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Drei Pfeile in der Kulmer Gasse. AvS - SPD Hamburg

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unsere Sozialisten- und Wan<strong>der</strong>lie<strong>der</strong>, machten schon Fahrten <strong>in</strong> <strong>Hamburg</strong>s<br />

Umgebung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Turnhalle gab es Volkstanz, und natürlich diskutierten wir<br />

uns die Köpfe heiß. Ich sog alles auf wie e<strong>in</strong> ausgetrockneter Schwamm. Jetzt<br />

hatte ich auch das Erlebnis von expressionistischer Malerei. Das war e<strong>in</strong>e Offenbarung.<br />

Die Liebe zu diesem Stil dauert bis heute an. E<strong>in</strong>e Pf<strong>in</strong>gstfahrt mit Zelten<br />

machten wir an den Mönchsteich. Die Erlaubnis dafür mussten wir bei den<br />

Englän<strong>der</strong>n beantragen. Sie waren sehr sittenstreng und gaben die Bewilligung<br />

nur unter <strong>der</strong> Auflage, dass Mädchen und Jungs nur <strong>in</strong> zwei bis drei Kilometer<br />

Entfernung vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> aufgestellten Zelten übernachten durften. Was hatten<br />

sie bloß für e<strong>in</strong>e Vorstellung von uns, wir hatten ganz an<strong>der</strong>e Interessen, als<br />

unsere Sittsamkeit zu gefährden! Und natürlich hielten wir uns nicht an diese<br />

Or<strong>der</strong>. Wir wollten nur e<strong>in</strong> freies vergnügtes Jugendleben führen - wir hatten ja<br />

so viel nachzuholen.<br />

In <strong>der</strong> Nähe des Barmbeker Bahnhofs war e<strong>in</strong>e Baracke zum Willi-Häussler 40 -<br />

Heim e<strong>in</strong>gerichtet worden, dort war auch das Kreisbüro <strong>der</strong> <strong>SPD</strong>-Nord. Da gab<br />

es e<strong>in</strong>e Anti-Kriegs-Ausstellung. Hier bekam ich e<strong>in</strong> Buch zu sehen, von dem<br />

me<strong>in</strong>e Eltern gesprochen hatten „Lebende Leichname“. Es war nach dem Ersten<br />

Weltkrieg entstanden, wurde aber nach kurzer Zeit vom Markt entfernt.<br />

Es enthielt Fotos von grässlich verstümmelten Menschen, die vor <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

verborgen gehalten wurden. Zum Beispiel, wo von e<strong>in</strong>em Kopf fast nur<br />

noch die Hirnschale übrig war, alles an<strong>der</strong>e e<strong>in</strong> grauenvolles Loch – und <strong>der</strong><br />

Mensch lebte noch, se<strong>in</strong> Gehirn war ja noch heil. O<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Mann, <strong>der</strong> nur noch<br />

aus dem Oberkörper bestand, und ähnliche Schreckensgestalten. So etwas durfte<br />

natürlich nicht an die Öffentlichkeit, und auch danach habe ich nie wie<strong>der</strong><br />

etwas von dem Buch gehört o<strong>der</strong> gesehen.<br />

Nun musste ich wie<strong>der</strong> zur Schule. Gerne wäre ich <strong>in</strong> die Walddörferschule<br />

gegangen, aber die war überfüllt. So kam ich <strong>in</strong> das Lyzeum am Lerchenfeld.<br />

Entlang des Eilbekkanals, auf me<strong>in</strong>em Schulweg zum Lerchenfeld standen sogenannte<br />

Nissenhütten. Das waren halbrunde Wellblechhütten, von den Englän<strong>der</strong>n<br />

aufgestellt, um Obdachlose und Flüchtl<strong>in</strong>ge unterzubr<strong>in</strong>gen. Der W<strong>in</strong>ter<br />

1946/47 war extrem kalt und lang, und <strong>in</strong> diesen Nissenhütten erfroren viele<br />

Menschen. Wir hatten ja e<strong>in</strong> zwar beschädigtes, aber immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Dach über<br />

dem Kopf. Natürlich funktionierte die Zentralheizung nicht. Also hatten wir<br />

uns aus den Trümmern e<strong>in</strong>en zweibe<strong>in</strong>igen Kanonenofen 41 besorgt. Das dritte<br />

Be<strong>in</strong> wurde durch Ziegelste<strong>in</strong>e ersetzt und das Ofenrohr aus dem Fenster verlegt.<br />

Zum Heizen suchten wir uns <strong>in</strong> den Trümmern Holz. Me<strong>in</strong>e Tante Lotte,<br />

40 Wilhelm (gen. Willi) Häussler, Reichsbanner, Sozialdemokrat, KZ 1936-1945 wegen „Hochverrat“, gest. 22.3.1945 im Nebenlager<br />

des KZ Neuengamme durch Bombenangriff.<br />

41 so genannt wegen <strong>der</strong> Ähnlichkeit mit e<strong>in</strong>em Kanonenrohr. E<strong>in</strong> gusseiserner zyl<strong>in</strong>drischer Ofen auf drei Füßen, sehr beliebt seit<br />

<strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

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