber dies und jenes davon aufgeschnappt, fühlen<br />

wir uns als noch grössere, schabigere Laien als<br />

zuvor. „Die Wissensform der modernen westlichen<br />

Bildung in Bezug auf die Welt ist die kritischwissenschaftliche."<br />

Ich frage mich also beim Anblick des Nachthimmels,<br />

was ich vom Mond und von den Sternen<br />

103


weiss. Es komt sehr wenig dabei heraus. Ich stehe<br />

beschamt gegenüber dem Gewissen unserer Kultur<br />

(das ja in gewisser Hinsicht auch mein Gewissen<br />

ist), und das die Forderung stellt, dass man weiss,<br />

wissenschaftlich gründlich und kritisch weiss, und<br />

das für's Nicht-wissen höchstens ein bischen überlegene<br />

Verachtung übrig hat. Ich komme mir leicht<br />

erbarmlich vor. Nicht gegenüber demWeltall, nein,<br />

gegenüber dem, was Menschen zusammengetragen<br />

und aufgebaut haben, gegenüber demmenschlichen<br />

Wissen, gegenüber der heroischen Leistung jenes<br />

Geschlechts, von dem ich ein Teil bin, an dessen<br />

bewundernswerter Arbeit ich aber keinen Teil<br />

habe. Ein Schabiger, Erbarmlicher.<br />

Das bischen, was ich vom Mond und den Sternen<br />

weiss, ist zu wenig, um nach dem Masstab<br />

heutigen Wissens als Wissen überhaupt in Betracht<br />

zu kommen.<br />

Weiter aber: das Bedürfnis, nun also mehr vom<br />

Sternenhimmel zu erfahren, verflüchtigt sich sogleich,<br />

da in der laienhaften Vorstellung die gegenwartige<br />

Wissenschaft als ein Koloss von so erdrükkendem<br />

Gewicht empfunden wird, dass einem alle<br />

Lust entschwindet, in ihr Gebiet einzubrechen.<br />

Wissen ohne Wissenschaft ist heute und also für<br />

uns Heutige kein Wissen mehr, wird auch vom<br />

Laien nicht mehr als solches angesehen; und so<br />

verzichtet er, der Laie, um sich nicht mit verachtlichem<br />

Halbwissen anzufüllen, ganz und gar auf<br />

die Vermehrung seiner Kenntnisse, soweit sie ihm<br />

im praktischen Leben ohne Nutzen sind. Er überlasst<br />

das Wissen den Spezialisten, den Wissen-<br />

104


schaftlern, und begnügt sich damit, den Mond und<br />

die Sterne „schön" zu finden.<br />

Und so, durch seine eigene hohe Forderung vom<br />

Wissen (die Forderung seiner westlichen Kultur)<br />

zum offiziellen Nichtwissen verurteilt, kommt er in<br />

Opposition zu seiner Kultur, zu seiner Zeit. Er, da<br />

ihm „die Sachlichkeit" verriegelt ist, fiihlt sich<br />

zur Romantik hingezogen, bekommt Sinn für das<br />

Nutz- und Sinnlose. Er ist ausgeschlossen vom Sinn<br />

seiner Zeit und — also gedrungen — gewinnt er<br />

sich und damit seiner Zeit ein neues Feld der eigensten<br />

Betatigung, einen neuen Sinn für dasNicht-<br />

Wissenschaftliche (einen neuen Kunstsinn). —<br />

Da ist noch immer der Mond, etwas fortgewandelt,<br />

giesst sein Licht über dieBaume und macht schrage<br />

Schatten.<br />

Es ist nicht mehr bedenklich, dazustehen und dies<br />

ganze grosse magische Panorama zu betrachten,<br />

ohne zu wissen, ohne zu meinen, ohne zu denken.<br />

Immerhin können wir, auch in dieser wissenschaftlichen<br />

Welt, uns auf die Ur-Wahrheiten berufen:<br />

es soil einmal einer durch meine Nase atmen, mit<br />

meinen Augen diesen Mond sehen, mit meinem<br />

Körper hier dastehen. Es würde ihm schwerfallen.<br />

Wir leben alle, wir sind alle und wissen darum alle<br />

etwas — Unwissenschaftliches. Etwas Tieferes oder<br />

wie mans nennen will. Weshalb auch ein jeder,<br />

auch der Unwissendste, der Wissenschaft in gewisser<br />

Hinsicht immer überlegen sein wird.<br />

105


Blatter in den Wind geschrieben<br />

Vielleicht ist zwischen vielen Worten eins<br />

Das wie ein Schuss imSchwarzen sitzt<br />

Das wie ein Blick der Gottheit blitzt<br />

Vielleicht ist zwischen vielen Worten keins<br />

Blatter in den Wind geschrieben —<br />

das ist vom Leben iibriggeblieben.<br />

Worte in den Wind geschrieben —<br />

nur ein Buch ist iibriggeblieben.<br />

Nur ein Buch?<br />

Ist's nicht genug?<br />

Frag nicht so klug!<br />

Was bleibt einem von einem Buch, das man gelesen<br />

hat? — Vielleicht ein Satz, der einen für uns besonderen<br />

Gedanken ausdrückt, oder der einen Gedanken<br />

auf besondere Weise ausdrückt. Vielleicht<br />

sogar mehrere Satze, wenn man ein gutes Gedachtnis<br />

hat. Vom Gedachtnis hangt fürs Wissen viel ab.<br />

Doch wenn wir auch alle Einzelheiten vergessen,<br />

uns bleibt als — verschwommenes — Gesamtergebnis<br />

unserer Lektüre ein Gefühl der Sympathie,<br />

des Widerwillens, der Gleichgültigkeit, Bewunderung<br />

oder dergleichen.<br />

Ungefahre Gefühle — das ist unsere „Bildung"!<br />

Beim Bücherlesen laufen wir das Risiko, dass wir<br />

106


Gedanken fertig vorfinden, „Wahrheiten", die wir<br />

auf dem Wege waren, selbst zu entdecken. Dass<br />

wir „zu schnell" „zu klug" werden.<br />

Literatur: was nicht aufgeschrieben ist, ist nie geschehen.<br />

Für den Schreiber ist das Schreiben zugleich sein<br />

Material, seine Sinnlichkeit —<br />

für uns ist es „nur denken" —<br />

Gedanken — das ist zu wenig, wenn es den Menschen<br />

befriedigen soil.<br />

Der Gedanke — der Gedanke ist schliesslich auch<br />

nur „eine Art zu denken".<br />

Zu wenig weniger als zuviel Erlebnis hindert am<br />

Schreiben.<br />

Ein grosser Teil aller Produktion entsteht aus einem<br />

Restgefühl. Es fehlt einem was, man will es ausfüllen.<br />

Ich bedauerte, viele Tage nichts geschrieben zu<br />

haben. Da ich nun schreibe, ist das Bedauern fort<br />

und kein Gefühl, dass ich was nachzuholen hatte.<br />

Fasse ich meine Gedanken, Meinungen, Gefühle in<br />

Worte, bekommen sie was Entschiedenes, Deutüches,<br />

Endgültiges, was sie — unausgesprochen —<br />

nicht haben. (Weil ich in der Handhabung der<br />

Sprache unbeholfen bin?)<br />

Ich bewundere besonders jene Schriftsteller, die<br />

107


Gleitendes, Unbestimmtes, vage Geahntes überzeugend<br />

aussprechen können, ohne fest zu werden. Die<br />

in der Sprache das Schwebende bewahren, ohne<br />

schwach zu sein.<br />

Das Unaussprechliche auszusprechen — das ist es,<br />

was ich wünsche.<br />

Die wichtigsten Dinge sind unsagbar. Darum erwarte<br />

man nicht zu viel von einem Buch.<br />

Worte erreichen uns ja nur gelegentlich. Das Leben<br />

aber spricht zu uns taglich und in unendlich verschiedenen<br />

Sprachen (von denen wir übrigens die<br />

meisten nicht verstehen).<br />

Fassen wir das also so zusammen: dass der grösste<br />

Teil dessen, was sich in einem bewegt, was einen<br />

bewegt, sich nicht dazu hergibt, ausgesprochen zu<br />

werden.<br />

Und dass ich also, in steter Bereitschaft zu notieren,<br />

abwarten muss, bis Sagensmögliches bei mir<br />

vorgeht.<br />

Welch Glück, dass unser Leben, Denken und die<br />

Sprache nicht so erstarrt sind, dass man sie festnageln<br />

kann.<br />

„Gib mir einen Punkt ausserhalb der Erde, und ich<br />

hebe die Welt aus den Angeln" soil Archimedes<br />

gesagt haben. Lass deinen Geist einen Standpunkt<br />

ausserhalb der Erde einnehmen, und du kannst<br />

die Menschheit mit fortreissen. So haben es die<br />

grossen Religionsstifter getan. Sie Hessen ihren<br />

108


Geist im Himmel, in derUnendlichkeit Fuss fassen,<br />

und von dort aus bewegten sie ihre Volksgenossen.<br />

Aber es ist gewagt, seinem Geist diesen Sprung<br />

zuzumuten, den Sprung hinaus ins Weltall. Der gewöhnliche<br />

Sterbliche verliert sich bereits, wenn er<br />

nur ein paar Meter von sich selber fortdenkt.<br />

Sei nicht klüger als du selbst bist.<br />

Die Weisheit wird niemals ein Massenartikel werden,<br />

da sie jeder selbst erwerben muss.<br />

Man kann Weisheiten ruhig herausschreien, sie<br />

werden doch nie der Menge zugute kommen.<br />

Man behalt sie darum besser stille für sich, auf dass<br />

sie, da ihnen eine weite Wirkung versagt ist, wenigstens<br />

interne Wirkungen tun.<br />

Urteilen — eine der schwierigsten, gefahrlichsten<br />

Sache von der Welt.<br />

Das urteilende Denken, das zum Hochmut und<br />

nicht zur Bescheidenheit führt, ist auf falscher<br />

Fahrte.<br />

Sich ein zugrundeliegendes Lebensgefühl ermitteln<br />

und erhalten, das unabhöngig sei von den<br />

Ereignissen — eine Art „philosophisches Gefühl"<br />

— das Denken kann uns doch nie genügen.<br />

Es braucht nicht alles Gesagte „richtig" zu s.ein,<br />

es gibt noch andere Eigenschaften, die es wertvoll<br />

machen können.<br />

109


Man kann nicht alles und jedes über den Leisten<br />

des Verstandes hauen.<br />

Hat jedermann das Recht, uns auf die Vernunft hin<br />

anzusprechen?<br />

Voraussetzung ist, dass der Jedermann selbst vernünftig<br />

sei.<br />

In vielen Fallen ist er aber nur naseweiss, und wir<br />

können ihn gewiss mit einem Spottwort abführen.<br />

Ja, einem Unverstandigen vernünftig begegnen,<br />

ware allzu gewissenhaft.<br />

Verstand? — Recht gut für den Verstandigen!<br />

Unverstand muss man anders bandigen.<br />

Das ist auch keine rechte Vernunft, die uns nur<br />

schwach und elend macht.<br />

Sei du nur immer verrückt — wenn du diese Verrücktheit<br />

nötig hast zum Ausgleich, zum vernünftigen<br />

Leben.<br />

Sei um Gottes willen nicht wegen der Vernunft<br />

vernünftig!<br />

Es gibt eine Art, Fragen zu stellen, durch die man<br />

alles aus einem Menschen herausbekommt. Ich war<br />

heute das Opfer dieser Art des Fragestellens —<br />

wofür ich mich ohrfeigen könnte.<br />

Manche Leute behalten in einer Diskussion recht<br />

und im Leben Unrecht. (Umgekehrt ist mir lieber)<br />

Zuweilen gehen wir aus einer Unterhaltung unfreier<br />

hervor als wir hineingeraten sind.<br />

110


•isten<br />

ver-<br />

Wenn ich bei einer Diskussion recht behalte, wenn<br />

man mir recht gibt, komme ich stets in Verlegenheit<br />

— ich weiss dann weder was für eine Miene<br />

ich aufsetzen, noch was ich weiter sagen soil.<br />

Das kommt vor:<br />

Man hort ein Wort von einem Menschen — und<br />

begreift seinen Geist. Man hort eine ganze Rede von<br />

ihm — und man versteht überhaupt nichts mehr.<br />

Man muss die Menschen kennen, um ihre Aeusserungen<br />

zu verstehen.<br />

Wenn ein Mensch uns nicht versteht, so liegt die<br />

Schuld hieran nicht immer an ihm.<br />

Als Knabe war ich stets entrüstet, wenn ich missverstanden<br />

wurde Jetzt erstaune ich glücklich,<br />

Ver- wenn ich recht begriffen werde.<br />

ïünf-<br />

unft<br />

m a n<br />

w a r<br />

un-<br />

Das Meiste, was man an den meisten Menschen hat,<br />

n a t m a n<br />

nicht durch Worte. Das Sprechen, das<br />

zwischen den Menschen unvermeidbare, verhindert<br />

sogar Vieles.<br />

Mit manchen ware man gerne zusammen, wenn<br />

nicht der Zwang und die Gewohnheit des Sprechens<br />

waren.<br />

Im Stillesein konnte man sich mit vielen besser<br />

verstehen. Aber wer hat den Mut, in Gesellschaft<br />

den Mund zu halten?!<br />

Wenn man wirklich sagen konnte, was man meint,<br />

"ware man bald ausgesprochen.<br />

Ill


Klarheit ist auch nur eine Art, die Dinge zu sehen,<br />

aber bedeutet noch nicht, sie richtig zu sehen.<br />

Dass, wenn wir etwas meinen, wir auch zugleich<br />

meinen, dass unsere Meinung was Richtiges enthalte.<br />

Infolgedessen eine Berechtigung bestehe, aus unserer<br />

Meinung Folgen abzuleiten — immer noch in<br />

der Annahme, dass es sich um „was Richtiges"<br />

handle. Wir aus diesen Folgen schliesslich allgemeine<br />

Schliisse Ziehen, und so am Ende zu einem<br />

Weltbild oder Teilbild der Welt gelangen, aufgebaut<br />

auf unserm instinktiven Fiihlen, unserm Meinen.<br />

Dass wir doch einmal begreifen: dass unser Meinen<br />

undAnschauen derDinge mit Richtig und Unrichtig<br />

wenig zu tun hat, und dass es sich darum auch<br />

garnicht handelt. Dass wir uns mit dieser Welt<br />

nicht durchaus zu identifizieren brauchen, sondern:<br />

dass wir selbst etwas sind, ein winzig kleiner<br />

Zusatz der vorhandenenWelt, diewir bereits durch<br />

unser Vorhandensein ein klein wenig verandern;<br />

und dass ein jeder in seinem Dasein eine Variation<br />

der Welt darstellt.<br />

Was ist eine Meinung wert? Genau soviel wie der<br />

Mensch, der sie aussert.<br />

Aber ich — naiv — lasse mich ernsthaft mit jederman<br />

in ein Gesprach ein.<br />

Kann man auch ohne Meinungen leben?<br />

Der Mensch lasst den Menschen nicht in Ruhe; wir<br />

zwingen einander, Stellung zu nehmen.<br />

112


Vorteil des Alleinseins:<br />

Man wird nicht um seine Meinung gefragt. Braucht<br />

also nicht zu urteilen.<br />

Sprechen „über jemand" — eine leidenschaftliche<br />

Beschaftigung vieler Menschen.<br />

Man beurteilt einen Menschen — Seht euch seine<br />

Eltern an! dann werdet ihr ihm vieles verzeihen.<br />

Einen durchschauen — in dem Wort liegt ein entwertendes<br />

Urteil, und in dem Maasse wie es entwertet,<br />

bedeutet es auch Missverstehen.<br />

Wenn man das Verrückte nicht versteht, hat man<br />

wenigAussicht, etwas von denMenschen und ihren<br />

Handlungen zu begreifen.<br />

Wenn einer etwas völlig Unsinniges mit genügendem<br />

Elan und Ueberzeugung (dass es das einzig<br />

Wahre sei) tut, so bekommt es tatsachlich ein gewisses<br />

Wirklichkeitsrecht. Und die Leute denken,<br />

weil etwas da sei, müsse es auch was zu bedeuten<br />

haben.<br />

Wenn ein kleiner Mensch grössenwahnsinnig ist,<br />

merken wir bald das Paradoxe der Situation.<br />

Wenn aber ein grosser Mann grössenwahnsinnig ist<br />

(was auch vorkommt), begreifen wir's überhaupt<br />

nicht. Er hatt es doch, meinen wir, wahrhaftig,<br />

nicht nötig.<br />

113


Man verlangt zuviel von den Menschen, wenn man<br />

Gerechtigkeit von ihnen erwartet. Wir sind keine<br />

Götter. Und sogar bei den Göttern ist Gerechtigkeit<br />

was Seltenes.<br />

Richard.<br />

Er wollte von keinem Menschen etwas; aber nicht,<br />

weil er nichts von ihnen wollte, sondern weil er<br />

dann am meisten an ihnen hatte.<br />

Die Dummheit ist eine Naturanlage der Menschen.<br />

Ich wage nicht, sie ihretwegen zu verurteilen.<br />

Aber die Lebhaftigkeit, mit der manche Menschen<br />

dumm sind, ist doch recht irritierend.<br />

Die Dummen zu den Klugen: Seid froh, dass wir<br />

dumm sind, sonst würde man euren Wert nicht zu<br />

schatzen wissen.<br />

Manchmal halt man sich deshalb für klug,weil man<br />

keine Gelegenheit hat, Dummheiten zu machen.<br />

Manchmal hindern einen nur die Umstande, in dem<br />

einem entsprechenden Umfang Allotria zu treiben.<br />

Wenn man frei seinen Neigungen leben könnte -—<br />

wie viele würden etwas Gescheites tun?<br />

Was bleibt von den Menschen übrig, wenn man sie<br />

isoliert, wenn jeder ganz auf sich gestellt ist?<br />

Die Leute schimpfen immer, wenn man anders ist<br />

als sie, oder als sie es wollen.<br />

P.: Erstens verlangt man von den anderen alles,<br />

114


was man selbst ist, und dann noch etwas eigenes<br />

dazu.<br />

Ueberlasse dich deinen Gedanken und tue nichts.<br />

Wenn du dann auf dem besten Wege bist, grössenwahnsinnig<br />

zu werden, führt dich die Arbeit wieder<br />

auf dein Maas zurück.Wir arbeiten uns gesund, wir<br />

arbeiten uns normal.<br />

Die Dinge elementar sehen, bringt elementare<br />

Handlungen hervor. Wer die Dinge kompliziert<br />

sieht, kommt schwer zum Handeln.<br />

Immer wieder drangen einen die Umstande, eine<br />

Rolle zu spielen; wahrend man gar keine spielen<br />

will; und wenn eine Rolle, dann keine aufgedrangte.<br />

Gute Frage: Was tut der Mensch in den Situationen,<br />

da er nicht weiss, was er tun soil?<br />

Sich selbst wiederzufinden, ist immer wieder eine<br />

angenehme Ueberraschung.<br />

Lebensökonomie bezieht sich nicht allein aufs<br />

Materielle sondern auch aufs Gefühl.<br />

Nicht über unsere inneren Verhaltnisse leben!<br />

Sind wir zur Arbeit geboren?<br />

Zwar macht das Schaffen selbst einen oft gliicklich<br />

—<br />

Aber wenn man schon vorher glücklich ist?!<br />

115


Man verlangt von sich, solange man den Begriff der<br />

Entwicklung noch nicht aufgegeben hat, dass die<br />

Arbeit mit den Jahren „immer besser" werde.<br />

In dem, was man kann, ist man nicht eitel. Eitel ist<br />

man in seinen Unsicherheiten.<br />

Ueberlegen sein. Die wahre Ueberlegenheit aussert<br />

sich unmerklich für den Unterlegenen.<br />

Es gibt auch noch für den Geringsten Lebewesen,<br />

denen er sich überlegen fiihlen kann.<br />

Wem's Spass macht, der geniesse das.<br />

Ich bin lieber verlegen, als überlegen. Empfinde<br />

mich da mehr „zu Hause".<br />

Ueberschatzte Geringe verhindern die wahre Würdigung<br />

der Besseren.<br />

In einer gewissen Entfernung sieht man keine<br />

Details, sieht man nur das grosse Ganze. Darum<br />

ist die distanzierte Haltung im Leben oft empfehlenswert.<br />

Der grosse Lebenssinn halt alles, auch das Ungereimteste<br />

zusammen. Wir können garnichts so Ausgefallenes<br />

bedenken, das nicht schliesslich im Bilde<br />

des Grossenganzen einen „Sinn" bekame.<br />

Wir sind manchmal gross, weil die Umstande gross<br />

sind und Kleinheit (unsere alte geliebte Kleinheit)<br />

Selbstvernichtung bedeutete. — (Ach, da liegt kein<br />

116


Verdienst drin. Aber auch können wir uns wenig-<br />

stens keinen Vorwurf machen.)<br />

Alles ist interessant — von einem gewissen Gesichtspunkt<br />

aus betrachtet, also auch das Langweilige.<br />

Aber das ist noch kein Grund, dass wir selber langweilig<br />

sind.<br />

Wenn da einMensch selbstbewusst auftritt—früher<br />

hat mir das mal imponiert.<br />

Kühnheit — aus diesem Gesichtspunkt betrachtet<br />

bin ich feige.<br />

Mut, Kühnheit — Der Teufel hole mich, wenn ich<br />

nicht endlich kiihn werde. (Er hat mich schon geholt.)<br />

Mut<br />

das ist es, war ich gerne hatte ..<br />

Wege zu gehen, die noch keiner gegangen ist<br />

Doch ich habe nicht den Mut dazu<br />

Dazu gehort Mut<br />

Mut!<br />

Ich wage nicht einmal<br />

vom Viermeter-Brett mich in den Raum zu stürzen,<br />

da doch unten das Wasser mich auffangt<br />

Mich zu werfen ins Ungewisse<br />

wo das Leben mich auffangt —<br />

ich wage es nicht, ich feiges Aas<br />

117


Die Feigheit zum Leben entspringt einem zu geringen<br />

Körpergefühl. In die geistigen Abwege treiben<br />

einen physische Unregelmassigkeiten.<br />

Mach dir Bewegung, Mensch! Tummle dich!<br />

Miidigkeit durch gesteigerte Aktivitat beseitigen.<br />

Durch Mehrbewegung das schwere Blut in lebhafteren<br />

Umlauf, in Schwung versetzen, den ganzen<br />

Körper in Tatigkeitsrythmus bringen und so die<br />

tragen Stoffe, das Einschlafernde vertreiben.<br />

Gedicht<br />

Manchmal<br />

schwer..<br />

das Leben ...<br />

Das Leben ist zu schwer für gewöhnlicheMenschen.<br />

Und die ausserordentlichen Menschen sind zu gering<br />

an Zahl, die ganze Last fallt doch immer wieder<br />

den gewöhnlichen Menschen zu.<br />

Kinder sind am Tage wohl zehnmal, zwanzigmal<br />

und öfter glücklich und unglücklich. Und sie vergessen<br />

das eine über dem andern.<br />

Trinken auch wir aus diesem Jugendbron! Ueben<br />

wir das Vergessen!<br />

Das Leben ist dann immer schwer, wenn man müde<br />

ist und Anforderungen an sich stellt, die man nicht<br />

erfüllen kann.<br />

Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein. Man braucht<br />

viel Zeit.<br />

118


Etwas zeigen zu wollen (als Künstler), schliesst<br />

immer schon ein Quantum Anmassung ein. Aber<br />

gar zeigen zu wollen, was man nicht kann, ist verzweiflungsvoll.<br />

Man istwenig und will viel.Eine Unmöglichkeit!<br />

Und diese Unmöglichkeit, die man stürmender<br />

Hand möglich machen will, dieses zu hoch gesteckte<br />

Ziel, zerstört uns unser Leben, zerreisst unsere<br />

Harmonie.<br />

Wir haben unser Streben zu hoch gestellt<br />

Freudenverderber an der eignen Welt<br />

O Gott,Du treibst uns durch dieseMühle des Lebens<br />

— es ist nicht recht erheiternd, mit eigenen Augen<br />

zu sehen, wie man zu Spreu zermahlen wird.<br />

Wir sind dazu da, vergessen zu werden. Wir sind<br />

kein Material für Unsterblichkeit.<br />

Was wir doch mit uns viel und immerfort zu tun<br />

haben! Wir sind ja standig — bewusst oder unbewusst<br />

— um die Ordnung unseres Lebens bemüht.<br />

Abstossend, anziehend, verteilend, zusammenfassend.<br />

Immer beschaftigt, das Verhaltnis zu uns<br />

selbst und zu unserer Umgebung in glücklicher<br />

Ausgeglichenheit schwebend zu erhalten.<br />

Wir sagen zwar sehr selbstbewusst: wir leben, aber<br />

in den meisten Fallen hiesse es richtiger: wir werden<br />

gelebt. Mit dem Sterben ist es gerade so.<br />

Mutmassungen über den Wert des Lebens: etwas<br />

119


mehr wie nichts und ein gut Teil weniger, als der<br />

Larm darüber uns glauben lassen will.<br />

Zu manchenZeiten will man fur ein Menschenleben<br />

auf dieser Erde keinen Pfennig geben, und ein<br />

andermal ist es eine recht gute Kapitalsanlage.<br />

Es kommt auch darauf an,wer lebt. Und zwar nicht<br />

nur in irdischer Hinsicht, nicht nur im Hinblick<br />

auf menschliche Schiitzung. Auch die Weltseele<br />

scheint sich aus grossen Seelen mehr zu machen<br />

als aus den kleinen. Klein und gross, schwach und<br />

stark — das sind wohl bleibende Grundmotive für<br />

unsere Schatzung.<br />

Ich meine, auf dieser Erde wird im allgemeinen<br />

das Starke und Grosse immer mehr gelten, als das<br />

Kleine und Schwache. Das Ueberragende, Besondere<br />

mehr als dasMittelmassige.Durchschnittliche,<br />

Alltagliche. Warum das? Ich glaube, dem umfassendsten<br />

Grund hierfür auf der Spur zu sein: Unser<br />

ganzes Weltsystem (nicht nur unser Sonnensystem)<br />

drangt — so sagen es die neuesten Forschungen —<br />

nach Expansion, ist im dauernden Zustand der<br />

Spannung nach aussen. Der Wille, der Wunsch<br />

zum „Grosseren" liegt also der Welt, der Welt im<br />

umfassendsten Sinn, zu Grunde.<br />

Und der Mensch wird von seinem Milieu (der Welt)<br />

einfach in diese Bewegung mit hineingezogen, —<br />

gerissen. Er bewundert, beneidet, verehrt das Grosse,<br />

in ihm selbst liegt der Wunsch zum Grossen.<br />

Vor Gott soil ja alles gleich sein, das Grosse wie<br />

das Kleine. Ich habe aber den Verdacht, dass, insofern<br />

er der Schöpfer dieser nach Expansion stre-<br />

120


enden Welt ist, auch vor ihm das Grosse mehr<br />

bedeutet als das Kleine.<br />

Andere mogen weise sein, geistreich sein; mir bekommt<br />

es nicht. Ich kann's mir nicht leisten.<br />

Wenn ich einmal etwas recht Kluges gesagt habe,<br />

besonders in Gesellschaft, vor Menschen — das<br />

verfolgt mich noch durch Jahre, wie ein Damon,<br />

macht mich ganz elend. Wie ein grosser Katzenjammer<br />

ist es, wenn man sich etwas über seine<br />

Krafte zumutet. Ich will dann alles wieder rückgangig<br />

machen, was ich gesagt habe, den Leuten<br />

erklaren, dass ich doch nur ein Tölpel bin — aber<br />

sie werden es schon selbst gemerkt haben.<br />

Es mag ja ganz richtig sein, was ich da sagte, nur:<br />

ich hatte es nicht sagen dürfen.<br />

Verstehen — ich — die Welt? Mit nichten —<br />

Doch ich versteh: man muss sich nach ihr richten.<br />

Tiefe ist mir nicht gegeben<br />

Darum muss ich flüchtig leben<br />

Ich schlage wie ein Derwisch meine Brust<br />

Gehore nicht ins Himmelreich der Guten<br />

Bin nur Gefass für wenige Minuten<br />

Mein Leben ist hauptsachlich Zeitverlust<br />

;,Die Welt, das Leben sind nur, weil Ich bin<br />

„Mein Denken erst gibt ihnen ihren Sinn —<br />

Mein eignes Leben doch ist ohne Sinn<br />

Und Welt und Leben rollen drüber hin<br />

121


InsDunkel meinesAnfangswünsch ich michzurück<br />

lm Mutterleib liegt uranfanglich Glück<br />

Fastenpredigt<br />

Wie's schon bekanntlich in der Bibel steht:<br />

Berufen viele, wen'ge auserwahlt.<br />

Drum prüfe peinlich, ob du auserkoren;<br />

Wenn nicht, dann, rat ich, drücke dich bei Zeiten.<br />

Man schert die Leute oder wird geschoren,<br />

Sonst gibst hier weiter keine Möglichkeiten.<br />

Ich bin ein bischen glücklich — nicht sehr<br />

ich bin ein bischen unglücklich — nicht sehr<br />

ich bin von allem immer nur ein bischen, — nicht mehf<br />

mein Leben ist ein bischen leicht und ein bischen leef<br />

Der Zweifel ist das Zeichen, dass wir leben —<br />

So sagt man. — Schön. — Doch hatte ich daneben<br />

Auch gerne irgendwelche Sicherheit,<br />

Was zweifelsfreies. Aber weit und breit<br />

1st nichts zu sehn.—Vielleicht doch in der Nahe —<br />

Ich greif den Fuss und beiss mir in die Zehe —<br />

Verdammt, das Blut! — das schmerzt ganz ungemeiD<br />

Und überzeugt mich gründlich, da zu sein.<br />

Die Angewohnheit, sich selbst stets zu beobachten.<br />

Gelegentlich reagiert man „trotzdem" unbewusst.<br />

Man lachelt. Plötzlich denkt man: nun lachle ich;<br />

ich lachle: also scheint mir die Situation eines<br />

Lachelns wert — Und man denkt: wie naiv ich<br />

doch bin. — Und man ist es.<br />

122


Gehe noch immer rum wie ein Vierzehnjahriger<br />

und frage mich bei jedem Menschen nach seinem<br />

„Sinn".<br />

Was können wir in der Hauptsache an einem Menschen<br />

haben? Dass er ein Mensch ist.<br />

Und zwar werden wir durch diejenigen menschlichen<br />

Eigenschaften besonders angezogen werden,<br />

zu denen eine ursprüngliche Bewunderung oder<br />

Neigung uns eingeboren ist. Danach wahlen wir<br />

unsere Helden und Lehrer.<br />

Wir leiden wegen unserer schlechten Zusammensetzung.<br />

Aber obgleich das Leiden oft schlimm ist,<br />

können wir es doch nicht missen. Es bestatigt uns,<br />

dass wir leben und unsern Wert. Wir leiden unsere<br />

Unebenheiten aus, wir leiden uns in den Rythmus<br />

des Lebens hinein.<br />

Sich selbst zu entfliehen ist nur selten das Mittel,<br />

um zu sich selber zu kommen.<br />

Zum Wohl des inneren Menschen gehort wenigstens<br />

eine Stunde Alleinsein taglich.<br />

Kommt einer von einer weiten Reise zurück in die<br />

alten altgewohntenVerhaltnisse—dies wird immer<br />

als eineAbschwachung empfunden.Unterwegs war<br />

alles voll Spannung, Erlebnis, Neuigkeit und Interesse,<br />

voll angedeuteter, geahnter Möglichkeiten,<br />

gesteigertenLebendigkeit.Und nun findet man sich<br />

123


auf dem bis zum Ueberdruss bekannten und beackerten<br />

Felde wieder.<br />

Mein Leben ist „wie von der Reise zuriick". Eine<br />

Abschwachung, ein Schatten seines wirklichen Inhalts.<br />

Der Nachteil, wenn man viele Jahre am selben Ort<br />

bleibt: man denkt zuviel in und über alten Verhaltnissen,<br />

die doch für immer unfruchtbar geworden<br />

sind.<br />

An den schlechten Tagen fühlen wir genau den<br />

Uebergang, wenn die Gedanken, geschlagen durch<br />

die Mattigkeit des Körpers, sich vom Leben ab —<br />

und dem Tode zuwenden. An den besseren ahnen<br />

wir, was unser Geist unternehmen könnte, wenn<br />

wir gesünder waren. Da gibt es eine Menge Stoff,<br />

den er gerne in Angriff nahme, aber im Augenblick<br />

stellt sich Unbehagen ein, verursacht durch physisches<br />

Unbehagen; wir sind flügellahm.<br />

Kranksein<br />

Nicht bei Verstande sein, ausgeliefert den regellosenVorstellungen<br />

eines krankenHirns,aus seinem<br />

Ich gejagt — und bei all dem noch einen Zipfel<br />

der Gesundheit haltend, was uns wissen macht,<br />

dass unser Geist nicht aus eigener Kraft den Weg<br />

des Lebens zurückfinden kann — eine entsetzliche<br />

Sache, von der ihm manche Nachtstunde eine Kostprobe<br />

zu schmecken gibt.<br />

124


Dann immer wieder taucht die erschreckende<br />

Frage auf: ob das nun auch wirklich das Leben<br />

sei: dieser Augenblick; der Ort an dem wir sind;<br />

wir selbst: das Leben. — Oder? Ja, was sonst? Und<br />

nur weil es garnichts anderes sein kann, so ist es<br />

schliesslich „immer wieder das Leben".<br />

Das ist, zum Teufel, ist vielleicht nur Traum<br />

Gedanken, grauenvoll, man glaubt es kaum<br />

Und schemenhafte Bilder ohne Sinn<br />

Ich zweifle dran, ob ich es selber bin<br />

Der hier so liegt und in das Laken pisst<br />

Und ob das wirklich auch. das Leben ist.<br />

Eine Vision verfolgt ihn durch die Nacht: der Ver-<br />

rückte mit normalen Eigenschaften.<br />

Ein ganz leerer, fast mechanischer Mensch, dessen<br />

Mechanismus so gut lauft, dass man ihn für einen<br />

gewöhnlichen Menschen halt.<br />

Welch grauenvoller Irrtum—wenn man selber leer<br />

ist! —<br />

Er hatte Angst vor Tod und Grab<br />

Und musste immer daran denken,<br />

Besonders nachts lenkt ihn nichts ab.<br />

Da malt ihm seine Phantasie i<br />

Aus einem Nichts das graue Ende<br />

Mit tausend Schrecken wie noch nie.<br />

125


Er sieht sich schon verwest und steif<br />

Von Würmern grasslich angefressen<br />

Und zum Vergessen überreif.<br />

Das wird bei ihm zur Leidenschaft<br />

In allem Leben nachzuspüren<br />

Was irgend morsch und leichenhaft.<br />

Und achtet drauf, wenn was verdirbt<br />

Wenn Kriege, Seuchen Menschen schlingen<br />

Und zittert, dass er selber stirbt —<br />

Das Dasein zu ertragen fallt<br />

Verdammt oft schwer. In seinen Augen<br />

1st jederman ein stiller Held.<br />

Sind wir wirklich auf Gesundheit angewiesen?<br />

Dieses Leben, merken wir, ist für das Leben gemacht.<br />

Für wenigstens ein Mindestmass von Gesundheit.<br />

Was darunter ist, mag sich in eine Höhle<br />

zurückziehen und sich in Gedanken mit dem Himmel,<br />

der Holle oder sonst einer Welt beschaftigen,<br />

aber nicht mit dieser, nicht mit dem Leben unserer<br />

Erde, und gewiss nicht mit dem Leben der eigenen<br />

kraftigeren Tage.<br />

Vielleicht, dass die Pressung, die das Schicksal<br />

zuweilen ausübt, uns — als Menschen — zugute<br />

kommt.<br />

Wie viele Menschen zeigen im Unglück einen Mehrwert!<br />

(Um im Glück alsbald wieder nichtig zu<br />

werden).<br />

126


B h r _<br />

zu<br />

Möchte uns doch dieser Zuwachs an Qualitat bleiben!<br />

sollten wir uns auch einmal wieder besser befinden.Dass<br />

ein leichteres Leben uns nicht leichter<br />

mache, die Errungenschaften des Dunkels und der<br />

Resignation nicht fortspüle!<br />

Sobald sich der Körper aber auch nur einigermassen<br />

wohl befindet, der Kopf frei ist, stellt sich<br />

Heiterkeit ein. Die wiedergewonnene Verbundenheit<br />

mit demGesund-Normalen macht uns froh. Wir<br />

denken nicht mehr in Fetzen und Sprüngen, unser<br />

Denken ist kein lebensabseitiger Vorgang mehr,<br />

sondern geschieht aus einem Impuls wie Tasten,<br />

Schmecken, Fühlen oder Verdauen.<br />

Das schone Glück des Zumlebenerwecktseins dessen,<br />

der schon den Tod geschmeckt hat.<br />

Der Glükliche will nicht enden. Hat er auch eigentlich<br />

nichts mehr zu sagen. — Man müsste einen<br />

Menschen bei der Hand haben und — unendlich<br />

reden. Oder — oder etwas anderes. In jedem Fall,<br />

wovon man voll ist, überfliessen.<br />

Da werden — vor Freude — Wünsche laut in<br />

einem, an die man lange nicht gedacht hat, nicht<br />

gedacht, dass sie noch lebten. Das Vermogen zu<br />

wünschen und viele andre verschlafene Krafte<br />

recken den Kopf hoch. — Man lebt! bei dieser<br />

Erde! eine tolle Sache. —<br />

— Einigen helfen gelegentlich ein paar Tranen,<br />

die Freude zu tragen.<br />

„Von Tranen, von zarten Gefühlen spricht man<br />

127


nicht, das ist nicht mannlich. — Man verbirgt als<br />

Mann seine Schwiichen."<br />

Wenn aber unsere Schwachen unsere Starke sind?!<br />

Es will mir so vorkommen, als ob „mannlich, Mannlichkeit,<br />

mannhaft" oft nur eine andere Bezeichnung<br />

für „damlich" ist.<br />

G. sagt: Die grössten Menschen, die ich kannte,<br />

waren demütig.<br />

Wenn demnach Demut eine Tugend der Grössten<br />

ist, ist es dann für uns kleine Leute anmassend,<br />

demütig zu sein?<br />

Der tüchtige Mensch betrachtet das Leben als eine<br />

Zeit, die der Arbeit gehort. Der weise Mensch als<br />

eine Weile, die ihm gehort; er nimmt sich die Zeit,<br />

Gedanken nachzuhangen.<br />

Wenn man nun tuchtig und weise zugleich ist?<br />

Einfach sein. Handlungen vermeiden. Nur das<br />

Unvermeidliche tun, das, wozu wir uns unbedingt<br />

gedrungen fühlen. Das wird dann — auch für uns<br />

selbst — glaubhaft sein. Wir werden uns dann selbst<br />

nicht mehr bezweifeln mussen, wie wir Armen es<br />

bei einer reicheren Tatigkeit sicherlich tun, die<br />

uns notwendig auf Abwege führt.<br />

1st das noch mein eigenes Leben?<br />

Keine Schleichwege, keine Verliebtheiten, nichts<br />

Unregelmassiges.<br />

Und mein bester Spass, Verschwiegenheit — entwertet,<br />

unbrauchbar.<br />

128


Ich bin kein Richter und kein Gericht<br />

Ich bin ein Dichter — mein Wille geschehe nicht.<br />

Ich weiss ganz genau, was ich will.<br />

Namlich: ich wills garnicht so genau wissen.<br />

Immer wieder: viel allein sein, viel bei sich sein,<br />

viel mit sich sein. —-<br />

Und das kann man sogar laut sagen; denn die ganze<br />

Zeitrichtung ist dem entgegengesetzt, alles wird in<br />

Massen zusammengetrieben, alles wird en gros betrieben,<br />

sodass unmöglich die Masse uns horen<br />

wird, sondern nur die wenigen, die ahnliche Neigungen<br />

mit uns verbinden.<br />

Nicht das Viele —<br />

das Wenige ist das Erlebnis<br />

Vieles kann uns ablenken. Ein Zuviel führt uns<br />

wieder auf uns selbst zurück.<br />

Wem wenig begegnet, der erlebt das Wenige umfassend.<br />

Eine Vielheit von Eindrücken verhindert<br />

haufig das Aufkommen eines Erlebnisses.<br />

Es hat mich oft gewundert, Leute zu sehen, die<br />

durch allerhand Katastrophen und Schicksalsschlage<br />

getroffen waren, und die daraus hervorgingen<br />

wie Schulkinder, die noch nichts gelernt<br />

haben.<br />

Wir produzieren selbst unsere Erlebnisse. Ein<br />

Erlebnis ist nur insofern eins, als wir von uns aus<br />

129


zu einem uns begegnenden ausserenEreignis etwas<br />

eigenes Inneres hinzuzugeben haben.<br />

Daher z.B. eine grosse Anzahl von Menschen trotz<br />

allerEreignisse undBegebenheiten in ihrem ganzen<br />

Leben nichts lernen. Sie halten sich was zugute auf<br />

ihr „interessantes" Leben, sie meinen,, dass es von<br />

aussen kame, sie bleiben „Narren ihr Lebenlang".<br />

Unsichere Seelen.<br />

Sie kontrollieren jeden Abend an den Ereignissen<br />

des Tages ihre ..Weltanschauung". Ob auch alles<br />

„gestimmt" hat.<br />

O kindlicher Mensch, kannst du dich nie selbst<br />

vergessen und deine enge Welt! Immer urteilen,<br />

vergleichen, selbstbehaupten. Nicht einfach dazusein!<br />

sondern sich das Dasein erst immer wieder<br />

beweisen zu mussen.<br />

Gut, wir sind alle „biologisch Gefangene". Wir<br />

leben in einem Gefangnis, kommen friiher oder<br />

spater zur Hinrichtung.<br />

Aber nach dem ersten Schrecken hieriiber beginnt<br />

die Gewöhnungund schliesslich gewöhnen wir uns<br />

wirklich an unseren Zustand. Und dann sehen wir,<br />

dass es auch im Gefangnis Leben gibt, kleine Freuden<br />

und lohnende Stunden.<br />

Wir sind Resignierte, doch Geniesser.<br />

Ueber das Uebertreiben.<br />

Ich übertreibe möglichst wenig — nicht wegen der<br />

Ehrlichkeit oder derWahrheit—aus beiden mache<br />

ich mir wenig, ja eigentlich habe ich gegen beide<br />

130


eine Abneigung, sie treten immer mit solcherSelbstsicherheit<br />

auf, einem Stolz oder gar mit dieser<br />

dünkelhaften Bescheidenheit, nein, ich mag sie<br />

nicht — ich iibertreibe allein darum ungern, weil<br />

mich die Wirkungen, die sich aus Uebertreibungen<br />

ergeben, nicht befriedigen. Es sei denn, dass es<br />

einemMenschen natiirlich ist, zu iibertreiben.Dann<br />

mag er es tun. Die Wirkung wird natiirlich sein.<br />

Und das sind die angenehmsten Wirkungen, ich<br />

möchte sagen, die mir genehmsten.<br />

Wir schimpfen nicht mehr auf die Dummheit —<br />

alien Hochmut haben wir fahren lassen — wenn es<br />

nur die „eigene, ursprüngliche Dummheit" ist. Sie<br />

ist uns im Leben schliesslich mehr wert als angeeignete,<br />

nachgesprochene Klugheit.<br />

Die Jugend will das Absolute. Klugheiten in der<br />

Form von Dummheiten zu sagen, ist die Weisheit<br />

reiferer Jahre.<br />

Ich kann's schwer ertragen, dass das, was ich<br />

mache, falsch ist.<br />

Daran muss man sich aber wohl gewonnen.—Denn<br />

wie vieles ist — nachher — falsch. Und manches<br />

schon vorher. Manches machen wir mit Bewusstsein<br />

falsch. Wir treiben's verkehrt, wir sind töricht.<br />

-— Ich weiss es etwas besser als ich's treibe.<br />

Meiner Oberflachlichkeit in meiner Arbeit mehr<br />

Rechnung tragen!<br />

Sie ist ein zu wichtiger, eigener Teil von mir; eine<br />

Kraft, ja eine Tugend. Meine Heiterkeit!<br />

131


Fehler — natürlich haben und machen wir die alle.<br />

Es kommt nur auf eine gute Organisation an: wie<br />

wir unsere Fehler disponieren.<br />

Ich würde in der gleichen Lage wie mein Vater die<br />

gleichen Fehler machen, und darum scheue ich<br />

mich, in die gleiche Lage zu kommen.<br />

Wenn ich mir selbst nichts vorzuwerfen hatte,<br />

konnte ich unmöglich die Fehler anderer ertragen.<br />

Darum: Gott sei Dank, dass ich nicht rechtschaffen<br />

bin.<br />

Man bedenke, dass Gott als einem wahren Schöpfer<br />

auch die Verwegenheit desKünstlers eignet.Wie<br />

beispielsweise von einem Maler, wenn man ihn<br />

über seine Bilder befragt, so wird also auch von<br />

Gott, sollte man sich um Aufschluss über seine<br />

Werke an ihn wenden, keine direkte Antwort zu<br />

erwarten sein.<br />

Lasst uns das Leben leicht nehmen — ohne Furcht<br />

vor Oberflachlichkeit und Banalitat. Es bleibt doch<br />

immer schwer und anspruchsvoll und fordernd<br />

genug.<br />

Wenn sonst nichts — das Leben macht uns schon<br />

zum Mann, zur Frau, zum Menschen.<br />

Das Leben gewinnt es.<br />

Das Leben — wird sind es.<br />

132


Der zusammengenommene Mensch.<br />

Man ist das zuzeiten.<br />

Aber dann auch: sich gehen lassen, völlig off en und<br />

gelost sein, einatmen, ausströmen und sich irgendwo<br />

hinwerfen. Eindringen, ahnen — Geheimnis.<br />

Für wen denn sich zusammennehmen, wenn doch<br />

gerade die Sehnsucht das Mittel ist — unendlicher<br />

zu werden? —<br />

Das Leben ist toll,<br />

und geheimnisvoll.<br />

Sich begnügen — o Himmel —<br />

und dankbar sein, sogar von Herzen dankbar für<br />

alles, was man hat —<br />

und vergessen, wonach eine immerwahrendeSehnsucht<br />

uns durchzieht —<br />

nein! das ist nicht zu vergessen!<br />

Ueberall trage ich meine Sehnsucht mit mir herum.<br />

Ich b v<br />

in dumm<br />

Doch weil ich liebe, überall, innig und leise,<br />

Bin ich auch weise.<br />

Man kann auch Sehnsucht überspannen. Plötzlich<br />

erschlafft sie.<br />

Wir eingewöhnen uns dem Tag, wie er ist, ohne<br />

den Gegenstand, nach dem so lange wir uns sehnten.<br />

Nüchterheit tritt ein. —<br />

133


Sehnsucht ist ein Gift, eine Zauberkraft, die uns so<br />

aus uns selbst Ziehen kann, dass wir ernstlich erkranken.<br />

Meine Kunst: dieSchwere desLebens leicht fühlen.<br />

Meine Tapferkeit: dass ich mich nicht vor der Oberflachlichkeit<br />

fiirchte.<br />

Man gebe von allem Vertrackten, was einem geschieht,<br />

sich selbst die Schuld. (Man nimmt also<br />

die Schuld der Welt auf sich.)<br />

Und dann sei man gnadig gegen sich und verzeihe<br />

sich seine Siinden.<br />

Warum sollen wir strenger gegen uns sein als Gott,<br />

der uns unsere Siinden verzeiht?<br />

Man denkt wohl einmal: ich habe mich nicht selber<br />

gemacht und so bin ich auch nicht „für alles verantwortlich".<br />

Bleibt die Frage: wenn man sich selber gemacht<br />

hatte, ob man besser ware, als man ist.<br />

Irren ist menschlich, und darum schlagt der<br />

menschliche Mensch den Irrtum nicht geringer an<br />

als die gelungene Tat. Ja, er liebt den andern gerade<br />

um seines Irrtums willen.<br />

„Ob ich viele Madchen geliebt habe"?<br />

Ich liebe überhaupt.<br />

Ich würde alle Frauen lieben, wenn es manche mir<br />

nicht unmöglich machten.<br />

134


Ich habe versucht, meinem Herzen alles zuzutrauen,<br />

zuzumuten. — Dazu muss man wohl Richard<br />

sein, um an die Unendlichkeit des Gefühlt, an seine<br />

unbegrenzte Formungskraft zu glauben.<br />

Und noch einmal: Machen wir uns das Leben so<br />

leicht, so bequem, seien wir so oberflachlich wie<br />

nur möglich. Das Leben selbst sorgt schon für<br />

Schwere, für alle Arten von Noten und Schwierigkeiten<br />

und driingt uns ins Abgriindige, in die Tiefe.<br />

Setzen wir dem unseren leichten Sinn, unseren<br />

Schwung entgegen. Das gibt eine gute Balance.<br />

Ein gescheiter Mann erzahlt:<br />

Es ist bekannt, wie sich Till Uilenspiegel benahm,<br />

als er in Gesellschaft einiger Handswerksburschen<br />

bei grosser Hitze eine Wanderung in gebirgiger<br />

Gegend machte. Immer, wenn es hinaufging, und<br />

die Burschen stöhnten und klagten wahrend des<br />

mühseligen Aufstiegs, war Uilenspiegel fröhlich<br />

und lachte, indem er des folgenden Abstiegs gedachte.<br />

Beim Abstieg aber, wenn die Burschen<br />

guter Dinge waren und leicht dahinschritten, weinte<br />

und seufzte Uilenspiegel, weil er den folgenden<br />

Aufstieg voraussah.<br />

Wenn es nun einen Berg hinaufgeht, mache ich es<br />

"wie Uilenspiegel. Geht es aber hinab, so tue ich,<br />

als ob ichs selber ware.<br />

Achte darauf, glücklich zu sein. G. drückt das so<br />

aus: Je individueller man ist, desto mehr tut man<br />

für die Allgemeinheit.<br />

135


ich sage: sei gliicklich. — Dann wirst du für die<br />

Menschen ein Glück sein.<br />

Was einer ist, das geht von ihm aus zu den anderen.<br />

Ich kenne keinen Menschen, der nicht der Mühe<br />

wert ware.<br />

Man muss nur nichts von ihnen verlangen, was sie<br />

nicht freiwillig geben. Man muss sie erkennen in<br />

dem, was sie sind, nicht in dem, was sie — einer<br />

überheblichen Meinung nach — sein sollten. Und<br />

alle s/nd etwas. Sie leben ja, auch sie haben ja<br />

„alles durchzumachen". Dies Leben ist schon so,<br />

dass es aus jedem etwas macht.<br />

Scheltet sie nur; aber wenn ihr scheltet, denkt<br />

nicht dran, was ihr selber seid. Das Schelten würde<br />

euch sonst vergehn.<br />

Versteht nur, sie zu nehmen, und ihr werdet mir<br />

zugeben, dass „an jedem etwas dran ist".<br />

Nur ein liebendes Herz kann weise sein.<br />

Nur wer uns liebt, kann uns ermessen. Erspürt<br />

unser Geheimnis —<br />

Darum: nicht Klugheit begreift die Welt, die wahre<br />

Weisheit heisst Liebe.<br />

136<br />

Ende des Heftes


Richard war schon lange eingeschlafen. Als ich es<br />

bemerkte, hatte ich leise für mich gelesen. Nun<br />

legte ich das Heft zurück auf denTisch und schlich<br />

auf den Fussspitzen hinaus.<br />

137


1<br />

s<br />

A<br />

L<br />

L<br />

B<br />

I<br />

'1


I N H A L T<br />

I.<br />

Die Deutung seiner Handschrift . . 5<br />

Richard 8<br />

Ein Abend 25<br />

II. PUBERTAT<br />

Rut 32<br />

Sie schreibt ihm . . . . . . 34<br />

Nachts 35<br />

Liebe . . . • • • .37<br />

Der Brief M<br />

Bettelknabe *4<br />

Ueber die Unwissenheit . . . 45<br />

III. DER JUNG LING<br />

Material für eine Biographie . . . 56<br />

HeftI<br />

Heft II<br />

IV. DER AUSFÜHRLICHE<br />

JUNGGESELLE<br />

6 G<br />

7 0


Heft 111 76<br />

Heft IV 80<br />

V<br />

Richard stirbt 87<br />

<strong>RICHARD</strong>S HEFT 101<br />

Vorwort . . . . . . 101<br />

Nochmals die Univissenheit . . 103<br />

Blatter in den Wind geschrieben . 106



K 1101<br />

7/T VI

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