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INNSBRUCK<br />

ORIGINALBERICHT AUS INNSBRUCK<br />

Gesprochen am 15. Februar<br />

Bewun<strong>de</strong>rt viel und viel gescholten, von Innsbruck komm' ich. »Denn,<br />

seit ich diese Stelle sorgenlos verließ«, spricht Helena, »ist viel geschehen,<br />

was die Menschen weit und breit so gern erzählen, aber <strong>de</strong>r nicht gerne hört,<br />

von <strong>de</strong>m die Sage wachsend sich zum Märchen spann.« Nein, ich höre es<br />

nicht gern, aber mein Muß ist's nun einmal, <strong>de</strong>n Mißton nachzusingen, von<br />

<strong>de</strong>m mir's in <strong>de</strong>n Ohren klingt. Die Sage hat mir längst einen eigenen Reisepaß<br />

ausgestellt. Zu Zeiten trag' ich einen Vollbart, bin verheiratet, bin vermögend.<br />

Und nun bin ich in Innsbruck ausgepfiffen wor<strong>de</strong>n. Und doch ist nur das<br />

eine wahr: daß ich seit so vielen Jahren am Werke bin, die Amme, die <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>r Zeit die Märchen erzählt, als <strong>de</strong>n fluchwürdigsten Schutzengel unserer<br />

Lebensgüter zu brandmarken und Mißtrauen gegen sie zu säen, wo und<br />

wie ich kann. Denn eben dadurch, daß sie uns mit <strong>de</strong>r Lüge aufsäugt, wer<strong>de</strong>n<br />

ihre Märchen schon am nächsten Tag zur Wahrheit. Durch einen Zauber, <strong>de</strong>r<br />

wohl das wun<strong>de</strong>rbarste und greuelvollste Märchen <strong>de</strong>r Äonen ausmacht, wird<br />

diese Amme, an <strong>de</strong>ren Mund wir alle hängen, erst zur Hebamme <strong>de</strong>r Tatsächlichkeit,<br />

und ins Leid <strong>de</strong>r Welt eingesetzt, spüren wir gar nicht, daß die Erzählerin<br />

durch eben ihren Bericht, eben dadurch, daß sie uns die Dinge vorstellt,<br />

die sich bis dahin nicht begeben haben, zur Wehmutter unserer Tage wird,<br />

nein zur Gebärerin jener Taten. Ich habe es, da ja ihr unentrinnbar Gespinne<br />

vor meinem irdischen Sein nicht Halt macht, kürzlich erlebt, daß eben das,<br />

wovon sie sagt, es sei geschehen, in <strong>de</strong>r nächsten Stun<strong>de</strong> geschieht. Bis dahin<br />

aber hat sie gelogen, wie nur die von ihr zerlogene Sprache auf <strong>de</strong>m heutigen<br />

Tiefstand <strong>de</strong>r Brauchbarkeit ihr erlaubt, das Blaue vom Himmel durch Verwendung<br />

von Druckerschwärze in eine nationale Farbe umzulügen, und wahrlich,<br />

sie mußte lügen, sonst wür<strong>de</strong> nicht wahr, was sie erzählt. Hun<strong>de</strong>rt solche<br />

Spinnerinnen sind kürzlich in <strong>de</strong>utschösterreichischen Lan<strong>de</strong>n mit mir beschäftigt<br />

gewesen, und jene, <strong>de</strong>r Sie hier geglaubt haben, glauben mußten,<br />

weil es ja schwarz auf weiß stand und die balkendicken Lettern nicht zu übersehen<br />

waren, heißt Neues Wiener Journal. Diese Dreckvettel, die sich von <strong>de</strong>n<br />

an<strong>de</strong>rn dadurch unterschei<strong>de</strong>t, daß sie nicht selbst erfin<strong>de</strong>t, aber was alle an<strong>de</strong>rn<br />

zusammenlügen, getreulich registriert, diese Scherenparze, <strong>de</strong>r's nicht<br />

drauf ankommt, zugleich meinen Lebensfa<strong>de</strong>n abzuschnei<strong>de</strong>n, wollte es von<br />

einer »Korrespon<strong>de</strong>nz Herzog« erfahren haben und gab, was diese ihr erzählte,<br />

unter <strong>de</strong>m Titel »Große Skandale bei einer Karl—Kraus—Vorlesung in<br />

Innsbruck« gern weiter. Sie hatte schon aus Berlin die Lüge eines all<strong>de</strong>utschen<br />

Blattes ausgeschnitten und über <strong>de</strong>n einmütigsten Erfolg, <strong>de</strong>r je in ei-<br />

3


nem Vortragssaal erlebt wur<strong>de</strong>, bloß <strong>de</strong>shalb, weil ein einziger Dummkopf zur<br />

Ehre <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Kronprinzen einen Pfiff in einen Orkan zu mischen versucht<br />

hatte, unter <strong>de</strong>m Titel »Ein Karl—Kraus—Skandal in Berlin« berichtet.<br />

Nun aber hieß es:<br />

Große Skandale bei einer Karl—Kraus—Vorlesung in Innsbruck.<br />

Der Korrespon<strong>de</strong>nz Herzog wird aus Innsbruck telegraphiert: Bei<br />

einer Vorlesung, die <strong>de</strong>r Schriftsteller Karl Kraus gestern abend<br />

hier hielt, kam es zu einem ungeheuren Skandal. Als Kraus aus<br />

seiner Schrift »Die Letzten Tage <strong>de</strong>r Menschheit« einige Kapitel<br />

vorlas, kam es bei <strong>de</strong>r Verlesung <strong>de</strong>s Vortrages »Kaiser Wilhelm<br />

mit seinen Generalen« zu furchtbaren Lärmszenen. Von <strong>de</strong>r Galerie<br />

herab ertönten Pfuirufe und es wur<strong>de</strong> geschrieen: »Schan<strong>de</strong>,<br />

hinaus mit ihm, er darf nicht weitersprechen!« Man strampelte<br />

mit <strong>de</strong>n Füßen und schrille Pfiffe ertönten. Karl Kraus mußte seine<br />

Vorlesung unter großem Tumult abbrechen.<br />

So viel Lügen wie Lettern. Aber in Innsbruck hat sich nicht nur die für<br />

das Neue Wiener Journal uninteressante Tatsache ereignet, daß sich bei meiner<br />

Vorlesung nichts ereignet hat außer meiner Vorlesung, son<strong>de</strong>rn auch das,<br />

für das Neue Wiener Journal völlig unerhebliche Vorkommnis, daß jene Lügen<br />

—Korrespon<strong>de</strong>nz, <strong>de</strong>ren Vertreter einfach weitergab, was er mit halbem.Ohr<br />

nicht gehört hatte, ihre Meldung über einen Skandal, <strong>de</strong>r sich nicht ereignet<br />

hat, am nächsten Tag ausdrücklich zurückzog. Das tuschiert das Neue Wiener<br />

Journal nicht im geringsten und da es sicher ist, von mir keine Berichtigung<br />

zu bekommen, so ist es froh, <strong>de</strong>n Innsbrucker Skandal in seinen Annalen, in<br />

<strong>de</strong>nen fortzuleben die Sau graust, geborgen zu wissen. Und ganz ebenso halten<br />

es alle die an<strong>de</strong>rn, die mit Titelschreien einer Welt in <strong>de</strong>n Ohren liegen,<br />

<strong>de</strong>ren Preßgläubigkeit so lebhaften Zure<strong>de</strong>ns eigentlich gar nicht bedürfte.<br />

Nun wälzt es sich durch alle Lan<strong>de</strong>, wo Menschen wohnen, die behaupten,<br />

daß sie <strong>de</strong>utsch sprechen, auch alle jene Zeitungen drucken es nach, die nicht<br />

einmal auf die Lügen <strong>de</strong>r Korrespon<strong>de</strong>nz Herzog abonniert sind, geschweige<br />

<strong>de</strong>nn auf ihre Berichtigungen reflektieren, bis es mir aus Reichenberg als die<br />

Meldung zu Gehör kommt, das Innsbrucker Publikum, unisono, hätte mir zugerufen:<br />

»Pfui! Schan<strong>de</strong>! Wir lassen unsere <strong>de</strong>utschen Männer nicht beleidigen!«<br />

Das Schneeballensystem, das Lawinensystem <strong>de</strong>utscher Preßlüge ist<br />

wie<strong>de</strong>r einmal über mich entfesselt und beklagenswerter als ein Zauberlehrling,<br />

verzweifle ich daran, die Geister, die ich nicht rief, da ich sie zu meinen<br />

Vorlesungen nicht einla<strong>de</strong>, loszuwer<strong>de</strong>n. Nun aber frage ich einen Menschen,<br />

<strong>de</strong>r sich je <strong>de</strong>r Wirkung eines von mir gesprochenen Satzes in diesem o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>inem<br />

Saale ausgesetzt gefühlt hat: ob er es im Ernst für möglich hält,<br />

daß ein Publikum und eines, das bis zu <strong>de</strong>r angeblich kritischen Stelle sich<br />

völlig dieser Wirkung ergab, so viel Lampenfieberfreiheit vor mir aufbringt,<br />

mir irgen<strong>de</strong>twas zuzurufen, an Ort und Stelle jenes Bewußtseins habhaft zu<br />

wer<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m ich ohneweiters zugebe, daß es hinterher, meinetwegen<br />

schon in <strong>de</strong>r Gar<strong>de</strong>robe, umso heftiger gegen mich reagiert, sich für seine<br />

Nie<strong>de</strong>rhaltung entschädigt, sozusagen sein intellektuelles Mütchen an mir<br />

kühlt, das mich genau so kalt läßt wie ich jenen vorher warm gemacht hatte.<br />

Ein Naturgesetz erlaubt es nicht, straft je<strong>de</strong> Zeitungsmeldung, die an<strong>de</strong>res<br />

behauptet, Lügen. Ich will ja zugeben, daß hun<strong>de</strong>rt Demonstrationswillige —<br />

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nicht bloß passiv Resistente, <strong>de</strong>ren kalter Wille noch stets in solchem Feuerkreise<br />

aufgetaut ist —, eine Schar solcher, die nicht zu hören, son<strong>de</strong>rn zu stören<br />

gekommen sind und die auch Pfui rufen wollten, wenn ich Goethes Pandora<br />

lese, Individuen, <strong>de</strong>ren gewalttätiger Plan sie hinlänglich davor schützt, einem<br />

sonst unausweichlichen Eindruck zu erliegen, daß solche Gäste imstan<strong>de</strong><br />

sind, sich selbst und achthun<strong>de</strong>rt an<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Eindruck zu verstümmeln und<br />

meinen Vortrag mechanisch zu verhin<strong>de</strong>rn. Ein Dutzend wäre zu wenig, seine<br />

Opposition wür<strong>de</strong> rettungslos von <strong>de</strong>r Flamme, die sie nur nähren kann, verzehrt.<br />

Eine mechanische Erstickung ist aber in Innsbruck nicht geschehn und<br />

es ist dort überhaupt nichts geschehn, was sich, bevor die Lüge tatsächlich<br />

Folgen hatte, eines Aufsehens, eines Telegramms, eines Wortes <strong>de</strong>r Beachtung<br />

gelohnt hätte. Ich bin wahrhaftig nicht aus Ehrgeiz nach Innsbruck gegangen,<br />

um etwa jene Lorbeern einzuheimsen, die in <strong>de</strong>r Pensionsstadt <strong>de</strong>r<br />

Heerführer <strong>de</strong>r k. u. k. Armee noch vorrätig sind. Ich habe nur <strong>de</strong>r eindringlichen<br />

Bitte eines werten Freun<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r mich wie<strong>de</strong>r sehen und hören wollte<br />

und <strong>de</strong>ssen Bemühung etliche schöne Leseaben<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Vorkriegszeit ermöglicht<br />

hatte, endlich willfahrt und eingewilligt, zugunsten <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skommission<br />

für Mutter— und Säuglingsfürsorge zwei Vorlesungen zu halten. Um diese<br />

Wohltat ist sie allerdings durch ein all<strong>de</strong>utsches Bubenstück, das die Innsbrucker<br />

Polizei nicht ausreifen ließ, geprellt wor<strong>de</strong>n, jene all<strong>de</strong>utsche Innsbrucker<br />

Polizei, die kein an<strong>de</strong>res Mittel fand, mich gegen Brutalisierung zu schützen<br />

als das Verbot <strong>de</strong>r zweiten Vorlesung. Die erste ist ungestört verlaufen,<br />

unter wachsen<strong>de</strong>m Beifall zu En<strong>de</strong> geführt, von keinem jener Zurufe, die eine<br />

hellhörige Preßkanaille vernommen hat, unterbrochen wor<strong>de</strong>n. Wohl aber hat<br />

die elen<strong>de</strong> Hetze, die nach ihr, tags darauf los ging, alles das ermöglicht, was<br />

die rückwärts gekehrten Propheten dieser Provinzhistorie als Faktum gemel<strong>de</strong>t<br />

und hinaustelegraphiert haben.<br />

Rückwärts gekehrte Propheten — o daß doch die Menschheit die Gelegenheit<br />

endlich nützte und mit Hieben die Wortmacher verhin<strong>de</strong>rte, Tatmacher<br />

zu wer<strong>de</strong>n! Was haben sie in Innsbruck nicht zusammengelogen, um's<br />

dann wirklich zur brutalsten Wahrheit zu machen — zusammengelogen in so<br />

engem Umkreis, wo doch je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Augenzeuge <strong>de</strong>ssen ist, was er nur vom<br />

Hörensagen weiß. Trotz<strong>de</strong>m haben sie gelogen und so muß, in drangvoll<br />

fürchterlicher Enge, wenigstens nachträglich wahr wer<strong>de</strong>n, was soeben noch<br />

gelogen war. Vor, während und nach jener Szene »Wilhelm und die Generale«<br />

ist kein mißbilligen<strong>de</strong>r Ton aus <strong>de</strong>m Auditorium an mein Ohr gelangt, was ja<br />

auch, solange die Gesetze, <strong>de</strong>r Akustik von meiner Stimme diktiert wer<strong>de</strong>n,<br />

ein Ding, <strong>de</strong>r physikalischen Unmöglichkeit wäre, und weil vor dieser Stimme<br />

leicht <strong>de</strong>r kernigste all<strong>de</strong>utsche Vorsatz zu Schan<strong>de</strong>n wird. Es war in Innsbruck<br />

das Gerücht verbreitet, daß dieser Vorsatz <strong>de</strong>n Nachsatz auf <strong>de</strong>n Lippen<br />

hatte: »Herr Karl Kraus, wir haben Sie zu En<strong>de</strong> sprechen lassen, aber nun<br />

müssen wir Ihnen sagen, daß wir Ihnen das Recht absprechen, über <strong>de</strong>utsche<br />

Männer zu richten!« So etwas, sei geplant gewesen, hätte mir einer von jenen,<br />

die eine bunte Kappe vor Nach<strong>de</strong>nklichkeit schützt, am Schlusse, sich erhebend,<br />

zurufen sollen. Die Vorstellung, daß ein solcher Satz etwa nach <strong>de</strong>m<br />

»Sterben<strong>de</strong>n Soldaten« im Saal laut wer<strong>de</strong>n könnte, erstirbt an jenem Humor,<br />

zu <strong>de</strong>m auch das äußerste Grauen noch Raum läßt. Immerhin ist es richtig,<br />

daß eine solche und ähnliche Absichten bestan<strong>de</strong>n haben; daß schon für die<br />

erste Vorlesung ein Störungsplan, <strong>de</strong>r aber an <strong>de</strong>r allgemeinen Wirkung zerstob,<br />

gefaßt war. Ich hatte in München am 27. Januar, am Geburtstag Wilhelms<br />

II., mit einer Randbemerkung, die auf das Ereignis gebührend Bezug<br />

nahm, die Szene »Wilhelm und die Generale« vorgetragen. Selbstverständlich<br />

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ebenso wi<strong>de</strong>rspruchslos wie die daran geknüpfte Hoffnung, »daß die Gestalt<br />

mit <strong>de</strong>r ihr eigenen Stimme über eine unbelehrbare Gegenwart hinweg künftigen,<br />

besseren Geschlechtern ins Ohr tönen möge«. Man sollte doch meinen,<br />

daß das in München o<strong>de</strong>r Berlin gewagter sei als in Innsbruck, wo die Rückkehr<br />

<strong>de</strong>r Hohenzollern schließlich nicht zu <strong>de</strong>n Lebenserfor<strong>de</strong>rnissen <strong>de</strong>r Bevölkerung<br />

gehören müßte. Trotz<strong>de</strong>m hätten sie's auch in Innsbruck damit<br />

nicht so eilig gehabt, wenn die <strong>de</strong>utschnationale Presse nicht am an<strong>de</strong>rn Tag<br />

<strong>de</strong>m Publikum erzählt hätte, es sei mit Ekel und Abscheu meiner Darstellung<br />

gefolgt. Wiewohl eine wi<strong>de</strong>rsetzliche Stimmung schon von München aus präpariert<br />

war — ein paar Lügen über <strong>de</strong>n Münchener Abend waren rechtzeitig<br />

im Tiroler Anzeiger erschienen —, folgte das Publikum nur mit jenem Ekel<br />

und Abscheu <strong>de</strong>m Vortrag, <strong>de</strong>n er hervorrufen wollte, <strong>de</strong>r sich, wie in Berlin<br />

und München, in Beifall entla<strong>de</strong>n mußte und <strong>de</strong>n hinterdrein von <strong>de</strong>m Objekt<br />

<strong>de</strong>r Darstellung auf <strong>de</strong>n Darsteller abzuwälzen <strong>de</strong>r Presse gelingen sollte. Ein<br />

all<strong>de</strong>utscher Versicherungsagent mit <strong>de</strong>m typischen urtschechischen Namen,<br />

<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Vortrag <strong>de</strong>r Szene auf die Uhr sah und, es war schon halb zehn,<br />

erkannte, daß jetzt doch etwas geschehen müsse, sei es zur Hebung <strong>de</strong>s Innsbrucker<br />

Frem<strong>de</strong>nverkehrs o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer <strong>de</strong>utscher I<strong>de</strong>ale, stand auf und<br />

sprach — nein, das <strong>de</strong>nn doch nicht, son<strong>de</strong>rn: verließ <strong>de</strong>n Saal, warf die Tür<br />

zu, zwei an<strong>de</strong>re folgten, da ich schon <strong>de</strong>n Fluch <strong>de</strong>s sterben<strong>de</strong>n Soldaten zu<br />

sprechen begonnen hatte, folgten seinem Beispiel, nämlich <strong>de</strong>s Demonstranten<br />

Beispiel, und <strong>de</strong>r Beifallssturm, <strong>de</strong>r nun losbrach — <strong>de</strong>nn eine an<strong>de</strong>re Wirkung<br />

kann eine Saalbüberei vermöge jenes Naturgesetzes doch .nicht haben<br />

— trieb die Flamme <strong>de</strong>r nun folgen<strong>de</strong>n und abschließen<strong>de</strong>n Verse zu einer<br />

noch nie erlebten Lohe empor. Gab's ein Pfui, so war das Echo — »doch Dem<br />

war kaum das Wort entfahren« — eher an mein Ohr gelangt. Es war einfach<br />

<strong>de</strong>r Schulfall für die Erfahrung, wie ein kalter Bubenstreich einem Saal, und<br />

wäre er nicht längst schon warm, einheizt und dieser <strong>de</strong>m Vortragen<strong>de</strong>n. Am<br />

an<strong>de</strong>rn Tag schrieb <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschliberale Lügner, die heftigen Pfuirufe hätten<br />

<strong>de</strong>n Redner minutenlang am Weiterlesen gehin<strong>de</strong>rt, womit er ganz treffend<br />

das Geständnis umlog, daß <strong>de</strong>r Beifall, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Bubenstreich entfesselte, minutenlang<br />

<strong>de</strong>n Redner am Weiterlesen gehin<strong>de</strong>rt hat. Nun aber erzählte die<br />

gesamte nicht so sehr <strong>de</strong>utsch schreiben<strong>de</strong> als <strong>de</strong>utsch fühlen<strong>de</strong> Presse, daß<br />

sich Ungeheuerliches in Innsbruck begeben habe, und nun erschienen Stimmungsnotizen<br />

und wil<strong>de</strong> Aufrufe <strong>de</strong>mobilisierter Kriegsliteraten, die auf<br />

nichts an<strong>de</strong>res als auf die brachiale Erledigung <strong>de</strong>s Schän<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Ehre abzielten. Ich kann von Glück sagen, daß ich mit <strong>de</strong>m Verlust meiner in<br />

Deutschland gefüllten Zigarrentasche, die mir gleich beim Betreten österreichischen<br />

Bo<strong>de</strong>ns gestohlen wur<strong>de</strong>, davonkam. Da aber mehr geplant war, in<strong>de</strong>m<br />

nämlich die vereinigten stu<strong>de</strong>ntischen Verbindungen, vermutlich Leute,<br />

die von mir nichts weiter wissen als daß ich jüdischer Abkunft bin und <strong>de</strong>shalb<br />

wahrscheinlich nach Innsbruck gekommen, um ein Geschäft zu machen,<br />

einmütig und mutig die gewalttätige Verhin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s zweiten Abends beschlossen;<br />

da die Absicht kolportiert wur<strong>de</strong>, mich »vom Podium weg mit<br />

Knüppeln zur Bahn zu treiben«, in <strong>de</strong>r romantischen Annahme, daß gera<strong>de</strong><br />

ein Zug abgeht; da kurzum jene von Wahn und Lüge genährte I<strong>de</strong>ologie am<br />

Werke war, mit <strong>de</strong>r man leichter einen Weltkrieg beginnt, als verliert, frisch<br />

am Werke, um wirklich alles das im Kleinen an— und aufzuregen, was soeben<br />

im Großen tragisch mißglückt war — so verbot die republikanische Behör<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>n zweiten Abend, in Wahrheit mehr um Wilhelms An<strong>de</strong>nken besorgt als um<br />

die körperliche Sicherheit eines Gastes, <strong>de</strong>r zu einem mehrfach wohltätigen<br />

Zweck nach Innsbruck gekommen war und <strong>de</strong>ssen Werke vielleicht doch die<br />

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Kriegswelt etwas länger überleben wer<strong>de</strong>n als die <strong>de</strong>s Bru<strong>de</strong>rs Willram. Nun<br />

mag man sich aber ausmalen, was drei Tage mit täglich dreimal erscheinen<strong>de</strong>n<br />

Zeitungen zwischen <strong>de</strong>n bunten Kappen und <strong>de</strong>n engen Stirnen einer Alpenstadt,<br />

hinter <strong>de</strong>nen eine infernalische Hetze das falsche Feuer <strong>de</strong>r nationalen<br />

Ehre unterhält, für ein besseres Nervensystem be<strong>de</strong>uten. Leute, welche<br />

Farben und infolge<strong>de</strong>ssen keine Be<strong>de</strong>nken tragen, in geistigen Belangen<br />

durch die wissenschaftliche Feststellung <strong>de</strong>r Geburt einzugreifen, jene Kreise,<br />

die soeben <strong>de</strong>m Professor Einstein »Jud« zugerufen haben, die maßlos erstaunt<br />

wären, zu erfahren, daß ich etwas gegen die jüdische Presse habe und<br />

daß mich gar ein Fanatiker ihrer Rasse <strong>de</strong>n Retter <strong>de</strong>s Ariogermanentums genannt<br />

hat, jene Gesellschaft, die während <strong>de</strong>s Kriegs Foerster und Lammasch<br />

beschimpft hat, nun für die Nie<strong>de</strong>rlage Repressalien an Nicolai und mir üben<br />

möchte, die ungeistigste Zucht <strong>de</strong>s Erdballs, mit einem Wort Stu<strong>de</strong>nten —<br />

was war in solchen drei Tagen in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit ihnen an<strong>de</strong>res<br />

zu gewärtigen als daß sie es vorziehen könnten, statt <strong>de</strong>s letzten Worts die<br />

letzte Tat zu behalten? Nichts war an jenem Abend geschehn, nicht das geringste,<br />

nicht ein Ton von <strong>de</strong>m Lügenlärm, <strong>de</strong>r nach Wien gedrungen ist, war<br />

mir an Ort und Stelle vernehmbar gewesen. Nichts war wahr; aber weil es berichtet<br />

wur<strong>de</strong>, konnte, mußte alles wahr wer<strong>de</strong>n und viel mehr. Ein Versicherungsagent<br />

hatte die Tür zugeschmissen, ein paar Schmierer gaben <strong>de</strong>n<br />

Schall weiter. Ein Analphabetentum, von <strong>de</strong>m man glauben müßte, es hätte<br />

statt Bildung noch Scham, vor mir zu schweigen, Kreuzelschreiber, die über<br />

Druckerschwärze verfügen, ein geistiger Atem von Bierhansl — das war es,<br />

was am nächsten Tag alle Macht gegen mich zusammenraffte. Ich habe es an<br />

<strong>de</strong>r eigenen Seele, fast am eigenen Leib erlebt, wie Krieg gemacht wird, wie<br />

Bomben auf Nürnberg, die nie geworfen wur<strong>de</strong>n, nur dadurch, daß sie gemel<strong>de</strong>t<br />

wer<strong>de</strong>n, zum Platzen kommen. Zumin<strong>de</strong>st habe ich <strong>de</strong>n Blutdunst gespürt,<br />

<strong>de</strong>r eines Tags aus <strong>de</strong>r Münchner Presse aufstieg, bis er als Kurt—Eisner—<br />

Mord und Arco—Glorie in unleugbarer Wirklichkeit dastand.<br />

Ich hatte die Absicht, auf die erste Lüge, die ich am an<strong>de</strong>rn Tag las, am<br />

Abend so zu antworten, daß ich an <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>r 'Innsbrucker Nachrichten',<br />

eines so winzigen Repräsentanten <strong>de</strong>r wahren und unabsetzbaren Kriegsmacht,<br />

<strong>de</strong>n Innsbruckern Kierkegaards Worte über die Journalisten zugerufen<br />

hätte. Da es die Polizei für diesen Abend verwehrte, kämpfte ich noch <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n<br />

Tag lang bis zum Abgang eines Gelegenheitszuges um die Möglichkeit,<br />

es am nächsten Abend zu tun. Es sollte im Stadtsaal, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Magistrat<br />

vergibt, geschehen. Die Amtsstellen, von <strong>de</strong>nen die eine erst die Vortragslizenz,<br />

die an<strong>de</strong>re erst die Saalerlaubnis verlangte, waren doch einig in <strong>de</strong>r<br />

Freu<strong>de</strong>, mich los zu sein. Denn um halb 9 Uhr abends erklärte ich, nun, da<br />

eine Zusicherung für <strong>de</strong>n nächsten Tag nicht zu erzielen sei, zur Bahn zu müssen.<br />

Nie ist auf <strong>de</strong>m großen Lügengrund, aus <strong>de</strong>m die Weltkatastrophe<br />

wuchs, im Kleinen und Kleinlichen Tückischeres, Böseres, Häßlicheres verübt<br />

wor<strong>de</strong>n. Jene Gesinnung, die zum Hunger <strong>de</strong>r Wiener Kin<strong>de</strong>r ihr Scherflein<br />

beiträgt, wollte auch nicht, daß ich <strong>de</strong>n ihren helfe. Ich wer<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Reihe<br />

von ein paar Dutzend Dokumenten voll unerschöpflicher Dreckigkeit das<br />

Abenteuer in einer Fackel darstellen, die in einer Zeitperio<strong>de</strong>, wo die tägliche<br />

Lüge noch immer nicht am Papiermangel erstickt ist, weiß Gott wann erscheinen<br />

wird. Bis dahin wer<strong>de</strong> ich täglich Zeitungsausschnitte erhalten, die mir<br />

erzählen, ich hätte meine erste Innsbrucker Vorlesung abbrechen müssen. Es<br />

kommt aber <strong>de</strong>r Tag, an <strong>de</strong>m all diese Fiebergesichte aufgereiht erscheinen,<br />

inklusive <strong>de</strong>n Innsbrucker Bankdirektor und Kriegsanleihedichter, <strong>de</strong>r die Ge-<br />

7


wogenheit hatte, mir bis zum 'Schlusse zu applaudieren, und am nächsten<br />

Tag, als sich <strong>de</strong>r Innsbrucker Föhn gedreht hatte, einen Aufruf gegen mich als<br />

<strong>de</strong>n Schän<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Ehre erließ und behauptete, er, <strong>de</strong>r Kriegsanleihedichter,<br />

hätte sich ganz so wie ich gegen <strong>de</strong>n Krieg aufgelehnt. Ich sei ein<br />

unberufener Richter, aber das <strong>de</strong>utsche Volk, sagte er, jenes <strong>de</strong>utsche Volk,<br />

das doch eben erst für die Inanspruchnahme eines <strong>de</strong>utschen Gottes an die<br />

gesamte Umwelt Entschädigung zahlen mußte, sei in Erwartung eines »<strong>de</strong>utschen<br />

Heilands«, für welchen Posten er sich offenbar selbst rekommandiert<br />

hält. Und mit ihm will ich all <strong>de</strong>n bie<strong>de</strong>rn Provinzschuften gerecht wer<strong>de</strong>n, die<br />

in <strong>de</strong>r ersten Spalte anerkennen, ich hätte im Krieg verdienstlich gewirkt, und<br />

in <strong>de</strong>r zweiten behaupten, ich verhöhnte die toten Hel<strong>de</strong>n, und mich als Hyäne<br />

<strong>de</strong>s Schlachtfel<strong>de</strong>s abschil<strong>de</strong>rn. Und das Leitmotiv aller: daß es feige sei,<br />

einen Entthronten im Unglück zu schmähen. Als ob ich nicht schon in <strong>de</strong>r lokalen<br />

Gefangenschaft dieser Hetze mehr körperlichen Mut bewiesen hätte als<br />

ein Kaiser, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Vaterland <strong>de</strong>sertiert — wiewohl mein Gewissen, weiß<br />

Gott, von keiner Kriegsschuld belastet ist. Freilich in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>utscher<br />

Männer von <strong>de</strong>r größeren Schuld, die Schuld enthüllt zu haben. Aber wen träfe<br />

gera<strong>de</strong> im Punkte Wilhelms II. <strong>de</strong>r Vorwurf <strong>de</strong>r Feigheit mit weniger Recht<br />

als einen, <strong>de</strong>r im Mai 1918, also zu einer Zeit, wo noch ein <strong>de</strong>utscher Gott gelebt<br />

hat, zu strafen und zu rächen, wo Amerongen noch keine <strong>de</strong>utsche Kolonie<br />

war, in Berlin, unter <strong>de</strong>r Ägi<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Oberkommandos in <strong>de</strong>n Marken, Rabelais'<br />

Pikrocholler vorgelesen und »Ein Kantianer und Kant« in <strong>de</strong>n Saal gerufen<br />

hat!<br />

Nein, Innsbruck ist, selbst wenns ohne Lebensgefahr abgeht, keine Atmosphäre<br />

für mich und ich wer<strong>de</strong> die mir von dorttätigen anständigen Leuten<br />

in Aussicht gestellte Genugtuung nicht annehmen. Ich erhalte seit Jahren täglich<br />

aus allen Provinzen <strong>de</strong>r ehemaligen Monarchie Bittbriefe, Vorlesungen zu<br />

halten; ich habe es unterlassen, weniger aus Furcht vor <strong>de</strong>n Gegnern als vor<br />

<strong>de</strong>r Bedrohung durch die Verehrer, die einem vom unseligen Künstlerzimmer<br />

bis zum heilloseren Hotelzimmer das Geleite und einen auch dort nicht frei<br />

geben. Aber nun weiß ich, daß es, solange es eine Presse gibt, die nicht so anständig<br />

ist wie die in Wien, um über mich zu schweigen, son<strong>de</strong>rn die <strong>de</strong>n Mut<br />

hat, meinen Namen in ihr verruchtes Maul zu nehmen, absolut unmöglich ist,<br />

vor ein Provinzpublikum zu treten, wo die Versicherungsagenten alles für <strong>de</strong>n<br />

Fall <strong>de</strong>s Ablebens vorgekehrt haben. Wenn ich's nicht längst gewußt hätte, in<br />

Innsbruck hätte ich es erfahren: daß eine Republik Firlefanz ist, die Gespenster<br />

verjagt zu haben glaubt und Journalisten fortspuken läßt, und daß es keinen<br />

Frie<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Menschheit geben wird, ehe nicht <strong>de</strong>r phantasiemor<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Gewalt die technischen Behelfe zerbrochen sind, und keine Freiheit, ehe<br />

nicht die Preßfreiheit beseitigt ist! In <strong>de</strong>m Streitfall zwischen mir und <strong>de</strong>n<br />

Innsbrucker Burschenschaftern wer<strong>de</strong> voraussichtlich doch ich das letzte<br />

»Pfui!« behalten, und so kann ich <strong>de</strong>n Bübereien getrost einen Vorsprung hienie<strong>de</strong>n<br />

lassen, weil ja mein Ruf »Schan<strong>de</strong>!« noch nach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>r Streitteile<br />

in Deutschland zu hören sein dürfte. Nur heute kann ich ihn, da meine Stimme<br />

aus <strong>de</strong>m Krähwinkel <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Ehre einen Katarrh mitgebracht hat,<br />

nicht so laut ertönen lassen wie ich gern möchte. Sonst wür<strong>de</strong> ich, zusammenfassend,<br />

so laut, daß er schon jetzt alle <strong>de</strong>utschen Lügen übertönt und mit diesem<br />

da alle <strong>de</strong>utschen Säle wi<strong>de</strong>rhallen, sagen: In Innsbruck ist mir nichts genommen<br />

wor<strong>de</strong>n als meine Zigarrentasche! Der ehrliche Fin<strong>de</strong>r gehört sicherlich<br />

zu jenen, die bereit waren, hinter mir zu rufen: Haltet <strong>de</strong>n Dieb <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Ehre! Wie viel Schieber und Schleichhändler — und Innsbruck hat<br />

<strong>de</strong>ren mehr als ihm vermöge seiner Einwohnerzahl zukommen — durch mich<br />

8


in ihren nationalen Gefühlen beleidigt waren, läßt sich gar nicht zählen. Möge<br />

ihnen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Heiland zu einer Genugtuung verhelfen! Die Entscheidung,<br />

wer <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Namen mehr Schan<strong>de</strong> angetan hat, ich o<strong>de</strong>r die<br />

<strong>de</strong>utschen Männer, die es von mir behaupten, wird eine Zeit treffen, die von<br />

<strong>de</strong>m Wahn, daß die Welt an einem wutkranken <strong>de</strong>utschen Wesen genesen<br />

könne, kuriert und im Endsieg über sich selbst und ihre scheinheiligen I<strong>de</strong>ale<br />

zum <strong>de</strong>utschen Wesen, zum Wohllaut seiner Sprache und zur Ehre seiner lebendigen<br />

Natur zurückgefun<strong>de</strong>n haben wird!<br />

Meine Eitelkeit und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Nationalstolz<br />

Gesprochen, am 7. März<br />

Zeitungspapiere, von <strong>de</strong>nen ich sage, daß sie zum Unterzün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Weltbrands gedient haben — wie<strong>de</strong>r bin ich und immer wie<strong>de</strong>r gezwungen,<br />

ihre Nichtigkeit zu überschätzen und die Selbstqual, die <strong>de</strong>n wissen<strong>de</strong>n Tröpfen<br />

als Eitelkeit erscheint, durchzustehen: die Stimmen, die mich sternwärts<br />

rufen o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Kot verfluchen, als die durch mich entfesselten Schreie <strong>de</strong>s<br />

Zeitalters aufzufangen, damit von diesem mehr ausgesagt sei als von mir. Von<br />

<strong>de</strong>m, was ephemer ist, aber lehrt das Wörterbuch, es sei entwe<strong>de</strong>r ein Ephemeron,<br />

jenes Insekt, das in seinem vollkommenen Zustand nur wenige Stun<strong>de</strong>n<br />

lebt, o<strong>de</strong>r eine Ephemere, das ist das eintägige Fieber, o<strong>de</strong>r es seien Ephemeri<strong>de</strong>n,<br />

das sind Tageblätter, Zeitungen. Diese aber sind dieses und alles<br />

das, wovon das Leben zur Grippe o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Horizont ein Schwarm von Mücken<br />

wird. Und sie sind auch die Stun<strong>de</strong>nhotels <strong>de</strong>r geistigen Unterhaltung, <strong>de</strong>ren<br />

Gelegenheit das Siechtum <strong>de</strong>r Jahre eröffnet, und im Straßenstrom <strong>de</strong>s neuen<br />

Lebens verfließen die Anbote: 8—Uhr—Blatt! und Komm her, ich sag dir was!<br />

zur einzigen Darbietung jenes Scheins vom Erleben und jenes Schalls vom<br />

Nichtssagen, zum gestaltlosen Begriff einer prostituierten Zeit. Wer aber<br />

glaubt mir, daß ich ihr die Gesundung in einen Zustand wünsche, da alles<br />

Glück <strong>de</strong>s Eindrucks wie<strong>de</strong>r unmittelbar wäre und die Lüge wie <strong>de</strong>r Ruhm<br />

wie<strong>de</strong>r auf mündliche Überlieferung angewiesen? Weil ich, todsicher, daß die<br />

Zeit sich an mir besser verrate als ich sie, Beachtung und Nichtbeachtung<br />

meines Werks zum Kriterium erhob — wer glaubt mir, daß ich ihr ein Heil ersehne,<br />

wo die Vorstellung wie<strong>de</strong>r ohne das technische Mittel, das sie verzehrte,<br />

um's ihr bequem zu machen, die Welt ergreift und wo <strong>de</strong>r Eindruck ohne<br />

<strong>de</strong>n Druck sich bil<strong>de</strong>t? Weil ich, als die Zeit vor meinem Spiegel stand, die Gelegenheit<br />

wahrnahm, sie davor festzuhalten, und weil in dieser unseligen Verbun<strong>de</strong>nheit<br />

<strong>de</strong>r Spiegel mit aufs Bild kam, um sie doppelt zu treffen, so hat<br />

sich die Zeit gerächt, in<strong>de</strong>m sie sagte, ich hätte nicht sie, son<strong>de</strong>rn mich bespiegelt.<br />

Aber damit — als wäre es nicht dasselbe! — kommt sie mir nicht aus.<br />

Keine Schmach, die ich nicht mit Lust auf mich nehme, wenn es sie zu entehren<br />

gilt. Und wenn's am En<strong>de</strong> nachzuweisen glückte, daß ich keinen Namen<br />

öfter als <strong>de</strong>n meinen genannt habe, so wußte ich doch, zu welchem En<strong>de</strong> es<br />

geschah. Der unnennbare Ekel, ihn aus <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zeit zu empfangen,<br />

kann nicht einer selbstischen Begier<strong>de</strong>, muß einem weiteren Wollen geopfert<br />

haben. Die Eitelkeit, die sich im Nachdruck tausendfachen Schimpfs befriedigt<br />

— ach und ich kann auf kein Insekt verzichten —: wer die beklagt, <strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong> ich nie überzeugen, daß ihr ein Strichpunkt von mir lieber ist als zehn-<br />

9


tausend Seiten Lobs, die über ein Buch von mir erscheinen. Aber die Huldigungen,<br />

die ich doch aus <strong>de</strong>m Zeitbild nicht entfernen kann — daß ich, um die<br />

mir zu ersparen, keinen Bittgang zu einer Redaktion scheuen wür<strong>de</strong>, ist so<br />

wahr wie unglaublich. Doch es nützte ja nichts, Zeitungen sind zuweilen unbeeinflußbar<br />

und in gewissen Fällen sogar unbestechlich. Was mir die letzte<br />

Nervenlust: das Wort (zu allerletzt das eigene) an <strong>de</strong>n Mann zu bringen, an<br />

die zur Einheit geschlossene Vielheit, seit Jahren vergällt, ist nebst <strong>de</strong>r verschärften<br />

Passion <strong>de</strong>s Reisens, nebst <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Wehrlosigkeit <strong>de</strong>s<br />

Gastes, das Bewußtsein, daß man eine Presse, <strong>de</strong>ren kritischen Ehrgeiz man<br />

durch keine Freikarte för<strong>de</strong>rt, an <strong>de</strong>r Meinungsäußerung nicht hin<strong>de</strong>rn kann,<br />

und oft genug lag <strong>de</strong>r Wunsch nahe, wenn nicht wohltätigere Zwecke zu be<strong>de</strong>nken<br />

wären, es mit <strong>de</strong>r Zuwendung <strong>de</strong>s Ertrags als Schweiggeld zu versuchen.<br />

Wie schwer es freilich ist, es mir recht zu machen, mag <strong>de</strong>r Umstand erweisen,<br />

daß in <strong>de</strong>mselben Augenblick, in <strong>de</strong>m das Privatinteresse meiner Nerven<br />

<strong>de</strong>r Betastung meines Namens durch Journalistenfinger, <strong>de</strong>r zärtlichen<br />

wie <strong>de</strong>r unsanften, wi<strong>de</strong>rstrebt, mein Urteil die Nichtbeachtung als schmählichen<br />

Bruch einer öffentlichen Pflicht wertet, <strong>de</strong>ren Erfüllung sich auch im unsaubern<br />

Rahmen einer von mir mißachteten Publizistik von selbst zu verstehen<br />

und nicht erst auf <strong>de</strong>n Ruf <strong>de</strong>s Künstlers zu warten hat; <strong>de</strong>nn er tritt zwar<br />

mit <strong>de</strong>m Publikum, <strong>de</strong>m sie dient, aber, nicht mit ihr in Verbindung. Daß mein<br />

persönliches Behagen sich mehr vom Schweigen als vom Enthusiasmus angesprochen<br />

fühlt — und nicht <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> gilt mein Mißbehagen, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Ort<br />

—, hat die Zeitungen nicht zu bekümmern, die zu <strong>de</strong>m Betrug, <strong>de</strong>n sie am Publikum<br />

durch För<strong>de</strong>rung aller zeitgenössischen Nichtigkeit verüben, noch<br />

durch das Hinweglügen meiner Wirkung baren Raub begehen. Daß ich kein<br />

Schweiggeld scheute, sie von <strong>de</strong>r Pflichterfüllung abzubringen, entspringt einer<br />

persönlichen Schwäche, die mich mitschuldig macht, aber we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Pflicht entbin<strong>de</strong>t, das Übel zu bemerken, noch <strong>de</strong>r Unbefangenheit, es zu verpönen,<br />

da ich noch als Partei ein tauglicherer Richter bin als jene schwanken<strong>de</strong>n<br />

Gestalten <strong>de</strong>r neueren Literatur, die aus Nächstenliebe es vorziehen, Gerichtstag<br />

über sich selbst zu halten, aber auch in solcher Bagatellsache besser<br />

täten, sich wegen Befangenheit abzulehnen. Wie <strong>de</strong>m immer sei, nichts weiß<br />

ich gewisser als daß <strong>de</strong>n Nachkommen <strong>de</strong>r heutigen Dummköpfe, die es heraus<br />

haben, daß ich meinen Namen so oft nenne, klar sein wird, daß kein Autor<br />

jener Zeit erbärmlichster Vereinzelung und Versippung, in <strong>de</strong>r es im <strong>de</strong>utschen<br />

Schrifttum nur wechselseitige und besitzanzeigen<strong>de</strong> Fürwörter gab,<br />

weniger pro domo gesprochen hat. Man sollte mich auf die Probe stellen und<br />

für ein Jahr alle Schleußen <strong>de</strong>s Preßhasses, <strong>de</strong>s immer noch rätselhaft gestauten,<br />

öffnen und mich nicht warten lassen, bis ich alle heiligen Zeiten einmal<br />

ein Innsbruck erlebe. Das gäbe endlich, wenn All<strong>de</strong>utschtum und Allju<strong>de</strong>ntum<br />

die innere Han<strong>de</strong>lseinigkeit an meinem Fall besiegeln, <strong>de</strong>n reinen Tisch, <strong>de</strong>ssen<br />

Geselligkeit heute noch durch die Schmeicheleien ungela<strong>de</strong>ner Gäste gestört<br />

wird. So wenig Wert ich auf das Urteil meiner Zeitgenossen lege, so sehr<br />

wünsche ich mir Einstimmigkeit, wo ich die Gunst <strong>de</strong>s Schweigens entbehren<br />

muß, und weil ich es auf meinem Passionsweg durch <strong>de</strong>n hysterischen Flugsand<br />

dieser Literatenwelt, in <strong>de</strong>r sich Charaktere wie Gerüchte bil<strong>de</strong>n und ein<br />

Ding, das man für eine Windhose hielt, ein Mensch ist, also weil ich es aberhun<strong>de</strong>rtmal<br />

erlebt habe, wie aus einem Rhapso<strong>de</strong>n ein Speiteufel wird, so<br />

brenne ich schon vor Ungeduld. Bis dahin bleibe ich <strong>de</strong>m Verhängnis meines<br />

bösen Blicks verbun<strong>de</strong>n, auch in jener Zeitlichkeit, die mich bespiegelt, wie<br />

überall in <strong>de</strong>r Welt Kontraste zu sehen, und auf die Gefahr hin, daß ein Innsbrucker<br />

meine Eitelkeit bemerke, die da verhimmeln<strong>de</strong> Kritiken abdruckt,<br />

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muß ich es tun, um die Spannweite <strong>de</strong>s Zeiturteils über mich zu voller Anschauung<br />

zu bringen und somit das ganze Kunterbunt dieser Zeit, das ich mit<br />

einem Griff ins Ephemere erlebe, und wie erst davon erzählen kann, wenn ich<br />

eine Reise tue. Und so höre man die Geschichte, wie sie, die seit so vielen Jahren<br />

meiner Wirkung erliegen, mir in Berlin und München aufgesessen sind,<br />

bis endlich Innsbruck mir standgehalten hat. Denn Innsbruck hat mich durchschaut.<br />

Mit einem: Bis hierher und nicht weiter! hat es sich <strong>de</strong>m rasen<strong>de</strong>n<br />

Lauf eines Sieggeblen<strong>de</strong>ten, <strong>de</strong>m eine von ihm geblen<strong>de</strong>te Geisteswelt zu Füßen<br />

lag, entgegengeworfen und vermöge <strong>de</strong>r Wahrheitsmacht, die ein paar<br />

Wasteln mit Druckerschwärze und ein Ju<strong>de</strong>nbua aufbieten können, es durchgesetzt,<br />

daß zwar noch, Gott sei's gedankt, ein Hund einen Bissen von mir<br />

nimmt, aber kein Deutschösterreicher, selbst zu <strong>de</strong>n höchsten Bauernpreisen,<br />

mir ihn geben mag. Die Geschichte <strong>de</strong>r menschlichen Entwicklung bis zur<br />

Kulturstufe <strong>de</strong>s Tiroler Antisemitenbun<strong>de</strong>s wird wohl wenig Beispiele zu bieten<br />

haben, wie einer, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Anspruch auftrat, eine Welt von Schiebern<br />

aller Werte und Schän<strong>de</strong>rn aller Worte mores zu lehren, so von eben diesen<br />

entlarvt und mit knüppeldicken Fe<strong>de</strong>rn überzeugt wur<strong>de</strong>, daß er nicht zu ihnen<br />

gehört und die Hän<strong>de</strong> ihm zu reichen es <strong>de</strong>n Unreinen schauert. Dies<br />

irae, dies illa ... Wär' ich hier weg! Mir wird so eng'! ... Der böse Geist, <strong>de</strong>r in<br />

allen Domen <strong>de</strong>utscher Sitte zum Hochgericht über die Natur dräut, wie stand<br />

er hinter mir, um, ein wahrer Deus aus <strong>de</strong>r Rotationsmaschine, eine einfache<br />

Sache zu einem verwickelten Ausgang zu führen. Und wie gelingt ihm solches?<br />

Wie kann das Spülicht es wagen, in jenen Belangen, die ihm doch sonst<br />

verschlossen sind, in <strong>de</strong>n geistigen, das Wort zu nehmen? Wie mochte eine<br />

Gattung, von <strong>de</strong>r sich nur ein Fiebern<strong>de</strong>r vorzustellen wagte, daß sie neben<br />

mir sprechen, mich überschreien könnte, <strong>de</strong>n Mut gewinnen? An welche<br />

druckempfindliche Stelle hat die Preßschurkerei so wirksam gerührt? An die<br />

Ehre! Wie <strong>de</strong>nn? Die Schieber und die Schän<strong>de</strong>r haben sie nicht nur, son<strong>de</strong>rn<br />

zeigen sie auch? Nicht doch. Von Privatehre ist nicht die Re<strong>de</strong>. Aber auch<br />

nicht von jener Ehre, die bekanntlich. das letzte ist, was <strong>de</strong>m Frontmör<strong>de</strong>r<br />

und <strong>de</strong>m Hinterlandsdieb geblieben ist, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Held für sie gefallen<br />

und <strong>de</strong>r außer Verwendung stehen<strong>de</strong> Altar <strong>de</strong>s Vaterlan<strong>de</strong>s gegen frem<strong>de</strong> Valuta<br />

sofort greifbar ist. Son<strong>de</strong>rn von jener an<strong>de</strong>rn allgemeinen Ehre, die nicht<br />

durch das Wesen, son<strong>de</strong>rn durch <strong>de</strong>n Heimatsschein erworben wird, nicht<br />

durch die persönliche Berechtigung zur Menschheit zu zählen, son<strong>de</strong>rn durch<br />

die Zugehörigkeit zu einer innerhalb von Grenzmarkierungen zwar nicht mehr<br />

wei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, aber eben darum umso mehr brüllen<strong>de</strong>n Her<strong>de</strong>, durch jene Verbandsfähigkeit,<br />

die je<strong>de</strong>m Mitglied das Recht gibt; <strong>de</strong>n schrankenlosesten Gebrauch<br />

von <strong>de</strong>n Eigenschaften zu machen, die ihn aus <strong>de</strong>m Verein <strong>de</strong>r<br />

Menschheit ausschließen, und namentlich <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn an<strong>de</strong>rer solcher<br />

Verbindungen zu zeigen, daß seine Farben ihm mehr Recht auf Stupidität gewähren<br />

als <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn. Denn das glauben sie alle, die von <strong>de</strong>r Nationalität leben,<br />

und haben eben das gemeinsam, wodurch sie sich unterschei<strong>de</strong>n. Um an<br />

diesen Ehrenpunkt zu greifen, welcher weit empfindlicher ist als jener individuelle,<br />

<strong>de</strong>r sich vielleicht durch <strong>de</strong>n Vorwurf <strong>de</strong>s Schleichhan<strong>de</strong>ls berührt fühlen<br />

möchte, muß man nicht etwa behaupten, es sei eine Nation von Schleichhändlern.<br />

Einem solchen Anwurf wür<strong>de</strong> höchstens die Replik begegnen, man<br />

habe eben kein nationales Gefühl o<strong>de</strong>r man dürfe nicht generalisieren und so.<br />

Dagegen erfolgt eine puterrote Reaktion <strong>de</strong>r Nationalehre, wenn man an einem<br />

prominenten Einzelfall Wesensmerkmale darstellt, die entwe<strong>de</strong>r nationale<br />

sind o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren Duldung, ja Anbetung als ein nationales Merkmal empfun<strong>de</strong>n<br />

wird. Dieser Effekt stellt sich aber, da die Nationalehre ja kein Element,<br />

11


son<strong>de</strong>rn ein Surrogat ist, beileibe nicht unmittelbar ein, son<strong>de</strong>rn wartet auf<br />

<strong>de</strong>n Demagogen, <strong>de</strong>r das Zeichen gibt, in<strong>de</strong>m er darauf hinweist, daß soeben<br />

unsere <strong>de</strong>utschen Männer, die wir nicht beleidigen lassen, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kürze halber<br />

das <strong>de</strong>utsche Volk beleidigt wur<strong>de</strong>. Nun wird man zugeben, daß eine so<br />

vermittelte Erkenntnis, vor <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s geistige und sittliche Verdienst — wenn<br />

etwa <strong>de</strong>r Beleidiger <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Volke mehr Ehre erwiese als die <strong>de</strong>utschen<br />

Männer — spurlos verschwin<strong>de</strong>t, für <strong>de</strong>n größten Trottel sofort greifbar<br />

ist, daß aber die durch sie bewirkte Trübnis <strong>de</strong>r Geister auch für die besten<br />

Lumpen die Gelegenheit bil<strong>de</strong>t, ein Geschäft, unter Umstän<strong>de</strong>n sogar einen<br />

Rebbach zu machen. Daß Kant ein ausgewachsener Defätist war und Goethe<br />

unsere <strong>de</strong>utschen Männer, ja sogar das <strong>de</strong>utsche Volk beleidigt hat, sind Umstän<strong>de</strong>,<br />

die zu ihrer Zeit, wenn schon damals die Beleidigung so verdient gewesen<br />

wäre wie heute und wenn man sich vorstellen könnte, daß Kretinismus<br />

und Knotentum auch durch eine unentwickelte Tagespresse Anregung fan<strong>de</strong>n,<br />

die Königsberger und die Weimarer Burschenherrlichkeit zu allerlei Gau<strong>de</strong>amus<br />

ermuntert hätten. Und haben jene es nicht <strong>de</strong>utsch mit <strong>de</strong>n Deutschen<br />

gemeint? Aber wäre Christus, <strong>de</strong>r's, ihnen weiß Gott christlich gewollt hat,<br />

unter sie getreten, sie hätten ihm aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Rasse die Kompetenz,<br />

über das <strong>de</strong>utsche Volk zu richten, bestritten, falls <strong>de</strong>r Allgemeine Tiroler Anzeiger<br />

die Ablehnung betrieben hätte. Heute, wo es so viele Blätter gibt,<br />

nimmt sich je<strong>de</strong>r Dummkopf eins vor <strong>de</strong>n Mund, um <strong>de</strong>n ihm eingetrichterten<br />

Schall einer Meinung von sich zu geben und ein Geräusch zu erzeugen, in<br />

<strong>de</strong>m Bierstimme und Leiborgan zu furchtbarer Harmonie verflossen sind. Die<br />

<strong>de</strong>utsche Ehre, die es vor sämtlichen Ehren <strong>de</strong>r Umgebung voraus hat, daß<br />

man sie nicht beleidigen darf und die darum nicht nur leicht, son<strong>de</strong>rn auch<br />

gern beleidigt ist, weshalb sie so oft einen Anstoß bewirkt, um ihn zu nehmen<br />

— was sich schon beim Studiengang <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Männer, <strong>de</strong>r ein Bummeln<br />

ist, im sogenannten Anrempeln ausdrückt —, die <strong>de</strong>utsche Ehre war sich in ihrem<br />

dunklen Expansionsdrang <strong>de</strong>s rechten Weges soweit bewußt, daß es<br />

Weltkrieg geben konnte. Die Franzosen, von Natur nicht danach eingerichtet,<br />

aber immerhin durch ein Bewußtsein um die reichere Veranlagung dazu verführt,<br />

ihr Land für <strong>de</strong>n Nabel <strong>de</strong>r Mutter Er<strong>de</strong> zu halten, an <strong>de</strong>m das Universum<br />

befestigt ist, sie sind erst unter Barbarentritten zu einer Geistesverfassung<br />

herangediehen, die sie befähigt, sich selbst als die einzig echten Franzosen<br />

anzusprechen. Deutschland, über alles sich hinwegsetzend, hatte es, in einer<br />

die Welt einkreisen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>ologie verstan<strong>de</strong>n, sie abwechselnd durch seine<br />

Diplomaten vor <strong>de</strong>n Kopf und durch seine Kaufleute in die Rippen zu stoßen,<br />

bis <strong>de</strong>r lange erwartete Gegenstoß es zwang, die Siegfriedsstellung einzunehmen<br />

und vermöge einer unbesiegbaren Weltanschauung auch zu halten. Die<br />

Welt täuscht sich, wenn sie glaubt, hier etwas ausgerichtet zu haben. Selbst<br />

eine preußische Nie<strong>de</strong>rlage ist noch <strong>de</strong>rart vernichtend für die Welt, daß eher<br />

die Welt sich an Preußen als Preußen an die Welt anschließt. Denn wenn in<br />

<strong>de</strong>r jüdischen Anekdote, die die tiefe Energieverwandtschaft <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Rassen<br />

ahnen läßt, <strong>de</strong>r Wachmann <strong>de</strong>n seine Notdurft verrichten<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n zur<br />

Abstellung <strong>de</strong>s öffentlichen Ärgernisses verhält, und ihn hierauf fragt, warum<br />

er lache, so antwortet dieser: »Ich lach, weil ich weiß, Sie glauben, ich hab<br />

aufgehört.« Nein, All<strong>de</strong>utschland hat nicht aufgehört. Selbst wenn die Welt<br />

keinen Scha<strong>de</strong>n davon hat, nur All<strong>de</strong>utschland selbst, es hört nicht auf, es<br />

setzt fort, es fängt von neuem an. Es kommt sich so <strong>de</strong>utsch vor wie an <strong>de</strong>m<br />

Tag, an <strong>de</strong>m eher ein Engel vom Himmel fiel als Bomben auf Nürnberg, und<br />

ehe Deutschland verzichtet hätte, mit solcher Lüge <strong>de</strong>n Krieg zu beginnen.<br />

Sie haben noch ihren <strong>de</strong>utschen Gott, <strong>de</strong>r zu ihrem Heil mehr Eisen als Ge-<br />

12


trei<strong>de</strong> wachsen ließ, sie sind in Erwartung eines <strong>de</strong>utschen Heilands, sie nennen<br />

alles was sie haben <strong>de</strong>utsch, und sogar ihre Sprache, kurzum während die<br />

meisten an<strong>de</strong>ren Nationen immerhin es schon für mehr o<strong>de</strong>r weniger selbstverständlich<br />

halten, <strong>de</strong>r eigenen Nation anzugehören, und sich dreinfin<strong>de</strong>n,<br />

bestätigt sich <strong>de</strong>r Deutsche unaufhörlich, daß er einer ist, legt sich zu Bette in<br />

<strong>de</strong>m beruhigen<strong>de</strong>n Bewußtsein und agnosziert sich beim Erwachen: ist er es,<br />

so kann er frohgemut an sein Tagwerk schreiten, ein Deutscher zu sein. Der<br />

Wiener war gewiß immer ein spezieller Verehrer seiner Spezialität und er<br />

wird selbst über die tragischen Verluste dieser Jahre noch mit <strong>de</strong>m Trost hinüberkommen,<br />

daß es halt doch noch ein Wiener Blut gibt. Man kann es als<br />

<strong>de</strong>n Altruismus <strong>de</strong>s Wiener Kin<strong>de</strong>s <strong>de</strong>uten, das von sich selbst sagt, <strong>de</strong>r Franzl<br />

habe jetzt dieses o<strong>de</strong>r jenes Bedürfnis. Aber man wird nicht behaupten können,<br />

daß <strong>de</strong>r Franzl die große Welt, die nie mit einem Londoner, Stockholmer<br />

o<strong>de</strong>r Pekinger Blut zu flunkern pflegte, <strong>de</strong>rmaßen abgestoßen hat wie Fritze,<br />

<strong>de</strong>r, während das Wienertum mehr eine Passion war, das Deutschtum als Beruf<br />

ausgeübt hat. Die sich selbst und einan<strong>de</strong>r als <strong>de</strong>utsch erkennen<strong>de</strong>n Männer<br />

— und Täuschungen sind da ausgeschlossen —, die Träger dieses Berufs,<br />

dieser Eigenschaft, die wie keine an<strong>de</strong>re einer Steigerung fähig ist, die <strong>de</strong>utschesten<br />

unter ihnen, sie behaupten mit Recht, daß ich zwar eitel wie nur <strong>de</strong>r<br />

Deutsche, aber nicht <strong>de</strong>utsch sei und daß aus mir <strong>de</strong>r Haß gegen ein Wesen<br />

spreche, welches sich im Zustand <strong>de</strong>r Ansteckungsfähigkeit bloß darauf kapriziert,<br />

daß die Welt an ihm genesen soll. Und wenn sie sagen, daß mir dieser<br />

Haß von Geburtswegen anhafte, so haben sie insofern recht, als ich eben auf<br />

eine Welt gekommen bin, die ich als <strong>de</strong>n mir erschlossenen Bestandteil <strong>de</strong>r<br />

Gottesschöpfung am liebsten vor <strong>de</strong>r Pest bewahrt sehen möchte. Wie aber<br />

sollte man die Pest nicht hassen und <strong>de</strong>n Haß nicht wie die Pest? Diese Couleur<br />

hat nicht nur vergessen, daß einmal Weltkrieg war, son<strong>de</strong>rn lei<strong>de</strong>t darunter,<br />

daß es ihn noch nicht gibt, und will es wie<strong>de</strong>r lernen.<br />

Damit diese Annonce im Organ <strong>de</strong>s Allgemeinen <strong>de</strong>utschen Schriftstellerverban<strong>de</strong>s<br />

und <strong>de</strong>s »Kartells lyrischer Autoren« erscheinen konnte, mußten<br />

zehn Millionen Menschen sterben, doppelt so viele verkrüppeln und hun<strong>de</strong>rt<br />

Millionen zu Bettlern wer<strong>de</strong>n. Was ist alle Schurkerei, die im Anblick <strong>de</strong>s<br />

stündlich gehäuften Jammers die Glorie zu fristen gebot, gegen jene, die da<br />

ersehnt, sie von vorn zu beginnen? Und lacht, weil sie weiß, daß wir glauben,<br />

sie habe aufgehört! Wäre es nicht unmenschlich, solchem Hasse mit Humanität<br />

zu begegnen und nicht zuzustimmen, daß solche Schriftstellergenossenschaft<br />

mit Sack und Pack an <strong>de</strong>n Sieger ausgeliefert wer<strong>de</strong> — auf die Gefahr<br />

hin, daß er selbst an <strong>de</strong>m Vorbild <strong>de</strong>r besiegten Nie<strong>de</strong>rtracht schon entartet<br />

sei —, getreu <strong>de</strong>m Entschluß jenes Frommen, <strong>de</strong>r nicht zögern wollte, Feuer<br />

13


zu kommandieren, wenn er sich zuvor nur vergewissert hätte, daß vor <strong>de</strong>n Gewehrläufen<br />

kein an<strong>de</strong>res Lebewesen stün<strong>de</strong> als die Wortverpester <strong>de</strong>r Welt!<br />

Nun, in solches Milieu, das in <strong>de</strong>r possenhaften Mimikry einer Republik noch<br />

weit bedrohlicher wirkt — <strong>de</strong>nn wo die Freiheit eine Attrappe ist, starrt es von<br />

echteren Lanzen und in diesem Winter <strong>de</strong>s Mißvergnügens spielen die Kin<strong>de</strong>r<br />

Deutschlands nicht mit Schneebällen, son<strong>de</strong>rn mit Handgranaten und wollen<br />

Kaiserbil<strong>de</strong>r haben —, in ein solches Reich <strong>de</strong>r Mondsüchtigen, die in <strong>de</strong>r<br />

Letzten Nacht wan<strong>de</strong>ln und beim geringsten Anruf vom Dach herunterschießen,<br />

dorthin mit <strong>de</strong>n Abschriften ihres Wahns zu reisen, mochte be<strong>de</strong>nklicher<br />

scheinen als in jenen letzten Tagen <strong>de</strong>r Menschheit, da noch Generalstabsberichte<br />

ihre Sehnsucht stillten und da sie nur durchhalten wollten bis zum Endsieg.<br />

Wie es <strong>de</strong>nnoch gelang und daß für <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Berlin hinter sich hatte, das<br />

dicke En<strong>de</strong> wenigstens in Innsbruck nachkommen mußte, sollen die folgen<strong>de</strong>n<br />

Dokumente zeigen, die <strong>de</strong>r Leser mit all <strong>de</strong>m Grauen <strong>de</strong>r Kontraste hinnehmen<br />

möge, die mich und <strong>de</strong>n Krieg begleiten, aber nicht mit jener physischen<br />

Qual, die ich bei solcher Aufbewahrung überwin<strong>de</strong>n mußte. Ich erstatte mit<br />

ihr nur meine Pflicht an eine an<strong>de</strong>re Zeit, die weniger zwiespältig mir gesinnt<br />

sein wird und die mich zurückgesandt hat, das geistige Inventar aufzunehmen,<br />

das sie kennen muß, um seine Erbschaft zu verschmähen, und damit<br />

vom Klad<strong>de</strong>radatsch dieser ruchlosen Banalität doch ein Protokoll vorhan<strong>de</strong>n<br />

sei! Denn die einzig wertvolle Urkun<strong>de</strong> ihrer Geistigkeit ist die Beweisschrift,<br />

die sie vor die Nachwelt zitiert.<br />

14<br />

Die Programme <strong>de</strong>r Berliner Vortragsaben<strong>de</strong> lauten:<br />

Klindworth—Schatwenka—Saal, 20. Januar, 8 Uhr:<br />

I. Monolog <strong>de</strong>s Nörglers (Schluß) / Oberndorff und die Schriftleiter<br />

/ Wilhelm und Ganghofer / Erzherzog Friedrich / Die Balla<strong>de</strong><br />

vom Papagei / Der sterben<strong>de</strong> Soldat.<br />

II. Die Wahnschaffe—Szene (vom Monolog <strong>de</strong>r Frau Wahnschaffe<br />

an) / Der Bauer, <strong>de</strong>r Hund und <strong>de</strong>r Soldat / Wilhelm und die Generale<br />

/ Fluch <strong>de</strong>s sterben<strong>de</strong>n Soldaten (»Der Zeuge«).<br />

Meister—Saal, 21. Januar, 8 Uhr:<br />

I. Abenteuer <strong>de</strong>r Arbeit / Vor einem Springbrunnen / Verlöbnis /<br />

Der Reim / Jugend / Unter <strong>de</strong>m Wasserfall / Ich habe einen Blick<br />

gesehn / Meinem Franz Janowitz / Gebet.<br />

II. Die letzte Szene <strong>de</strong>s V. Aktes (mit kurzer Vorbemerkung).<br />

Bechstein—Saal, 22. Januar, 8 Uhr:<br />

I. Die Weber I. und II. Akt.<br />

II. Die letzte Nacht.<br />

Der erste Abend war im 'Berliner Tageblatt' (22. Januar) besprochen:


Karl Kraus liest<br />

Von Kurt Tucholsky<br />

DER ZWANZIGJÄHRIGEN FACKEL<br />

Du hast zwanzig Jahr ins Land gestrahlt.<br />

Du hast manchen Schatten an die Wand gemalt —<br />

Rauchlos helle Flamme!<br />

Und wir sprachen zu <strong>de</strong>n feinen Röcken.<br />

Und wir sprachen zu <strong>de</strong>n kleinen Schmöcken:<br />

»Daß dich Kraus verdamme!«<br />

Gott sei Dank hast du noch nicht geen<strong>de</strong>t!<br />

Mancher schrie, von <strong>de</strong>inem Licht geblen<strong>de</strong>t,<br />

manches Equipagenpferd ward scheu.<br />

Viele kippelten im bloßen Gleiten<br />

Du hingegen — auch in großen Zeiten —<br />

bliebst dir selber treu.<br />

Dienstag abend las im Klindworth—Scharwenka—Saal Karl Kraus<br />

aus seinen Schriften.<br />

Und aus diesen schrecklichen, unerbittlich grausamen Schriften<br />

stieg jener Klang auf, <strong>de</strong>r entsteht, wenn ein blutiges Kreuz mit<br />

<strong>de</strong>r Welt zusammenstößt — aus je<strong>de</strong>r Zeile ruft: »Wie weit habt<br />

ihr euck von Güte und Liebe entfernt!« — Er las Szenen aus <strong>de</strong>n<br />

»Letzten Tagen <strong>de</strong>r Menschheit«, einem zyklopischen, unaufführbaren<br />

Drama — unaufführbar <strong>de</strong>shalb, weil <strong>de</strong>r Reichtum, unbekümmert<br />

um dramatische Gesetze, über die Rän<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Form<br />

quillt. Darin ist Kraus wie Rabelais: unbekümmert um die Wirkung.<br />

Man könnte getrost dies und das streichen — aus <strong>de</strong>m Gestrichenen<br />

machte ein an<strong>de</strong>rer ein neues Stück.<br />

Aber was will das alles gegen Form und Inhalt besagen! Form:<br />

letzte Schleifung <strong>de</strong>s Wortes, <strong>de</strong>m jener <strong>de</strong>r treueste Diener ist —<br />

die Sprache verrät sich in ihren Bil<strong>de</strong>rn selbst, sie enthüllt <strong>de</strong>n<br />

Sprechen<strong>de</strong>n und enthüllt eine Epoche, die unfähig, sich neue<br />

Formen zu bil<strong>de</strong>n, ihre Embleme aus einer vergangenen Zeit<br />

nimmt, ohne ahnen zu lassen, daß sie nicht mehr passen. (»Der<br />

Staat zog das Schwert.« Kein Wort wahr: die Büros schrieben eine<br />

neue Steuer aus.) Form: Durchblutung <strong>de</strong>s Wortes, feinstes Gefühl<br />

für die Nuance, für <strong>de</strong>n Dialekt, für die kleinen Sprachbequemlichkeiten,<br />

die sich <strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r jener erlaubt. Der nord<strong>de</strong>utsche Dialekt<br />

ist manchmal nur mit einem Wort ange<strong>de</strong>utet — und <strong>de</strong>r ganze<br />

Kerl steht vor einem.<br />

Inhalt. Diese Dinge sind zum allergrößten Teil in <strong>de</strong>n Kriegsjahren<br />

geschrieben wor<strong>de</strong>n. Dieser infernalische Haß gegen eine große<br />

Zeit, diese unbedingte Ablehnung, durch nichts zu erschüttern<strong>de</strong><br />

Ablehnung <strong>de</strong>s Blutvergießens ist damals eine Tat gewesen. Heute<br />

schreibt <strong>de</strong>rgleichen die halbe Schweiz und ein Zehntel Deutschlands,<br />

und das will nicht viel besagen. Aber damals, als die Wellen<br />

<strong>de</strong>r vaterländischen Begeisterung allzuhoch gingen — damals <strong>de</strong>rgleichen<br />

gewagt und gesagt zu haben: das will etwas be<strong>de</strong>uten.<br />

Und er hat's gewagt.<br />

15


Das Wort »Du sollst nicht töten«, prallt mit <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn vom »Gehorsam<br />

gegen die Obrigkeit« zusammen — und das große Wort<br />

gewinnt Macht über das kleine utilitaristische. Du sollst nicht töten<br />

... ! Und ein so konstruiertes Auge sah sich nun die große Zeit<br />

an und zeichnete ihre schrecklichsten Bil<strong>de</strong>r.<br />

Was hier gestaltet ist, mag sich oft erst nach <strong>de</strong>r Gestaltung ereignet<br />

haben. Und was sich nicht ereignet hat, das hat nur vergessen,<br />

sich zu ereignen — so grauenhaft echt ist das alles. Die<br />

großen Worte fallen ab, und es bleibt eine ungeheure Kulturschan<strong>de</strong>,<br />

die durch nichts zu entschuldigen ist.<br />

Der Vorleser K. ist einer <strong>de</strong>r stärksten Eindrücke. Er sieht fast<br />

niemals auf, er liest richtig vor — nur manchmal beschreiben diese<br />

seltsamen schmalen Finger einen Halbkreis o<strong>de</strong>r sie zeichnen<br />

eine Geste übertrieben auf ... nur die Stimme herrscht. Nein: <strong>de</strong>r<br />

Wille herrscht. Seine Stirna<strong>de</strong>r schwillt. Mit ungeheurer Intensität<br />

bricht das Geschriebene und Erlebte noch einmal heraus — eine<br />

Eruption seltenen Gra<strong>de</strong>s. Er darf es wagen, entgegen allen Vortragsgesetzen,<br />

fortissimo zu beginnen und andante fortzufahren —<br />

weil es wahr ist, in je<strong>de</strong>m Augenblick wahr. Schrei auf Schrei entringt<br />

sich dieser gequälten Brust, Ruf auf Ruf, Klage auf Klage.<br />

Und Anklage auf Anklage ...<br />

»Ich habe sie in Schatten geformt«, heißt es einmal. Das hat er.<br />

Wie Schemen, aber erschrecklich lebendig, tanzen diese bunten<br />

Burschen noch einmal vorbei, wie Schemen kichert das und posaunt<br />

und telegraphiert und hält Re<strong>de</strong>n auf einem Bankett — seltsam<br />

tot und seltsam lebendig. Es gibt ja schließlich bei diesen<br />

Dingen nur ein Kriterium: die Gänsehaut. Und hier ist Pathos, das<br />

keinen rationalistischen Witz verträgt, <strong>de</strong>r glatt und matt herunterfallen<br />

wür<strong>de</strong>.<br />

Du sollst nicht töten ... ! Das ist eine harte For<strong>de</strong>rung, eine unbequeme<br />

For<strong>de</strong>rung, eine unrationalistische For<strong>de</strong>rung. Er vertritt<br />

sie, er schreit sie hinaus, er pocht mit ehernem gekrümmten Knöchel<br />

an die Tür <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s, die mit <strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>sfarben angemalt ist.<br />

Und es klingt hohl ...<br />

Dies ist keine Parteiangelegenheit und keine Lan<strong>de</strong>sfrage. Hier<br />

ruft ein Mensch und gibt euch alles in allem: Kunst, Gesinnung,<br />

Politik und sein rotes, reines Herzblut.<br />

Es wur<strong>de</strong> eine; aber erst in Innsbruck.<br />

Über <strong>de</strong>n zweiten Abend brachte <strong>de</strong>r 'Vorwärts' (Abendausgabe vom<br />

22. Januar) die folgen<strong>de</strong> Kritik:<br />

16<br />

Karl Kraus las aus seinen Dichtungen an zwei Aben<strong>de</strong>n für die<br />

hungern<strong>de</strong>n Wiener Kin<strong>de</strong>r. Gestern im Meistersaal. Vor einer<br />

dichtgedrängten Masse. Und es gehört zum Bil<strong>de</strong>, zu sagen, daß<br />

sie ganz aus <strong>de</strong>n jungen Lebensaltern bestand. Also: die Generationen<br />

<strong>de</strong>r nächsten Zukunft drängen sich nach seinem Wort. Und<br />

dies Wort ist Sonnewollen und Frühlingsbegehren, und es ist<br />

Bruch mit <strong>de</strong>m, was gestern übermächtig war, auffliegen<strong>de</strong>r Helldrang<br />

und schonungslos richten<strong>de</strong>r, hinrichten<strong>de</strong>r Bruch. Also <strong>de</strong>r<br />

Karl Kraus von heute, wie ihn das überbarbarische Ungetüm Welt-


krieg anfallend erweckt hat, ein Erzeugnis <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s zur<br />

Selbstbehauptung, <strong>de</strong>r ihn hinauswan<strong>de</strong>lte über die geistige Art<br />

von vor<strong>de</strong>m. Der Pessimist, <strong>de</strong>m die breite menschliche Masse<br />

verächtlich war, weil sie aus sich selbst nicht hinauskam über<br />

Nichtigkeit, ist zum menschheitentflammten Rächer und Schützer<br />

gewor<strong>de</strong>n, und aus diesem Geiste wirkte er auch gestern im Meistersaal.<br />

Inmitten <strong>de</strong>r Vortragsfolge gab es eine lyrische Gruppe, in<br />

<strong>de</strong>r tönend emporgreifen<strong>de</strong>r Lichtdrang übersprang in sich aufbäumen<strong>de</strong>n,<br />

gottverklagen<strong>de</strong>n Schrei: ein Kämpfer, das furchtbare<br />

Ganze <strong>de</strong>r Kriegsschrecken beherrschend im Geiste, packt mit<br />

erwürgen<strong>de</strong>r Gewalt die Henkerkultur <strong>de</strong>r Mordjahre. Und <strong>de</strong>r<br />

kräftige Beifallsgruß, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Frühlingswille löste, wuchs nach<br />

<strong>de</strong>n Anklageschlägen zu Beifallsgebraus. Dann aber kam die äußerste<br />

Steigerung <strong>de</strong>s Abends: <strong>de</strong>r Vortrag <strong>de</strong>s Schlußakts <strong>de</strong>s<br />

dramatisch aufrollen<strong>de</strong>n Kriegszeitgemäl<strong>de</strong>s: »Die letzten Tage<br />

<strong>de</strong>r Menschheit«. Ein Weltgedränge von Gesichten <strong>de</strong>s Krieges!<br />

Geschnitten mit <strong>de</strong>n Messern empörter Satire. Im Dienst <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit, die zu Gericht sitzt über ein wahnsinnig Menschenblut<br />

verwirtschaften<strong>de</strong>s Gewaltpack von hohlbrutalen Nichtsen!<br />

»Weltgericht« heißt das Doppelbuch, in <strong>de</strong>in K. zusammengestellt<br />

hat, was er während <strong>de</strong>s Krieges in seiner »Fackel« schrieb. In<br />

seinem dramatischen Gemäl<strong>de</strong> faßt Künstlerkraft <strong>de</strong>n Inhalt dieses<br />

dokumentarischen Buchs keulen<strong>de</strong>r Satire zusammen. Um<br />

Mißverständnisse zu verhin<strong>de</strong>rn, teilte K. mit, daß seine Szenen<br />

während <strong>de</strong>s Krieges entstan<strong>de</strong>n sind. Ein Saufgelage <strong>de</strong>r Offiziere<br />

im Saal eines Korpskommandos, eine Tummelstun<strong>de</strong> hirnloser<br />

Kriegsphrasen, ein Wettjagen von Zynismus, Borniertheit, Aufgeblasenheit.<br />

Es ist während <strong>de</strong>r Schlacht, die sich allmählich zum<br />

feindlichen Durchbruch entwickelt. Als die Katastrophe vollkommen<br />

ist, wird <strong>de</strong>r Hintergrund <strong>de</strong>r Szene, das riesige Wandbild<br />

»Die große Zeit«, zu einer Flucht von Bil<strong>de</strong>rn, in <strong>de</strong>r alle Furchtbarkeiten<br />

kriegerischer Menschenverwüstung vorüberhetzen. Szene<br />

schnell hinter Szene, kurze, kürzeste Takte <strong>de</strong>s Grauens, jähe,<br />

erbarmungslos wahre Würfe, ein Kaleidoskop <strong>de</strong>s Entsetzens, ein<br />

In<strong>de</strong>x aller Formen <strong>de</strong>r ungeheuersten Mordschuld, mit <strong>de</strong>r eine<br />

fallreife Gesellschaft ihr En<strong>de</strong> besiegelte. Eine Szene nennt <strong>de</strong>n<br />

Kronprinzen, vor <strong>de</strong>m bei einer Truppenbesichtigung Flammenwerfer<br />

ein W in die Luft zeichnen; als <strong>de</strong>r Dichter dabei symbolisch<br />

vom großen Weh <strong>de</strong>r Zeit spricht, schrillt von <strong>de</strong>r Tür her ein<br />

Pfiff durch <strong>de</strong>n Saal; es gibt Lärm gegen <strong>de</strong>n Pfeifer, lautes Hän<strong>de</strong>klatschen<br />

für K. und <strong>de</strong>r Störer, <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>utsch entrüstet,<br />

wird aus <strong>de</strong>r Tür gedrängt. Nach <strong>de</strong>r vollen Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Aktvortrags,<br />

einer stärksten Stun<strong>de</strong>, mischt sich in die mächtigen Ovationen<br />

für K. abermals die Schrillpfeife, und nun wer<strong>de</strong>n zwei all<strong>de</strong>utsche<br />

Bürschlein, während im Saal Beifall ohne En<strong>de</strong> stürmt,<br />

draußen nach Verdienst behan<strong>de</strong>lt: ein paar handfeste Stöße beför<strong>de</strong>rn<br />

sie die Treppe hinunter. Sie hatten keinen Anhang gefun<strong>de</strong>n.,<br />

Die Anklage, die Karl Kraus, allen landläufigen Pazifismus<br />

mit wuchtiger Größe <strong>de</strong>s Kämpfens überflügelnd, geschmie<strong>de</strong>t,<br />

riß alles auf ihre Seite. Aus erschüttertem Geiste tiefster Menschlichkeit<br />

geboren, in erschüttern<strong>de</strong>m Vortrag hineingeschleu<strong>de</strong>rt in<br />

die dichte Hörerschaft, gab sie Gewaltiges, wie es gegeben wer-<br />

17


<strong>de</strong>n muß, wenn für die immer noch in Masse nie<strong>de</strong>rgemäht sinken<strong>de</strong>n<br />

Opfer bis zur verbrecherischen Gewissenlosigkeit verfaulter<br />

Staatsgewalten um Hilfe geworben wird. zd.<br />

Der unbeträchtliche Zwischenfall, <strong>de</strong>r hier mit sachlicher.Genauigkeit<br />

dargestellt ist — einen ähnlichen äußeren Erfolg hatte vorher auch keine Wiener<br />

Vorlesung gefun<strong>de</strong>n — ist im Neuen Wiener Journal (31. Januar) wie folgt<br />

behan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n:<br />

Ein Karl—Kraus—Skandal in Berlin.<br />

NATIONALISTEN PROTESTIEREN GEGEN DEN PAZIFISMUS.<br />

Wie uns aus Berlin gemel<strong>de</strong>t wird, kam es dieser Tage bei einer<br />

Vorlesung von Karl Kraus aus seinem »Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschheit« im<br />

Berliner Meistersaal zu einem großen Skandal.<br />

*<br />

Der Berliner 'Vorwärts' berichtet über <strong>de</strong>n unruhigen Abend: — —<br />

Folgt <strong>de</strong>r Nachdruck <strong>de</strong>s zweiten Passus von <strong>de</strong>n Worten an: »'Weltgericht'<br />

heißt das Doppelbuch«, mit Hinausfälschung <strong>de</strong>r Worte »<strong>de</strong>r sich<br />

<strong>de</strong>utsch entrüstet« und Zivilisierung 1 <strong>de</strong>r zwei all<strong>de</strong>utschen Bürschlein zu<br />

»zwei Bürschlein«. Wie aber kam das Neue Wiener Journal zu <strong>de</strong>m Originalbericht<br />

über <strong>de</strong>n großen Skandal über das Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschheit, da <strong>de</strong>r<br />

Nachdruck aus <strong>de</strong>m 'Vorwärts', einer schlichten Vortragskritik entnommen, in<br />

<strong>de</strong>r die Büberei, so nebensächlich wie sie war, nur beiläufig behan<strong>de</strong>lt ist, we<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Eindruck einer Sensation noch <strong>de</strong>n dazugehörigen Titel rechtfertigt.<br />

Als »sensationell« wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Geschmack dieser Presse wohl <strong>de</strong>n Erfolg bezeichnen,<br />

wenn sie von diesem ohne das Zwischenspiel Notiz nähme. Da sie<br />

das aber nicht tut und <strong>de</strong>nnoch eine Sensation braucht, so erfin<strong>de</strong>t sie sie<br />

wohl? Nein, sie stiehlt, was ein all<strong>de</strong>utscher Parteischmock erfun<strong>de</strong>n hat. Das<br />

Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Menschheit, welches die Presse ist, hat manchmal eine Quelle, die<br />

man nicht vermuten wür<strong>de</strong>. Was die Fe<strong>de</strong>r uns Deutschen erworben hat, wird<br />

durch die Schere unser Besitz, sagt Bismarck o<strong>de</strong>r so ähnlich. In <strong>de</strong>r Berliner<br />

'Deutschen Zeitung', <strong>de</strong>m Organ <strong>de</strong>s sympathischen Reventlow, <strong>de</strong>ssen weltdramatisches<br />

R Rabelais in seiner prophetischen Pikrocholler—Szene jenem<br />

Grafen Rauf<strong>de</strong>gen in <strong>de</strong>n Mund gelegt hat, erschien in <strong>de</strong>r Abendausgabe <strong>de</strong>s<br />

23. Januar die folgen<strong>de</strong> Beschwer<strong>de</strong> eines <strong>de</strong>r Hinausgeworfenen, eines <strong>de</strong>r<br />

all<strong>de</strong>utschen Bürschlein <strong>de</strong>s Neuen Wiener Journals, <strong>de</strong>m es nunmehr einen<br />

Original(Eigen)—Bericht verdanken sollte:<br />

TUMULT IM MEISTERSAAL. Es ist ein Zug <strong>de</strong>r Zeit, so wird uns geschrieben,<br />

daß nicht nur Deutsche sich gegenseitig mit Schmutz bewerfen,<br />

son<strong>de</strong>rn daß sogar Auslän<strong>de</strong>r, die hier Gastrecht genießen, es<br />

wagen dürfen, Leuten, die nur über Schmutz lachen können, ihre<br />

hohlen, scheinbar geistreichen Phrasen vorzusetzen. Gestern<br />

abends las Herr Karl Kraus im Meistersaal aus seinen »Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

1 Genau wie heute (2013) das islamfreundliche Lumpenpack nicht »von einer Meute islamischer<br />

Jugendlichen«, son<strong>de</strong>rn »von einer Gruppe von Jugendlichen« spricht, die aber seltsamerweise<br />

nicht Daniel A., Friedrich B. o<strong>de</strong>r Jörg C., son<strong>de</strong>rn Coskun A., Koray B. o<strong>de</strong>r<br />

Sihan C. heißen.<br />

18


Menschheit« vor, wobei übrigens Pressevertreter ausgeschlossen<br />

waren. Die Wirkung <strong>de</strong>s »Gedichts« war, daß sich bei <strong>de</strong>nen, die<br />

sich nicht an zusammengewürfelten Schmähungen ergötzen können,<br />

<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rwille an seinem Erzeugnis so steigerte, daß man<br />

zischte und pfiff. Zuletzt kam es zu erregten Szenen. Der Beifall<br />

<strong>de</strong>r Anhänger <strong>de</strong>s Herrn Kraus erzeugte Gegenkundgebungen.<br />

Junge Burschen aus <strong>de</strong>r Schar <strong>de</strong>s Herrn Kraus versuchten sogar,<br />

auf Damen loszuschlagen. Der »Dichter« täte besser, seine Erzeugnisse,<br />

die das <strong>de</strong>utsche nationale Gefühl beleidigen, an<strong>de</strong>rwärts<br />

abzula<strong>de</strong>n.<br />

Das Kennzeichen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschvölkischen Eindruckslüge, <strong>de</strong>ren Analphabetentum<br />

<strong>de</strong>r jüdischen Reportage nachstümpert, ist — von Berlin bis Innsbruck<br />

— die Fiktion, daß eine Vorlesung eigentlich zu Störungszwecken stattfand<br />

und die redliche Absicht — das Publikum folgte mit Wi<strong>de</strong>rwillen — durch<br />

ein paar applaudieren<strong>de</strong> Gewalttäter, in <strong>de</strong>r Regel Ju<strong>de</strong>n, vereitelt wur<strong>de</strong>. Es<br />

ist ein Zug <strong>de</strong>r Zeit, so wird uns geschrieben, daß so etwas passieren kann,<br />

und <strong>de</strong>r »Schriftleiter« — welch ein Versuch, <strong>de</strong>n Redakteur einzu<strong>de</strong>utschen<br />

— ist auf <strong>de</strong>n Bericht eines Hinausgeworfenen angewiesen, <strong>de</strong>nn bezeichnen<strong>de</strong>rweise<br />

— man muß <strong>de</strong>n Satz in Sperrdruck bringen — waren Pressevertreter<br />

ausgeschlossen. Was nicht nur eine Gemeinheit ist, son<strong>de</strong>rn auch ein Beweis<br />

für das schlechte Gewissen, das die Erzeugnisse heimlich irgendwo abla<strong>de</strong>n<br />

will, um sich dann aus <strong>de</strong>m Staube zu machen. Es ist nicht gelungen, man<br />

hat ihn erwischt, <strong>de</strong>nn einer unserer Mitarbeiter hatte Gelegenheit, an Ort<br />

und Stelle hinausgeworfen zu wer<strong>de</strong>n. Der Vortragen<strong>de</strong> hatte es gewagt, Leuten,<br />

die nur über Schmutz lachen können, seine hohlen, scheinbar geistreichen<br />

Phrasen vorzusetzen, sie haben es ihm aber gezeigt. Denn <strong>de</strong>r Deutsche<br />

lacht nur über Schmutz, nicht aber über eine so reine Sache wie das Liebesmahl<br />

bei einem Korpskommando, während er das, was sich inzwischen weiter<br />

draußen ereignet, nicht tragisch nimmt. Dagegen nehme ich es tragisch, daß<br />

die Einrichtung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschnationalen Schriftleiter es <strong>de</strong>m Privatkretin ermöglicht,<br />

eine Aussage, mit <strong>de</strong>r er sonst nur am Stammtisch einen Erfolg gewärtigen<br />

konnte, in Schrift und von da ohne Wasserspülung in <strong>de</strong>n Kanal <strong>de</strong>s<br />

öffentlichen Bewußtseins zu leiten. Und die weitere Folge ist, daß alles, was<br />

in <strong>de</strong>utschen und österreichischen Provinzen schriftleitet, mit <strong>de</strong>r Schere in<br />

<strong>de</strong>r Hand schon wartet, so daß das Zeugnis eines von zwei Hinausgeworfenen<br />

die öffentliche Meinung dieser Gegend befestigt und überallhin <strong>de</strong>r Pfiff <strong>de</strong>n<br />

Orkan übertönt. Und nicht nur die Partei— und die Skandalpresse, auch ihre<br />

politisch o<strong>de</strong>r geschäftlich phlegmatischeren Schwestern wollen nunmehr <strong>de</strong>r<br />

Nachricht nicht entraten. Da es mich betrifft und ich vielleicht doch einmal<br />

<strong>de</strong>n vielfachen Rufen nach Linz, wiewohl dieses <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s Hermann<br />

Bahr bisher nicht abgestritten hat, Folge leisten könnte, so druckt es die dortige<br />

'Tagespost' (28. Januar) nach, kann, weil sie zwar <strong>de</strong>utsch, aber doch freisinnig<br />

ist, die anrüchige Quelle nicht angeben und macht das so:<br />

[Tumult im Berliner Meistersaal.] Es ist ein Zug <strong>de</strong>r Zeit, so wird<br />

geschrieben, daß — — Gestern abends — — Pressevertreter ausgeschlossen<br />

— — man zischte und pfiff — — auf Damen loszuschlagen<br />

— — täte besser, seine Erzeugnisse, die das <strong>de</strong>utsche nationale<br />

Gefühl beleidigen, an<strong>de</strong>rwärts abzula<strong>de</strong>n.<br />

19


Doch nicht in Linz? Nein, kein Zug <strong>de</strong>r Zeit, so wird geschrieben, bringt<br />

mich dorthin. Es wäre <strong>de</strong>nn, daß mich, <strong>de</strong>r schon die Grazer vor ihrer Tagespost,<br />

die Prager vor <strong>de</strong>r Bohemia und beinahe die Innsbrucker vor ihren<br />

Nachrichten gewarnt hat, ein ähnliches Gelüste verführte o<strong>de</strong>r aber <strong>de</strong>r satanische<br />

Einfall, <strong>de</strong>n Oberösterreichern etwas für die hungern<strong>de</strong>n Wiener Kin<strong>de</strong>r<br />

abzuknöpfen. Aber daß man eine Bewilligung braucht, um nach Linz zu<br />

reisen, stimmt mich <strong>de</strong>rmaßen traurig, daß mich selbst die Schamlosigkeit<br />

seiner Tagespost nicht animieren kann. Erst wenn meine dortigen Anhänger<br />

mir das Geständnis dieser liberalen Zeitung vorweisen, daß sie ein all<strong>de</strong>utsches<br />

Blatt bestohlen hat, um mir einen feigen Schimpf anzutun, und daß es<br />

ein Zug <strong>de</strong>r Zeit ist, daß zu viel geschrieben und noch mehr gelogen wird, und<br />

wenn aus diesem Wust von Unehrlichkeit, <strong>de</strong>utscher Gesinnung und Anonymität<br />

wenigstens das eine resultiert, daß sich die Linzer entschließen, das<br />

Entree in Form von je zwei Kilo Mehl an <strong>de</strong>n wohltätigen Zweck zu entrichten,<br />

und wenn vor Beginn <strong>de</strong>r Vorlesung mir nachgewiesen wird, daß <strong>de</strong>r Hermann<br />

Bahr nur aus Urfahr stammt, dann, ja dann könnte ich, vielleicht, mit<br />

mir re<strong>de</strong>n lassen und geneigt sein, <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sregierung die Bewilligung zu<br />

meiner Einreise in Oberösterreich zu erteilen.<br />

Nach diesem Abstecher auf Linz, <strong>de</strong>r immer eine Metapher bleiben<br />

wird, weil ich schon wegen meiner Erfahrungen mit Innsbruck bezüglich <strong>de</strong>r<br />

Län<strong>de</strong>r lebhaften Lostrennungsbestrebungen zuneige, kehre ich gern nach<br />

Berlin zurück, <strong>de</strong>m ich dafür dankbar bin, daß es innerhalb seiner unbegrenzten<br />

Möglichkeiten und trotz allen Greueln, die mir die Künstlerzimmer seiner<br />

Säle vorbehielten, mir eine Insel herzlichen Verständnisses darbot, auf die,<br />

außer jenem Pfiff, kein Ton aus <strong>de</strong>r Wüste all<strong>de</strong>utschen Irrsinns drang. Die<br />

außeror<strong>de</strong>ntliche Teilnahme an <strong>de</strong>n zwei Vorlesungen bewirkte die Miete eines<br />

dritten Saals, <strong>de</strong>r — am darauffolgen<strong>de</strong>n Abend schon und da nur die Lektüre<br />

<strong>de</strong>r »Weber« angekündigt wur<strong>de</strong> — bloß zu zwei Drittteilen besetzt war.<br />

Über diesen Vortrag brachte die 'Vossische Zeitung' (Abendausgabe vorn<br />

23. Januar) das folgen<strong>de</strong> Referat:<br />

20<br />

Karl Kraus, <strong>de</strong>r Mann <strong>de</strong>r Wiener »Fackel«, las im Bechsteinsaale<br />

vor einem Kreise treuer Hörer. Ihrem Enthusiasmus bot er zwei<br />

Akte aus Hauptmanns »Webern« und <strong>de</strong>n Epilog seiner eigenen<br />

Kriegsdichtung »Die letzten Tage <strong>de</strong>r Menschheit«.<br />

Dieser glühen<strong>de</strong> Geist hat sich schon vor <strong>de</strong>m Kriege, zum Unterschie<strong>de</strong><br />

von seinen Nachläufern, das Recht erworben, zum Zeitenwahnsinn<br />

Nein zu sagen. Sein Temperament brennt Wun<strong>de</strong>n, sein<br />

Witz streut Salz hinein, wenn er über ein Pandämonium von Heerführern,<br />

Kriegsberichterstattern, Schiebern, <strong>de</strong>n Weltuntergang<br />

hereinbrechen läßt. Er müßte freilich nicht Karl Kraus' scharfe<br />

Augen haben, sollte er nicht sehen, wie sein schöpferisches Talent<br />

im Format das Ungeheure <strong>de</strong>s Problems verfehlt. Aber die Kritik<br />

verstummt beim Anblick, wie sich diesem Vorleser <strong>de</strong>r Haß eines<br />

ganzen Lebens entlädt. Denn seine Vortragskunst enttäuscht auch<br />

die höchsten Erwartungen nicht. Keine »Weber«—Aufführung<br />

kann die Luft im Saale stärker mit Hauptmannschem Mitgefühl<br />

sättigen, als dieser einsame Leser. Er bringt aufs Podium ein Buch<br />

mit, eine Stimme, die singen, zittern, gewittern kann, und eine<br />

Hand, mit ihren Gesten eine heftige Helferin <strong>de</strong>r Worte, die aus<br />

<strong>de</strong>n schmalen Lippen dringen. Von Brahms Szene scheinen Töne<br />

wie<strong>de</strong>rzuklingen, etwa wenn <strong>de</strong>r alte Baumert greint. Doch mit


Kunstfertigkeit könnte ein Rezitator wetteifern. Warum nicht mit<br />

<strong>de</strong>m Erlebnis <strong>de</strong>s Vorlesers K.? Weil sich hier etwas auftut, jenseits<br />

<strong>de</strong>s Artistischen. Vater Baumert mag es aussprechen, wenn<br />

er zu Karl Kraus, wie zum Jägermoritz spricht: »Du kannst lesen<br />

und schreiben. Du hast a Herze fer <strong>de</strong> arme Weberbevelkerung.«<br />

M. J.<br />

(Sinnig angewen<strong>de</strong>t. Und ausgezeichnet beobachtet, daß ich mit meinen<br />

scharfen Augen gesehen habe, wie mein schöpferisches Talent im Format das<br />

Ungeheure <strong>de</strong>s Problems verfehlt hat; und daß ein Berliner mir zugibt, ich sei<br />

so helle wie ein Berliner, ist gewiß viel. Offenbar ist das Problem <strong>de</strong>s Weltuntergangs<br />

in <strong>de</strong>r »Letzten Nacht« gemeint, <strong>de</strong>m ich tatsächlich im Format auch<br />

nicht annähernd gerecht wur<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m nämlich vom Concordiaball gesprochen<br />

wird, von Benedikt und Angelo Eisner, ja sogar von <strong>de</strong>r Frau Fanto, was<br />

eben alles Motive sind, <strong>de</strong>ren Zulässigkeit in einer Glosse ein vielumstrittenes<br />

Privileg bil<strong>de</strong>t, die aber in einem Drama über <strong>de</strong>n Weltuntergang unmöglich<br />

Platz haben können, da doch bei einem solchen an<strong>de</strong>re Sorgen im Vor<strong>de</strong>rgrund<br />

stehen dürften. Es ist aber bezeichnend, daß ich, wenn ich schon einmal<br />

ein größeres Thema habe — und <strong>de</strong>r Weltuntergang ist eines —, es durch<br />

Kleinlichkeiten herabzerren muß und ehe die Stimme Gottes ertönt, von <strong>de</strong>m<br />

Hang nicht lassen kann, <strong>de</strong>n Benedikt zu sticheln. Richtig ist auch, daß ich<br />

das alles mit meinen scharfen Augen bemerkt habe, als es geschrieben war, ja<br />

schon während<strong>de</strong>m, aber wie das schon so ist, hab' 'ich mir halt gedacht: Ach<br />

was, jetzt, wer' ich das nicht wie<strong>de</strong>r herausstreichen o<strong>de</strong>r umän<strong>de</strong>rn, jetzt soll<br />

schon alles erscheinen, wie es ist! Sonst weiß in <strong>de</strong>r Regel <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>m so was<br />

passiert, nämlich daß er das Format verfehlt, zumal wenn er ein schöpferisches<br />

Talent ist, nicht das geringste davon, <strong>de</strong>nn er ist einfach verblen<strong>de</strong>t; mir<br />

mit meinen scharfen Augen, die <strong>de</strong>n Fehler gleich bemerken, mir erübrigt die<br />

Erkenntnis, aber dafür auch die künstlerische Gewissenlosigkeit, die Arbeit<br />

erscheinen zu lassen und sie sogar noch vor einer Kritik, die doch auch scharfe<br />

Augen hat, vorzulesen. Denn wenngleich ich sie nicht gerufen habe, so ist<br />

sie doch da und ich sollte nicht vergessen, daß wer eine Meinung hat, auch<br />

leicht das Amt haben kann, sie an<strong>de</strong>rn beizubringen, und daß <strong>de</strong>r Tiefsinn eines<br />

einzelnen Saalbesuchers am nächsten Tag das Urteil von hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong>n<br />

begrün<strong>de</strong>t. Mit meinen scharfen Augen kann ich dann die Zeitung lesen<br />

und mir bleibt höchstens noch das Bedauern, daß eine Kritik, die zu verstummen<br />

vorgibt, es doch nicht getan hat.)<br />

Die ganze Polyphonie <strong>de</strong>s in drei Wochen Erlebten ermißt man, wenn<br />

man bloß die folgen<strong>de</strong> Zusammenfassung über die schönen Berliner Aben<strong>de</strong>,<br />

in <strong>de</strong>r kein Skandalton anklingt, mit <strong>de</strong>m Höllengekreisch zusammenhält, welches<br />

<strong>de</strong>n Ausgang meiner Fahrt nicht nur mir, son<strong>de</strong>rn allen unvergeßlich machen<br />

wird, die mit mir die Unehre <strong>de</strong>r zeitlichen und räumlichen Nähe zu diesen<br />

Dingen gefühlt haben.<br />

Dichter und Richter.<br />

BERLINER ABENDE VON KARL KRAUS.<br />

An drei Aben<strong>de</strong>n hat K. K. in Berliner Vortragssälen Begeisterung<br />

geweckt und für seinen infernalischen Haß gegen alles, was diese<br />

Welt zum Friedhof gemacht hat, Liebe, bewun<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Liebe gefun<strong>de</strong>n.<br />

Seine Zeit ist gekommen.<br />

21


22<br />

Wir aber erinnern uns <strong>de</strong>r Zeit, die noch nicht die seinige war. Er,<br />

K., hat geholfen, sie zu wan<strong>de</strong>ln. Auf <strong>de</strong>n Wiener Schulbänken haben<br />

wir die roten »Fackel«—Hefte von Hand zu Hand gehen lassen;<br />

aus zusammengepumpten Kreuzern war so ein Heft erstan<strong>de</strong>n;<br />

gelesen, nein, zerlesen wur<strong>de</strong> es in <strong>de</strong>n Schrank gelegt. Vielleicht<br />

neben Schillers »Räuber« — weil hier wie dort <strong>de</strong>r brausen<strong>de</strong><br />

Kampfruf: »In tyrannos« durch die Welt schwang. Unser<br />

Lehrer für <strong>de</strong>n wichtigen Gegenstand »Deutsche Sprache« war<br />

Karl Kraus: er ist es geblieben. Als Schuljungen war es unsere<br />

Wonne, wenn er manchem erwachsenen Deutschschreiber ein vernichten<strong>de</strong>s<br />

»Ungenügend« aufknallte. Er zwang uns, die wir im<br />

Wiener Augarten nach <strong>de</strong>n Sternen griffen und unseren Schmerz,<br />

unsere Sehnsucht in die stillen Alleen <strong>de</strong>klamierten (wir waren<br />

zwölf, dreizehn Jahre und hatten noch nichts für die Unsterblichkeit<br />

getan!) zu sich. Obschon er gera<strong>de</strong> das nie und nimmer will;<br />

seine Stärke ist die Einsamkeit. Seine Liebe zum Guten <strong>de</strong>r Haß<br />

gegen das Schlechte und Häßliche. Ein Ganzer, Eigener ist er,<br />

und die objektive Erkenntnis, daß die Objekte eines gewittern<strong>de</strong>n<br />

Zorns nicht immer im richtigen Verhältnis zur Größe <strong>de</strong>s Ausbruches<br />

stehen, kann die subjektive Wertung dieser kraftvollen,<br />

durchgluteten Persönlichkeit nie bestimmen. Mancher Gegenstand<br />

seiner Attacken wird sang— und klanglos untergegangen<br />

sein: die Erinnerung an die Attacke wird bleiben. Denn sein Wort,<br />

sie müssen es stehen lassen. Sein Wort ist nicht geschrieben, es<br />

ist gehämmert und geschweißt, durch die Rotweißglut eines ungeheuerlichen<br />

Temperamentes gegangen und vom zartesten Fühlen<br />

zum Leben geweckt. Was Fritz Mauthner vom Leben <strong>de</strong>r Sprache<br />

ernsthaft—scherzend meinte, ist bei K. verwirren<strong>de</strong>, bannen<strong>de</strong><br />

Wahrheit: daß die Buchstaben eines Wortes, die Worte eines Satzes<br />

durcheinan<strong>de</strong>r—aufeinan<strong>de</strong>r zu stoßen scheinen, daß sie ein<br />

richtiges, koboldhaftes Dasein führen. Das wird bei K. zur Lebensgewalt.<br />

Den tiefsten Sinn seines Wortes vermag nur er selbst zu kün<strong>de</strong>n.<br />

Das macht seine Vortragsaben<strong>de</strong> zum Außeror<strong>de</strong>ntlichsten. Wie<strong>de</strong>r<br />

hat man es erfahren, und wenn auch das »Zeitgemäße« die<br />

Wirkung dieser Aben<strong>de</strong> steigern mußte, so kam das Bezwingendste<br />

doch aus <strong>de</strong>m Gefühl, daß hier einer das schauerlichste Erleben<br />

<strong>de</strong>r großen Zeit in zeitlose Form gepreßt hat. Gepreßt — <strong>de</strong>nn dieses<br />

vielaktige satirisch—dämonisch—titanenhafte Werk »Die letzten<br />

Tage <strong>de</strong>r Menschheit« wer<strong>de</strong>n.. als das Dokument von <strong>de</strong>r Zeiten<br />

Schan<strong>de</strong> und von Europas Not bleiben. Eine Gespenstersonate.<br />

Sie leben, salutieren, sagen von Nibelungentreue, wer<strong>de</strong>n ihren<br />

Soldaten schon das Sterben lehren, o ja!, und fluchen <strong>de</strong>n<br />

»Skriblern« und <strong>de</strong>n »Frontschweinen«, die sich, o wahrhaft<br />

großer Tag, endlich doch kampflos vom Fein<strong>de</strong> ablösen. Was ist<br />

das da im Kasino hinter <strong>de</strong>r Piavefront? Dies lebt — und ist doch<br />

tot! Dies war tot — und lebt doch wie<strong>de</strong>r! Ein Dichter, <strong>de</strong>r unerbittlicher<br />

Richter ist, hält die Wage <strong>de</strong>r Zeit in seiner Hand und<br />

weint, daß die Schale <strong>de</strong>r Wahrheit leer hochsteigt. Hohe Generale,<br />

die flotten Offiziere, das sterben<strong>de</strong> »Frontschwein«, gepeinigte<br />

Zivilbevölkerung, verschobener Mais, steigen<strong>de</strong>r Preis, Standgericht<br />

und Schandgericht: es taumelt, zieht, flieht, tappt vorüber,


allt sich zu schauerlichen Visionen, und ist, dieweil es satanischer<br />

Spuk scheint, Wahrheit gewesen. Ist es noch, wird es für immer<br />

bleiben. Kein Schlachtbericht <strong>de</strong>r Schlächterzeit hat dies<br />

Grauen ausgelöst, kein Jammer dieses Herzbangen. Niemals stärker<br />

als in diesem gellen<strong>de</strong>n Schrei wur<strong>de</strong> uns allen die Stimme<br />

<strong>de</strong>r mißhan<strong>de</strong>lten Kreatur hörbar.<br />

So hat, endlich, die Zeit <strong>de</strong>r Kriegsdichter ihren Kriegsrichter gefun<strong>de</strong>n.<br />

Und wenn es in <strong>de</strong>r Hauptstadt dieses (seiner Verfassung<br />

nach republikanischen) Reiches eine wirklich i<strong>de</strong>ale Schaubühne<br />

gäbe, dann hätte sie <strong>de</strong>m Richter längst das Werk <strong>de</strong>s Dichters abgerungen,<br />

längst diesen Teufelsspuk vor <strong>de</strong>r Kulisse unserer Tage<br />

erscheinen lassen. Alle, die es traf, wären ein einzigartiges Publikum.<br />

Sie wür<strong>de</strong>n, zwischen bitterem Lachen und getröstetem Weinen,<br />

<strong>de</strong>n Mann in Ehrfurcht grüßen, <strong>de</strong>m zum genialen Können<br />

das inbrünstige Wollen ward. Und <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>n letzten Tagen einer<br />

verlorenen Menschheit <strong>de</strong>n Weg zu <strong>de</strong>n ersten einer neuen<br />

Menschheit sucht.<br />

Max Schach.<br />

Es scheitert nicht an <strong>de</strong>m Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Theaterdirektoren. Reinhardt<br />

und an<strong>de</strong>re haben sich um das Werk beworben, aber <strong>de</strong>r Autor hat es als zur<br />

Aufführung ungeeignet abgelehnt.<br />

Die Programme <strong>de</strong>r Münchner Vortragsaben<strong>de</strong> lauten:<br />

Vier Jahreszeiten—Saal, 27. Januar, 7 Uhr:<br />

I. Vorwort / Monolog <strong>de</strong>s Nörglers (Schluß) / Der sterben<strong>de</strong> Soldat<br />

/ Erzherzog Friedrich / Wilhelm und die Generale (mit einer Randbemerkung)<br />

/ Fluch <strong>de</strong>s sterben<strong>de</strong>n Soldaten (»Der Zeuge«).<br />

II. Die letzte Szene <strong>de</strong>s V. Aktes.<br />

Im Kurt Wolff—Haus vor gela<strong>de</strong>nem Publikum, 29. Januar, 7 Uhr:<br />

I. Abenteuer <strong>de</strong>r Arbeit / Vor einem Springbrunnen / Verlöbnis /<br />

Der Reim / Jugend / Vor <strong>de</strong>m Einschlafen / Traum vom Fliegen /<br />

Wie<strong>de</strong>rsehn mit Schmetterlingen / Unter <strong>de</strong>m Wasserfall / Ich<br />

habe einen Blick gesehn / Der Bauer, <strong>de</strong>r Hund und <strong>de</strong>r Soldat /<br />

Gebet.<br />

II. Die Weber I. und II. Akt.<br />

Das Vorwort, das ähnlich auch am zweiten Berliner Abend gesprochen<br />

wur<strong>de</strong>:<br />

Zweck und Inhalt meiner Berliner und Münchner Vorlesungen sollen<br />

vor Miß<strong>de</strong>utung bewahrt sein. Zunächst sei gesagt, daß <strong>de</strong>r<br />

Ertrag dieser Aben<strong>de</strong> <strong>de</strong>n hungern<strong>de</strong>n Wiener Kin<strong>de</strong>rn zufällt.<br />

Dann aber, um <strong>de</strong>r furchtbaren Verwechslung mit jenen Kostümhel<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Freiheit und Menschlichkeit vorzubeugen, die samt<br />

und son<strong>de</strong>rs nur die gewen<strong>de</strong>ten 1 Schreiber <strong>de</strong>r Glorie und<br />

Schurkerei von 1914 bis 1918 sind, sei nachdrücklich festgestellt,<br />

1 Wie sich doch die Bil<strong>de</strong>r gleichen: Die alten SED—Bonzen wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Revolution 1989<br />

»Wen<strong>de</strong>hälse« genannt, waren aber lei<strong>de</strong>r nicht , wie <strong>de</strong>r wirklich so genannte Vogel, vom<br />

Aussterben bedroht, son<strong>de</strong>rn lebten fröhlich—schändlich in allen Parteien, nicht nur in<br />

DEN LINKEN weiter.<br />

23


daß alles von mir in <strong>de</strong>utschen Vortragssälen Gesprochene während<br />

<strong>de</strong>s Kriegs, vielfach schon 1914 und 1915 entstan<strong>de</strong>n, teilweise<br />

auch veröffentlicht, in an<strong>de</strong>rer Kunstform und in <strong>de</strong>r gleichen<br />

Tonstärke eigentlich alles während <strong>de</strong>s Kriegs gedruckt wie<br />

auch in Wien und Berlin zum Vortrag gebracht wur<strong>de</strong>.<br />

Die erste Vorlesung fiel auf <strong>de</strong>n Geburtstag Wilhelms II., <strong>de</strong>r dort mehr<br />

noch als in Berlin als Lan<strong>de</strong>sherr in <strong>de</strong>n Gehirnen fortregiert, was mich keineswegs<br />

bestimmen konnte, auf eine <strong>de</strong>r wichtigsten Szenen zu verzichten,<br />

wohl aber bewog, <strong>de</strong>s Datums in <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Randbemerkung zu ge<strong>de</strong>nken,<br />

die vor <strong>de</strong>m eingeweihteren Berliner Publikum anzubringen nicht nötig erschienen<br />

war.<br />

Nun folgt die Szene Wilhelm und die Generale. Dazu ist eine<br />

Randbemerkung vonnöten. Kein Wort, keine Geste, nichts was in<br />

dieser Szene vorkommt, ist, wie von vielen dummen Menschen geglaubt<br />

wird, von mir erfun<strong>de</strong>n. Wie könnte man, wer könnte so etwas<br />

erfin<strong>de</strong>n? Erfun<strong>de</strong>n ist es nur in <strong>de</strong>m Sinne von mir, als alles,<br />

was wir zwischen 1914 und 1918 und eigentlich schon ein paar<br />

Dezennien vorher erlebt haben, von mir erfun<strong>de</strong>n und dann, nach<strong>de</strong>m<br />

es geschah, von mir abgeschrieben wur<strong>de</strong>. Das Unerfindliche<br />

dieser Szene aber, <strong>de</strong>r ganze Tiefgehalt dieser Lan<strong>de</strong>sherrlichkeit,<br />

nach <strong>de</strong>r sich so viele <strong>de</strong>utsche Menschen zurücksehnen und zu<br />

<strong>de</strong>ren Feier ich heute dieses Scherflein beitragen möchte, ist eine<br />

Nachbildung lebendigsten Lebens auf <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r gedruckt<br />

vorliegen<strong>de</strong>n Berichte <strong>de</strong>s Konteradmirals Persius wie <strong>de</strong>r Erzählungen<br />

von Augen— und Ohrenzeugen aus Schönbrunn und Donau<br />

—Eschingen, die es mir schau<strong>de</strong>rnd gemel<strong>de</strong>t haben. Von mir ist,<br />

wie immer, nichts als die Gruppierung, erdacht zu <strong>de</strong>m Zwecke,<br />

daß die Gestalt, welche die Menschheit regiert und in <strong>de</strong>n Tod geführt<br />

hat, in voller Plastik hervortrete und mit ihrer eigenen Stimme<br />

über eine unbelehrbare Gegenwart hinweg künftigen, besseren<br />

Geschlechtern ins Ohr töne!<br />

Nach <strong>de</strong>r Szene wur<strong>de</strong> ein paarmal die Tür zugeschlagen zum Zeichen,<br />

daß sie für die Hohenzollern offen bleibt. Die Münchner Presse, die wie je<strong>de</strong><br />

richtig gehen<strong>de</strong> Publizistik auch zu einer nicht gera<strong>de</strong> alltäglichen literarischen<br />

Begebenheit erst ihre Stimme losläßt, wenn sie Freikarten bekommt,<br />

hat mir nichts angetan. Schon die bloße Vorstellung, daß man in <strong>de</strong>n Münchner<br />

Neuesten Nachrichten verherrlicht sein könnte, erzeugt Abgeschlagenheit,<br />

Appetitmangel und Glie<strong>de</strong>rschmerzen. Mit einem Hymnus auf mein Buch<br />

»Weltgericht« hatten sie diese Wirkung versucht, aber bis zur Vorlesung war<br />

ich schon frisch. Es ist gewiß die langweiligste Zeitung <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, darin selbst<br />

nicht vom Münchner Generalanzeiger übertroffen, und man staunt nur, wie<br />

diese Presse imstan<strong>de</strong> war, jenen in München lei<strong>de</strong>r auch manchmal beobachteten<br />

Rausch zu erzeugen, aus <strong>de</strong>m die Ermordung Kurt Eisners hervorging.<br />

Die Erinnerung an diese Tat wird heute von keinem Münchner Schaufenster<br />

vernachlässigt und die Ansichtskarte jenes Hel<strong>de</strong>n Arco, <strong>de</strong>m All<strong>de</strong>utschland<br />

sogar die Aszen<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Oppenheimer verziehen hat, ist <strong>de</strong>r überzeugendste<br />

Eindruck von dieser Republik, in <strong>de</strong>r es königlich bayrische Telegraphenämter<br />

gibt und <strong>de</strong>r alte Dienstmann vor <strong>de</strong>m Café Luitpold — wahrzeichenhafter<br />

als bei uns die noch vorhan<strong>de</strong>nen Kaiserbärte — wie <strong>de</strong>r Platzhalter <strong>de</strong>s un-<br />

24


entbehrlichen Wittelsbachers dasteht. Man hat <strong>de</strong>n Eindruck, daß es so bleiben<br />

kann, weil die Monarchie, auch wenn sie nicht wie<strong>de</strong>rkommt, schon da<br />

ist, immer natürlich vorausgesetzt, daß nicht ein Gast vom Café Stefanie die<br />

Herrschaft an sich reißt. Das ganze Vexiergebil<strong>de</strong> — mit Frem<strong>de</strong>npolizei, die<br />

um fünf Uhr früh nachschauen kommt — ist so eine Art Großherzogtum mit<br />

<strong>de</strong>m Präsi<strong>de</strong>nten an <strong>de</strong>r Spitze, <strong>de</strong>r aber bei wichtigeren Justizmor<strong>de</strong>n nicht<br />

anwesend ist. Und über allem die tiefe Langweile, mit <strong>de</strong>r diese reizen<strong>de</strong><br />

Stadt mich je<strong>de</strong>smal befällt, so daß ich mir die Umwandlung <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sstrafe<br />

als lebenslänglichen Gang über <strong>de</strong>n Promena<strong>de</strong>platz vorstelle und <strong>de</strong>n Anblick<br />

<strong>de</strong>r Deckengemäl<strong>de</strong> im Café Luitpold als Strafverschärfung, und ganz<br />

gut begreife, daß ein Temperament wie <strong>de</strong>r Simplicissimus in solchem Klima<br />

<strong>de</strong>n Entschluß fassen mochte, aus einem Bullenbeißer ein Schweinehund zu<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Der zweite Abend war eine mehr gesellschaftliche Veranstaltung, in die<br />

ich, nach Entfernung von Literaten aus <strong>de</strong>r Liste <strong>de</strong>r Einzula<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, nicht<br />

<strong>de</strong>m Verlag Kurt Wolff, aber <strong>de</strong>ssen liebenswürdigem Inhaber zuliebe, <strong>de</strong>r zugleich<br />

meine eigenen Schriften verlegt, eingewilligt hatte. Es wur<strong>de</strong> hierbei<br />

eine Sammlung für die Wiener Kin<strong>de</strong>r veranstaltet, bei <strong>de</strong>r sich die Gäste ein<br />

wenig weniger reserviert verhielten als beim Vortrag; <strong>de</strong>ssen Verlauf die Erfahrung<br />

bestätigte, daß ein intimer Raum die Vertraulichkeit entfernt. Sie ist<br />

aber <strong>de</strong>m Vortragen<strong>de</strong>n unentbehrlich, und nicht Beifallssucht schafft dies<br />

Bedürfnis, son<strong>de</strong>rn die Unlust, als Einzelner unter lauter Einzelnen die Stimme<br />

zu erheben. Er muß — und davon lebt die Stimme — <strong>de</strong>n Eindruck <strong>de</strong>s Hörers<br />

empfangen, unmittelbar und nicht erst durch nachträglichen Bericht seiner<br />

habhaft wer<strong>de</strong>n. Gewiß nicht durch <strong>de</strong>n gedruckten (<strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen<br />

'Münchener Post' 31. Januar), <strong>de</strong>r einer Privatveranstaltung nicht gebührt,<br />

aber damit nicht mein Unbehagen ein einseitiges Bild von ihr<br />

hinterlasse, zitiert sei:<br />

Vorlesung Karl Kraus. Am Donnerstag abend hatte <strong>de</strong>r Münchener<br />

Verleger Kurt Wolff eine Anzahl Gäste zu einer Karl—Kraus—Vorlesung<br />

in das Lesezimmer seines Verlagshauses gebeten. K., einigen,<br />

nicht allzuvielen, hier kein Unbekannter, stellte sich diesmal<br />

nicht als <strong>de</strong>r gefürchtete angriffslustige Essayist, son<strong>de</strong>rn als<br />

Dichter und Interpret vor. Er las eine Anzahl eigener Gedichte,<br />

voller musikalischer Klangschönheit, dichterischer Bildhaftigkeit<br />

und rhythmischer Kraft. (Vielmehr: Die Gedichte strömten klangvoll<br />

aus seinem dichterischen Born.) Wie in <strong>de</strong>n Essays ist alles<br />

tiefernstes heiliges Erleben, nur noch gesteigert durch Hymnus<br />

und Feierlichkeit: Der aus <strong>de</strong>m Fackelkraus kristallisierte Dichter<br />

Kraus. Für einzelne seiner Gedichte gebe ich die ganze mo<strong>de</strong>rne<br />

österreichische Lyrik her. — K. las dann außer<strong>de</strong>m ein Stück aus<br />

Hauptmanns »Webern«, diesem Drama <strong>de</strong>r Hungerschreie, mit<br />

prächtiger Meisterschaft. Hier fühlte man, daß wahre Kunst, auch<br />

wenn sie vorübergehen<strong>de</strong>r Naturalismus getauft wird, ihre Unsterblichkeit<br />

dadurch beweist, daß sie Herz und Stimme <strong>de</strong>s wahren<br />

Künstlers lebendig zu machen weiß. Karl Kraus vermochte<br />

das. Daß er gera<strong>de</strong> mit diesem dramatischen Notschrei für die<br />

hungern<strong>de</strong>n Wiener Kin<strong>de</strong>r wirbt und sammelt, sei ihm beson<strong>de</strong>rs<br />

gedankt. Zs.<br />

25


Das materielle Ergebnis <strong>de</strong>r Berliner und <strong>de</strong>r Münchener Vorlesungen<br />

(11.715,66 und 1.491,40 K) beträgt 13.207,06 Kronen, die <strong>de</strong>r amerikanischen<br />

Kin<strong>de</strong>rausspeisung, <strong>de</strong>m Erholungsstättenfond <strong>de</strong>r »Kin<strong>de</strong>rfreun<strong>de</strong>«<br />

und <strong>de</strong>m Altersfrauenheim in Meidling zugewen<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n.<br />

Die Einladung nach Innsbruck war vom Lan<strong>de</strong>sbildungsamt ausgegangen,<br />

zu <strong>de</strong>ssen Gunsten meine Vorlesung stattfin<strong>de</strong>n sollte. Ich hatte Ludwig<br />

Ficker, <strong>de</strong>n Herausgeber <strong>de</strong>s Brenner, <strong>de</strong>m ich ein altes Versprechen zu erfüllen<br />

hatte, ersucht, sich mit <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>sbildungsamt zu einigen und war damit<br />

einverstan<strong>de</strong>n, daß auch eine zweite Vorlesung stattfin<strong>de</strong>, zu einem Zweck,<br />

<strong>de</strong>ssen Wahl <strong>de</strong>m Veranstalter überlassen blieb. Nach etlichen Wochen<br />

schrieb er vom Krankenlager:<br />

26<br />

Innsbruck, 15. 1.<br />

— — Schon vorher hatte ich wie<strong>de</strong>rholt versucht, mich mit Herrn<br />

K ... vom Lan<strong>de</strong>sbildungsamt in Verbindung zu setzen, ohne daß<br />

es mir gelang; vorgestern ließ ich, da Herr K … wie<strong>de</strong>r abwesend<br />

schien, ihn telephonisch auffor<strong>de</strong>rn, mich doch unter allen Umstän<strong>de</strong>n<br />

noch am selben Tag aufzurufen, alles ohne Erfolg. So bat<br />

ich meinen Freund L. (<strong>de</strong>r mit mir zusammen <strong>de</strong>n Verlag hat), persönlich<br />

beim Lan<strong>de</strong>sbildungsamt vorzusprechen und nachzusehen,<br />

was da eigentlich los sei. L. Stellte sich dort vor — vor einem<br />

Tisch mit 3 Infanteristen und 1 Major — , sagte, in welcher Angelegenheit<br />

er käme und fragte nach <strong>de</strong>m Herrn K … <strong>de</strong>r die Veranstaltungen<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sbildungsamts leite. Darauf entspann sich<br />

vor <strong>de</strong>m verdutzten L. <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong> Dialog <strong>de</strong>r Repräsentanten<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sbildungsamtes:<br />

Infanterist: Der Herr K … hat hier nichts mehr zu suchen.<br />

Das Lan<strong>de</strong>sbildungsamt sind wir und <strong>de</strong>r Herr Major da. Sagen<br />

Sie nur <strong>de</strong>m Herrn Kraus, er braucht nicht mehr zu kommen.<br />

Major: Wer ist <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Herr Kraus?<br />

Infanterist: Herr Major wissen ja, das ist <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r die Fackel<br />

herausgibt!<br />

Major: Ja so — <strong>de</strong>r! — Nein, <strong>de</strong>n brauchen wir nicht, <strong>de</strong>r<br />

braucht nicht zu kommen.<br />

Infanterist: Also, sagen Sie das auch <strong>de</strong>m Herrn Ficker, damit<br />

kein Mißverständnis ist.<br />

Womit L., <strong>de</strong>r einen Lachkrampf kaum mehr verbeißen konnte, in<br />

Gna<strong>de</strong>n entlassen war.<br />

Ich weiß nicht, ob Sie unter diesen Umstän<strong>de</strong>n noch Lust haben,<br />

hierher zu kommen. Ich selbst wür<strong>de</strong> ja nun die Vorlesungen lieber<br />

allein veranstalten als in Verbindung mit diesem Milieu. Also<br />

bitte, wenn es sich machen läßt: Dem Brenner wird es eine Freu<strong>de</strong><br />

und Ehre sein, bei<strong>de</strong> Vorlesungen zu veranstalten. Verschie<strong>de</strong>ntlich<br />

wur<strong>de</strong> ich darauf aufmerksam gemacht, daß eventuell mit<br />

organisierter Opposition zu rechnen wäre (zumal ja auch ehemalige<br />

militärische Größen, wie Conrad, Dankl etc. hier ihren Wohnsitz<br />

haben), aber ich weiß nicht, inwieweit die Haltung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sbildungsamtes<br />

am En<strong>de</strong> darauf zurückzuführen ist und <strong>de</strong>rgleichen<br />

überhaupt in Frage kommen darf. Hoffentlich gelingt es mir,


die Beheizung sicherzustellen, für die ursprünglich das Lan<strong>de</strong>sbildungsamt<br />

zu sorgen versprochen hat. Das ist das Schwierigste an<br />

<strong>de</strong>r Sache. — —<br />

Daß man mich in Innsbruck nicht brauchen kann, hat <strong>de</strong>r Herr Major<br />

vorausgewußt. Wozu man Majore braucht, nach <strong>de</strong>m Krieg, nach <strong>de</strong>m Krieg<br />

und überhaupt, weiß hingegen ich nicht. Da es mir schon nicht gelingen sollte,<br />

zur Lan<strong>de</strong>sbildung in Tirol mein Scherflein beizutragen, wiewohl ich dazu<br />

aufgefor<strong>de</strong>rt ward, so ist wenigstens zu hoffen, daß es <strong>de</strong>m Staatssekretär für<br />

Heerwesen gelingen wird, vorausgesetzt, daß sich nicht <strong>de</strong>r Herr Major auch<br />

in diesem Falle mit einem »Ja so — <strong>de</strong>r!« abwen<strong>de</strong>t. Ich bin gewiß kein Monarchist,<br />

aber ich muß doch zugunsten <strong>de</strong>r Monarchie einräumen, daß sie sich<br />

durch eine geringere Toleranz gegen die Republikaner hervorgetan hat als<br />

die Republik gegen die Monarchisten. Das Schreiben <strong>de</strong>s Veranstalters hat<br />

mich vor <strong>de</strong>r Abreise nach Deutschland nicht erreicht. Sonst hätte ich die<br />

Weisung <strong>de</strong>s Herrn Majors, daß ich nicht mehr zu kommen brauche, natürlich<br />

auch in <strong>de</strong>m weiteren Sinne befolgt, daß ich eine Stadt, in <strong>de</strong>r er wirkt, ein<br />

Land, <strong>de</strong>m er die Bildung besorgt, ja womöglich auch einen Staat, <strong>de</strong>r ihn dafür<br />

bezahlt und sich im übrigen Republik nennt, gemie<strong>de</strong>n hätte. »Wir müssen<br />

unbedingt wissen, ob Sie kommen wer<strong>de</strong>n«, hatte das Lan<strong>de</strong>sbildungsamt geschrieben.<br />

Nun mußte ich nur noch vom Lan<strong>de</strong>sbildungsamt erfahren, daß ich<br />

nicht zu kommen brauche.<br />

Ich hörte von diesem Vorspiel <strong>de</strong>r Innsbrucker Dinge erst am Tag <strong>de</strong>r<br />

Vorlesung, auf die nebst etlichen Ankündigungen in <strong>de</strong>r Presse aller Parteien<br />

ein Feuilleton in <strong>de</strong>r sozialistischen Volks—Zeitung, (3. Februar) hingewiesen<br />

hatte, das — nach einem ausdrücklichen Hinweis auf die Parteiferne <strong>de</strong>s Besprochenen<br />

— mit <strong>de</strong>n Worten schloß:<br />

So ist K. <strong>de</strong>r Kün<strong>de</strong>r unserer Zeit gewor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Satiriker, <strong>de</strong>r<br />

Dichter <strong>de</strong>r Epoche, in <strong>de</strong>ssen Werken diese sich spiegelt. Der<br />

Rassenantisemit Lanz—Liebenfels aber hat K. <strong>de</strong>n Retter <strong>de</strong>s Ario<br />

—Germanentums genannt, wie Theodor Haecker in ihm lebendige<br />

Spuren <strong>de</strong>s großen Christen Kierkegaard fin<strong>de</strong>t!<br />

An zwei Aben<strong>de</strong>n liest nun K. zum vierten Male in Innsbruck. Diejenigen,<br />

die ihn bereits kennen und verehren, nein: lieben und zu<br />

ihm stehen, wer<strong>de</strong>n auf dies Ereignis ohnehin schon lange warten,<br />

... sich darnach gesehnt haben. Nun, in seinem unerreichten Vortrag<br />

wird ihnen ihr Führer ja wie<strong>de</strong>r erst recht nahe sein, wird ihnen<br />

ihr Erlebnis noch ein tieferes, nachwirken<strong>de</strong>res wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n<br />

sie ihm danken können, daß er war und ist. Jene aber, die diesen<br />

Kämpfer für die ewigen Menschheitsrechte noch nicht kennen,<br />

wer<strong>de</strong>n die Begegnung mit ihm als Bereicherung ihres<br />

Lebens empfin<strong>de</strong>n und sich um die Fackel scharen, die einer <strong>de</strong>r<br />

größten Menschen voranträgt.<br />

Ganz so ist es eingetroffen, und wie sie sich geschart haben, zeigt das<br />

Bün<strong>de</strong>l von Spießruten, die ich, erbarmungsloser gegen mich als gegen <strong>de</strong>n<br />

Leser, aufheben und schichten mußte, mit <strong>de</strong>m Troste, daß wir doch bei<strong>de</strong><br />

entschädigt seien durch die Empfindung, es sei kein Haufen von Zeitungsnotizen,<br />

die zu wie<strong>de</strong>rholen die Lettern schän<strong>de</strong>n hieße, es sei nicht bloß das plastische<br />

Abbild endlos gehäufter Qual, die ich doch nur in Gestalt <strong>de</strong>r eigenen<br />

Sprache überliefern dürfte, son<strong>de</strong>rn es seien die Akten, die erst in ihrer<br />

27


Lückenlosigkeit beweiskräftigen Protokolle über <strong>de</strong>n Sittenzustand einer<br />

Menschheit, die lauten Anspruch erhob, Unrecht zu tun, und je heftiger sie<br />

ihn vertrat, umso weniger gemerkt hat, aus welchem Hohlraum <strong>de</strong>r Schall<br />

kam, laut genug, um sie selbst zu überzeugen. Dies und nur dies kann <strong>de</strong>n<br />

Nachdruck stilistischer Greuel rechtfertigen, vor <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Korrektor<br />

schwankt, ob die Texttreue o<strong>de</strong>r eine grammatische Nachhilfe <strong>de</strong>r Stupidität,<br />

die sich da austoben wollte, besser zustatten kommt.<br />

Ich traf in Innsbruck am Tag <strong>de</strong>r Vorlesung ein, hörte, daß schon Vorbereitungen<br />

zu ihrer Störung getroffen seien und die Polizei zwei Schutzleute<br />

<strong>de</strong>m Plan entgegenstellen wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m noch knapp vor Beginn durch die folgen<strong>de</strong><br />

Notiz im 'Allgemeinen Tiroler Anzeiger' (4. Februar) sekundiert wur<strong>de</strong>:<br />

Eine Kraus—Vorlesung. München, 30. Jänner. Da Karl Kraus nun<br />

auch nach Innsbruck gehen will, um aus eigenen Schriften vorzulesen,<br />

wird es dort interessieren, über eine ähnliche Vorlesung<br />

<strong>de</strong>s Schriftstellers hier in München zu hören. Wer ihn früher<br />

kannte als einen, <strong>de</strong>r seine Zeit durchschaute und ihre Schwächen<br />

und Unsinnigkeiten mit Geist und Witz unbarmherzig bloßzustellen<br />

wußte, <strong>de</strong>r mochte sich einen anregen<strong>de</strong>n Abend erwarten —<br />

jedoch die Enttäuschung war groß. Kraus verfällt jetzt ins Pathos<br />

und das steht ihm schlecht, auch scheint er mit <strong>de</strong>r Zeit nicht<br />

mehr mitzukommen, er ist noch über ein Jahr zurück, was beim<br />

jetzigen Tempo im Ablauf <strong>de</strong>r Geschichte viel, sehr viel ist: er<br />

glaubte nämlich, seine Zuhörer zwei Stun<strong>de</strong>n lang mit <strong>de</strong>n Zustän<strong>de</strong>n<br />

in <strong>de</strong>n verbün<strong>de</strong>ten <strong>de</strong>utschen und österreichischen Heeren<br />

und namentlich mit gemeinem Lächerlichmachen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n gewesenen<br />

obersten Kriegsherren unterhalten zu können. Ohne daß<br />

es jeman<strong>de</strong>m einfiele, sie zu verteidigen, ist doch noch gesun<strong>de</strong>r<br />

Sinn genug vorhan<strong>de</strong>n, um nicht das ewige Gespötte und fruchtlose<br />

Kritisieren satt zu haben, so daß zahlreiche Besucher <strong>de</strong>monstrativ<br />

geräuschvoll <strong>de</strong>n Saal verließen und sich unter <strong>de</strong>n Beifall,<br />

<strong>de</strong>r meist von Stammesbrü<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Vorlesen<strong>de</strong>n ausging, starkes<br />

Zischen und Pfeifen mischte. Die Mittel, mit <strong>de</strong>nen er sich einen<br />

Erfolg sichern wollte, waren auch gar zu billige, zumal er das ganze<br />

als Geburtstagsgeschenk (<strong>de</strong>r Vortrag war am 27.) <strong>de</strong>m gewesenen<br />

<strong>de</strong>utschen Kaiser präsentierte; wenn er aber das Vorgelesene<br />

als Teile von Dichtungen und Dramen bezeichnete, so kann<br />

man nur sagen, daß er damit seine Art selber mißversteht, <strong>de</strong>nn<br />

von dichterischer Gestaltung ist keine Spur darin. Er schloß seine<br />

Vorlesung mit einer Reihe von immerhin drastischen Bil<strong>de</strong>rn aus<br />

<strong>de</strong>r Kriegszeit. Viel mehr Mut hätte dazu gehört, wenn er seinen<br />

Geist und Witz an <strong>de</strong>n Wahnsinnigkeiten <strong>de</strong>s verflossenen Jahres<br />

versucht hätte. J. M,<br />

Wenn das Niveau <strong>de</strong>s Idiotismus nicht so unerreichbar wäre, müßte einer,<br />

<strong>de</strong>r sonst nur mit <strong>de</strong>r Zeit nicht mitkommt, da er mitten im Frie<strong>de</strong>n noch<br />

vom Weltkrieg spricht, einsehen, daß doch wegen zehn Millionen Erschlagener<br />

in dieser Christenwelt gar kein Grund zum Pathos sein wird. Aber man ist<br />

eben über ein Jahr zurück und <strong>de</strong>r Tiroler Anzeiger ist so fortschrittlich. Anstatt<br />

an <strong>de</strong>r Republik sein Mütchen zu kühlen, wie es eben einer fortschrittlichen<br />

Auffassung entspräche, befaßt sich unsereins noch immer damit, zu zeigen,<br />

wie die Welt sub auspiciis imperatoris untergegangen ist. Ein aktueller<br />

28


Geist verschmäht <strong>de</strong>rgleichen. Die Anerkennung, daß ich meine Vorlesung<br />

»mit einer Reihe von immerhin drastischen Bil<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>r Kriegszeit« — das<br />

ist die große Szene <strong>de</strong>s fünften Aktes! — schloß, än<strong>de</strong>rt nichts daran, daß<br />

mehr Mut dazugehört hätte, über die Zustän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Volkswehr und sonstiges<br />

aus <strong>de</strong>m verflossenen Jahr zu sprechen. Aber wenn auch nur ein Schwachkopf<br />

lügt und <strong>de</strong>n Innsbruckern rechtzeitig von einer Münchner Demonstration<br />

erzählt, so erzielt er doch seine Wirkung. Sie ging zum Glück in <strong>de</strong>r größeren<br />

Wirkung <strong>de</strong>s Vortrags unter.<br />

Musikvereinssaal, 4. Februar, ½ 8 Uhr:<br />

I. (Vorwort) Monolog <strong>de</strong>s Nörglers (Schluß) / Der sterben<strong>de</strong> Soldat<br />

/ Erzherzog Friedrich / Wagenknecht, Sedlatschek und Hans Müller<br />

/ Die Schalek (III. 2) / Die bei<strong>de</strong>n Generale (V. 5) / Stadtpark—<br />

Szene / Gebet.<br />

II. Die betrunkenen Generalstäbler (V. 45) / Elfrie<strong>de</strong> Ritter und die<br />

Reporter / Wilhelm und die Generale (mit Randbemerkung) /<br />

Fluch <strong>de</strong>s sterben<strong>de</strong>n Soldaten (»Der Zeuge«).<br />

Das Vorwort, das jene Kostümhel<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Freiheit und Menschlichkeit<br />

ansprach, die als die »gewen<strong>de</strong>ten Schreiber <strong>de</strong>r Glorie und Schurkerei« im<br />

Auditorium vertreten waren, war das <strong>de</strong>r Münchner Vorlesung. Die Randbemerkung,<br />

ohne <strong>de</strong>n Hinweis auf <strong>de</strong>n Geburtstag, ebenso. Der Verlauf <strong>de</strong>s Vortrags<br />

war am Abend <strong>de</strong>s nächsten Tages in <strong>de</strong>r 'Volks—Zeitung' (5. Februar)<br />

ganz richtig dargestellt:<br />

Vorlesung Karl Kraus. Gestern abends fand <strong>de</strong>nn die erste <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />

angekündigten Vorlesungen von K. K. im Musikvereinssaale<br />

statt, <strong>de</strong>r bis auf das letzte Plätzchen gefüllt war. K. hat im gleichen<br />

Saale im Jänner 1914 das letztemal hier vorgelesen, wobei er<br />

u. a. auch »Tod und Tango« vorlas, das wir wohl auch längst<br />

schon als mehr als eine Satire, als eine Prophetie, erkennen mußten.<br />

1914 — 1920, was liegt nicht zwischen diesen bei<strong>de</strong>n Ziffern!<br />

Als K. das vorletzte Mal in Innsbruck las, konnte seine Satire gegen<br />

die Kriegsberichterstattung im Balkankrieg noch mehr witzartig<br />

wirken, schlugen doch die Völker fern von uns zusammen;<br />

diesmal aber trat K. vor uns, nach <strong>de</strong>m größten und gräßlichsten<br />

Krieg, <strong>de</strong>r nur zu sehr unsere eigene Sache war. Und so sollte<br />

diesmal wohl je<strong>de</strong>rmann, <strong>de</strong>r in die Vorlesung kam nichts an<strong>de</strong>res<br />

erwarten als eine Abrechnung mit <strong>de</strong>m, was war, und mit <strong>de</strong>njenigen,<br />

die daran schuld sind, ein Gericht eines, <strong>de</strong>r dank seiner Haltung<br />

von <strong>de</strong>r ersten Stun<strong>de</strong> an, ja seit seinem Wirken, ein Recht<br />

dazu hat. Es sollte kein Witz gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, wo je<strong>de</strong>s Wort entwe<strong>de</strong>r<br />

so unsäglich bitter ernst o<strong>de</strong>r so tief traurig ist, und statt<br />

zu lachen, sollte je<strong>de</strong>r Besucher im Saale sich lieber schämen und<br />

sich an die Brust klopfen, daß er solches mit gedul<strong>de</strong>t hat, und<br />

wer »schwache Nerven« hat, sollte sich lieber gleich fernhalten,<br />

wenn er aber schon hinging und, was sich da begab, nicht ertrug,<br />

sollte er sich angemessen entfernen. Nun war ja zu erwarten, daß<br />

nicht alle von <strong>de</strong>n vielen Besuchern dieser Vorlesung namentlich<br />

Szenen aus »Die letzten Tage <strong>de</strong>r Menschheit« für etwas an<strong>de</strong>res<br />

halten können, als für einen Spaß, aber es begab sich mehr, und<br />

das war für die, die es taten, beschämend und ist nur verzeihlich,<br />

29


30<br />

wenn man die Urheber als gottverlassen und »stolz, Barbaren zu<br />

sein«, bereits hinlänglich kennt. K. las an <strong>de</strong>m ganzen Abend nur<br />

aus <strong>de</strong>r Tragödie »Die letzten Tage <strong>de</strong>r Menschheit«, <strong>de</strong>ren<br />

»Handlung« ja aus fast fünf Jahren Unmenschlichkeit in Akte und<br />

Szenen zu einer gigantisch—furchtbaren Dichtung für die Ewigkeit<br />

zusammengetragen wor<strong>de</strong>n ist und also min<strong>de</strong>stens hun<strong>de</strong>rt<br />

Aben<strong>de</strong> für Vorlesungen ausreichen könnte. Da traten an »Gestalten«<br />

auf: <strong>de</strong>r durch seine Gesichtszüge schon hinlänglich bezeichnete,<br />

aber doch zum Armeeoberkommandanten ernannte Erzherzog<br />

Friedrich, die einzig »zugelassene« Kriegsberichterstatterin<br />

und Eindrücke—Hyäne Schalek, zwei Typen von einem Diebsgesin<strong>de</strong>l<br />

von Generälen, »Persönlichkeiten« in einem »Vergnügungslokal«<br />

am Standort <strong>de</strong>s A. O. K. und Presseköter, die einer aus<br />

Rußland gekommenen Schauspielerin von ihr absolut nichterlebte<br />

feindselige »Erlebnisse« erpressen usw. Vor allem aber sprach<br />

»Der Nörgler« (K. selbst) ein fürchterliches Gericht über die Zeit<br />

von 1914 bis 1918, wie K. auch sein Gebet »Du großer Gott« erschütternd<br />

zu Gehör brachte. Den künstlerischen Höhepunkt <strong>de</strong>s<br />

Abends be<strong>de</strong>utete aber wohl <strong>de</strong>r Monolog <strong>de</strong>s »sterben<strong>de</strong>n Soldaten«,<br />

eine lyrische Dichtung von allertiefstem Erleben, die auch<br />

rezitatorisch die höchste Leistung <strong>de</strong>s Abends brachte. Und dann<br />

kam zum Beschluß <strong>de</strong>s Abends eine Szene »Wilhelm II. und seine<br />

Generäle« (5. Akt, 27. Szene), zu <strong>de</strong>r K. ausdrücklich bemerkte,<br />

daß nichts davon erfun<strong>de</strong>n sei, weil niemand so etwas erfin<strong>de</strong>n<br />

könnte, und daß je<strong>de</strong>s Wort als historisch zu beweisen sei; diese<br />

Szene trug K. »zur Ehre« jener vor, die sich unter diese Gestalt<br />

heute noch zurücksehnen, »die die Menschheit regiert und in <strong>de</strong>n<br />

Tod geführt hat«. Dies war nun gewiß für die Leute von <strong>de</strong>r<br />

»Deutschen Zeitung« eine starke Zumutung — wenn z. B. Wilhelm<br />

<strong>de</strong>r Größte sagte: »welch eine Wendung durch Gottes Fügung«<br />

o<strong>de</strong>r sehr »aparte« allerhöchste »Scherze« machte — sie kamen<br />

<strong>de</strong>nn auch darüber nicht hinweg, und so trat ein, was man bereits<br />

mittags von Hochschülern erfahren konnte: einige Burschenschafter<br />

<strong>de</strong>monstrierten als Götzendiener gegen die »Religionsstörung«,<br />

die Nachfolger <strong>de</strong>r Burschenschafter von <strong>de</strong>n 1848—<br />

Barrika<strong>de</strong>n hatten das Bedürfnis zu zeigen, daß ihnen auch nach<br />

1918 noch Knechtschaft höher steht als Freiheit und Menschenwür<strong>de</strong>,<br />

diese »aka<strong>de</strong>mische Jugend« wollte zeigen, daß sie auch<br />

heute noch weiß, wie man Lausbübereien begeht, die diesmal allerdings<br />

ihren Zweck in sein Gegenteil verkehrten. Nach dieser<br />

Szene verließ also während <strong>de</strong>s lauten Beifalls, <strong>de</strong>r hier beson<strong>de</strong>rs<br />

auffällig war, ein bekannter all<strong>de</strong>utscher Versammlungsredner,<br />

obwohl K. noch etwas über seinen Wilhelm zu lesen begann, <strong>de</strong>n<br />

Saal, was wohl das »Signal« war. Denn es wur<strong>de</strong> nun wie<strong>de</strong>rholt<br />

die Saaltür laut zugeworfen und vereinzelt gegen <strong>de</strong>n Pfui—Rufer<br />

gegen die Schmach und Schan<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Menschheit Pfui gerufen und<br />

gepfiffen; dafür setzte aber zugleich ein <strong>de</strong>rartiger Beifallssturm<br />

mit Rufen auf K. ein, wie ihn <strong>de</strong>r Saal wohl noch nie gehört hat,<br />

und K. selbst rief <strong>de</strong>r »Brut« <strong>de</strong>s Kaisers, die aus <strong>de</strong>m Saale entfernt<br />

wur<strong>de</strong>, noch <strong>de</strong>n »Fluch eines sterben<strong>de</strong>n Soldaten« nach,<br />

<strong>de</strong>n die Herren hoffentlich noch gehört haben. Neuerlicher, nicht<br />

en<strong>de</strong>nwollen<strong>de</strong>r Beifall, <strong>de</strong>r eine hier ganz ungewöhnliche De-


monstration für K. wur<strong>de</strong>, folgte dieser herrlichen Abrechnung zugleich<br />

als Dank für <strong>de</strong>n langersehnten Abend und als spontanes<br />

Bekenntnis. Für die wilhelmischen Schwärmer aber wird man, außer<br />

<strong>de</strong>m Mitleid, <strong>de</strong>ssen sie trotz ihrer Unqualifizierbarkeit sicher<br />

sind, doch auch wohl an<strong>de</strong>re Dinge bereit halten müssen, damit<br />

Besucher einer hochgeistigen Vorlesung von solchen Bubenschaften<br />

und typisch <strong>innsbruck</strong>erischen Radaustücken beim zweiten<br />

Abend verschont bleiben! I. A. S.<br />

Ein paar Stun<strong>de</strong>n vorher, im Mittagblatt <strong>de</strong>r 'Innsbrucker Nachrichten'<br />

(5. Februar) war jedoch <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong> Bericht erschienen:<br />

STÜRMISCHER VERLAUF DES ERSTEN KARL KRAUS—ABENDS IN INNSBRUCK.<br />

Im Musikvereinssaal trat gestern Karl Kraus, <strong>de</strong>r Herausgeber <strong>de</strong>r<br />

»Fackel«, an das Vortragspult. Nach <strong>de</strong>n Stimmen seiner Anhänger<br />

ist Kraus eine ungewöhnliche Individualität, die mit <strong>de</strong>r Waffe<br />

einer eigenen, scharf ausgeprägten Sprache in unbestechlicher<br />

Wahrheitsliebe <strong>de</strong>n Kampf führt gegen Lüge und Schein, wo immer<br />

sie sich zeigen. Den Krieg soll Kraus als erster und einziger in<br />

seiner nackten Furchtbarkeit und Unmenschlichkeit erkannt und<br />

unerschrocken verdammt haben. Was wir gestern von Karl Kraus<br />

gehört, klang an<strong>de</strong>rs. Zwar riß <strong>de</strong>r meisterhafte Vortrag einzelner<br />

Szenen und Monologe aus <strong>de</strong>r Kraus'schen Dichtung »Die letzten<br />

Tage <strong>de</strong>r Menschheit« hin. Wir anerkannten die plastische Kraft<br />

<strong>de</strong>s Ausdruckes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Krieg mit Namen nennt, die uns wohl<br />

selbst oft heimlich aufgeleuchtet, die aber kaum je zum Worte sich<br />

verdichtet. — Doch schon die folgen<strong>de</strong>n humoristisch—satirischen<br />

Streiflichter flammten weniger hoch. Im Stil <strong>de</strong>r »Jugend«, »Simplicissimus«,<br />

wohl auch <strong>de</strong>r »Muskete« griff Kraus pikante Offiziersanekdötchen<br />

auf, spitzte sie zu scharfer Pointe und erregte<br />

durch ausgezeichnete Vortragsweise, Mundart und Dialog viel<br />

Heiterkeit.<br />

Mit einem Ruck aber streifte Kraus die Maske <strong>de</strong>s Satirikers ab,<br />

als er in einer Szene Wilhelm II. im Verkehr mit seinen Generälen<br />

charakterisierte. In einer nicht wie<strong>de</strong>rzugeben<strong>de</strong>n Art schuf Kraus<br />

ein Zerrbild <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Kaisers und seiner Umgebung, das <strong>de</strong>n<br />

Ekel und Abscheu je<strong>de</strong>s gesund Empfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n erregen mußte.<br />

Das Publikum hielt <strong>de</strong>nn auch seine Empörung nicht mehr zurück,<br />

verschie<strong>de</strong>ne Besucher verließen während <strong>de</strong>r Vorlesung <strong>de</strong>n<br />

Saal, nach <strong>de</strong>m Vortrag erschollen aus <strong>de</strong>m Saal und von <strong>de</strong>r Galerie<br />

laute heftige Pfuirufe, die <strong>de</strong>n Redner minutenlang am Weiterlesen<br />

hin<strong>de</strong>rten. Nach<strong>de</strong>m Ruhe eingetreten, beschloß Kraus<br />

seinen Abend mit einer in gehobenem Pathos vorgetragenen<br />

Fluchre<strong>de</strong> eines sterben<strong>de</strong>n Soldaten gegen <strong>de</strong>n Kaiser.<br />

Karl Kraus weiß ebenso, wie wir alle, daß die tiefsten und letzten<br />

Ursachen <strong>de</strong>s Krieges in keiner einzelnen Persönlichkeit, auch<br />

nicht in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Kaisers liegen.<br />

Man kann über die Person Wilhelm II. verschie<strong>de</strong>ner Meinung<br />

sein, doch so gerecht und billig <strong>de</strong>nkend müssen wir auch sein,<br />

seinen redlichen Willen anzuerkennen und ihm die menschliche<br />

31


Achtung im Unglück nicht zu versagen. Karl Kraus aber hat in seiner<br />

Darstellung, die das Brandmal einer gewissen Absicht unverkennbar<br />

an <strong>de</strong>r Stirn trägt, <strong>de</strong>r Wahrheit keinen Dienst geleistet.<br />

Kulturarbeit, die mit Nie<strong>de</strong>rreißen und Begeifern einsetzt, die ätzen<strong>de</strong>s<br />

Gift in die Wun<strong>de</strong>n unserer Zeit gießt, kann uns nicht<br />

frommen. Wir lehnen eine »Aufklärung«, die mit solchen Mitteln<br />

arbeitet, entschie<strong>de</strong>n ab. Karl Kraus darf sich nicht wun<strong>de</strong>rn, daß<br />

in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Innsbruck seine Ausführungen nicht unwi<strong>de</strong>rsprochen<br />

geblieben. Zu all unserem Unglück wollen wir nicht<br />

noch verhöhnt und mit Kot beworfen wer<strong>de</strong>n. — Es müßte kein<br />

Funke gesun<strong>de</strong>s Empfin<strong>de</strong>n, kein <strong>de</strong>utscher Herzschlag mehr in<br />

uns sein, wenn wir solcher Art nicht entschie<strong>de</strong>nst entgegentreten<br />

wür<strong>de</strong>n. Wenn Karl Kraus uns nichts Besseres und Tieferes zu sagen<br />

hat, dann bedürfen wir seiner nicht. K. P.<br />

Ich schrieb nun, oft unterbrochen von Nachrichten über die Wirkung<br />

dieser Notiz und <strong>de</strong>n Entschluß <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenschaft, auf die Vergewaltigung<br />

durch die Lüge die durch die Tat folgen zu lassen, nachmittags das folgen<strong>de</strong><br />

nie<strong>de</strong>r, in <strong>de</strong>r Absicht, mit <strong>de</strong>n Innsbrucker Nachrichten in <strong>de</strong>r Hand <strong>de</strong>n Vortrag<br />

mit einer Ablesung <strong>de</strong>s Schurkenstücks zu eröffnen und dann fortzusetzen:<br />

Das Beste und Tiefste, was ich <strong>de</strong>n Innsbrucker Nachrichten zu<br />

sagen habe, ist das folgen<strong>de</strong>: Die Innsbrucker Nachrichten bedürfen<br />

meiner nicht. Bleibt nur noch zu erklären, daß ich und warum<br />

ich <strong>de</strong>r Innsbrucker Nachrichten nicht bedarf, die aber darum beileibe<br />

nicht glauben sollen, daß speziell ihre Existenz mir bisher<br />

Sorgen gemacht hätte. Ich nehme sie als einen winzigen Repräsentanten<br />

<strong>de</strong>r gigantischen Macht, an <strong>de</strong>ren Verabscheuung ich<br />

die Arbeit meines Lebens gewen<strong>de</strong>t habe. Die Innsbrucker Nachrichten<br />

haben vollständig recht, wenn sie schreiben, ich wisse<br />

ebenso wie wir alle, daß die tiefsten und letzten Ursachen <strong>de</strong>s<br />

Krieges in keiner einzelnen Persönlichkeit, auch nicht in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>utschen Kaisers liegen. Die tiefsten und letzten Ursachen <strong>de</strong>s<br />

Krieges liegen auch nicht in <strong>de</strong>n Innsbrucker Nachrichten, wohl<br />

aber in <strong>de</strong>r Möglichkeit, daß es die Innsbrucker Nachrichten gibt,<br />

daß es in je<strong>de</strong>r Stadt so eine Einrichtung gibt, die Seele <strong>de</strong>r<br />

Menschheit mit Druckerschwärze anzuschmieren und eben das zu<br />

vollbringen, was ich gestern <strong>de</strong>n Nörgler mit <strong>de</strong>n Worten aussprechen<br />

ließ: Invali<strong>de</strong> waren wir durch die Rotationsmaschinen, ehe<br />

es Opfer durch Kanonen gab! Die tiefsten und letzten Ursachen<br />

<strong>de</strong>s Krieges liegen in <strong>de</strong>m Umstand, daß sich verantwortungslose<br />

Leute bereit fin<strong>de</strong>n, ebenso wie sie durch Verbreitung von Lügen<br />

über <strong>de</strong>n Verlauf eines Vortrags die Stimmung eines gutwilligen<br />

Publikums zu vergiften suchen, auch die Gehirne einer weiteren<br />

Menschheit für <strong>de</strong>n nationalen und militaristischen Wahnsinn zu<br />

präparieren, <strong>de</strong>ssen geringste Folge die gewalttätige Störung <strong>de</strong>r<br />

gegen ihn gekehrten Re<strong>de</strong> wäre. Das Publikum, das solchen Attentaten<br />

wi<strong>de</strong>rstrebt, weiß, daß ich mich ihm nicht aufgedrängt habe,<br />

daß ich vielmehr, ohne Ehrgeiz nach Vermehrung meiner Öffentlichkeit<br />

und ohne gewinnsüchtige Absicht — <strong>de</strong>nn diese Vorträge<br />

fin<strong>de</strong>n doch zu Gunsten einer Wohlfahrtseinrichtung statt —, nach<br />

so vielen Jahren, die von vergossenem und lei<strong>de</strong>r schon vergesse-<br />

32


nem Blute erfüllt sind, in diese Stadt gekommen bin, um nichts<br />

an<strong>de</strong>res zu geben als was ich an<strong>de</strong>rwärts gegeben habe. Wem es<br />

nicht paßt, <strong>de</strong>r kann draußen bleiben o<strong>de</strong>r ohne Störung <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>n Saal verlassen. Eine Presse, die Gewalttat und Büberei<br />

patronisiert und behauptet, mich hätten gestern heftige Pfuirufe<br />

minutenlang am Weiterlesen gehin<strong>de</strong>rt, während in Wahrheit die<br />

lei<strong>de</strong>nschaftliche Zustimmung <strong>de</strong>s Publikums, durch eine einzige<br />

Büberei entfesselt, mich minutenlang am Weiterlesen gehin<strong>de</strong>rt<br />

hat, eine solche Presse hat je<strong>de</strong>nfalls nichts in diesem Saale zu suchen<br />

und da ich von vornherein <strong>de</strong>r Presse die Bereitschaft zutraue,<br />

durch Verbreitung von Lügen die Aufnahmsfähigkeit <strong>de</strong>s<br />

Publikums zu trüben, so war ich auch hier nicht wie nirgendwo<br />

gewillt, ihr die Teilnahme an meinen Vorlesungen durch Verabreichung<br />

von Freikarten zu erleichtern. Darum erscheint es mir notwendig,<br />

nachdrücklich zu erklären, daß mit meinem Wissen und<br />

Willen Journalisten meinen Vorträgen we<strong>de</strong>r in Wien noch wo an<strong>de</strong>rs,<br />

also auch nicht in Innsbruck beiwohnen. Das fehlte noch,<br />

daß ich mir die Belästigung durch eine Urteilskraft zuziehen sollte,<br />

die meine Arbeiten als die Verwertung »pikanter Offiziersanekdötchen«<br />

im Stile <strong>de</strong>r Sauhumoristik auffaßt, nach<strong>de</strong>m sie von<br />

<strong>de</strong>m Gerücht Notiz genommen hat, ich »solle als erster und einziger<br />

<strong>de</strong>n Krieg in seiner nackten Furchtbarkeit und Unmenschlichkeit<br />

erkannt und unerschrocken verdammt haben«. Das fehlte<br />

noch, daß eine <strong>de</strong>rartige Presse irgen<strong>de</strong>twas was ich schreibe,<br />

spreche und tue »anerkennt«, nämlich jene »plastische Kraft«, die<br />

nicht nur <strong>de</strong>n Krieg, son<strong>de</strong>rn auch die Presse mit Namen nennt!<br />

Und das fehlte noch, daß ich mein Werk <strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r Innsbrucker<br />

Nachrichten unterwerfe und mich als eine ungewöhnliche Individualität<br />

herstellen lasse von einem Blatt, <strong>de</strong>ssen ungewöhnliche<br />

Individualität — ich verzeichne gleichfalls ein Gerücht — darin<br />

besteht, daß es <strong>de</strong>n Krieg in seiner nackten Furchtbarkeit und<br />

Unmenschlichkeit unerschrocken mitgemacht, das heißt gepriesen<br />

und prompt nach <strong>de</strong>m Umsturz die Generale bespieen hat, um<br />

von <strong>de</strong>r tieferen Ursache <strong>de</strong>s Krieges, von <strong>de</strong>r eigenen Mitschuld<br />

abzulenken. Ob die Innsbrucker Nachrichten mich anerkennen<br />

o<strong>de</strong>r »entschie<strong>de</strong>n ablehnen«, ist die Privatangelegenheit von irgendwelchen<br />

Schreibern, von <strong>de</strong>nen weit mehr als zwölf auf ein<br />

Dutzend gehen, hat aber auf mich persönlich keine an<strong>de</strong>re moralische<br />

Wirkung als die <strong>de</strong>r Langeweile. Nur das tiefere Wissen um<br />

das Geheimnis, wonach ein einziger Tropf zehntausend Gehirne in<br />

<strong>de</strong>r Hand hat, verpflichtet mich, selbst im Walten <strong>de</strong>r Innsbrucker<br />

Nachrichten etwas wie eine geistige Tatsache zu erkennen. Die<br />

Möglichkeit <strong>de</strong>r Verwirrung <strong>de</strong>s Publikums, eine Berichterstattung,<br />

die »das Brandmal einer gewissen Absicht unverkennbar an<br />

<strong>de</strong>r Stirn trägt«, die <strong>de</strong>utliche Ten<strong>de</strong>nz, ein etwa vorhan<strong>de</strong>nes Störungsgelüste<br />

aufzupeitschen und Bübereien zu unterstützen, gegen<br />

die allerdings Vorkehrungen getroffen sind: das ist nun wirklich<br />

eine Angelegenheit, die selbst diesen mesquinen Fall <strong>de</strong>s Aufhebens<br />

und <strong>de</strong>r Abweisung würdig macht. Ich habe mich noch fast<br />

in je<strong>de</strong>r österreichischen Stadt gegen die Gefälligkeiten wehren<br />

müssen, welche die lokale Presse <strong>de</strong>r von mir bedrückten Wiener<br />

Kollegenschaft erwies und durch die sie das Totschweigen in<br />

33


Schimpf zu übersetzen versuchte. Ich bin es gewohnt, daß die österreichische<br />

Presse über mich das Maul hält, aber keineswegs<br />

enttäuscht, wenn sie es öffnet und jene Gemeinheit herauskommt,<br />

die einzig von ihr zu erwarten ist. Ich wun<strong>de</strong>re mich darüber wirklich<br />

nicht. Nämlich daß zwar meine Ausführungen im <strong>de</strong>utschen<br />

Innsbruck keinen Wi<strong>de</strong>rspruch gefun<strong>de</strong>n haben, daß aber die<br />

Innsbrucker Presse das Gegenteil berichtet. Da sie sich aber auch<br />

erfrecht, mich über die tiefsten und letzten Ursachen <strong>de</strong>s Krieges<br />

informieren zu wollen, so sei ihr, weil ich selbst ihr augenblicklich<br />

nichts Besseres und Tieferes zu sagen habe, das Wort Kierkegaards<br />

gesagt:<br />

Gott im Himmel weiß: Blutdurst ist meiner Seele<br />

fremd, und eine Vorstellung von einer Verantwortung<br />

vor Gott glaube ich auch in furchtbarem Gra<strong>de</strong> zu haben:<br />

aber <strong>de</strong>nnoch, <strong>de</strong>nnoch wollte ich im Namen Gottes<br />

die Verantwortung auf mich nehmen, Feuer zu<br />

kommandieren, wenn ich mich nur zuvor mit <strong>de</strong>r<br />

ängstlichsten, gewissenhaftesten Sorgfalt vergewissert<br />

hätte, daß sich vor <strong>de</strong>n Gewehrläufen kein einziger<br />

an<strong>de</strong>rer Mensch, ja auch kein einziges an<strong>de</strong>res leben<strong>de</strong>s<br />

Wesen befän<strong>de</strong> als — Journalisten!<br />

Es sollte zu diesem Zuruf nicht mehr kommen. Was weiter geschah, verschlang<br />

ihn, verschlang seinen Anlaß, verschlang die Gelegenheit selbst. Die<br />

Lüge mag kurze Beine haben, aber mit genagelten Bergschuhen läuft sie<br />

durchs Land. Und je besser sie läuft, umsomehr Lügen, umso schneller kommen<br />

sie ihr nach, und auf einmal ists ein rechter Tiroler Landsturm. Es ist<br />

gräßlich, so leibhaftig mitten in einem Lauffeuer zu stehen und von <strong>de</strong>r Feuerwehr<br />

daran gehin<strong>de</strong>rt zu wer<strong>de</strong>n, es zu löschen. Um vier Uhr nachmittag traf<br />

die Meldung ein, daß die Burschenschafter jenen hochromantischen Plan hätten.<br />

Wir verständigten <strong>de</strong>n Vizebürgermeister Rapoldi, <strong>de</strong>r die Polizei eindringlichst<br />

an ihre Pflicht erinnerte, die Ausführung zu verhin<strong>de</strong>rn. Eine halbe<br />

Stun<strong>de</strong> später — ich hatte die Abschrift meiner Eröffnungsre<strong>de</strong> eben fortsetzen<br />

wollen — traf die Meldung ein, daß die Polizei das sicherste Mittel gefun<strong>de</strong>n<br />

hatte, um die Ruhe <strong>de</strong>s Abends herzustellen, und unmittelbar darauf stellte<br />

sie uns das diesbezügliche Dekret zu. Am Eingang zum Musikvereinssaal<br />

wur<strong>de</strong> eine Mitteilung darüber angebracht; die Feuerung, die <strong>de</strong>n leeren Saal<br />

dieses Abends wärmte — wie vielen Müttern und Säuglingen, zu <strong>de</strong>ren Gunsten<br />

<strong>de</strong>r Ertrag bestimmt war, hätte sie, als Geld o<strong>de</strong>r Holz, zugutekommen<br />

können! —, war nicht mehr zu retten. Es war Wille und Werk <strong>de</strong>r Innsbrucker<br />

Nachrichten. Während<strong>de</strong>ssen haben sie das Feuer, von <strong>de</strong>m sie noch nicht<br />

wußten, daß es vergebens brannte, wie folgt geschürt (Abendblatt, 5. Februar):<br />

34<br />

ZUR GESTRIGEN KARL KRAUS—VORLESUNG wird uns noch mitgeteilt, daß<br />

die Störung beabsichtigt war, und die Störer sich zu einem gemeinsamen<br />

Vorgehen verabre<strong>de</strong>t hatten, sobald Kraus die Satire<br />

auf Kaiser Wilhelm zum Vortrag bringen wer<strong>de</strong>. Man fin<strong>de</strong>t es in<br />

diesen Kreisen für sehr geschmacklos, daß zu einer Zeit, wo <strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>utschen Volke durch die Auslieferungsfor<strong>de</strong>rungen eine unerhörte<br />

Gewalt angetan wird, ein <strong>de</strong>utscher Schriftsteller einen ehe-


maligen Führer <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Volkes in seinem Unglücke verhöhnt.<br />

Sollte Herr Kraus bei <strong>de</strong>r heutigen Vorlesung ähnliche<br />

Werke vortragen, sind weitere Störungen zu erwarten. Als gestern<br />

die Demonstrationen gegen Kraus begannen, verständigte <strong>de</strong>r<br />

dort anwesen<strong>de</strong> Lan<strong>de</strong>shauptmannstellvertreter Dr. Gruener die<br />

Polizei und bewog sie zum Einschreiten. Einige Ruhestörer wur<strong>de</strong>n<br />

arretiert, einige nur zur Ausweisleistung verhalten. Nur dadurch<br />

wur<strong>de</strong> es möglich, <strong>de</strong>n Vortragsabend zu been<strong>de</strong>n.<br />

Die durch Dummheit gemil<strong>de</strong>rte Tücke will mit <strong>de</strong>m Geständnis, daß die<br />

Störung geplant war, also nicht aus <strong>de</strong>r Stimmung <strong>de</strong>s Auditoriums hervorging,<br />

diese für <strong>de</strong>n zweiten Abend präparieren und scheut auch vor Erpressung<br />

nicht zurück. Die Lüge von <strong>de</strong>r abgebrochenen Vorlesung ist aus »diesen<br />

Kreisen« inzwischen nach allen Gegen<strong>de</strong>n telegraphiert wor<strong>de</strong>n. Nun wird sie<br />

mit <strong>de</strong>r Lüge entschuldigt, daß ein Hinauswurf, <strong>de</strong>r sich zwei Minuten vor<br />

<strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Programms abgespielt, aber einen Beifall erweckt hat, <strong>de</strong>r das<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Abends erst nach fünf Minuten eintreten ließ, es ermöglicht habe,<br />

diesen überhaupt zu been<strong>de</strong>n. Und daß das »gemeinsame Vorgehen« für <strong>de</strong>n<br />

Moment verabre<strong>de</strong>t war, »sobald Kraus die Satire auf Kaiser Wilhelm zum<br />

Vortrag bringen wer<strong>de</strong>«, beweist eine Vertrautheit <strong>de</strong>r Innsbrucker mit meinem<br />

Programm, die ich selbst am Nachmittag noch nicht hatte. Wie bin ich ihnen<br />

in die Falle gegangen! Aber wenn einer <strong>de</strong>r Menschen, die in Innsbruck<br />

auf Demonstrationen ausgehen, bis halb zehn Uhr dieses Abends eine Ahnung<br />

von <strong>de</strong>m Vorhan<strong>de</strong>nsein dieser »Satire« hatte, will ich <strong>de</strong>m Wilhelm glauben,<br />

daß er es nicht gewollt, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Franz Josef, daß er alles reiflich erwogen<br />

hat. Die Wahrheit ist, daß die von einer vagen Kenntnis meiner Gesinnung,<br />

aber von <strong>de</strong>r festen Absicht, die ihre auszuleben, in <strong>de</strong>n Saal geführten Individuen<br />

im Lauf <strong>de</strong>s Abends ein Dutzend weit besserer Anlässe — etwa das Gespräch<br />

<strong>de</strong>r zwei Diebsgenerale — hatten vorübergehen lassen, weil ihnen füglich<br />

<strong>de</strong>r Laut auf <strong>de</strong>n Lippen erstarb, und erst zum Schluß, da <strong>de</strong>r Ärger über<br />

die eigene Unregsamkeit ihnen Bewußtsein und Haltung gab, ihre Anwesenheit<br />

legitimierten, in<strong>de</strong>m sie die Tür zuschlugen. Daraus ist die ganze Legen<strong>de</strong><br />

von <strong>de</strong>r Tiroler Hohenzollerntreue entstan<strong>de</strong>n, die, schon weil Andreas Hofer<br />

<strong>de</strong>rzeit in Innsbruck <strong>de</strong>r Firmentitel einer G. m. b. H. ist, mit <strong>de</strong>m Volkshel<strong>de</strong>n<br />

vorlieb nimmt, <strong>de</strong>r zu Amerongen in Ban<strong>de</strong>n liegt 1 . Was zuerst ein Zufall,<br />

dann eine Zeitungslüge war, wur<strong>de</strong> nunmehr wirklich ein Motiv, und<br />

Wilhelm wäre für sein Schicksal wie für die Lieblosigkeit seiner Reichs<strong>de</strong>utschen,<br />

die mich gewähren ließen, durch <strong>de</strong>n Aufstand <strong>de</strong>r Tiroler entschädigt,<br />

die mich zwar auch gewähren ließen, aber wenigstens nachträglich empört<br />

waren. Die sollten gewußt haben, welche Schmach ich ihnen ansinnen<br />

könnte? Sie warfen mir im Gegenteil vor, daß ich sie überrumpelt, daß ich das<br />

Programm vor ihnen verheimlicht habe. Der Allgemeine Tiroler Anzeiger, wenigstens<br />

(in <strong>de</strong>r Vorabendausgabe vom 6. Februar, die noch zum zweiten Vortrag<br />

zurechtgekommen wäre) stellte es so dar:<br />

Der VORTRAG KRAUS war eine Art Konglomeratvorlesung aus »Muskete«<br />

und »Arbeiterzeitung« über Krieg, Vaterland und Offiziere.<br />

Als <strong>de</strong>r Vortragen<strong>de</strong> in einer sowohl <strong>de</strong>n Anstand als auch das<br />

Empfin<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>s Deutschen auf das Empörendste verletzen<strong>de</strong>n<br />

1 Anspielung auf das Gedicht »Zu Mantua in Ban<strong>de</strong>n / Der treue Hofer war … « von Julius<br />

Mosen. Amerongen heißt <strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>rländische Ort, in <strong>de</strong>m sich <strong>de</strong>r geflohene <strong>de</strong>utsche Kaiser<br />

nie<strong>de</strong>rließ.<br />

35


36<br />

Weise <strong>de</strong>n »Wilhelm«, als Urheber <strong>de</strong>s Weltkrieges plastisch gestaltete<br />

(!), da brachen laute Entrüstungsrufe los, <strong>de</strong>r Vortrag<br />

wur<strong>de</strong> durch mißbilligen<strong>de</strong> Zurufe unterbrochen. Die Ju<strong>de</strong>n, von<br />

<strong>de</strong>nen vielfach ihrer 3 auf 2 Stühlen saßen, glaubten ihrem<br />

Stämmling und seiner Verhöhnung <strong>de</strong>utschen Volkstums durch<br />

Klatschen Beifall spen<strong>de</strong>n zu müssen, <strong>de</strong>r anständige Teil <strong>de</strong>r Zuhörer<br />

aber verließ <strong>de</strong>n Saal. Das Bemerkenswerte aber ist, daß<br />

die vorher geheimgehaltene Vortragsordnung mit voller Absicht<br />

auf Provokation ausgewählt war, <strong>de</strong>nn es stan<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>n Saaltüren<br />

zwei Polizeimänner und <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>shauptmannstellvertreter<br />

Grüner bereit, welche drei die sich gegen die gebotenen Gemeinheiten<br />

Empören<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m Saale hinausdrängen wollten. Die<br />

städt. Sicherheitsorgane gaben an, im höheren Auftrage (er wur<strong>de</strong><br />

also schon im Vorhinein gegeben!) zu han<strong>de</strong>ln, während Herr<br />

Grüner meint, man müsse die Stören<strong>de</strong>n auf 24 Stun<strong>de</strong>n einsperren.<br />

Der Lan<strong>de</strong>shauptmannstellvertreter war also wohl vorbereitet,<br />

daß die Probe, wie weit die Innsbrucker Bürger für sozialistisch—<br />

kommunistische I<strong>de</strong>en reif seien, nicht ganz zur Zufrie<strong>de</strong>nheit<br />

ausfallen könnte.<br />

*<br />

Ein an<strong>de</strong>rer Einsen<strong>de</strong>r nennt das, was gestern im Musikvereinssaale<br />

sich zutrug, direkt einen Skandal u. zw. nicht <strong>de</strong>n Radau seitens<br />

<strong>de</strong>s Publikums, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Vortrag <strong>de</strong>s Karl Kraus, Herausgebers<br />

<strong>de</strong>r Fackel. Der »rote« Fa<strong>de</strong>n in seinem Vortrag war nicht<br />

die vornehme beißen<strong>de</strong> Satire, die vielleicht mancher Plakatleser<br />

sich versprach, son<strong>de</strong>rn ein Schimpf und Hohn auf das <strong>de</strong>utsche<br />

Volk, — eine schmutzige, blutige Hacke, mit <strong>de</strong>r Kraus <strong>de</strong>m<br />

Scham und Anstandsgefühl <strong>de</strong>n Garaus machen wollte. Das <strong>de</strong>utsche<br />

Volk hat seit seinem Zusammenbruche gewiß nicht geschlafen,<br />

son<strong>de</strong>rn hat seine Fehler erkannt. Es ist nimmer notwendig<br />

und niemals notwendig gewesen, die Sün<strong>de</strong>n dieses Volkes, das<br />

heute seine bittersten Bußzeiten mitmacht, noch im Kote herumzuzerren.<br />

Eine Dame hat inmitten <strong>de</strong>s Trubels ganz richtig empört<br />

bemerkt: »Das, was im österr. o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Hauptquartier Generalstäbler,<br />

Schieber und fette Kriegswucherer mit Dirnen getrieben<br />

haben, wissen wir schon längst und ist höchst rückschrittlich<br />

von Kraus, heute noch darüber ein Wort zu verlieren.« Ein<br />

Herr erwi<strong>de</strong>rte: »Ganz richtig, aber es muß einmal <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen<br />

Volke die nackte Wahrheit durch potenziertes Auftragen grellster<br />

Farben gesagt wer<strong>de</strong>n, sonst glaubt es nicht an seine Fehler!« So<br />

unrecht hat ja dieser Herr nicht, aber wie das Auftragen grellster<br />

Farben gestern geschah, wirkt entschie<strong>de</strong>n nicht erzieherisch! —<br />

Uns tut »Weltversöhnung« not und nicht Haß, Gift und Unrat auf<br />

unser teures, trockenes Brot! Das <strong>de</strong>utsche Volk will gottlob auch<br />

in seinen Hungerstun<strong>de</strong>n reine Sitten und Anstand bewähren und<br />

sträubt sich gegen die Darbietungen <strong>de</strong>s Herrn Kraus. Das ehrliche,<br />

reine Empfin<strong>de</strong>n einiger Braven (nicht Radaumacher; wie ich<br />

konstatierte) legte gegen Kraus heftigen Protest ein. Man hörte<br />

Stimmen: »Ich habe fünf Jahre geblutet, habe keinen Dank vom<br />

Vaterlan<strong>de</strong> erhalten, weiß genau, wie es draußen zugegangen ist,


aber es wäre mir niemals eingefallen, aus meinen Erlebnissen ein<br />

so schmutziges Geschäft zu machen. Es ist eine Schan<strong>de</strong> für das<br />

ganze <strong>de</strong>utsche Tirol, diesen Menschen angehört zu haben!« Es<br />

bleibt unverständlich, daß <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>shauptmannstellvertreter von<br />

Tirol, Dr. Grüner noch arretieren half. — Es hätte ihm eher geziemt,<br />

das Innsbrucker Publikum vor <strong>de</strong>m Unratsüberguß <strong>de</strong>s Vortragen<strong>de</strong>n<br />

rechtzeitig zu schützen. — Das <strong>de</strong>utsche Volk kann auf<br />

Herrn Kraus vollkommen verzichten, es hat gottlob »eigene« Leute,<br />

die in würdigerer Form seine »feldgrauen Sün<strong>de</strong>n« zu geißeln<br />

wissen.<br />

Die Spezies <strong>de</strong>r christlichsozialen Polemik ist eigentlich jene Tonart, von<br />

<strong>de</strong>r man immer wie<strong>de</strong>r erstaunt ist, daß sie überhaupt in Druckerschwärze<br />

umgesetzt wer<strong>de</strong>n kann. Es entströmt ihr, mit ihren Gänsefüßchen und eingeklammerten<br />

Rufzeichen, ein <strong>de</strong>rartiger geistiger Armeleutegeruch, daß man<br />

überrascht ist, so arme Leute statt mit Wasser auf <strong>de</strong>r Rotationsmaschine kochen<br />

zu sehen. Man versteht, daß <strong>de</strong>r jüdische Kommis in dieser Welt eine publizistische<br />

Figur gewor<strong>de</strong>n ist und die Scham, die man für die Natur empfin<strong>de</strong>t,<br />

muß einen nicht davon abhalten, die geläufige Sprache, die er re<strong>de</strong>t, als<br />

ein Verkehrsmittel hinzunehmen, um eben über all die Greuel, <strong>de</strong>nen man<br />

entrinnen möchte, auf <strong>de</strong>m Laufen<strong>de</strong>n zu sein. Hier gestattet das Weltübel<br />

doch <strong>de</strong>n sozialen Umgang. Keine Brücke aber führt zu jenen Belangen, in <strong>de</strong>nen<br />

<strong>de</strong>r journalhaben<strong>de</strong> Goj sich bewegt. Da schließt das reine Naturwun<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r Blödheit alles Problemhafte aus und nichts bleibt als das physikalische<br />

Wi<strong>de</strong>rstreben, sich die Seele eines Pfaidlers im Aggregatzustan<strong>de</strong> flüssiger<br />

Journalistik vorzustellen. Hier entpuppt sich <strong>de</strong>r Konservativismus, mit <strong>de</strong>m<br />

sichs ja re<strong>de</strong>n ließe, als geistige Zurückgebliebenheit. Der Unterschied bleibt<br />

doch immer <strong>de</strong>r: Wenn die Zeit aus <strong>de</strong>n Fugen ist und ich zur Welt gekommen<br />

bin, sie einzurichten, so kann ich jeglichem Urheber o<strong>de</strong>r Nutznießer dieses<br />

Zusammenbruchs, zeigen, wie viel's geschlagen hat, und er wird, mich verabscheuend,<br />

wenigstens <strong>de</strong>n Sinn <strong>de</strong>r Gebär<strong>de</strong> verstehen, er wird, ohne Reue,<br />

wenigstens lesen, daß die Uhr zwölfe zeigt; — während hingegen <strong>de</strong>r antisemitische,<br />

<strong>de</strong>r christlichsoziale Publizist sie in <strong>de</strong>n Mund nehmen wird. Da<br />

schrieb ich neulich <strong>de</strong>n Satz:<br />

Wie <strong>de</strong>r Leser an dieser spitzigen Bemerkung erkennt, ist <strong>de</strong>r Autor<br />

mit <strong>de</strong>m Verlauf <strong>de</strong>r Weltgeschichte unzufrie<strong>de</strong>n, aus welchem<br />

Grun<strong>de</strong> er sich auch entschlossen hat, Mitarbeiter <strong>de</strong>s Abendblattes<br />

<strong>de</strong>r Reichspost zu wer<strong>de</strong>n, was von noch herberer Unversöhnlichkeit<br />

zeugt, als wenn er Mitarbeiter <strong>de</strong>s Morgenblattes gewor<strong>de</strong>n<br />

wäre.<br />

Den ganzen Aufsatz hatte das konservative Blatt, mangels Auffassungsgabe,<br />

links liegen gelassen. Nur <strong>de</strong>n einen Satz glaubte es verstehen zu können<br />

und reagierte wie folgt:<br />

Solche Aufmerksamkeiten sind nicht tragisch zu nehmen. Wenn<br />

die »Fackel« (Nr. 521 bis 550) in einer längeren Erwi<strong>de</strong>rung auf<br />

einen in <strong>de</strong>n »Wr. Stimmen« erschienenen polemischen Aufsatz<br />

beiläufig bemerkt, Mitarbeiter <strong>de</strong>r »Wr. Stimmen« zu sein, zeuge<br />

»von noch herberer Unversöhnlichkeit«, als wenn einer Mitarbeiter<br />

<strong>de</strong>s Morgenblattes wird, so läßt sich darauf sagen, daß Karl<br />

37


Kraus und seine »Fackel« sich auch nicht gera<strong>de</strong> durch Veranstaltung<br />

von Versöhnungsfesten in <strong>de</strong>n Mund <strong>de</strong>r Leute gebracht haben.<br />

Der Arme hatte eben noch verstan<strong>de</strong>n, daß von »Unversöhnlichkeit« die<br />

Re<strong>de</strong> sei; wogegen sie sich richtet, gibt er nicht an, <strong>de</strong>nn er glaubt, sie wer<strong>de</strong><br />

ihm als eine Eigenschaft <strong>de</strong>s Charakters vorgeworfen. Es ist vollkommen ausgeschlossen,<br />

sich auf diesem Niveau verständlich zu machen. Was die Sprache<br />

vermag, ist jenseits dieser Grenzen. Die Leute haben die schlechtesten<br />

Absichten, gewiß, aber was nützt es, wenn ihnen das Talent fehlt? Man hat<br />

die Empfindung, daß mit einem jüdischen Journalisten <strong>de</strong>r ganzen Reichspost<br />

und selbst ihrem hoffnungsloseren Abendblatt geholfen wäre. Schon die<br />

Druckanordnung, die Art wie etwa zum Gebrauch für eine christlichsoziale<br />

Meinung Dichterverse zitiert wer<strong>de</strong>n, aus purer Dummheit gespalten und um<br />

<strong>de</strong>n Effekt gebracht, mit einem riesigen Titel versehen, <strong>de</strong>r dann als Überschrift<br />

<strong>de</strong>r ganzen folgen<strong>de</strong>n Lokalrubrik wirkt, das alles, mit <strong>de</strong>n im Raum<br />

verhatschten Karikaturen dieses gräßlichen Zeichners <strong>de</strong>r Zeit, mit diesem<br />

Starrkrampf <strong>de</strong>s Wiener Lebens — das alles ist <strong>de</strong>rmaßen power, daß man<br />

glaubt, selbst <strong>de</strong>r an sich trostlose Versuch, die journalistische Façon für <strong>de</strong>n<br />

dummen Kerl von Wien zu fin<strong>de</strong>n, müßte einem Ju<strong>de</strong>n besser gelingen. Mit<br />

schwachen Kräften haben ja die geistigen Fahrer <strong>de</strong>r christlichsozialen Presse<br />

das Er<strong>de</strong>nklichste geleistet, um am Weltmord beteiligt zu sein, und wenn <strong>de</strong>r<br />

Herr Fun<strong>de</strong>r wirklich danach Verlangen trägt, so kann ich ihm erzählen, wie<br />

eine sittliche Autorität, wie ein wahrer Christ, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> wehrlos gegen<br />

die Anerkennung <strong>de</strong>r Reichspost ist, über das Problem <strong>de</strong>r völkerrechtlichen<br />

Verantwortlichkeit <strong>de</strong>r journalistischen Kriegsschuldigen gedacht und<br />

wie gerecht er <strong>de</strong>n jüdischen und <strong>de</strong>n christlichen Anteil abgewogen hat. Aber<br />

<strong>de</strong>r Erfolg einer ungeschlachten Kriegspropaganda vermag an <strong>de</strong>m Bild unsäglicher<br />

Dürftigkeit in allen geistigen Belangen nichts zu än<strong>de</strong>rn. Die arische<br />

Journalistik, ob sie nun mehr fromm o<strong>de</strong>r ehrenfest ist, berührt im Gegensatz<br />

zur jüdischen, die ihre Fähigkeit zu allem in je<strong>de</strong>r Zeile betätigt, nur jene<br />

Zone <strong>de</strong>r Entmenschung, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Blutdurst keine intellektuelle Hemmung<br />

zu überwin<strong>de</strong>n hat. Der Dialekt <strong>de</strong>r Roheit, mit <strong>de</strong>m sie zu <strong>de</strong>n Herzen<br />

spricht, hat noch nicht von jener Technik <strong>de</strong>r Phantasiever<strong>de</strong>rbnis angezogen,<br />

durch welche die Bildungspresse seit Jahrzehnten die mittelbare und tiefere<br />

Ursache <strong>de</strong>r Menschheitskatastrophe be<strong>de</strong>utet, und so gewährt sie neben diesem<br />

teuflischen Fabrikat eher <strong>de</strong>n Eindruck kultureller Belanglosigkeit und<br />

wer immer strebend sich bemüht, ein Jud zu sein, gewinnt zwar an Komik,<br />

aber verliert an Gefahr. Wir Heutigen und Hiesigen sind ja einmal verurteilt,<br />

uns zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Lebenstypen durchzufretten, <strong>de</strong>ren gewandterer, als<br />

Gürteltier verklei<strong>de</strong>t, unschwer als jener Gent, <strong>de</strong>r schlaue, zu agnoszieren<br />

ist, <strong>de</strong>r, wenn die letzte Blaue 1 geht, durch eine Fügung in die Bar muß, während<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, von <strong>de</strong>m ich behaupte, daß er Kasma<strong>de</strong>r heißt, noch am<br />

Nimmermehrstag jene nur hier <strong>de</strong>nkbare kreuzfi<strong>de</strong>le Ordinärheit ausstellen,<br />

plakatieren, begröhlen wird, die plattenbrü<strong>de</strong>rlich die Welt umarmt und in<br />

<strong>de</strong>n Bann ihrer Ausdünstung zieht. Bei<strong>de</strong> lieben wir, in<strong>de</strong>m wir je<strong>de</strong>n von bei<strong>de</strong>n<br />

lieben, wenn wir <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn sehen. Kasma<strong>de</strong>rs Presse ist nun darum etwas<br />

so Vertracktes, weil <strong>de</strong>r Typus ganz auf Unmittelbarkeit eingestellt ist<br />

und <strong>de</strong>r Drucklegung, durch welche die Einfalt monströs wird, wi<strong>de</strong>rstrebt,<br />

während <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re schon mit <strong>de</strong>m Talent zur Vielfältigkeit auf die Welt gelangt<br />

ist. Ehe man da auf <strong>de</strong>n Geschmack <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rwärtigkeit kommt, muß<br />

1 Straßenbahn<br />

38


man erst das son<strong>de</strong>rbare Gebil<strong>de</strong> auf Formen reduzieren, und so liest man,<br />

erst staunend, dann schau<strong>de</strong>rnd, in <strong>de</strong>r Reichspost <strong>de</strong>n Titel. »Tara—Tschindra<br />

— <strong>de</strong>r Volkswehrleutnant Jndra!« Es schwirrt einem vor <strong>de</strong>n Augen von<br />

Taragewicht und Tatarenkhan, bis man erfaßt, was <strong>de</strong>r Scherzbold eigentlich<br />

ausdrücken wollte. »Windverdraht« wie so ein Titel steht <strong>de</strong>r Zeitungsgoj im<br />

Weltraum — dies die wahre Lage <strong>de</strong>r Deutschen in Österreich — und die<br />

Gleichzeitigkeit seiner I<strong>de</strong>alfigur mit Luftschiff, Telephon, Gelbkreuzgranaten<br />

und an<strong>de</strong>rn Verkehrsmitteln ist ihm selbst kein Problem. Aber die Un<strong>de</strong>finierbarkeit<br />

<strong>de</strong>s nur im hiesigen und heutigen Klima möglichen Begriffes »windverdraht«<br />

wird noch von <strong>de</strong>r Pein einer an<strong>de</strong>rn Mißform übertroffen. Der katholische<br />

Publizist will erzählen, daß trotz <strong>de</strong>m vorzeitigen Beginn <strong>de</strong>r Osterferien,<br />

<strong>de</strong>n das Unterrichtsamt angeordnet hatte, irgendwo die religiösen Vorträge<br />

mit Beichte und Kommunion nicht entfallen sind, son<strong>de</strong>rn eben schon<br />

vorher abgehalten wur<strong>de</strong>n, was die »Rechnung« <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong> durchkreuzt<br />

habe. Wie wür<strong>de</strong> nun die Genugtuung über einen solchen Beweis von Frömmigkeit<br />

— auf <strong>de</strong>n's <strong>de</strong>m Frommen doch wenigstens scheinbar ankommen<br />

muß — <strong>de</strong>n Bericht schließen? Christ ist erstan<strong>de</strong>n? Nein: »Rrtsch!<br />

Obidraht!« Speiübel wird einem, selbst wenns nicht die Religion beträfe.<br />

Wäre es schon <strong>de</strong>m Gegner erlaubt, hier eine polemische Empfindung auszuleben,<br />

so dürfte doch <strong>de</strong>r Parteikatholik über <strong>de</strong>m Gewinn nie vergessen, daß<br />

es um einen Inhalt ging, <strong>de</strong>r die abscheuliche Gebär<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Brachialsiegs abweist.<br />

Der Luegersche Triumphlaut nach einem Parlamentsmanöver, <strong>de</strong>r<br />

Schlachtruf, mit <strong>de</strong>m die Feschaks einan<strong>de</strong>r ihre standgerichtlichen Erfolge<br />

quittiert haben, ein in keiner Sprache <strong>de</strong>r Welt ersetzbares Ekelwort von<br />

Scha<strong>de</strong>nfreu<strong>de</strong> und Siegerhohn, ein Geräusch, in <strong>de</strong>m ein Genickfang und ein<br />

Humor knacken, kurzum die Handschrift <strong>de</strong>s lachen<strong>de</strong>n Henkers, die phonetische<br />

Nachbildung <strong>de</strong>r Ansichtskarte <strong>de</strong>s Battisti, das zum Sprechen ähnliche<br />

österreichische Antlitz. Kasma<strong>de</strong>r, wie er leibt und lebt und die Zuschriften<br />

<strong>de</strong>r frommen Leserinnen abgedruckt hat, <strong>de</strong>nen ihre Lieben im Fel<strong>de</strong> Serbennierndln<br />

und Russenbeuscheln und sonstige An<strong>de</strong>nken versprochen hatten.<br />

Nein, er hat recht, ich habe wirklich mit seiner Rasse nichts zu schaffen! Aber<br />

er ist sehr im Irrtum, wenn er glaubt, daß ich darum, weil ich <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n als<br />

Ju<strong>de</strong>n durchschaut habe, ihn für einen Christen halte. Wohl beginnt mein Blut<br />

zu kochen, wenn ich so einen von gesun<strong>de</strong>n Luftgeschäften strotzen<strong>de</strong>n jüdischen<br />

Schieber sehe, aber es erfriert sogleich, da ich <strong>de</strong>s physischen Wi<strong>de</strong>rspiels<br />

ansichtig wer<strong>de</strong>. Das wesentliche Provinzlertum dieser Spezies, von<br />

<strong>de</strong>m und zu <strong>de</strong>m es gleichfalls keine Verbindung mit menschlichen Gegen<strong>de</strong>n<br />

gibt, bleibt von einem Unterschied zwischen Provinz und Großstadt unberührt.<br />

Während <strong>de</strong>r jüdische Kleinstädter, <strong>de</strong>ssen Allüren oft gar nicht aufreizend<br />

sind, in Wien sofort entartet, lebt <strong>de</strong>r arische Durchschnitt da und dort<br />

unentwurzelbar in <strong>de</strong>r Provinz. Wenn ich mir nur <strong>de</strong>n Tonfall <strong>de</strong>r Enttäuschung<br />

vergegenwärtige, in <strong>de</strong>m sich jener kritische Wastl beklagt, <strong>de</strong>r sich<br />

als Plakatleser von mir eine »vornehme beißen<strong>de</strong> Satire« versprochen hat,<br />

wiewohl das Plakat zwar vornehm, aber gar nicht beißend war, wird mir<br />

schon totenübel. Und das Gespräch <strong>de</strong>r »Dame«, die inmitten <strong>de</strong>s Trubels<br />

ganz richtig empört bemerkt — »und ist höchst rückschrittlich von Kraus« —<br />

mit <strong>de</strong>m erwi<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Herrn: das ist zweifellos echt, auch wenn es sich nicht<br />

zugetragen hat. Man hörte Stimmen, unter an<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r fünf Jahre<br />

geblutet hat und noch zu Vorlesungen gehen kann, wenn auch nur, um mir<br />

»ein schmutziges Geschäft« vorzuwerfen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf,<br />

daß das <strong>de</strong>utsche Volk, welches auf Herrn Kraus vollkommen verzichten kann,<br />

weil es — wie man sieht — gottlob eigene Leute hat, doch auch noch an<strong>de</strong>re<br />

39


haben wird. Wenn nicht, wür<strong>de</strong> mir <strong>de</strong>r Entschluß, auf das <strong>de</strong>utsche Volk zu<br />

verzichten, keineswegs schwerer fallen.<br />

Am nächsten Tag wußte das ganze <strong>de</strong>utsche Tirol, daß einer die Einreisebewilligung<br />

zu einem Attentat auf die Ehre <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s mißbraucht hatte.<br />

Im Vorstand <strong>de</strong>r Innsbrucker Filiale <strong>de</strong>r Österreichisch—Ungarischen Bank<br />

war ihr ein Rächer erstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r mich in <strong>de</strong>n Innsbrucker Nachrichten<br />

(6. Februar) vor ein Volksgericht rief, <strong>de</strong>ssen Exekutive nur durch meine Abreise<br />

vereitelt wur<strong>de</strong>, das mich aber sicher in contumaciam gelyncht hat.<br />

DER ZWEITE KARL—KRAUS—ABEND ist nicht zustan<strong>de</strong>gekommen. Da bestimmtem<br />

Vernehmen nach von gewisser Seite energische Protestkundgebungen<br />

zu erwarten waren, falls Karl Kraus wie<strong>de</strong>r<br />

verletzen<strong>de</strong> Satiren zum Vortrag bringen sollte, so ist von <strong>de</strong>r Polizei<br />

die Abhaltung <strong>de</strong>s Vortragsabends untersagt wor<strong>de</strong>n.<br />

Und vor dieser Heilsbotschaft stand <strong>de</strong>r Aufruf, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Vorstand <strong>de</strong>r<br />

Innsbrucker Filiale <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschchristlichen Weltanschauung erlassen hatte<br />

und <strong>de</strong>n die 'Korrespon<strong>de</strong>nz Herzog' in <strong>de</strong>r richtigen Empfindung, daß er kein<br />

bloßes Lokalereignis sei, in die Welt telegraphierte:<br />

40<br />

AN KARL KRAUS,<br />

<strong>de</strong>n Ankläger <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Volkes und unberufenen Richter seiner Schuld!<br />

Ein Abend schmerzlicher Selbstverstümmelung liegt hinter uns!<br />

Ist das große Gefühl für unser Volk, ist die Innigkeit <strong>de</strong>r Liebe, mit<br />

<strong>de</strong>r auch wir Deutschen aus <strong>de</strong>m Donaustaat am geeinigten, durch<br />

Bismarcks Titanenwillen wie<strong>de</strong>rerstan<strong>de</strong>nen Reiche bis zum Rausche<br />

erfüllt waren, <strong>de</strong>nn wirklich so durchaus unserer Seele entfahren,<br />

daß uns nicht die A<strong>de</strong>rn bersten vor Zorn und Scham, —<br />

daß nicht die Entrüstung <strong>de</strong>n Ring <strong>de</strong>r Besonnenheit zersprengt<br />

und mit mannhaftem Aufschrei die Justifikation ablehnt, die jemand,<br />

<strong>de</strong>r an unserer Schuld und Schmach niemals in <strong>de</strong>m Maße<br />

gelitten haben kann, als einer, <strong>de</strong>m das <strong>de</strong>utsche Volk, sein Reich<br />

und seine ruhmumleuchtete Geisteshoheit alles Höchste und <strong>de</strong>n<br />

Inhalt seines Glückes be<strong>de</strong>utet haben, an uns zu vollziehen sich<br />

vermißt! Ich weiß mich vollkommen frei von nationalem und konfessionellem<br />

Haß, ich habe vielmehr diesen wi<strong>de</strong>rlichen Götzen<br />

immer bekämpft, aber Ich müßte vor diesem mit schonungsloser<br />

Härte in unsere beben<strong>de</strong>n Wun<strong>de</strong>n greifen<strong>de</strong>n Arzt und Richter,<br />

<strong>de</strong>r zugleich das sittliche Vernichtungsamt an uns zu vollziehen<br />

sich selbst ermächtigt hat, erröten, wenn ich nicht als <strong>de</strong>utscher<br />

Schriftsteller, und zwar als einer, <strong>de</strong>r mit nicht geringerem sittlichen<br />

Zorn als Kraus selbst gegen die idiotische und verruchte Kanaillität<br />

dieses Krieges und je<strong>de</strong>s Krieges überhaupt aufgetreten<br />

ist, dagegen protestieren wür<strong>de</strong>: daß unser Elend und die sich —<br />

Gott sei's geklagt! — hilflos in Blut und Schlamm win<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Not<br />

unseres von <strong>de</strong>n eigenen Machthabern so frevelhaft mißbrauchten<br />

und <strong>de</strong>n noch ruchloseren Handwerkern <strong>de</strong>s Versailler Fastnacht


—Frie<strong>de</strong>ns mit Flagellantenwahnsinn gepeitschten Volkes nackt<br />

und spekulativ zur Schau gestellt und <strong>de</strong>m aufgestachelten Gelächter<br />

eines leicht verführten Publikums preisgegeben wird.<br />

Auch das, Karl Kraus, ist ein schweres Vergehen am heiligen Gute<br />

<strong>de</strong>r Menschenwür<strong>de</strong> und am Selbsterlösungswerke, — es ist somit<br />

eine durchaus unsittliche Tat: wenn die Scham <strong>de</strong>r Zerknirschung<br />

und die ersten qualgeborenen Keime <strong>de</strong>s Erkennens und Gestehens<br />

<strong>de</strong>r eigenen Schuld mit ätzen<strong>de</strong>m Gifte versengt, ja verbrannt<br />

wer<strong>de</strong>n! — Je höher die Begabung eines aus Tausen<strong>de</strong>n erlesenen<br />

Menschen steht, <strong>de</strong>sto größer ist auch seine Verantwortungspflicht,<br />

<strong>de</strong>sto lauterer muß er auch vor <strong>de</strong>m Gotte seines Inneren<br />

dastehen! — Senke in Erschütterung vor unserem<br />

namenlosen Leid <strong>de</strong>n Arm mit <strong>de</strong>r Stachelpeitsche, Karl Kraus, sei<br />

uns mehr als ein racheerfüllter Hasser unserer Schuld und abstoßen<strong>de</strong>n<br />

Schwäche, wer<strong>de</strong> uns vielmehr ein Mitarbeiter und Helfer<br />

am großen Erlösungswerke unserer selbst und damit auch <strong>de</strong>r<br />

Welt! — Und, Karl Kraus, achte an uns, die wir bisher das reine<br />

Wollen an Dir geachtet haben, achte an uns: daß wir angeklagt,<br />

gerichtet und gestraft nur von einem aus unseren Reihen, sein<br />

wollen! Das <strong>de</strong>utsche Volk, das Immanuel Kant, <strong>de</strong>n großen Vertreter<br />

<strong>de</strong>s Weltgewissens gezeugt hat, wird auch <strong>de</strong>n Genius aus<br />

seinem Blute erwecken, <strong>de</strong>r uns aus diesem Kerker <strong>de</strong>r Martern<br />

und Erniedrigung holen und zum strafen<strong>de</strong>n, aber auch zum erlösen<strong>de</strong>n<br />

Gerichtstag führen wird. Wir ersehnen diesen <strong>de</strong>utschen<br />

Heiland! Schon ahnen wir in <strong>de</strong>r Ferne seine Lichtgestalt! Der<br />

jüngste Tag unseres Volkes wird uns auch <strong>de</strong>n für dieses weltgeschichtliche<br />

Amt erwählten und berufenen Richter geben! Ihn wollen<br />

wir hören, ihm wollen wir uns beugen, ihm wollen wir unseren<br />

namenlosen Schmerz bekennen! Ihm allein, <strong>de</strong>m Deutschen Heiland!<br />

Aber sonst nieman<strong>de</strong>m auf <strong>de</strong>r Welt. Karl Emerich Hirt,<br />

Innsbruck, <strong>de</strong>n 4.(?) Februar 1920. Schriftsteller.<br />

*<br />

Dieser wie man sieht <strong>de</strong>utsche Schriftsteller, <strong>de</strong>ssen Enttäuschung<br />

schon auf die Zeit vor <strong>de</strong>m Kriege, gegen <strong>de</strong>n er Schulter an Schulter mit mir<br />

gekämpft hat, zurückgeht — er hat mir wie fast alle leben<strong>de</strong>n Literaten Manuskripte<br />

und Bücher geschickt, die teils zurückgeschickt, teils nicht beachtet<br />

wur<strong>de</strong>n — , ist ohne Zweifel eine schwärmerisch veranlagte Natur. Ursprünglich<br />

<strong>de</strong>m Bankfache bestimmt, widmete er sich ihm tatsächlich und wur<strong>de</strong> ein<br />

angesehener Lyriker sowie eine <strong>de</strong>r markantesten Gestalten <strong>de</strong>s geistigen Lebens<br />

Innsbrucks. Auf <strong>de</strong>n ersten Blick wür<strong>de</strong> man vermuten, daß es sich nur<br />

um einen jener schlichten, aber freien A<strong>de</strong>lsmenschen han<strong>de</strong>lt, die in <strong>de</strong>r Literatur<br />

wie im Leben durch <strong>de</strong>n mil<strong>de</strong>n Abglanz einer mit Weisheit gepaarten<br />

Tüchtigkeit erfreuen, jenen arischen Typus, <strong>de</strong>r bei Ju<strong>de</strong>n als Sonnenmoriz<br />

und bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn etwa als Wüllner vorkommt. Dies nach <strong>de</strong>m äußern Ansehn,<br />

das er hat und zweifelsohne auch genießt. Ich <strong>de</strong>nke mir, daß solche Figuren<br />

sich von einem Photographen unschwer in <strong>de</strong>m Moment ertappen ließen,<br />

wo sie das Verlangen haben, sichs beim Schöpfer zu richten, um, völlig<br />

jenen verklärten Ausdruck einer hochgestimmten Seele zu erreichen, <strong>de</strong>r eine<br />

Ansichtskarte vom Ebenbild Gottes ermöglicht. In je<strong>de</strong>r schöngeistigen Pro-<br />

41


vinz laufen solche E<strong>de</strong>lmenschen dutzendweis herum. Es sind in<strong>de</strong>s Kreuzungen<br />

von Seher und Held, in <strong>de</strong>nen bei näherer Bekanntschaft das seherische<br />

Moment vorwiegt. Solch ein vates, <strong>de</strong>r vom heiligen Geiste erfüllt mit Zungen<br />

re<strong>de</strong>t, vor allem natürlich mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen, soweit sie klingt, beschei<strong>de</strong>t sich<br />

zwar gerne sozusagen auf <strong>de</strong>n Familienvates, <strong>de</strong>r keinen höhern Ehrgeiz hat<br />

als »<strong>de</strong>n Seinen einen geachteten Namen zu hinterlassen«, was bei einem<br />

zahlreichen Familienstand keine Kleinigkeit ist. Aber man merkt schon an<br />

<strong>de</strong>m ganzen Gehaben, daß sein Reich nicht von dieser Welt, daß es keine von<br />

<strong>de</strong>n irdischen Erscheinungen ist und daß unser Herrgott wie bekanntlich<br />

überhaupt mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Volke, speziell mit ihm noch etwas vorhat, zumal<br />

da <strong>de</strong>r Rang eines Vorstands <strong>de</strong>r Innsbrucker Filiale <strong>de</strong>r Österreichisch—<br />

ungarischen Bank ja keineswegs schon die höchste Stufe auf <strong>de</strong>r Himmelsleiter<br />

vorstellt. Wie käme <strong>de</strong>nn auch, frage ich, solch ein Schlichter, <strong>de</strong>r seines<br />

Weges geht, dazu, mich, <strong>de</strong>r doch »das <strong>de</strong>utsche Volk« nicht angeklagt, son<strong>de</strong>rn<br />

nur beklagt hat, weil es sich von einem Hanswurst in <strong>de</strong>n Selbstmord<br />

treiben, o<strong>de</strong>r, wie sagt doch Hirt, »von <strong>de</strong>n eigenen Machthabern so frevelhaft<br />

mißbrauchen« ließ, mich eben darum, weil ich diese Machthaber an <strong>de</strong>n<br />

Pranger rief, vor ein Hochgericht zu stellen — wenn nicht eine innere Berufung<br />

es ihm geböte? Wo nähme ein Pathetiker <strong>de</strong>n Humor her, <strong>de</strong>n »Arzt« zu<br />

richten, <strong>de</strong>r »in Wun<strong>de</strong>n greift«, sich »vor Zorn die A<strong>de</strong>rn bersten« zu lassen,<br />

wenn ein Richter »mit sittlichem Zorn« seines Amtes waltet, und um Mitleid<br />

für die »abstoßen<strong>de</strong> Schwäche« zu werben — Wenn er nicht vom heiligen<br />

Geist »bis zum Rausche« erfüllt wäre? Wie wür<strong>de</strong> ein Bankmann und Lyriker<br />

fürs Vaterland es wagen, mich zu bezichtigen, daß ich die Not »spekulativ zur<br />

Schau gestellt« hätte, wenn er nicht müßte? Wie fän<strong>de</strong> einer, <strong>de</strong>r am Abend in<br />

vor<strong>de</strong>rster Reihe durch Beifallsbezeigungen jene Aufmerksamkeit auf sich gelenkt<br />

hat, die ihm zwar im Innsbrucker Leben gebührt, aber in meinem Auditorium<br />

vielleicht abhan<strong>de</strong>n käme, wie fän<strong>de</strong> er <strong>de</strong>n Mut, <strong>de</strong>n nächsten Tag zu<br />

meinem jüngsten zu machen, wenn nicht inzwischen die Stimme <strong>de</strong>s Herrn<br />

sowohl wie die <strong>de</strong>r Herren von <strong>de</strong>r Lokalpresse ihn »ertüchtigt« hätte? Wie<br />

fän<strong>de</strong> so etwas die Courage, mich anzure<strong>de</strong>n, offene Briefe an mich zu schreiben,<br />

die ich im Gegensatz zu <strong>de</strong>n geschlossenen beantworte, per Du mit mir<br />

zu sein, irgen<strong>de</strong>ine Auffor<strong>de</strong>rung an mich zu richten, und nun gar die, in Erschütterung<br />

vor <strong>de</strong>m namenlosen Leid <strong>de</strong>r Tiroler Kriegsdichter <strong>de</strong>n Arm mit<br />

<strong>de</strong>r Stachelpeitsche zu senken, was ich doch nur in Erschütterung infolge eines<br />

Gelächters könnte, um das mich Wilhelm benei<strong>de</strong>t hätte! Wo nähme <strong>de</strong>nn<br />

ein solcher Kauz <strong>de</strong>n innern Halt her, mich aus seinem, <strong>de</strong>m heiligen und <strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>utschen Reich <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>, speziell diesem, das »<strong>de</strong>n Inhalt seines Glückes<br />

be<strong>de</strong>utet hat«, zu weisen, und noch mit <strong>de</strong>m Hochbewußtsein einherzuschreiten,<br />

er habe eine reinliche Scheidung von einem vollzogen, <strong>de</strong>r doch nie verbun<strong>de</strong>n<br />

sein wollte, und ich sei nunmehr »endgültig erledigt« — wenn er nicht<br />

in <strong>de</strong>r Verbindung mit Gott, <strong>de</strong>ssen Langmut so manche reinliche Scheidung<br />

verzögert, und in <strong>de</strong>r Stimmung <strong>de</strong>s Innsbrucker Janhagels einen Rückhalt<br />

spürte. Kein Zweifel, <strong>de</strong>r Deutsche Heiland, <strong>de</strong>n er verkün<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>n er hören,<br />

<strong>de</strong>m er sich beugen, <strong>de</strong>m er seinen namenlosen Schmerz bekennen will, ist er<br />

selbst! Vor diesem Heiligenschein schwin<strong>de</strong>t je<strong>de</strong>r Zweifel, dies Profil <strong>de</strong>r<br />

Auserwähltheit kann keine Täuschung sein. So siehste aus. Nur daß er auch<br />

ein <strong>de</strong>utscher Schriftsteller sei und zwar einer, <strong>de</strong>r »mit nicht geringerem sittlichen<br />

Zorn« (<strong>de</strong>r nur in mir noch Raum für spekulative Absichten läßt) gegen<br />

die idiotische und verruchte »Kanaillität« dieses Krieges und je<strong>de</strong>s Krieges<br />

überhaupt protestiert hat — da läßt mein Glaube mit sich re<strong>de</strong>n und die voraussetzungslose<br />

Forschung, in die ich eintrete, stößt auf Dokumente, die sich<br />

42


hart im Raume mit <strong>de</strong>n Dogmen stoßen. Mit nicht geringerem sittlichen Zorn<br />

»als Kraus selbst« ist dieser Seelenhirt für die sechste Kriegsanleihe eingetreten,<br />

wobei ich es natürlich dahingestellt lassen muß, ob er nicht wirklich die<br />

ersten fünf und die letzten zwei befeh<strong>de</strong>t hat. Ich glaube in<strong>de</strong>s, er hat auch<br />

mit jenen sympathisiert; <strong>de</strong>nn er schreibt. in einem von ihm zusammengestellten<br />

Werbeblatt »Tiroler und Vorarlberger über die Kriegsanleihe«:<br />

Ist schon aller Dinge Anfang schwer, so war jener <strong>de</strong>r Kriegsanleihen<br />

zehnfach mit Schwierigkeiten verbun<strong>de</strong>n. — Vorgefühl für<br />

<strong>de</strong>n Erfolg, bedingungslose Vaterlandstreue und die Überzeugung,<br />

daß auch für <strong>de</strong>n Staat nur die Redlichkeit ein die Dauer<br />

<strong>de</strong>r Kreditehre verbürgen<strong>de</strong>s Geschäftsprinzip sein könne, waren<br />

notwendig, um sich in die Freiwilligenschar einzureihen, die <strong>de</strong>m<br />

kämpfen<strong>de</strong>n Blut das mithelfen<strong>de</strong> Gut nachbrachte. — Der Ruhm,<br />

in <strong>de</strong>n Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Not zur Sache <strong>de</strong>r schwerringen<strong>de</strong>n mitteleuropäischen<br />

Völkergemeinschaft gestan<strong>de</strong>n zu sein, wird unauslöschlich<br />

über jenen schweben, die schon damals mannhaft und<br />

selbstvergessen ihre Pflicht getan haben. — Seit<strong>de</strong>m haben die<br />

Tatsachen alle Nörgler und Zweifler ins Unrecht gesetzt, und nur<br />

noch <strong>de</strong>r Böswilligkeit und Verbohrtheit ist es möglich, sich hinterm<br />

Köhler—Aberglauben zu verschanzen: es wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Staat<br />

konvertieren und bankerottieren, o<strong>de</strong>r sich das nagen<strong>de</strong> Gewissen<br />

mit <strong>de</strong>r Ausre<strong>de</strong> zu beschwichtigen: durch die Anleihen wer<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Krieg ernährt und am Leben erhalten. Heute bedarf es zur Zeichnung<br />

wahrlich nicht mehr <strong>de</strong>s schönen Auftriebes von Opferwilligkeit<br />

und staatsbürgerlichem E<strong>de</strong>lsinn, son<strong>de</strong>rn einfach <strong>de</strong>r Fähigkeit,<br />

das Einmaleins anwen<strong>de</strong>n und einsehen zu können, daß die<br />

Angelegenheit <strong>de</strong>s Staates gleichzeitig auch die <strong>de</strong>r in ihm zusammengefaßten<br />

Völker ist.<br />

Man konnte gegen <strong>de</strong>n Krieg sein, diesen Weltwahnsinn tief beklagen,<br />

— aber: sich gefühllos und willensstumpf neben das kochen<strong>de</strong><br />

Chaos aus Blut und Tränen zu stellen, — nichts zu tun, um<br />

das Grauen zu en<strong>de</strong>n und ein neues besseres Schicksal vorzubereiten,<br />

— das konnten nur ganz verächtliche Existenzen fertig<br />

bringen.<br />

Der ist nicht wert, in das heiß ersehnte Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Zukunft einzuziehen,<br />

<strong>de</strong>r nicht wenigstens einmal einen Spatenstich dafür getan<br />

hat. — Wir wollen <strong>de</strong>m alten Österreich ein neues Haus bereiten,<br />

in <strong>de</strong>m Licht, Freiheit und Freu<strong>de</strong> herrschen und für Drohnen<br />

kein Platz ist! — Das war mir und meinen Mitarbeitern Ziel und<br />

Zweck <strong>de</strong>s Werbens für die Kriegsanleihe, darin erkannten wir die<br />

Erfüllung <strong>de</strong>r Treue gegen Reich und Mitbürger.<br />

Karl Emerich Hirt,<br />

Bank—Vorstand.<br />

Man sieht nicht nur, daß <strong>de</strong>r Unerschrockene sich schon damals mit<br />

<strong>de</strong>m »Nörgler« auseinan<strong>de</strong>rgesetzt, son<strong>de</strong>rn daß er tatsächlich gegen die Kanaillität<br />

<strong>de</strong>s Krieges, vor allem »je<strong>de</strong>s Krieges überhaupt« protestiert hat, und<br />

wie recht er hatte, eben aus dieser Anschauung heraus speziell für die sechste<br />

Kriegsanleihe zu werben, erweist <strong>de</strong>r Satz, <strong>de</strong>r so völlig die Berufung zum<br />

Seher bestätigt: »Seit<strong>de</strong>m haben die Tatsachen alle Nörgler und Zweifler«,<br />

die Böswilligen nämlich, die sich das nagen<strong>de</strong> Gewissen mit Ausre<strong>de</strong>n be-<br />

43


schwichtigen wollten, »ins Unrecht gesetzt«. 'Er hat es schon damals gewußt.<br />

Aber was die Tiroler Dichter überhaupt, die in jenem Werbeblatt gleich hinter<br />

<strong>de</strong>n Conrad und Dankl aufmarschieren, für ganze Kerle waren, zeigt <strong>de</strong>r Aufruf<br />

<strong>de</strong>s Dichters Kranewitter, <strong>de</strong>n ich doch überliefern muß, schon um die<br />

Tollkühnheit meines Auftretens in solchem Geistesmilieu darzutun:<br />

Wenn wir nicht Kriegsanleihe zeichnen, verweigern wir unsern<br />

Soldaten die Waffen, wenn wir ihnen aber die Waffen verweigern,<br />

müssen wir unbedingt geschlagen wer<strong>de</strong>n. Wenn wir aber geschlagen<br />

wer<strong>de</strong>n, sind wir Sklaven. Der Sieger wird keine Barmherzigkeit<br />

üben, <strong>de</strong>s können wir sicher sein. Umsonst ist all das<br />

Blut geflossen, vergebens war alles Darben. Unser flüssiges Vermögen<br />

wird Altpapier, Grund und Bo<strong>de</strong>n aber so mit Steuern<br />

überlegt, daß kein Gras und keine Blume mehr aufkommen kann.<br />

Bauer, Bürger, Beamter und Arbeiter, das ganze Volk ein Volk von<br />

Bettlern. Damit ist freilich die soziale Frage gelöst, aber nach unten.<br />

Somit ist je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r imstan<strong>de</strong> ist und nicht zeichnet, nicht nur<br />

ein Tor, ein Feind <strong>de</strong>r Allgemeinheit, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r größte und<br />

schrecklichste Feind <strong>de</strong>s Einzelnen, ein Kerl, für <strong>de</strong>n kein Galgen<br />

zu hoch und kein Hanf zu dicht. Den letzten Heller für Holz und<br />

Strick.<br />

Franz Kranewitter<br />

Innsbruck, 18. Mai 1917. Dram. Dichter.<br />

Das war also einer, <strong>de</strong>r nicht bloß zur sechsten Kriegsanleihe, son<strong>de</strong>rn<br />

auch zu Holz und Strick für ihre Nichtzeichner aufrief. Hingegen versuchte es<br />

Herr Egger—Lienz mit gütlichem Zure<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m er statt von einem hohen<br />

Galgen bloß von einer hohen Verzinsung sprach und die Meinung vertrat, daß<br />

kein praktischer Hausvater versäumen soll, »<strong>de</strong>n noch kämpfen<strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn<br />

an <strong>de</strong>r Front durch reichliche Zeichnung <strong>de</strong>n baldigen endgültigen Sieg erzwingen<br />

zu helfen«, eine Zeichnung, gegen die er die seinigen heute gewiß<br />

nicht eintauschen wollte, wiewohl sie doch auch schon stark entwertet sind.<br />

Welche Wendungen durch Gottes Fügung! Im Übrigen ist zu bemerken, daß<br />

<strong>de</strong>r Deutsche Heiland gleich zu Beginn <strong>de</strong>s Kriegs auf »Englands Blutschuld«<br />

getippt und auf das Motiv »Es mußte sein« gesungen:<br />

44<br />

Hat nicht <strong>de</strong>s Franzen eitler Sinn betört schon<br />

diese dort und <strong>de</strong>n?<br />

Und haben wir Feil—Englands Geist als Sieger nicht geseh'n ?<br />

Die I<strong>de</strong>ale, einst <strong>de</strong>s Volkes Mark und Feiertag — :<br />

Verlacht! — Statt Treu' besiegelte die List mit Handschlag <strong>de</strong>n<br />

Vertrag;<br />

Statt Schiller, Dürer herrschten: Casanova, Wil<strong>de</strong>, Fragonard;<br />

Statt Liebe schloß die Selbstsucht einen Dirnenpakt<br />

vor <strong>de</strong>m Altar! —<br />

So gings in Innsbruck zu.<br />

Und darum klingt Sankt Michels Schild und ruft die Blutnot auf!<br />

Germanenart ist A<strong>de</strong>lsart. So war'st So bleibt es auch<br />

in aller Ewigkeiten Lauf! — — —


Die drei Gedankenstriche, die <strong>de</strong>n Lauf <strong>de</strong>r Ewigkeiten entsprechend<br />

an<strong>de</strong>uten, sind vom Dichter. Natürlich wollte er auch in <strong>de</strong>n Krieg ziehen und<br />

schrieb zu diesem Behufe ein Gedicht:<br />

Wir Alten warten noch! — Und dienen still <strong>de</strong>r Pflicht,<br />

Die rastlos wie<strong>de</strong>r bauen muß, was Schwert und Not zerbricht.<br />

Nicht so wie ich, <strong>de</strong>r bekanntlich nur daheimgeblieben ist, um nie<strong>de</strong>rzureißen.<br />

Und er gibt sogar <strong>de</strong>n Grund an, warum er nicht selbst an die Front<br />

eilen kann, wie er gern möchte.<br />

Noch rief <strong>de</strong>r Kaiser nicht! — Doch, braucht er uns, — dann los!<br />

Zurückgehalten wuchs <strong>de</strong>r Grimm und ward lawinenstark,<br />

lawinengroß! —<br />

Man sieht, es hat damals auch Leute gegeben, die die Musterungen<br />

nicht erwarten konnten und die das Verdikt »Nicht geeignet« wie ein Keulenschlag<br />

getroffen hat. Das waren die Gestählten. Nichts verrät, was in ihrem<br />

Innern vorgeht. »Kaum fährt ein Wetterleuchten huschend übers starre Angesicht<br />

… « Aber dann, wenn's einmal so weit ist, dann brechen sie »mit Wildbach—Raserei<br />

und —Lei<strong>de</strong>nschaft« los und ruhen nicht eher, »bis vernichtet<br />

und besiegt, <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong>nsbrecher auf <strong>de</strong>r Schicksals—Walstatt liegt!« Man<br />

kann sich eine Vorstellung von so einem Gurgelbiß eines Tiroler Bankvorstands<br />

machen.<br />

Der alte Kaiser wartet noch! — Er weiß, was<br />

hartgehämmert Eisen wert! —<br />

Und hält sich bis zuletzt das ausgeprobte, treue alte Schwert!<br />

Er hatte alles reiflich erwogen, aber er wartete noch, bis er selbst, so<br />

etwa zur hun<strong>de</strong>rtsten Kriegsanleihe, bei <strong>de</strong>r letzten Musterung als letzter<br />

Überleben<strong>de</strong>r tauglich befun<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn ihm blieb nichts erspart. So hätte<br />

man ihn drangekriegt. Als vorletzter wäre Hirt abgegangen. Vorher schrieb<br />

er aber noch einen »Sang <strong>de</strong>r Polnischen Legion« (Polens Silber—Aar ist wie<strong>de</strong>r<br />

aufgeflogen), in <strong>de</strong>m ein »Gott <strong>de</strong>r Polen« alle möglichen Stückeln kann,<br />

aber trotz<strong>de</strong>m nicht mit Pa<strong>de</strong>rewski 1 zu verwechseln ist.<br />

Östreich's Zorn ist unsrer Glut Entflammer!<br />

Deutschland schwingt mit uns <strong>de</strong>n Heeres—Hammer!<br />

Lorbeer grünt um unser Schwert!<br />

Ferner sang er eine O<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n gräßlichen Kriegslyriker »Bru<strong>de</strong>r Willram«:<br />

Dann find' ich Dich auf lichtumlohtem Grat,<br />

Wie Du <strong>de</strong>m Ew'gen opferst! — — Inbrunstglüh'n<br />

Umfängt Dich und Dein Wollen schwillt zur Macht!<br />

Dein Singen jauchzt zur Sonne, <strong>de</strong>ren Strahlen dich umsprüh'n ...<br />

Ferner ein Gedicht unter <strong>de</strong>m Titel: »An die mit <strong>de</strong>r Silbernen!« Dann<br />

aber packte es ihn wie<strong>de</strong>r und er schrieb:<br />

1 Polnischer Pianist<br />

45


Jetzt aber los! 's ist hohe Zeit!<br />

Wir Alten sind zum Tun bereit.<br />

Zum harten Tun, zur herben Pflicht!<br />

Zum Schicksalstanz! Zum Weltgericht!<br />

Legt's Werkzeug hin! Die Fe<strong>de</strong>r hin!<br />

Und ruht nicht, bis das Werk gediehn!<br />

Das Werk: es nennt sich Bluthochamt!<br />

Von Knochen ist es eingerahmt ...<br />

Und was <strong>de</strong>rgleichen Proteste gegen die Kanaillität dieses Krieges und<br />

je<strong>de</strong>s Krieges überhaupt mehr sind. Getan gesagt:<br />

Wir gehn in schwerem Schritt und Tritt<br />

Ihr Jungen, he! — Wir schlagen mit!<br />

Dieses »he!«, das die Jungen im Schützengraben tüchtig aufgepulvert<br />

hat, so mit einem Stecken auf die Beine gebracht, in<strong>de</strong>m es fast so belebend<br />

wirken mochte wie das ähnliche »hei!«, das etwa Hans Müller in dieser Situation,<br />

wo es ein Beispiel zu geben galt, gewählt hätte, war nun in <strong>de</strong>r Tat vielversprechend,<br />

ein lyrisches Ultimatum, über das hinaus man schier nicht<br />

mehr mit <strong>de</strong>m Versfuß kommt. Unterzeichnet war's: »Beim Russensturm<br />

1916«. Es kam aber nicht so weit, die Fe<strong>de</strong>r ward nicht hingelegt und 1917<br />

entstand ein Gedicht: »Der Kaiserin — <strong>de</strong>r Mutter!«, ferner: »Jung—Österreich<br />

— ein Segensreich!« mit <strong>de</strong>m Refrain: »Gloria! — Viktoria!« Die alten<br />

Bar<strong>de</strong>n in Innsbruck zögerten noch immer, Sei es, daß sie schon mit <strong>de</strong>r siebenten<br />

Kriegsanleihe alle Hän<strong>de</strong> voll zu tun hatten, sei es, daß das Vaterland<br />

die Aufgabe, <strong>de</strong>n jüngeren Jahrgängen Mut zu machen, um gegebenenfalls in<br />

einem Brei von Blut und Kot zu ersticken, <strong>de</strong>n bewährten Kräften nicht entziehen<br />

wollte. Der alte Kaiser, <strong>de</strong>ssen Beharrlichkeit sich auch in diesem Punkte<br />

geltend machte, hat einfach endlos gewartet, und jene, die vor Ungeduld<br />

schon brannten, diese Wirkung an Flammenwerfern zu erproben, hatten das<br />

Nachsehen. Müßig.blieben sie in all <strong>de</strong>r Zeit weiß Gott nicht. Galt es doch aufzubauen,<br />

zu schaffen und wenns sein mußte zu singen und zu sagen. Die Inspirierten,<br />

nämlich die von <strong>de</strong>r schöpferischen Gna<strong>de</strong> und nicht direkt vom<br />

Kriegspressequartier ihre Weisungen bezogen, haben in dieser Zeit Hel<strong>de</strong>nsänge<br />

hervorgebracht, an <strong>de</strong>nen selbst die Hel<strong>de</strong>n, wenn sie's noch erlebt hätten,<br />

die stählen<strong>de</strong> Kraft hätten anerkennen müssen. Hirt ist ihnen allen vorangegangen,<br />

zuweilen hatte es fast <strong>de</strong>n Anschein, als wäre er entschlossen, eine<br />

Filiale <strong>de</strong>r Österreichisch—ungarischen Schlachtbank zu übernehmen, und<br />

vielfach behauptet man sogar, daß Bru<strong>de</strong>r Willram auf jenen Lorbeern unruhig<br />

wur<strong>de</strong>, die Hirt nicht schlafen ließen. In einem Gedicht »Ein Dichter« hebt<br />

er an:<br />

Der eine bekam's, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re bekam es nicht!<br />

Gemeint ist aber nur die schöpferische Gna<strong>de</strong> und nicht das Kreuz,<br />

nämlich das Kriegskreuz, Hirt bekam's; ich nicht, wiewohl ich doch auch etwas<br />

gegen die Kanaillität <strong>de</strong>s Krieges getan habe. Aber er kann sich rühmen,<br />

daß er es nicht nur bekam, son<strong>de</strong>rn auch verlangt hatte, ja, er hatte <strong>de</strong>n<br />

Kampf um das Kreuz aufgenommen, das er aber nicht bekam, weil er <strong>de</strong>n<br />

Kampf aufgenommen hatte, son<strong>de</strong>rn wegen seiner sonstigen Verdienste um<br />

<strong>de</strong>n Kampf. Es war redlich verdient, nicht nur weil sich Hirt entschlossen in<br />

die Freiwilligenschar eingereiht hatte, die <strong>de</strong>m kämpfen<strong>de</strong>n Blut das mithel-<br />

46


fen<strong>de</strong> Gut nachbrachte, nicht allein für Taten, auch für tapfere Worte. Denn<br />

es entstand damals, mitten im Getümmel um <strong>de</strong>n Bankschalter, manch to<strong>de</strong>smutiger<br />

Vers, es entstand, eben durch die schöpferische Gna<strong>de</strong>, das Gedicht<br />

»O heilig Vaterland! (Weihegesang)«, ferner: »Mein Vaterland! Mein Segensland!«,<br />

das noch dazu einem Herrenhausmitglied in verehrungsvoller Freundschaft<br />

gewidmet ist. Darin ist die Re<strong>de</strong> von »Sphärenschemeln«. Später entsteht<br />

noch ein »Wechselgesang <strong>de</strong>r Seraphim und Cherubim«, <strong>de</strong>r aber kein<br />

Berufsmotiv behan<strong>de</strong>lt, son<strong>de</strong>rn von religiöser Inbrunst erfüllt ist. Fast so<br />

sehr wie das Gedicht an »Czernin«, von welchem Herrn gesagt wird, daß er<br />

»gewissensstark und mutig sich zu Gott und Pflicht und Volk zurechtgefun<strong>de</strong>n«:<br />

Wir wollen, Graf und Diplomat, auf unser Vorurteil vergessen.<br />

Und legen, Treue gebend, Treue for<strong>de</strong>rnd, unsere in <strong>de</strong>ine Hand!<br />

Dich wollen wir mit and'rem, als gewohntem Maßstab messen.<br />

»Im fünften Jahre <strong>de</strong>s Kriegselends« aber wird etwas bereits <strong>de</strong>m Barbusse<br />

gewidmet, in einem damals freilich noch ungedruckten Gedicht Paris<br />

»gegrüßt« (»eh' über dich <strong>de</strong>s Krieges viehischgrauser Kretinismus fällt«),<br />

wird die »sterben<strong>de</strong> Er<strong>de</strong>« beklagt, und dann heißt es sogar:<br />

Nun liegt die große Blutbilanz vor uns ...<br />

Jawohl! ...<br />

Nun liegt die Blutbilanz <strong>de</strong>r »großen Zeit« vor uns ...<br />

Worin aber nicht die Tätigkeit eines Bankvorstands, son<strong>de</strong>rn im Gegenteil<br />

die Lektüre <strong>de</strong>r Fackel ihre Früchte trägt. Ungedruckt bleibt <strong>de</strong>r Vers:<br />

»Das Geld für einen Mörserschuß gilt mehr als Gott und Genius«, geschrieben<br />

in <strong>de</strong>m Jahre, da <strong>de</strong>r Aufruf für die sechste Kriegsanleihe gedruckt wird. »Ja<br />

wohl! — Wir logen alle!« entringt es sich, wenngleich freilich auch noch ungedruckt.<br />

Trotz alle<strong>de</strong>m: »Gott bleibt Sieger«, und diesen Titel führt <strong>de</strong>mgemäß<br />

die Sammlung, die mein Kampfgenoß und heutiger Wi<strong>de</strong>rpart 1919 in <strong>de</strong>r<br />

Verlagsanstalt Tyrolia als das »Kriegstagebuch eines Deutschen« herausgegeben<br />

hat. Noch selten dürfte soweit die <strong>de</strong>utsche Zunge klingt — und sie tuts<br />

hier — ein solcher Misthaufen von Schönheit beisammen gewesen sein. Es<br />

gibt kaum ein glitzernd Ding im Kosmos, das hier nicht vorrätig wäre, und das<br />

christlich—germanische Schönheitsi<strong>de</strong>al, das, von Millenkovich erkannt, mir<br />

sonst stets in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s Karl Hans Strobl verkörpert schien, ist hier<br />

reichlich zu seinem Recht gekommen. Man kennt diese fahren<strong>de</strong>n Gestalten<br />

aus Donauland, die, sei es mit phantastischer Erotik, sei's mit Sonnenglast<br />

und Frühlingsblust, mit Geschmei<strong>de</strong> und Gejai<strong>de</strong> die entrücktere Gegend <strong>de</strong>r<br />

Witzblätter besetzt halten und die man sich von Bayros o<strong>de</strong>r einem Man<strong>de</strong>lbogen—Wilke<br />

begleitet <strong>de</strong>nken muß, je nach<strong>de</strong>m. Teils necken sie als <strong>de</strong>utschösterreichische<br />

Faune <strong>de</strong>n Steuerzahler, teils gaukeln sie ihm als Gralsritter etwas<br />

vor. Alles in allem bieten sie jene Hochromantik dar, die <strong>de</strong>n Schönheitsdurst<br />

einer Offiziersmesse befriedigt hat und die die Kehrseite <strong>de</strong>s Klosetthumors<br />

<strong>de</strong>r »Muskete« bil<strong>de</strong>t. Oft verschmelzen bei<strong>de</strong> Funktionen zu einer<br />

Spielart, wie in jenem Krziz, <strong>de</strong>r sich jetzt Kreutz nennt, die dann eines Einschlags<br />

weltmännischer Ironie nicht entbehrt und <strong>de</strong>r es gelingt, die innere<br />

Beziehung zu Jägerhemd und Röllchen durch eine satirische Überlegenheit ob<br />

diesen Kulturformen zu verbergen. Von da kann man sich in <strong>de</strong>r geistigen<br />

Lage <strong>de</strong>r Deutschen in Österreich leicht orientieren, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Weg ist durch<br />

47


Namen wie »Schnidibumpfl«, »Nor <strong>de</strong> Gall«, »Z. A. Spring« und ähnliche<br />

schnurrige Inkognitos kenntlich gemacht, und wenn man überdies erfährt,<br />

daß ein »Rama—Turi—Abend« stattfin<strong>de</strong>t und daß sich hinter diesem Pseudonym,<br />

mit Recht, ein gewisser Fißlthaler verbirgt, ein geschätzter Geißler von<br />

Übelstän<strong>de</strong>n, dann staunt man über nichts mehr. Es ist die Literatur, die Millionen<br />

in jenem Volke, das man nicht beleidigen darf, gierig verschlingen, hüben<br />

und drüben, und die Schwierigkeit für unsereinen, sich mit ihnen in ihrer<br />

Sprache zu verständigen, scheint mir durch nichts besser charakterisiert als<br />

durch ein Beispiel <strong>de</strong>utschen Humors, das ich in <strong>de</strong>r »Jugend« gefun<strong>de</strong>n habe:<br />

Addio!<br />

'Secolo' mel<strong>de</strong>t, daß die Begeisterung<br />

für d'Annunzio in Fiume vollständig<br />

erloschen und die Bevölkerung für <strong>de</strong>n<br />

Einmarsch <strong>de</strong>r regulären Truppen sei.<br />

Gabriele d'Annunzio —<br />

Owaio gegrunzio!<br />

Was mussisi heri?<br />

Di entusiasmo<br />

fir di condottieri<br />

di Nurhe e Trento<br />

vabrennt, o!!<br />

Sacramento!!!<br />

Nur di legionäri<br />

sansi fi<strong>de</strong>le<br />

ancora sempre <strong>de</strong>m Gabriele —<br />

vonwega di cassa!<br />

Ma sunst? O wehwehle!<br />

Werdsi di questa historia<br />

piano zu Wassa — —<br />

con tutta la gloria!<br />

Baldo, baldo,<br />

Poëtcretettere,<br />

Generalfeldmarscaldo,<br />

heißts: abtrettere!<br />

d'Annunzio, zieh o!<br />

Addio!<br />

A. <strong>de</strong> Nora<br />

Wenn ich noch hinzufüge, daß <strong>de</strong>r Meister während meines Münchner<br />

Aufenthaltes <strong>de</strong>n Versuch unternahm, sich <strong>de</strong>m satirischen Kollegen zu nähern,<br />

glaube ich alles gesagt zu haben, um meine Verlegenheit zu entschuldigen,<br />

wenn von mir verlangt wird, daß ich <strong>de</strong>utsch empfin<strong>de</strong>.<br />

Freilich wür<strong>de</strong> ein Schönheitsapostel, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Literatur nur einen<br />

Platz an <strong>de</strong>r Sonne sucht, sich gegen eine Zusammenstellung mit solchen<br />

Bauchhumoristen verwahren. Aber wenn ich auch gern glaube, daß seine seraphischen<br />

Absichten ihm eine Befassung mit <strong>de</strong>rberen Motiven verwehren,<br />

so bin ich doch überzeugt, daß, wenn's drauf ankommt, jene ebenso imstan<strong>de</strong><br />

sind, die Engel im Himmel singen zu hören und mit Sonne, Mond und Sternen<br />

zu hantieren wie nur ein Hohepriester vor <strong>de</strong>m Herrn. Sie haben ja auch alle<br />

48


dieselbe Wortverfügung über das Blut dieser Er<strong>de</strong> gehabt und sind nun auch<br />

alle einig, die Völker zu <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen einer humaneren Weltordnung emporzuführen.<br />

Hirt, <strong>de</strong>r nach Kant, <strong>de</strong>m großen Vertreter <strong>de</strong>s Weltgewissens, <strong>de</strong>ssen<br />

Innsbrucker Filiale leitet, ist auch darin vorangegangen, und die allverzeihen<strong>de</strong><br />

Menschlichkeit, die da mahnt, <strong>de</strong>n Arm mit <strong>de</strong>r Stachelpeitsche zu senken,<br />

kannte kein Erbarmen, wenn es Kriegsverbrechen zu geißeln galt, gegen die<br />

er mit nicht geringerem sittlichen Zorn als Kraus selbst aufgetreten ist. So<br />

hatte er nur die eine Bitte an Gott:<br />

Den feigen Mör<strong>de</strong>rn, die auf Kin<strong>de</strong>r und auf Mütter<br />

Eisenhagel teuflisch nie<strong>de</strong>rscbleu<strong>de</strong>rn<br />

Und das lieblich blühen<strong>de</strong> Geschmei<strong>de</strong> Gottes<br />

In <strong>de</strong>s Krieges Blutbrei stampfen, —<br />

Ihnen, Herr <strong>de</strong>r Güte, Herr <strong>de</strong>r Liebe, keine Gna<strong>de</strong>,<br />

Keine Gna<strong>de</strong>!<br />

Zum Glück bezog es sich aber auf <strong>de</strong>n französischen Fliegerangriff auf<br />

Karlsruhe, eine Kanaillität dieses Krieges, die zu vermerken just <strong>de</strong>n Hals nit<br />

kosten mochte, und nicht auf die Taten, die die Deutschen in <strong>de</strong>r Welt verrichtet<br />

haben und mit <strong>de</strong>nen Gott manche Auslieferungsliste füllen könnte. Nicht<br />

weniger beträchtlich ist allerdings ein Sün<strong>de</strong>nregister ausgefallen, das diesem<br />

Kriegstagebuch eines Deutschen erst seine Würze gibt: das Druckfehlerverzeichnis.<br />

Auch hier wird wie<strong>de</strong>r meine Ansicht bestätigt, daß Druckfehler<br />

besser als Verse eine künstlerische Persönlichkeit erschließen. Denn wenn<br />

<strong>de</strong>r Leser »recht sehr gebeten ist, sich <strong>de</strong>r kleinen Mühe zu unterziehen und<br />

folgen<strong>de</strong> meiner Schuld zufallen<strong>de</strong> Berichtigungen vorzunehmen«, und in dieser<br />

Liste <strong>de</strong>utscher Schuldbekenntnisse zu lesen ist: »Seite 171, 11. Zeile v.<br />

u., statt for<strong>de</strong>rn: fo<strong>de</strong>rn«, so weiß ich sofort, daß einem Dichterhaupt die<br />

Schillerlocken verunglückt sind, und gebe einem Innsbrucker Setzer ganz<br />

recht, <strong>de</strong>r sich auf solche Friseurscherze einfach nicht einläßt. Ich weiß<br />

schon, was da passiert ist, selbstverständlich muß es sich auf »lo<strong>de</strong>rn« reimen,<br />

<strong>de</strong>nn for<strong>de</strong>rn reimt sich auf lor<strong>de</strong>rn, was doch nur in einer Anklage gegen<br />

Feil—England Platz hätte, aber nicht in einer gegen Falsch—Italien:<br />

Und darum wagen wir es, Italiener, Gleiches jetzt von euch<br />

zu for<strong>de</strong>rn!<br />

Der.Bo<strong>de</strong>n, wo <strong>de</strong>s Vogelwei<strong>de</strong>r's lichtumflossnes Hochbild steht,<br />

Ist <strong>de</strong>utsche Urstatt! — Wenn die Herzen dort, von Zorn<br />

entzün<strong>de</strong>t, lo<strong>de</strong>rn,<br />

Ergellt ihr Fluch in <strong>de</strong>utscher Sprache! — Deutsch ist auch<br />

ihr Segen und Gebet ...<br />

Man könnte ja glauben, daß <strong>de</strong>r einheimische Setzer, <strong>de</strong>r eben die Form<br />

nur in <strong>de</strong>r Schreibart »Der Vo<strong>de</strong>rn« kennt, einen Schreibfehler korrigieren<br />

wollte. In Wahrheit hat er eine Perücke verschoben und damit einen Kopf zurechtgesetzt.<br />

Er stellt ein Gesicht her, wie es ist: in<strong>de</strong>m es an<strong>de</strong>rs sein wollte<br />

als es ist. Er schmeichelt nicht wie die Innsbrucker Photographen, <strong>de</strong>nen man<br />

nachrühmt, daß die Verklärung von Profilen ihre Spezialität sei, und die einen<br />

zum Heiligsprechen ähnlich treffen. Aber auch die profanieren<strong>de</strong> Hand <strong>de</strong>s<br />

Setzers bewirkt oft Wun<strong>de</strong>r; sie verwan<strong>de</strong>lt pures Gold <strong>de</strong>r Poesie in eitel<br />

Dreck, was ich auf die Gefahr hin sage, vom Dichter gefo<strong>de</strong>rt zu wer<strong>de</strong>n. Meine<br />

Sekundanten wären zwei Innsbrucker Setzer. Das sind Kampeln! Den heik-<br />

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lichsten Situationen gewachsen. Da ist ihnen nämlich an <strong>de</strong>r Hirt'schen<br />

Schöpfung noch ein Handgriff gelungen, <strong>de</strong>r in seiner vollkommenen Wirkung<br />

durch keine Druckfehlerberichtigung zu beseitigen ist. Diese lautet: »Seite<br />

183, 18. Zeile v. u., statt heikliche: heimliche«. Ich war schon auf etwas gefaßt,<br />

aber das habe ich nicht erraten: »Der heikliche Gral« lautet ein Titel, lei<strong>de</strong>r<br />

nur im Inhaltsverzeichnis. Es schien <strong>de</strong>m Setzer schon aus <strong>de</strong>r Erwägung<br />

zutreffend, daß ja ein Gral ein lyrisches Inventarstück ist, welches beson<strong>de</strong>rs<br />

gehütet wird und darum sehr heiklich ist. Trotz<strong>de</strong>m ist es passiert und für<br />

einen alten Gralsritter ist es nun bitter, daß er die aus leuchten<strong>de</strong>m E<strong>de</strong>lstein<br />

gefertigte Schale so coram publico <strong>de</strong>m profanen Zugriff entwin<strong>de</strong>n muß, er,<br />

<strong>de</strong>r von sich sagen konnte: »Ich wer<strong>de</strong> es nie unterlassen, an<strong>de</strong>re hinzuweisen,<br />

wo allein das lauterste Glück zu fin<strong>de</strong>n ist; <strong>de</strong>nn ich habe in hohem Augenblick<br />

<strong>de</strong>n Grals—Kelch schweben gesehen«, wenngleich er, anspruchslos<br />

für sich selbst, bloß das Kriegskreuz gefo<strong>de</strong>rt hat. Ich war, gleich <strong>de</strong>m betrunkenen<br />

Maurer Mattern, allen Mahnungen dieses Pilgrims unzugänglich.<br />

»Kraus interessiert mich«, hatte er versichert, »es ist gut, daß er ist. Entspringt<br />

sein starker Haß starker Liebe? — Sie glauben es. Und viele an<strong>de</strong>re<br />

auch! — Ich hatte Eindrücke, wo auch ich diesem Glauben nahe war. — Mit<br />

<strong>de</strong>m Haß gegen das Deutsche und Titular—Christliche hat er ja in vielem<br />

recht; nur ist es bitter für mich, mir das alles von einem Nicht—Deutschen sagen<br />

zu lassen. — Ich gehe meinen Weg; einsamkeitsbedürftiger, als es <strong>de</strong>n<br />

Anschein hat und Sie glauben.« Gehst <strong>de</strong>nn nicht. So schrieb er an einen<br />

Mann, <strong>de</strong>ssen Seele und Leib das Martyrium <strong>de</strong>r Kriegsteilnahme bestan<strong>de</strong>n<br />

hatte und <strong>de</strong>r wie kein zweiter Christ dieser Landsmannschaft berufen war,<br />

einen geübten Heiland vor das Problem jener Nächstenliebe zu stellen, die<br />

sich jüdischen Generalstabsliteraten zuwen<strong>de</strong>t; so schrieb er an Ludwig Ficker<br />

in einem Briefwechsel, <strong>de</strong>r als ein Zusammenstoß von einem Menschen<br />

und einer Maske, eine zeitpsychologische Denkwürdigkeit bleiben könnte. Geschrieben<br />

aus <strong>de</strong>m öffentlichen und mich betreffen<strong>de</strong>n Anlaß, da mein Name<br />

für die Zwecke <strong>de</strong>r selben Innsbrucker Literatengesellschaft, die ihn jetzt nie<strong>de</strong>rzukläffen<br />

sucht, mißbraucht wer<strong>de</strong>n sollte; also in wesentlicher und prinzipieller<br />

Sache, weil ja sonst auch eine Korrespon<strong>de</strong>nz mit solcher Belanglosigkeit<br />

un<strong>de</strong>nkbar wäre. Gestalt und Format <strong>de</strong>s Partners ermöglichen einen Monolog,<br />

<strong>de</strong>ssen erhabene Empfindung durch die Adresse so wenig reduziert<br />

wer<strong>de</strong>n kann, wie wenn ich als Einser vor eine Null hintrete und sie verunendliche,<br />

um mit ihr abzurechnen. Auf ihren persönlichen Gusto, <strong>de</strong>m es wi<strong>de</strong>rstrebt,<br />

von einem »Nicht—Deutschen« gerichtet zu wer<strong>de</strong>n, nehme ich dabei<br />

so wenig Rücksicht wie auf das Be<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>r Zuschauer, die <strong>de</strong>n satirischen<br />

Aufwand unbelohnt fin<strong>de</strong>n. Ich tu's um Gottes Lohn, <strong>de</strong>m eine Nachschau bei<br />

seiner Lan<strong>de</strong>svertretung wohlgefällt. Wäre ich ein »Deutscher« — was nicht<br />

zu sein, <strong>de</strong>r weitaus geringste Geburtsfehler ist, <strong>de</strong>n ich bislang an mir beklagt<br />

habe —, so wür<strong>de</strong>n solche, die es zweifellos sind, mich mit <strong>de</strong>mselben<br />

fa<strong>de</strong>nscheinigen Pathos anklagen, daß ich »das eigene Nest beschmutze«,<br />

was doch die jüdischen Interessenten ihrer Nestreinheit mit Vorliebe tun —<br />

als hätte ich je Wert darauf gelegt, da o<strong>de</strong>r dort zuständig zu sein; als ob die<br />

unterschiedlichen und einan<strong>de</strong>r so ähnlichen Nester noch schmutziger wer<strong>de</strong>n<br />

könnten; als ob sie es dadurch wür<strong>de</strong>n, daß ihnen einer <strong>de</strong>n Schmutz ausräumt,<br />

und als wäre nicht eben <strong>de</strong>r Zuständige befugt es zu tun. »Mit<br />

Schmutz bewerfen« — so nennen sie die Klage, daß er vorhan<strong>de</strong>n sei, und die<br />

Ähnlichkeit dieser Reaktion bei Jud und Christ zeigt die Verwandtschaft <strong>de</strong>s<br />

Zustan<strong>de</strong>s an. Und nie fühlt sich solche Empfindlichkeit mit mehr Recht getroffen<br />

als wenn sie die Möglichkeit hat, einem an<strong>de</strong>re polemische Objekte zu<br />

50


ekommandieren. Der trostlose Vorwurf, daß ich während <strong>de</strong>s Krieges keinen<br />

Blick für die Vergehungen <strong>de</strong>r Gegenseite hatte — und das Rechtsgefühl <strong>de</strong>s<br />

Mör<strong>de</strong>rs könnte mir wirklich das Zugeständnis abringen, daß sein Opfer in<br />

Überschreitung <strong>de</strong>r Notwehr gehan<strong>de</strong>lt hat —, ist so wenig zu wi<strong>de</strong>rlegen wie<br />

jene mitteleuropäische Weltanschauung als solche, die man mit einem gebührend<br />

ekelhaften Wort die »Mentalität« genannt hat. Solange meine Haltung<br />

nicht aus <strong>de</strong>r mechanischen Ursache einer Bestechung. durch Ententegel<strong>de</strong>r<br />

zu erklären ist — was, so plausibel es für Innsbruck wäre, noch von keinem<br />

All<strong>de</strong>utschen versucht wur<strong>de</strong> —, bleibt sie so unerklärlich wie alles, was sich<br />

aus <strong>de</strong>r Natur ergibt und was eben <strong>de</strong>shalb im Bereich <strong>de</strong>r Nation absurd<br />

wirkt. Wenn kein tieferes Motiv <strong>de</strong>s Denkens auffindbar wäre, sollte meine<br />

Ungerechtigkeit als <strong>de</strong>r mir gebotene Ausgleich hingenommen wer<strong>de</strong>n für das<br />

Übermaß an Gerechtigkeit, das die Zentralwelt zu ihrer Beurteilung <strong>de</strong>r Fein<strong>de</strong><br />

aufgewen<strong>de</strong>t hat. Der Heiligenschein, von <strong>de</strong>m sich noch heute, allen Akten<br />

zum Trotz, diese verfolgen<strong>de</strong> Unschuld verklärt weiß; die alle Wirklichkeit<br />

und alle Beweise ausschalten<strong>de</strong> Selbstgerechtigkeit eines guten Gewissens,<br />

das wahrlich besser täte, ein schlechtes zu sein; die Sinnesart, die ausgerechnet<br />

<strong>de</strong>n einzigen Ehrenmann unter <strong>de</strong>n Prokuristen dieses Unheils <strong>de</strong>n »Lügen—Grey«<br />

genannt und je<strong>de</strong>m Utiliteraten die Backen gebläht hat, von »Feil<br />

—England« zu re<strong>de</strong>n — all das war schon, ein hinreichend sauberes Motiv, um<br />

Wahr—Deutschland und Treu—Österreich nichts, aber auch nicht das geringste<br />

zuliebe zu tun. Selbst wenn es keine <strong>de</strong>utsche Lüge wäre, daß ich in Innsbruck<br />

nicht bloß einen gekrönten Tollhäusler, son<strong>de</strong>rn das von ihm ruinierte<br />

Volk angeklagt habe, so wer<strong>de</strong> ich mir meine Legitimation dazu we<strong>de</strong>r von<br />

schöngeistigen Dilettanten noch am Bankschalter holen, wo ganz gewiß nicht<br />

die berufenen Richter meiner Schuld sitzen. Und wenn sie sich vermessen,<br />

Manifeste gegen mich zu erlassen — in <strong>de</strong>nen sie wie zu einem Weltbrand alles,<br />

nur nicht ihre eigene Nullität reiflich erwogen haben —, um die geistige<br />

wie räumliche Enge einer Provinzstadt mit jenem nationalen Nebel zu erfüllen,<br />

<strong>de</strong>r meine moralische Wehrhaftigkeit zur physischen Wehrlosigkeit<br />

macht; wenn sie, die kein Wässerchen trüben können, es doch einmal tun und<br />

darin noch fischen; wenn Verklärte ihr Antlitz von mir abwen<strong>de</strong>n, um selbst in<br />

<strong>de</strong>r Leute Mund zu kommen; wenn sie aus lichter Höhe niedrige Instinkte aufrufen<br />

und die unbezahlbare Gelegenheit <strong>de</strong>r Popularität ergreifen, um einem<br />

an<strong>de</strong>rn, um mir Spekulantentum vorzuwerfen — so müssen sie es sich gefallen<br />

lassen, von mir nach Gebühr überschätzt zu wer<strong>de</strong>n und so, was ihnen<br />

durch eigene Bemühung nie gelungen wäre, auf die Nachwelt zu kommen.<br />

Die 'Volks—Zeitung' schrieb am 6. Februar:<br />

EIN SKANDAL.<br />

Wie wir bereits In <strong>de</strong>r gestrigen Nummer berichtet haben, versuchten<br />

einige all<strong>de</strong>utsche Krakeeler, unterstützt durch einige radaulustige,<br />

unreife Jungen, die Kraus—Vorlesung am Mittwoch<br />

abends durch Zwischenrufe zu stören.<br />

Gestern sollte nun <strong>de</strong>r zweite Vortragsabend von Kraus stattfin<strong>de</strong>n.<br />

Bereits im Laufe <strong>de</strong>s gestrigen Tages waren Gerüchte verbreitet,<br />

daß die gleichen Radaubrü<strong>de</strong>r beschlossen hätten, <strong>de</strong>n<br />

Vortrag mit Gewalt unmöglich zu machen. Was an diesen Gerüchten<br />

Wahres war, können wir nicht konstatieren. Tatsache aber ist,<br />

daß unser löbl. Stadtpolizeiamt vor diesen all<strong>de</strong>utschen Heilbrü-<br />

51


52<br />

<strong>de</strong>rn und Hinterlandstachinierern sofort in hündischer Ergebenheit<br />

zusammenknickte und die Vorlesung im Bewußtsein absolutistischer<br />

Machtfälle einfach verbot. Es macht übrigens <strong>de</strong>n Eindruck,<br />

als ob man Im Polizeiamte mit beson<strong>de</strong>rem Vergnügen diesen<br />

all<strong>de</strong>utschen Monarchistenbuben einen Dienst erwiesen hätte.<br />

Herrlich weit haben wir es hier in Innsbruck beim Magistrate<br />

schon gebracht. Hier schaltet und waltet nur die absolutistische<br />

Willkür einzelner Beamtengrößen, während die gewählten Volksvertreter<br />

so viel wie gar nichts zu sagen haben. Vom Herrn Bürgermeister<br />

hätte man aber auch erwarten dürfen, daß er eine <strong>de</strong>rartige<br />

Anordnung <strong>de</strong>s Polizeiamtes nicht so ergebenst einfach genehmigt.<br />

Es ist allerdings bequem, durch das Verbot allen Unannehmlichkeiten<br />

aus <strong>de</strong>m Wege zu gehen, es zeigt aber von wenig<br />

Autorität, wenn das Stadtoberhaupt einfach zu je<strong>de</strong>r Verfügung<br />

<strong>de</strong>s Polizeiamtes in ergebenster Anpassung Ja und Amen sagt o<strong>de</strong>r<br />

vielleicht sagen muß. Wenn <strong>de</strong>r Herr Bürgermeister in seinen alten<br />

Tagen etwas aufregen<strong>de</strong>n Vorfällen gerne aus <strong>de</strong>m Wege geht,<br />

so verstehen wir dies; ein <strong>de</strong>rartiger Standpunkt darf aber nicht'<br />

dazu benützt wer<strong>de</strong>n, um je<strong>de</strong> freie Äußerung, die einigen grünen<br />

Jungen nicht paßt, zu unterbin<strong>de</strong>n. Wenn <strong>de</strong>r Herr Bürgermeister<br />

sich in dieser Hinsicht seiner Aufgabe nicht gewachsen fühlt, so<br />

wer<strong>de</strong>n sich schon jüngere Kräfte fin<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Willen <strong>de</strong>r Bevölkerung<br />

gegenüber <strong>de</strong>m Absolutismus einiger Beamtengrößen<br />

etwas mehr Nachdruck zu verleihen imstan<strong>de</strong> und auch willens<br />

sein wer<strong>de</strong>n.<br />

Sache <strong>de</strong>s städtischen Polizeiamtes wäre es gewesen, Vorkehrungen<br />

zu treffen, daß die Vorlesung ungestört hätte stattfin<strong>de</strong>n können,<br />

und im Falle, als es einige aufgehetzte Jungen, die noch nicht<br />

trocken unter <strong>de</strong>r Nase sind und sich noch kein Stückchen Brot<br />

selbst verdient haben, son<strong>de</strong>rn tapfer an <strong>de</strong>s Vaters Brotsack hängen,<br />

gewagt hätten, in ihrem Unverstand und ihrer Bubenhaftigkeit<br />

die Vorlesung zu stören, die Ruhestörer einfach aus <strong>de</strong>m Saale<br />

zu entfernen. Die Polizei hätte mit <strong>de</strong>r werktätigen Hilfe <strong>de</strong>r Besucher<br />

rechnen können; so prompt wären noch keine Ruhestörer<br />

an die Luft gesetzt wor<strong>de</strong>n, als gera<strong>de</strong> in diesem Falle es sicher<br />

geschehen wäre.<br />

Es entspricht in gar keiner Weise <strong>de</strong>m heutigen Zeitgeiste, daß<br />

man die so bequemen absolutistischen Maßnahmen <strong>de</strong>s monarchistischen<br />

Zeitalters zur Anwendung bringt; das läßt sich heute<br />

eine freiheitslieben<strong>de</strong> Bevölkerung nicht bieten. Das städtische<br />

Polizeiamt hat in diesem Falle vollständig versagt und hat vor einigen<br />

nicht im günstigsten Rufe stehen<strong>de</strong>n all<strong>de</strong>utschen Versammlungshyänen<br />

und einigen grünen Jungen einfach in sklavischer<br />

Furcht und Unterwürfigkeit kapituliert.<br />

Des Pu<strong>de</strong>ls Kern ist jedoch, daß es sich hierbei weniger um die<br />

Person <strong>de</strong>s Vorlesen<strong>de</strong>n han<strong>de</strong>lt, son<strong>de</strong>rn die ganze Sache ist eine<br />

monarchistische Demonstration, wie sie sich in <strong>de</strong>r ekelhaftesten<br />

Weise gegenwärtig im Reiche draußen breit macht. Die all<strong>de</strong>utschen<br />

Siegfriedler und Kriegshetzer, für die die Bauern und Arbeiter<br />

gut genug waren, an <strong>de</strong>r Front sich abschlachten zu lassen,<br />

diese feigen Speichellecker, die in sklavischer, hündischer Untertänigkeit<br />

vor <strong>de</strong>n allerhöchsten Gauklern und Verbrechern im


Staube krochen, wollen auch bei uns wie<strong>de</strong>r ihr sauberes Handwerk<br />

beginnen und erlauben sich heute ganz unglaubliche Frechheiten.<br />

Die Arbeiterschaft, sowie die anständige Bevölkerung wird<br />

aber diesem Treiben einiger Krakeeler, grüner Jungen und besoffener<br />

Kneipbrü<strong>de</strong>r nicht lange zusehen, son<strong>de</strong>rn einmal gründlich<br />

zugreifen. Herr Kraus möge ruhig seinen nächsten Abend veranstalten,<br />

auf die Hilfe <strong>de</strong>s städtischen Polizeiamtes mag er ruhig<br />

verzichten; die Arbeiter wer<strong>de</strong>n solchen monarchistischen Elementen<br />

gründlich das Handwerk ein für alle mal legen. ...er.<br />

Der Tag nach<strong>de</strong>m das Verbot erfolgt ist, vergeht mit Bemühungen, die<br />

Ämter zur Überlassung <strong>de</strong>s Stadtsaals für <strong>de</strong>n 8. Februar zu bewegen. Diese<br />

Unterhandlungen gewährten nicht so sehr von <strong>de</strong>r Individualität <strong>de</strong>r Innsbrucker<br />

Magistratspersonen ein fest umrissenes Bild als von <strong>de</strong>n hinter ihnen<br />

wirken<strong>de</strong>n Kräften. Wiewohl sich <strong>de</strong>ren Wirksamkeit zunächst nur durch Gerüchte<br />

vernehmlich macht, von Pereatrufen gegen sozialistische Politiker, von<br />

<strong>de</strong>m Plan einer Demonstration <strong>de</strong>r Burschenschafter zur Ehre <strong>de</strong>s Deutschtums,<br />

nicht etwa durch Studium <strong>de</strong>utscher Sprachwerke, son<strong>de</strong>rn in Form eines<br />

»Aufmarsches«. Die Universitätsbuchhandlung wird durch ein Schreiben,<br />

das Steinwürfe androht, zur Entfernung meiner Bücher aus <strong>de</strong>m Schaufenster<br />

gezwungen. So wur<strong>de</strong> das Problem <strong>de</strong>r Freiheit <strong>de</strong>s Worts schon ganz zu einer<br />

Frage <strong>de</strong>r körperlichen Sicherheit, und ein Nervensystem, das auf die Annehmlichkeit,<br />

im Hotel als Schän<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Ehre gemel<strong>de</strong>t zu sein<br />

o<strong>de</strong>r gar auf <strong>de</strong>r Straße als solcher agnosziert zu wer<strong>de</strong>n, nicht eingerichtet<br />

ist, hätte wohl das Recht gehabt, sich die behördliche Ausflucht so schnell als<br />

möglich zum Vorbild zu nehmen. Ich durfte in<strong>de</strong>s, eher einen günstigen Zug,<br />

als eine <strong>de</strong>r Möglichkeiten versäumen, die Innsbrucker Behör<strong>de</strong> zum Bekenntnis<br />

ihrer Farbe zu zwingen, und es war klar, daß eher sie sich als daß ich<br />

mich <strong>de</strong>m »grünen Terror 1 « — ich ließ ihnen das Wort zurück — beugen durfte.<br />

Ein Vortrag im Arbeiterheim, <strong>de</strong>r we<strong>de</strong>r gestört noch verboten wer<strong>de</strong>n<br />

konnte und augenblicklich durchführbar war, hätte das Terrain <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

verschoben, in ein Parteiasyl entrückt und das Gau<strong>de</strong>amus über<br />

die Verhin<strong>de</strong>rung auf eine an<strong>de</strong>re Art bekräftigt. Nur <strong>de</strong>r Stadtsaal bot die<br />

Gelegenheit einer vollgültigen Entschädigung. Der Bürgermeister benützte<br />

sie, um <strong>de</strong>n ganzen Tag unauffindbar zu sein, und ich am Abend die an<strong>de</strong>re<br />

ihm wohlbekannte: eines rückkehren<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rzugs. Um halb neun Uhr war<br />

sein telephonischer Bescheid eingelangt, <strong>de</strong>r mich zwar noch hinhalten konnte,<br />

aber auch vertreiben durfte. Ich will durchaus nicht leugnen, daß ich eine<br />

Stun<strong>de</strong> später das erste Wohlgefühl in Verbindung mit Innsbruck verspürte,<br />

das mit <strong>de</strong>r Entfernung von Innsbruck sogar zunahm. Wiewohl die Reiselektüre<br />

das folgen<strong>de</strong> Feuilleton (Abendblatt <strong>de</strong>r Innsbrucker Nachrichten, 6. Februar)<br />

war:<br />

VORLESUNG KARL KRAUS.<br />

Es wäre leichter, nur die Eindrücke dieser Vorlesung zu beschreiben<br />

und dann zu Inhalt und Form Stellung zu nehmen, als eine<br />

Kritik an Karl Kraus zu üben; aber diese Persönlichkeit erschien<br />

uns durch die Vorlesung in einer solchen Beleuchtung, daß wir in<br />

neuer Erkenntnis auch rückschauend zu einer an<strong>de</strong>ren Wertung<br />

seines Werkes gelangen. Nicht nur was, son<strong>de</strong>rn auch wie er es<br />

1 Grüner Terror – man glaubt einen Bericht über einem Vortrag Thilo Sarrazins zu lesen!<br />

53


54<br />

vortrug, ließ uns immer mehr und mehr, von Minute zu Minute<br />

klarer und eindringlicher erkennen, welche seiner Eigenschaften<br />

endlich in dieser Probe, die er sich selbst auferlegte und zu <strong>de</strong>r<br />

ihn gera<strong>de</strong> die prägnanteste Eigenschaft seines Charakters trieb:<br />

maßlose Selbstgefälligkeit, die alle klugen Einwendungen besiegte,<br />

bestehen blieb; eine Erkenntnis, die noch am Abend viele seiner<br />

Freun<strong>de</strong> ihm gänzlich entfrem<strong>de</strong>te, früher Einsichtigen ihr<br />

volles Recht gab und nur einen Haufen Unentwegter ihm umso<br />

stürmischer Beifall klatschen ließ, je <strong>de</strong>utlicher die an<strong>de</strong>ren ihre<br />

Abneigung kundgaben.<br />

Wir kennen alle die herrlichen Verse Georg Trakls, die Karl Kraus<br />

nennen »weißer Hoherpriester <strong>de</strong>r Wahrheit, <strong>de</strong>m unter blauem<br />

Mantel <strong>de</strong>r Panzer <strong>de</strong>s Kriegers klirrt«. Und gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Besten<br />

war er lange vor <strong>de</strong>m Krieg ein Herold jener Wahrheiten, die von<br />

einer stumpfen und stumpfe Ruhe verlangen<strong>de</strong>n Gesellschaft<br />

übertüncht wur<strong>de</strong>n, ein Ritter <strong>de</strong>s Geistes, <strong>de</strong>r mit scharfen Waffen<br />

einer Wortkunst ohnegleichen die Entgeistigung und Materialisierung<br />

unseres Lebens anging. Sein Mut, unter allen Umstän<strong>de</strong>n<br />

die Wahrheit zu sagen, schien uns <strong>de</strong>r Bewun<strong>de</strong>rung wert und<br />

wir glaubten in ihm — nach so langer Zeit — endlich wie<strong>de</strong>r einmal<br />

<strong>de</strong>n Diener einer I<strong>de</strong>e zu sehen. Wenigen freilich trübte es<br />

schon frühe sein Bild, daß er, <strong>de</strong>r sich stets über alle Kritik erhaben<br />

bezeichnete, die Lobhymnen seiner unbedingt Ergebenen<br />

wörtlich druckte, auch wenn sie in ihrer Überschwänglichkeit unglaubwürdig<br />

o<strong>de</strong>r geschmacklos waren (z. B. jene <strong>de</strong>s Siegfried Jacobsohn)<br />

und maßlos war in <strong>de</strong>n Beleidigungen und im Verspotten<br />

jener, die mit ihm nicht eines Sinnes zu sein wagten. Aber, da er,<br />

ein einzelner Kämpfer gegen alle Menge, immer in Wehrbereitschaft<br />

sein mußte und naturgemäß nur ein für sich o<strong>de</strong>r gegen<br />

sich kannte, verziehen die Erkennen<strong>de</strong>n nur allzuleicht solche<br />

Schwäche eben um <strong>de</strong>r großen I<strong>de</strong>e willen, <strong>de</strong>ren Gefäß sie in ihm<br />

ehrten. Als <strong>de</strong>r Krieg begann und er allein in aller Massenbegeisterung,<br />

in <strong>de</strong>r Tat ein Prediger in <strong>de</strong>r Wüste, seine Stimme gegen<br />

<strong>de</strong>n Greuel erhob, gewann er sich viele neue Anhänger und unter<br />

ihnen die Ehrlichsten in jenen, die zwar nicht seiner Meinung waren,<br />

aber an ihm <strong>de</strong>n Mut und die Konsequenz bewun<strong>de</strong>rten, mit<br />

<strong>de</strong>nen er seine Ansichten in einer Zeit zu vertreten wagte, in <strong>de</strong>r<br />

die Suggestion <strong>de</strong>r Massen einerseits, die Militärgewalt an<strong>de</strong>rerseits<br />

ihn <strong>de</strong>swegen stündlich bedrohten. Er hielt wahrhaft durch<br />

und es kam das En<strong>de</strong>, wie er es, gleich ganz wenigen, die es aber<br />

nur im stillen taten, vorausgesagt: unser Zusammenbruch. Bis dahin<br />

war Karl Kraus für uns ein Kämpfer für seine I<strong>de</strong>e: er glaubte<br />

<strong>de</strong>n Krieg allein von <strong>de</strong>n Regierungen Deutschlands und Österreichs<br />

entfesselt und sträflich in die Länge geführt. Und er kämpfte<br />

mit allen möglichen Mitteln gegen diesen Krieg, <strong>de</strong>r ihm die Ermordung<br />

<strong>de</strong>s Geistes schien. Viele, nicht in seiner Einseitigkeit<br />

<strong>de</strong>s Hassens befangen, wußten außer <strong>de</strong>n Greueln unserer Heere<br />

auch die <strong>de</strong>r feindlichen Truppen, für die Karl Kraus nie ein Wort<br />

hatte. Aber man achtete <strong>de</strong>n unerschrockenen Kämpfer.<br />

Sein Kampf gegen die Regierungen müßte aus sein, die Kaiser<br />

sind vom Thron gestürzt, ihre Generale Bürger gewor<strong>de</strong>n, ihre<br />

Ratgeber zerstreut, neue Gewalthaber aus <strong>de</strong>m Volk hervorgegan-


gen. Und ein grausamer Frie<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r seinem Namen ins Gesicht<br />

schlägt, hat je<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r erkennen will, <strong>de</strong>utlich genug gezeigt, daß<br />

die Menschlichkeit <strong>de</strong>r Fein<strong>de</strong> vielleicht noch geringer ist als es<br />

unsere Siegermenschlichkeit gewesen wäre und gera<strong>de</strong> die merkantilen<br />

Bestimmungen <strong>de</strong>s Vertrages sind die beredtesten Beweise<br />

dafür, daß dieser Krieg nur <strong>de</strong>s »Ma<strong>de</strong> in Germany« willen geführt<br />

wur<strong>de</strong>, wie eine amerikanische Zeitung schon 1914 schrieb<br />

und nicht »Ma<strong>de</strong> in Germany« war, wenn auch <strong>de</strong>r jähe Ausbruch<br />

<strong>de</strong>n Kabinetten von Wien und Berlin zu Lasten fällt. Den tieferen<br />

Ursachen nachzuspüren aber ist Sache <strong>de</strong>r Geistigen und wer von<br />

ihnen auch die Amerikanisierung, »<strong>de</strong>n Kommerz«, <strong>de</strong>m Deutschland<br />

in <strong>de</strong>n letzten 40 Jahren mehr und mehr verfiel, aufs tiefste<br />

bedauerte, kann nicht im Ernste verlangen, daß ein starkes Volk<br />

sich <strong>de</strong>s Wohlstan<strong>de</strong>s hätte für immer begeben sollen und Meer<br />

und die Schätze <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren überlassen; <strong>de</strong>nn in je<strong>de</strong>m<br />

Volke wer<strong>de</strong>n es immer die Wenigen sein, die endlich lernen, <strong>de</strong>n<br />

einzig wertvollen Schatz, <strong>de</strong>n Geist, zu heben. So ging dieser<br />

Krieg letzten En<strong>de</strong>s doch um unser Volk und es gab Tausen<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nen<br />

die schweren Fehler unserer Herrschen<strong>de</strong>n nicht verborgen<br />

waren, die aber unfähig, das Geschehen aufzuhalten, in <strong>de</strong>r Stun<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Not mit klarem Bewußtsein ihr Leben zum Opfer stellten<br />

für einen Begriff, <strong>de</strong>r ihnen kein Wort, son<strong>de</strong>rn tiefste Notwendigkeit<br />

<strong>de</strong>s Daseins war: Vaterland.<br />

Der Kampf ist aus. Und die Reaktion, wie alle Bewegungen, vieles<br />

über das Ziel hinausschießend, verdammte mit einem male alles,<br />

was uns dazugeführt. Altäre <strong>de</strong>s Glaubens stürzten mit <strong>de</strong>n Thronen,<br />

Gelobtes wur<strong>de</strong> maßlos geschmäht und es begann eine Zeit,<br />

für je<strong>de</strong>n Mann, greulicher als <strong>de</strong>r Krieg: eine ekelhafte Beschmutzung,unseres<br />

Selbst, eine Prostitution an <strong>de</strong>n Feind, ein<br />

Gewinsel um Anhörung <strong>de</strong>r schamlosesten Selbstanklagen. Die<br />

Besten erhoben sich dagegen. Wo blieb <strong>de</strong>r Herold <strong>de</strong>r Wahrheit?<br />

Er trat gestern vor uns hin. Und las uns Schriften eines Kampfes<br />

vor, <strong>de</strong>r längst been<strong>de</strong>t ist, las sie mit einem Pathos, als wollte er<br />

uns aufrufen gegen Fein<strong>de</strong>, die gar nicht mehr sind. Und er führte<br />

uns die Mittel eines Kampfes vor, die niemals, auch im schärfsten<br />

Streit, ein Mann gegen einen an<strong>de</strong>ren gebrauchen sollte, das<br />

schmähliche und feige Mittel, persönliche Schwächen, die mit <strong>de</strong>r<br />

I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s nichts zu tun haben, zur Verhöhnung <strong>de</strong>s Gegners<br />

zu gebrauchen. Mir war Wilhelm II. nie eine sympathische Figur<br />

und immer ein geistiger Feind. Aber ich weiß, daß man aus<br />

<strong>de</strong>m Leben Karl Kraus' Szenen ten<strong>de</strong>nziös ausbeuten könnte, die<br />

ihn sicher noch verächtlicher erscheinen ließen als er Wilhelm<br />

zeichnet. Und in dieser Zeichnung ist keinerlei Kunst, keine Satire,<br />

nichts als Haß, Haß, Haß. Aber nicht <strong>de</strong>r Haß gegen die I<strong>de</strong>e<br />

<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren — <strong>de</strong>nn wäre es <strong>de</strong>r, warum beginge dann Karl Kraus<br />

die namenlose Geschmacklosigkeit, <strong>de</strong>n gestürzten Träger anzuspucken,<br />

<strong>de</strong>n Wehrlosen zu treten? — es ist vielmehr <strong>de</strong>r Haß <strong>de</strong>s<br />

Frem<strong>de</strong>n gegen das Deutsche, <strong>de</strong>r ihn blind macht, daß er vor <strong>de</strong>n<br />

Augen rot sieht und ihn so von allem Geist <strong>de</strong>r Menschheit und<br />

Menschlichkeit entfernt, wie nie einer <strong>de</strong>r von ihm Verspotteten<br />

es je gewesen. Ich wur<strong>de</strong> mir mit einem Schlage bewußt: hier ist<br />

Karl Kraus ohne Maske. Und es war das einzige außer <strong>de</strong>n harm-<br />

55


56<br />

losen Satiren, was ich ihm an diesem Abend glaubte: die Gemeinheit<br />

und letzte Aussage einer Verworfenheit, die, <strong>de</strong>n eigenen<br />

Haß auszuspeien und eine Eitelkeit <strong>de</strong>s Umstrittenseins zu befriedigen,<br />

selbst die Tragik — <strong>de</strong>nn Tragik ist es doch! — eines meinetwegen<br />

brutalen Größenwahns nicht respektiert, <strong>de</strong>r vernichtet<br />

wur<strong>de</strong> und, eine Hyäne <strong>de</strong>s traurigsten Schlachtfel<strong>de</strong>s, die Leichen<br />

schän<strong>de</strong>t. Wenn das <strong>de</strong>r Geist ist, <strong>de</strong>n er und seine Unentwegten<br />

meinen, dann ist mir die Geistlosigkeit aller Kriegsjahre<br />

zusammen lieber, als die ekelerregen<strong>de</strong> Minute <strong>de</strong>r Offenbarung<br />

solcher Niedrigkeit.<br />

Und er kämpft noch immer gegen <strong>de</strong>n Krieg, <strong>de</strong>r längst zu En<strong>de</strong><br />

ist — o mit welchem Pathos, mit welcher Stimme! Wozu dies? Um<br />

uns immer wie<strong>de</strong>r zu sagen: ich hab doch recht gehabt! Ihm ist<br />

die entsetzliche Zeit gera<strong>de</strong> gut genug, die Zinsen seiner klügeren<br />

Berechnungen, die Früchte seiner Kälte, die ihm freilich je<strong>de</strong> innere<br />

Anteilnahme verbot, einzuheimsen und seine Eitelkeit damit<br />

zu füttern. Dagegen wen<strong>de</strong>n wir uns mit Protest: Es gab Hun<strong>de</strong>rte<br />

und Tausen<strong>de</strong>, die nicht weniger wußten als er, eben jene, die<br />

<strong>de</strong>nnoch ihr Leben opferten o<strong>de</strong>r es täglich zu tun aus tiefem aufrichtigem<br />

Gefühl bereit waren. Ihr An<strong>de</strong>nken und ihre Tat zu beschmutzen<br />

hatte er, <strong>de</strong>r die Schrecken <strong>de</strong>r Schlachten immer nur<br />

beschrieben, aber niemals erlebt hat, nie das Recht, jetzt aber,<br />

nach<strong>de</strong>m kein Kampf ihn mehr zu äußersten Mitteln zwingt, es<br />

<strong>de</strong>nnoch zu tun, ist eine Ruchlosigkeit, <strong>de</strong>nn es ist einem Manne<br />

wohl nichts menschlich größeres zugedacht, als für eine I<strong>de</strong>e, sei,<br />

sie falsch o<strong>de</strong>r richtig (für ihn ist sie immer richtig) in <strong>de</strong>n Tod zu<br />

gehen. Wer dafür nur gelegentlich in die Schweiz ging, bei Butter<br />

und Honig seine Kapitalien zu verzehren und gegen <strong>de</strong>n Geschäftssinn<br />

zu wettern, soll hier — soldatisch gesprochen und ich<br />

hab's in 33 Monaten an <strong>de</strong>r Front gelernt! — das Maul halten.<br />

Wir wissen, wieviel Gemeinheit <strong>de</strong>r Krieg im Gefolge hatte. Über<br />

sie zu richten, sei uns ernstes Amt. Aber wir, wir Deutsche selbst<br />

wollen es tun. Ich bin kein Antisemit, aber ich wehre mich dagegen,<br />

daß ein solcher Ju<strong>de</strong> über uns zu Gericht sitzt, <strong>de</strong>r ja unsere<br />

Vaterlandsi<strong>de</strong>e zu erfassen niemals im Stan<strong>de</strong> ist und in <strong>de</strong>m seit<br />

jeher <strong>de</strong>r Haß groß ist gegen alles, was aus <strong>de</strong>utscher Er<strong>de</strong> gewachsen<br />

ist. Ein Mann, <strong>de</strong>m es nur um die Wahrheit zu tun ist,<br />

<strong>de</strong>r hätte Feld genug, für Künftiges zu streiten, er brauchte nicht<br />

Erledigtes anzugreifen. Wir glauben ihm dies Pathos nicht mehr.<br />

Dieser gestrige Abend hat uns ihn, Karl Kraus, in seiner wahren<br />

Gestalt gezeigt, durchleuchtete alles, was er bisher tat und wir sehen<br />

die Mache eines eitlen Menschen, <strong>de</strong>r klug genug war, sich<br />

<strong>de</strong>n Anschein eines Gottesstreiters zu geben und so die Besten zu<br />

täuschen.<br />

Und wer sein von ekelhafter Eitelkeit gesättigtes Gesicht sah, als<br />

die Bravorufe seiner Getreuen die Empörung Ehrlicher nie<strong>de</strong>rschrieen,<br />

wer auf diesem Gesicht, <strong>de</strong>utlichst für alle, nur die Befriedigung<br />

las, daß um ihn da unten gerauft wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r wußte alles<br />

von ihm. Wäre es ihm auch nur eine Sekun<strong>de</strong> ernst gewesen<br />

um das, was er mit tönen<strong>de</strong>n Worten am En<strong>de</strong> vortrug, er hätte<br />

sich nie, niemals so — lächelnd, so befriedigt zeigen können.


Der »blaue Mantel« fiel, aber es war kein Erz darunter, nur ein<br />

Komödiant.<br />

Dr. S. O.<br />

Wenn mir das Glück treu bleibt, daß solche Köpfe mir abtrünnig wer<strong>de</strong>n<br />

und zwar nicht nur von gestern auf heute, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>r ersten zur zweiten<br />

Spalte, so daß sie in <strong>de</strong>r vierten schon ganz beim Gegenteil halten — dann hat<br />

Innsbruck mein Behagen an <strong>de</strong>r Menschheit geför<strong>de</strong>rt. Denn ich litt nicht allein<br />

durch das drücken<strong>de</strong> Bewußtsein, somatisch zu ihr zu gehören — es<br />

möchte kein Hund so länger leben —, anstatt als solcher auf die Welt gekommen<br />

zu sein; ich litt insbeson<strong>de</strong>re durch das Gefühl, von jener unbegreiflichen<br />

Banalität, die mit Vorliebe Menschengestalt annimmt und wahrscheinlich<br />

selbst bei Fliegen nicht vorkommen dürfte, verehrt zu wer<strong>de</strong>n. Es ist nicht zu<br />

glauben, wie viel kostbare Jahre <strong>de</strong>r Entwicklung solche Leute mit <strong>de</strong>m Glauben<br />

an mich vertrö<strong>de</strong>lt haben, bis ihnen plötzlich die Schuppen von <strong>de</strong>n Augen<br />

fallen und dann zum Feuilleton zusammengekehrt wer<strong>de</strong>n, damit sich die<br />

Öffentlichkeit von <strong>de</strong>m Erlebnis dieser Läuterung überzeugen könne. Dieser<br />

S. O., <strong>de</strong>r einer <strong>de</strong>r gewandteren Innsbrucker zu sein scheint, und fast die<br />

großstädtische Gabe hat, einem durch die Lüge hergestellten Sachverhalt mit<br />

Argumenten beizustehn, so daß er als Provinzler dran glaubt, muß freilich auf<br />

die Gelegenheit, mich zu entlarven, schon gespitzt haben. Es ist nur natürlich,<br />

daß die Schwäche, kraft <strong>de</strong>ren sich so viele Minusse von mir angezogen fühlen,<br />

eines Tages o<strong>de</strong>r auch Abends <strong>de</strong>s Zusammenhangs inne wird und nun<br />

die Revanche <strong>de</strong>r Selbstbehauptung zu kosten beginnt, die als Selbstmord einer<br />

Mücke en<strong>de</strong>t. Aber hier muß einer an <strong>de</strong>m tiefen Mißverständnis, das ihn<br />

mich zu verehren zwang, schon lange getragen haben, <strong>de</strong>nn er ist ganz wild<br />

von <strong>de</strong>m Entschluß, <strong>de</strong>m ungewissen Zustand ein En<strong>de</strong> zu machen, und zieht<br />

es vor, ehe er an meinem Licht verbrennt, mit meinem Lampenschirm zusammenzuprallen.<br />

In solchem Taumel vergißt man nicht nur, was war und ist,<br />

son<strong>de</strong>rn sogar was in <strong>de</strong>r ersten und was in <strong>de</strong>r vierten Feuilletonspalte steht.<br />

Zwar das mit <strong>de</strong>r Eitelkeit, die ihm schon immer an mir aufgefallen ist, ist unbestreitbar.<br />

Es hat ihm schon frühe mein Bild getrübt, daß ich die Lobhymnen<br />

meiner unbedingt Ergebenen abgedruckt habe, wenngleich ich doch darauf<br />

gefaßt war, daß sie mir einst ganz an<strong>de</strong>rs aufspielen könnten. Aber war ich<br />

nicht auch stets darauf erpicht, die Dokumente <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Gesinnung abzudrucken?<br />

Nun, wenn sich meine Eitelkeit schon in <strong>de</strong>r Nennung meines Namens<br />

befriedigt und ihn nicht oft genug gedruckt sehen kann, so wer<strong>de</strong> ich<br />

freilich von <strong>de</strong>m Beispiel eines Autors beschämt, <strong>de</strong>r so beschei<strong>de</strong>n ist, <strong>de</strong>n<br />

seinen nicht zu nennen, und wenn er mir vorwirft, daß ich mein Lebtag maßlos<br />

in <strong>de</strong>n Beleidigungen jener war, die mit mir nicht eines Sinnes waren, so<br />

könnte er mir sogar nachweisen, daß ich selbst dafür mit meinem Namen eingetreten<br />

bin, während er mich zwar beleidigt, aber seine eigene Person dabei<br />

aus <strong>de</strong>m Spiel läßt. Was die begeisterte Kritik jenes S. J. 1 anlangt, die ich einmal<br />

abgedruckt habe, so sehe ich schon ein, daß, wenn ich nunmehr auch <strong>de</strong>n<br />

Ta<strong>de</strong>l dieses S. O. abdrucke, <strong>de</strong>r Eindruck meiner Eitelkeit noch immer <strong>de</strong>n<br />

meiner Unparteilichkeit in eigener Sache überwiegen wird. Zu meiner Entschuldigung<br />

kann ich nur anführen, daß ich jenes Lob zwar nicht für geschmacklos,<br />

wohl aber für überschwenglich hielt und daß es mir gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb<br />

aufhebenswert schien, als eine <strong>de</strong>r wenigen unter <strong>de</strong>n tausend Verhimmlungen<br />

meiner Leistung, wo ich, <strong>de</strong>r sich allerdings über alle »Kritik« erhaben<br />

dünkt, die persönliche Freu<strong>de</strong> an einem menschlichen und männlichen Be-<br />

1 In Heft 484<br />

57


kenntnisse empfun<strong>de</strong>n habe, also an <strong>de</strong>m seltensten Glücksfall, <strong>de</strong>r einem in<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur zustoßen kann. Dagegen möchte ich unerörtert lassen,<br />

welcher <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Siegfrie<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r jüdische o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r germanische, <strong>de</strong>r<br />

Bekehrte o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Abtrünnige, mir an <strong>de</strong>r Aufgabe, sich so o<strong>de</strong>r so zu mir zu<br />

stellen, als <strong>de</strong>r mutigere erscheint. Von meinem eigenen Mut hier zu sprechen,<br />

wür<strong>de</strong> meine Eitelkeit gebieten, wenn ich nach <strong>de</strong>r Lektüre dieses abwechslungsreichen<br />

Feuilletons noch wüßte, ob ich ihn noch habe. Denn die<br />

Ansichten meines Gegners gehen darüber auseinan<strong>de</strong>r, es liegt ein klarer Fall<br />

von Hokuspokus vor und wenn ich <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r mich entlarvt, nur fest auf die<br />

Finger sehe, so mag sich ergeben, daß er mir doch länger aufgesessen ist, als<br />

ich ihm. So geschwind hat keiner eines an<strong>de</strong>rn Mut verloren wie dieser S. O.<br />

<strong>de</strong>n meinen, und es ist gera<strong>de</strong>zu ein Schulfall, wie hier <strong>de</strong>r journalistische<br />

Zauber zwei Erscheinungen, <strong>de</strong>ren zeitliche Abfolge eine organische Unmöglichkeit<br />

ist, zu einer geläufigen Einheit verbin<strong>de</strong>t. Denn von <strong>de</strong>m mechanischen<br />

Vorsatz aus, an mir irgen<strong>de</strong>twas zu erleben, was mein Bild zerstört, gelingt<br />

es <strong>de</strong>r Fingerfertigkeit, über <strong>de</strong>n Naturzwang, daß <strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />

Eindruck falsch war, spielend hinwegzukommen, so daß nur <strong>de</strong>r Blick,<br />

<strong>de</strong>n die Schwarzkunst nicht getrübt, son<strong>de</strong>rn geschärft hat, schließlich zu erkennen<br />

vermag, daß <strong>de</strong>r Bruch im Bil<strong>de</strong> von einem Bruch im Betrachter herrührt.<br />

»Sein Mut unter allen Umstän<strong>de</strong>n die Wahrheit zu sagen, schien uns<br />

<strong>de</strong>r Bewun<strong>de</strong>rung wert« — »die an ihm <strong>de</strong>n Mut und die Konsequenz bewun<strong>de</strong>rten«<br />

— »ein Kämpfer für seine I<strong>de</strong>e« — »man achtete <strong>de</strong>n unerschrockenen<br />

Kämpfer« — »das schmähliche und feige Mittel« — »die namenlose Geschmacklosigkeit,<br />

<strong>de</strong>n Wehrlosen zu treten« — »eine Hyäne <strong>de</strong>s traurigsten<br />

Schlachtfel<strong>de</strong>s, die Leichen schän<strong>de</strong>t« — »die ekelerregen<strong>de</strong> Minute <strong>de</strong>r Offenbarung<br />

solcher Niedrigkeit«. Bewun<strong>de</strong>rt viel und viel gescholten, doch in<br />

einem Atem.<br />

War ich das alles? Bin ich's? Werd' ich's künftig sein,<br />

Das Traum— und Schreckbild jener Städteverwüsten<strong>de</strong>n?<br />

Das verläuft aber alles ganz plausibel. Denn es ist eingeteilt nach <strong>de</strong>n<br />

Terminen: »lange vor <strong>de</strong>m Krieg«, »als <strong>de</strong>r Krieg begann«, »<strong>de</strong>r Kampf ist<br />

aus« und <strong>de</strong>m Datum <strong>de</strong>r Innsbrucker Vorlesung. Und dabei gelingt es <strong>de</strong>m<br />

Zauberer, die Bewun<strong>de</strong>rung noch durch <strong>de</strong>n ganzen Krieg durchzuhalten, bis<br />

endlich <strong>de</strong>r Lokalaugenschein die Enttäuschung bringt. Der nüchternen Erwägung,<br />

daß ich doch in Innsbruck nur aus Schriften vorgelesen habe, die während<br />

<strong>de</strong>s Krieges entstan<strong>de</strong>n sind und eben darum die Bewun<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Innsbrucker<br />

erregt haben, wird durch die stillschweigen<strong>de</strong> Übereinkunft zwischen<br />

Tonfall und Lesergehirn begegnet, daß ich eigens etwas für Innsbruck vorbereitet<br />

habe, worauf meine Bewun<strong>de</strong>rer und zumal die sonstigen Innsbrucker<br />

nicht gefaßt waren. In<strong>de</strong>m eben das, was früher als Beweis <strong>de</strong>s Mutes aller<br />

Verehrung selbst durch die Innsbrucker wert war, nun diesen vorgelesen<br />

wird, verdient es als ein schmähliches und feiges Mittel alle Verachtung, und<br />

da dieser Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Dinge auch einem Innsbrucker auffällig wäre, so muß<br />

dieser glauben, da sei etwas Neues, was eben jetzt und ad hoc entstehen zu<br />

lassen abscheulich ist, dazu gekommen. Solange Krieg war, konnte man für<br />

mich sein, aber nun »trat ich vor sie hin« und las »Schriften eines Kampfes<br />

vor, <strong>de</strong>r längst been<strong>de</strong>t ist«. Zwar wissen wir alle, »wieviel Gemeinheit <strong>de</strong>r<br />

Krieg im Gefolge hatte«, aber wir Deutsche wollen selber über sie richten,<br />

nicht ein solcher Ju<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r, »als <strong>de</strong>r Krieg begann«, allein in aller Massenbegeisterung,<br />

in <strong>de</strong>r Tat ein Prediger in <strong>de</strong>r Wüste, seine Stimme gegen <strong>de</strong>n<br />

58


Greuel erhob. Hat <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r eine Ahnung von unserer Vaterlandsi<strong>de</strong>e? Er, <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Greuel ja dieser Vaterlandsi<strong>de</strong>e zur Last legte und <strong>de</strong>r uns <strong>de</strong>shalb bis<br />

zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kriegs ein Kämpfer für seine I<strong>de</strong>e gewesen ist. Und vor allem:<br />

ein Mensch, <strong>de</strong>r sich so schmählich im Krieg, in <strong>de</strong>m man ihn als unerschrockenen<br />

Kämpfer achten mußte, benommen hat! Stündlich bedroht von <strong>de</strong>r<br />

Suggestion <strong>de</strong>r Massen einerseits, von <strong>de</strong>r Militärgewalt an<strong>de</strong>rerseits, hielt er<br />

wahrhaftig durch und es kam das En<strong>de</strong>, wie er es, gleich ganz wenigen, die es<br />

aber nur im stillen taten, vorausgesagt: unser Zusammenbruch. Er hatte als<br />

einziger seine Stimme gegen <strong>de</strong>n Greuel erhoben. Er war in die Schweiz gegangen,<br />

um bei Butter und Honig seine Kapitalien zu verzehren und gegen<br />

<strong>de</strong>n Geschäftssinn zu wettern, und heimst heute die Zinsen seiner klügeren<br />

Berechnungen ein, die Früchte seiner Kälte, die ihm freilich je<strong>de</strong> innere Anteilnahme<br />

verbot, um damit seine Eitelkeit zu füttern. Damals hat er seine<br />

Stimme gegen <strong>de</strong>n Greuel erhoben, nun beschmutzt er das An<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>r gefallenen<br />

Hel<strong>de</strong>n. In<strong>de</strong>m er nämlich Wilhelm und die Generale verleum<strong>de</strong>t. Das<br />

Anhören dieser Szene, in <strong>de</strong>r zwar aller Greuel personifiziert ist und die keineswegs<br />

für Innsbruck geschrieben ward, erklärt <strong>de</strong>n ganzen Umschwung,<br />

<strong>de</strong>r so vollkommen ist, daß <strong>de</strong>r Bekehrte wohl ein Recht hat, sich von <strong>de</strong>m<br />

»Haufen Unentwegter«, die mir Beifall klatschten, abzuheben.<br />

Ich als Idol, ihm <strong>de</strong>m Idol verband ich mich.<br />

Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst.<br />

Ich schwin<strong>de</strong> hin und wer<strong>de</strong> selbst mir ein Idol.<br />

Geschwindigkeit ist keine Zauberei, binnen weniger Minuten stand ein<br />

Hohepriester als Hyäne, ein Krieger als Komödiant da, und alles war plausibel.<br />

Nicht nur die Eindrücke, auch die Tatsachen parierten, bis zu <strong>de</strong>m Wun<strong>de</strong>r,<br />

daß einer, <strong>de</strong>r während <strong>de</strong>s ganzen Kriegs als Kämpfer für seine I<strong>de</strong>e<br />

durchhielt und stündlich von <strong>de</strong>r Militärgewalt bedroht war, für diese I<strong>de</strong>e in<br />

die Schweiz gegangen ist, um dort zu völlern. Und er, <strong>de</strong>m man solches nachsagen<br />

kann, und nicht <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>rs sagt, »soll das Maul halten«. Denn dieser<br />

muß es noch offen halten für die Mitteilung von etwas, was er »weiß«. Er<br />

weiß nämlich, daß man aus meinem Leben »Szenen ten<strong>de</strong>nziös ausbeuten<br />

könnte, die mich sicher noch verächtlicher erscheinen ließen« als ich Wilhelm<br />

zeichne. Nun weiß ich zwar nicht, was <strong>de</strong>r Herr S. O. weiß, ich vermute, daß<br />

er es nicht sicher weiß, son<strong>de</strong>rn daß er höchstens glaubt, wenn es solche Szenen<br />

in meinem Leben gibt und man sie ten<strong>de</strong>nziös ausbeutet, daß ich dann sicher<br />

noch verächtlicher erschiene als Wilhelm. Ich hätte mich aber selbst dieser<br />

dürftigen Möglichkeit leicht dadurch entziehen können, daß ich meine öffentliche<br />

Tätigkeit anonym entfaltet hätte. Anonym nenne ich sowohl die Signierung<br />

von persönlichen Angriffen mit Anfangsbuchstaben wie die An<strong>de</strong>utung<br />

von einem Wissen, das <strong>de</strong>r Angreifer nicht hat, nicht haben kann, aber<br />

zu haben vorgibt, und mir wür<strong>de</strong> schon dieses einzige Faktum aus seinem Leben,<br />

das ich nicht erst zu enthüllen brauche, weil es in einer Druckschrift enthalten<br />

ist, genügen, um ihn verächtlich erscheinen zu lassen. Gäbe es nun irgen<strong>de</strong>ine<br />

Situation in meinem Leben, die, enthüllt, einen ähnlichen Effekt hervorbringen<br />

könnte, so hätte ich nichts vor ihm voraus, wohl aber noch immer<br />

vor Wilhelm, <strong>de</strong>n ich zwar nicht mehr zu richten befugt wäre, <strong>de</strong>ssen moralische<br />

Unzulänglichkeit jedoch durch meine Inkompetenz nicht aufgehoben<br />

wür<strong>de</strong>. Denn was immer in meinem Leben verborgen wäre, <strong>de</strong>ssen Enthüllung<br />

meine publizistische Befugnis fragwürdig machte, so war sie doch nur von einem<br />

Gottesgna<strong>de</strong>ntum <strong>de</strong>r künstlerischen Berechtigung eingesetzt — <strong>de</strong>ssen<br />

59


Anspruch durch sittliche Defekte vor allem ins Wanken geriete —, aber doch<br />

nicht von jenem, das über Völkerschicksale verfügt. Ich will gern glauben, daß<br />

die Unterstellung einer ungeheuerlichen Möglichkeit nur eine glückliche journalistische<br />

Wendung ist, also nur eine jener fluktuieren<strong>de</strong>n Substanzen, die<br />

man so wenig halten kann wie Tinte und von <strong>de</strong>nen man nicht weiß, ob sie einem<br />

in die Fe<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r aus ihr geflossen sind. Ich will glauben, daß sich <strong>de</strong>r<br />

Herr S. O. dabei nichts gedacht hat und, da man doch nicht wissen kann, was<br />

man nicht weiß, und nur wissen kann, daß man nichts weiß, tatsächlich nicht<br />

»weiß«, daß es solche Szenen in meinem Leben gibt, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>shalb, weil ~t<br />

bloß nicht weiß, ob es solche Szenen in meinem Leben gibt, sich halt <strong>de</strong>nkt,<br />

daß es so etwas schon geben wer<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn Journalisten, Journalisten sind wir<br />

alle und Fehler hat a je<strong>de</strong>r gnua. Sollte aber wi<strong>de</strong>r Erwarten sein Wissen doch<br />

ein größeres sein als es nach <strong>de</strong>r Lektüre seines Feuilletons <strong>de</strong>n Anschein hat,<br />

so mache ich ihn rechtzeitig darauf aufmerksam, daß er mir <strong>de</strong>n Wahrheitsbeweis<br />

in weit höherem Maße schuldig bleiben wür<strong>de</strong> als ich <strong>de</strong>m Wilhelm und<br />

daß man das, was ich über diesen glatt von <strong>de</strong>r Wirklichkeit abschreiben<br />

konnte, um die gleiche Wirkung mit mir zu erzielen, schon sehr ten<strong>de</strong>nziös<br />

ausbeuten müßte. Die journalistische Technik eröffnet Möglichkeiten, <strong>de</strong>nen<br />

selbst sie nicht gewachsen ist. Ich halte es für <strong>de</strong>nkbar, daß einer, ob Jud, ob<br />

Tiroler, eine Petite mit Eindrücken machen kann, so daß Bewun<strong>de</strong>rung und<br />

Verachtung, geschickt verteilt, »<strong>de</strong>n Anschein eines Gottesstreiters« kaputt<br />

machen, aber dafür das Bild <strong>de</strong>s redlichen Bekenners ergeben, <strong>de</strong>r sich zu jenen<br />

»Besten« zählt, die da getäuscht wer<strong>de</strong>n konnten 1 . Ich halte es für möglich,<br />

daß einer, <strong>de</strong>r kein Gesicht hat, sich eins dadurch geben möchte, daß er<br />

mir die Maske herunterreißt, wiewohl er doch be<strong>de</strong>nken müßte, daß meine<br />

Geschicklichkeit, die sie durch zweihun<strong>de</strong>rt Vortragsaben<strong>de</strong> gehalten hat, zur<br />

Not auch noch für Innsbruck ausgelangt hätte. Es kann sogar glaubhaft wirken,<br />

daß <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r die Lüge, es sei um mich »gerauft« wor<strong>de</strong>n, weitergibt, das<br />

entlarvte Gesicht »von ekelhafter Eitelkeit gesättigt« schien; wiewohl einer<br />

mich nie bewun<strong>de</strong>rt, wiewohl er nie verstan<strong>de</strong>n haben muß, daß mir ein geschriebener<br />

Satz über ein gesprochenes Buch geht, um mir doch zu glauben,<br />

daß ich die persönliche Wirkung lieber meinem Vortrag als <strong>de</strong>ssen Störung<br />

verdanke, und wiewohl die Befriedigung über <strong>de</strong>n Zusammenschluß einer<br />

Vielheit zur Abwehr von Gewalt sich als ein moralisches Gefühl aus <strong>de</strong>r Situation<br />

begreift. Wenn die Mittelmäßigkeit, die mit ihrem kalten Vorbedacht<br />

auch die elementaren Dinge, die zwischen einem Podium und einem Publikum<br />

spielen, abschätzen zu können glaubt, einmal oben stün<strong>de</strong>, sie wäre, ehe ihr<br />

Mienenspiel einen Triumph bescheinigt, von panischer Angst davongeblasen.<br />

Zu glauben, die »Eitelkeit«, die <strong>de</strong>n Einzelnen zum Partner <strong>de</strong>r Menge berechtigt,<br />

sei eine Untugend, steht <strong>de</strong>m Zeitungshirn so gut an wie die Vermutung,<br />

daß sie sich einen Hinauswurf als persönlichen Erfolg anrechne. Aber<br />

wenn ich schon je<strong>de</strong>r journalistischen Finte, die am an<strong>de</strong>rn Tag das eigene<br />

wie das frem<strong>de</strong> Erlebnis umlügt, Freipaß gebe, so wer<strong>de</strong> ich doch bestrebt<br />

sein, solcher Fertigkeit meine persönliche Existenz zu entziehen. Denn wenn<br />

sie mich angreift, so hat sie mich und nur mich gemeint, und darin bin ich<br />

empfindlich. Während ich — was sicher ein tragischer Fall in <strong>de</strong>r Literaturgeschichte<br />

ist — über einen Innsbrucker Journalisten ausführlicher schreiben<br />

kann als er über mich, und hinterdrein immer sagen könnte, ich hätte nicht<br />

ihn gemeint, son<strong>de</strong>rn alle, und ich wür<strong>de</strong> auch einen Hallstätter Polemiker beachten<br />

und überhaupt sei es mir egal, in welchen Dialekten und Trachten mir<br />

1 Die alten SED—Lumpen im Herbst 1989: “Wie bin ich getäuscht, belogen und betrogen<br />

wor<strong>de</strong>n! Wenn ich das alles gewußt hätte, ...“<br />

60


das Ding um die Nase schwirrt, um mir seine Überlegenheit zu beweisen und<br />

mich die Unzulänglichkeit <strong>de</strong>r Schöpfung beklagen zu lassen und damit ich<br />

zweitausend Fliegen mit einem Schlag treffen könne. Sie aber müssen sich's,<br />

wenn sie etwas aus meinem Leben ten<strong>de</strong>nziös ausbeuten wollen, schon an<br />

<strong>de</strong>m Werk genügen lassen, in <strong>de</strong>m dieses Leben enthalten ist und in <strong>de</strong>m sie<br />

ja genügend Spielraum fin<strong>de</strong>n, ihre sittliche Überwertigkeit zur Geltung zu<br />

bringen, wenn dazu die Eindrücke eines einzigen Abends nicht ausreichen<br />

sollten. Wiewohl es doch einleuchtend ist, daß ich nach einer vieljährigen Tätigkeit<br />

in Schrift und Wort es eben darauf ankommen lassen wollte und »die<br />

Probe, die ich mir selbst auferlegte«, als ich vor die Innsbrucker hintrat,<br />

schon ein Verdikt rechtfertigt. Der Obmann, <strong>de</strong>r es am Schluß <strong>de</strong>s Verfahrens<br />

verkün<strong>de</strong>t hat, war ein all<strong>de</strong>utscher Versicherungsagent. Er soll sich zuvor<br />

noch aus Gewissenhaftigkeit erkundigt haben, ob es <strong>de</strong>nn wahr sei, daß ein<br />

maßgeben<strong>de</strong>r Rassenfanatiker mich <strong>de</strong>n Retter <strong>de</strong>s Ariogermanentums genannt<br />

hat, er glaubte es nicht, als er sah, für wie unrettbar ich es hielt, und<br />

warf <strong>de</strong>s zum Zeichen die Tür <strong>de</strong>s Verhandlungssaales hinter sich zu. Dieser<br />

Vorgang bestimmte die Innsbrucker Journalistik, mich zu erkennen. Sie hatte<br />

mit meiner Tätigkeit abgeschlossen, unbescha<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Möglichkeit, daß mir<br />

noch ein satirisches Motiv zuwuchs. Und befeuert von ihrer Weisung stieg <strong>de</strong>r<br />

Aufruhr im Land, <strong>de</strong>r Teufel war gefaßt wor<strong>de</strong>n, als er die Einreisebewilligung<br />

mißbraucht hatte, und nun, da er ohne Maske und manches an<strong>de</strong>re heimfuhr,<br />

faßte ihn Reue, daß er zum <strong>de</strong>utschen Heiland verdorben sei und darum in<br />

Zwietracht mit <strong>de</strong>n Händlern und Wechslern, und er las, die Innsbrucker<br />

Nachrichten bis zum En<strong>de</strong>:<br />

Wie an<strong>de</strong>rs wirkt dies Zeichen auf mich ein!<br />

Du, Geist <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, bist mir näher!<br />

Und so, <strong>de</strong>n Blick nach Osten gewen<strong>de</strong>t, fühle ich mich wie<strong>de</strong>r wie zuhause,<br />

erfasse <strong>de</strong>n Zusammenhang <strong>de</strong>r Literaturen und empfange die Abwechslung,<br />

die das Leben bietet. Mir kann nichts geschehn; vom christlich—<br />

germanischen Schönheitsi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s verwiesen, bleibt mir doch die<br />

Hoffnung, in die Welt <strong>de</strong>r freien Gemeinschaft nicht eingelassen zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Haß <strong>de</strong>s einen gibt mich nicht <strong>de</strong>r Gunst <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn preis, und ich bin allen<br />

höchst be<strong>de</strong>nklich. Was bleibt in ihrer Hand, da sie mich fassen? Ein Witz<br />

über <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn, und wenn sie's dann vergleichen, ein Wi<strong>de</strong>rspruch. Freilich,<br />

die Parteien durch Verachtung ihres Hasses und ihrer Gunst verwirrend, wird<br />

mein Charakterbild nur solange in <strong>de</strong>r Geschichte schwanken, als sie von<br />

Journalisten geschrieben wird. Sonst mag es sich, sind wir einmal über alle<br />

zeitlichen Veranlassungen hinaus, klar erweisen, daß meine Art, die Welt zu<br />

betrachten, von innen zu <strong>de</strong>n Ansichtssachen gelangt war, von einem Natur-<br />

61


punkt her zu <strong>de</strong>r wechselvollen Oberfläche. Aber auch <strong>de</strong>r Mitleben<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m<br />

im Klima dieser öffentlichen Meinung das Herz nicht verdorrt ist — ob er's<br />

nun sich selbst o<strong>de</strong>r mir verdankt —, ist schon befähigt, im Gemeinten das Erlebte<br />

zu spüren und in <strong>de</strong>m, was ich mit an<strong>de</strong>ren gemein habe, die Gemeinschaft<br />

mit mir selbst. Ihm kann, was eine Angelegenheit <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>r<br />

Sprache ist, nie zur Parteisache wer<strong>de</strong>n und ihm bleibe ich, <strong>de</strong>m Verdacht<br />

entrückt, daß mir im Kampf mit <strong>de</strong>m einen Unwert <strong>de</strong>r Triumph <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rn<br />

ein zeitliches Ziel be<strong>de</strong>ute. Dem aber, was sich fühlen o<strong>de</strong>r mißverstehen läßt,<br />

ist auch ein Glück gesellt, das meine Unbefangenheit sinnfällig macht. Denn<br />

die scheinbare Parteinahme wird — durch ein gütiges Verhängnis, das mich<br />

noch auf allen Feldzügen begleitet hat — sogleich in die an<strong>de</strong>re Richtung abgezogen,<br />

ohne daß es doch bei<strong>de</strong>n Gegnern gelänge, mich zu ihren Gunsten<br />

zu schwächen. Im Gegenteil — und dieses bleibt immer mein Teil — scheint<br />

sowohl die Kampfstimmung, die sie gegeneinan<strong>de</strong>r, wie jene, die sie gegen<br />

mich erfüllt — da und dort unwirksam — als ein gemeinsames Fluidum mir zuzuströmen,<br />

so daß sie sich alle durch mich nicht nur geschwächt, son<strong>de</strong>rn<br />

auch erlöst fühlen. Denn ich habe es ihnen aus <strong>de</strong>m Herzen gesprochen, das<br />

sie nicht haben, aber auf <strong>de</strong>m sie's gegeneinan<strong>de</strong>r haben; ich habe ihnen das<br />

Wort, das sie gegeneinan<strong>de</strong>r führen wollten, aber nicht konnten, von <strong>de</strong>r Zunge<br />

genommen und sie können nun von ihr jenen Gebrauch machen, <strong>de</strong>n ein<br />

großmütiger Sieger, auf an<strong>de</strong>re Kontribution verzichtend, noch gewährt. Hatte<br />

ichs nur mit einem zu tun, so wür<strong>de</strong> mich das Bewußtsein, <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn zu<br />

einer Genugtuung zu verhelfen, vielleicht entmutigen. So aber gewinne ich<br />

spielend, weil ihrer so viele sind, und wenn es nicht ihrer so viele wären, <strong>de</strong>nen<br />

ich allein gegenüberstehe, müßte ich mich, weil ihrer so viele sind, für<br />

<strong>de</strong>n größten Feigling halten. Im Wesen sinds ihrer lei<strong>de</strong>r nur zwei, und wenn<br />

die Welt hier zerfällt, so zerfällt sie doch nur in Christ und Jud. Bekomme ichs<br />

mit Kasma<strong>de</strong>rn zu tun, so freut mich die Hetz erst, wenn ich dabei <strong>de</strong>m Lysoform—Gesicht<br />

das Schmunzeln verbieten kann; es geht in einem. Wer<strong>de</strong> ich<br />

aus <strong>de</strong>r Aula gebannt, so fühle ich mich solange unsicher, als sie mich nicht<br />

auch von <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>nschule relegieren. Beim großen Föhn von Innsbruck, »als<br />

<strong>de</strong>r Regen kam, mich zu durchnässen, und <strong>de</strong>r Wind mich schauern machte«,<br />

wie <strong>de</strong>n König Lear, »und <strong>de</strong>r Donner auf mein Geheiß nicht schweigen wollte,<br />

da fand ich sie, da spürte ich sie aus«. Aber da mußte ich auch fürchten,<br />

nun wür<strong>de</strong>n mich die Intellektuellen frohlockend als Heimkehrer empfangen,<br />

mich behan<strong>de</strong>ln, als ob wir zusammen Antisemiten gehütet hätten, und ich<br />

käme vom Regen in die Traufe. Zum Glück kam Sonnenschein.<br />

Dieser Sonnenschein, <strong>de</strong>n ich wie mein Volksschullehrer im Drama <strong>de</strong>n<br />

Fa<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n er verliert, nicht bildlich, son<strong>de</strong>rn wörtlich meine, ist ganz gewiß<br />

das Gegenteil von jenem Heiligenschein, <strong>de</strong>r es in Innsbruck unternommen<br />

hat, mich zu <strong>de</strong>maskieren. Aber er tuts auch und mit nicht geringerem Geschick.<br />

Wenn mich nicht je<strong>de</strong>r Schein trügt, bin ich jetzt in die Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Entlarvungen eingetreten und ich muß schon dazuschauen, mir eine neue,<br />

fester sitzen<strong>de</strong> Maske vorzubin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn die Journalisten haben leichtes<br />

Spiel. Welche Art von Verfehlung aber ist es, worauf sie es hauptsächlich abgesehen<br />

haben? Nun, wenn wir heutzutage hören, ein Mann, <strong>de</strong>ssen geistige<br />

Lebensführung bisher einigen Glauben gefun<strong>de</strong>n hat und <strong>de</strong>r als öffentliche<br />

Figur, sei es ein Dichter o<strong>de</strong>r ein Revolutionär, in einer Sphäre <strong>de</strong>nkt und<br />

lebt, die von <strong>de</strong>r Vorstellung unsauberer Geschäfte auch nicht gestreift wird<br />

— wenn wir hören, ein solcher Mann sei an <strong>de</strong>n Pranger gestellt wor<strong>de</strong>n, so<br />

wer<strong>de</strong>n wir zunächst vermuten, es sei gegen ihn vorgebracht, daß er ein<br />

Schieber sei, daß das berühmte Ethos von Provisionen gespeist wer<strong>de</strong>, daß er<br />

62


mit Waggons zu tun habe und was <strong>de</strong>rlei Nebenbeschäftigungen jetzt mehr<br />

sind; und wenn wir nur von fern <strong>de</strong>n Sperrdruck sehen, in <strong>de</strong>m die Lettern<br />

Mühe haben, ihre Entrüstung zu verbergen, so wer<strong>de</strong>n wir gar nicht zweifeln,<br />

daß hier ein Menschheitsbeglücker als Roßtäuscher <strong>de</strong>klariert sei. Nichts von<br />

alle<strong>de</strong>m; ich bin fest überzeugt, daß so läßliche Sün<strong>de</strong>n mich in <strong>de</strong>n Augen<br />

keines Freigeistes unmöglich gemacht hätten, und ahne, daß es weit verblüffen<strong>de</strong>re<br />

Wi<strong>de</strong>rsprüche in meinem geistigen Charakterbil<strong>de</strong> seien, die nun, lange<br />

verborgen, vom Sonnenschein an <strong>de</strong>n Tag gebracht wer<strong>de</strong>n. Da habe ich<br />

vor sechs und sieben Jahren Sätze in <strong>de</strong>r Fackel geschrieben und gehofft, man<br />

wer<strong>de</strong> es nicht bemerken. Was tut Sonnenschein? Er zitiert diese Sätze. Er<br />

hat sie gefun<strong>de</strong>n, er hat sie abgeschrieben und sogar die Quelle angegeben.<br />

Und wiewohl sie infolge<strong>de</strong>ssen keinen Originalbeitrag mehr für das Neue Wiener<br />

Journal be<strong>de</strong>uten, so hat sich dieses doch entschlossen, sie zu drucken,<br />

weil die Gesinnung, welche die Teile verbin<strong>de</strong>t, also das, was von Sonnenschein<br />

ist, das Neue Wiener Journal anzusprechen schien. Denn es hat noch<br />

kein Zwielicht, das ich in <strong>de</strong>r Seele eines Windbeutels o<strong>de</strong>r Hysterikers o<strong>de</strong>r<br />

eines, <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>s war, entzün<strong>de</strong>t habe, verflackern lassen. Es salviert sein<br />

Seelenheil, läßt <strong>de</strong>n Armen, <strong>de</strong>n es ins Leben hineinführt, schuldig wer<strong>de</strong>n<br />

und »Form und Inhalt selbst verantworten«, kann aber <strong>de</strong>m »sachlichen« Reiz<br />

seiner Argumente nicht wi<strong>de</strong>rstehen. So geschah es immer, seit Ehrgeiz und<br />

Fixigkeit auf meiner Spur sind und sooft <strong>de</strong>m ungesun<strong>de</strong>n Zustand, daß einer<br />

eines Morgens erwachte und sich unberühmt fand, <strong>de</strong>r Lokalredakteur abhelfen<br />

wollte. Wie zufrie<strong>de</strong>n wäre ich, wenn mein Renommee, von <strong>de</strong>m ein so unsauberes<br />

Geschäft und ein so flüchtiger Ruhm jeweils zehren, von all diesen<br />

Anfällen endlich aufgebraucht wäre. Aber <strong>de</strong>r einzige von <strong>de</strong>n Beteiligten,<br />

<strong>de</strong>m geholfen wird, ist das Neue Wiener Journal, das um ein paar hun<strong>de</strong>rt<br />

Stück mehr absetzt, ich wer<strong>de</strong> Gott seis geklagt, immer berühmter, und eine<br />

traurige Jugend sieht sich, wenn die Orgie vorüber ist, <strong>de</strong>r Pein überlassen,<br />

um keinen Schritt weitergebracht zu sein. Denn alle Schuld rächt sich auf Er<strong>de</strong>n,<br />

beson<strong>de</strong>rs jene, die sich rächen will. Ja, früher einmal, wenn man sich<br />

durch Beschimpfung meiner Person o<strong>de</strong>r gar durch einen Überfall vor <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong><br />

hervortat, stand man groß da und eine Karriere offen. Die jungen Leute<br />

wur<strong>de</strong>n Lektoren, Dramaturgen, Musikkritiker. Heute ist die Concordia<br />

durch ihre Verbindungen mit <strong>de</strong>r Nachwelt soweit über die dort herrschen<strong>de</strong><br />

Meinung orientiert, daß sie solche Preise nicht mehr auf meinen Kopf setzt.<br />

Sie weiß, daß er ihr unerreichbar ist, und darum lohnt sich's ihr nicht mehr.<br />

Einzig das Neue Wiener Journal, das aus Selbstachtung sich nicht die Frage,<br />

was zimmerrein ist, zu stellen hat, son<strong>de</strong>rn was »interessiert«, eröffnet Anfängern<br />

noch immer Chancen, die es ihnen bei einiger Gewissenhaftigkeit verschließen<br />

wür<strong>de</strong>. Denn abgesehen davon, daß sie <strong>de</strong>n Ruhm eines solchen<br />

Sonntags überleben, in<strong>de</strong>m sie schon am Montag wie<strong>de</strong>r so unbekannt sind,<br />

wie sie am Samstag waren, geschieht es dann nach ein paar in dumpfem Hinbrüten<br />

verbrachten Wochen, daß sie durch mich, <strong>de</strong>r ihnen noch etwas abgewinnt,<br />

unbekannter wer<strong>de</strong>n als sie zuvor waren, in<strong>de</strong>m es mir gelingt, sie in<br />

eine Zeitplage zu verwan<strong>de</strong>ln, unter <strong>de</strong>ren Betrachtung aber die Persönlichkeit<br />

ganz und gar verschwin<strong>de</strong>t. So kommen sie auf die Nachwelt. Das bewirke<br />

ich entwe<strong>de</strong>r durch Reproduktion — als welche das Verfahren ist, einen<br />

Selbstmord festzustellen — o<strong>de</strong>r durch Obduktion — um auf die tiefere Ursache<br />

zu kommen — o<strong>de</strong>r durch bei<strong>de</strong>s, wenn es sich um einen komplizierteren,<br />

Fall han<strong>de</strong>lt und man einer nacheifern<strong>de</strong>n Jugend klar machen kann, daß mit<br />

mir zwar ein Geschäft zu machen ist, aber kein gutes und daß es heutzutage<br />

weit günstigere Gelegenheiten gibt. Da aber je<strong>de</strong>s Geschäft unter <strong>de</strong>m Motto<br />

63


»Mit Gott« o<strong>de</strong>r so ähnlich beginnt und man doch da sehn wird, so hören wir,<br />

mit wie schönem Ernst das Neue Wiener Journal bei <strong>de</strong>r Sache ist:<br />

KRAUS ODER DIE KUNST DER GESINNUNG.<br />

Von Hugo Sonnenschein.<br />

Der junge, <strong>de</strong>m Kreise um Franz Werfel, Albert Ehrenstein usw.<br />

nahestehen<strong>de</strong> Wiener Lyriker Hugo Sonnenschein, <strong>de</strong>r während<br />

<strong>de</strong>r Kriegszeit seiner antimilitaristischen Gesinnung wegen viel<br />

Schmerzliches zu erdul<strong>de</strong>n hatte. ruft unsere publizistische Gastfreundschaft<br />

gegen Karl Kraus, <strong>de</strong>n Herausgeber <strong>de</strong>r 'Fackel' an.<br />

Karl Kraus hat ihn literarisch und menschlich heftig angegriffen<br />

und Hugo Sonnenschein sucht ein Forum, vor <strong>de</strong>m er seine Feh<strong>de</strong><br />

mit ihm austragen kann. Form und Inhalt seiner Erwi<strong>de</strong>rung hat<br />

er selbst zu verantworten. Was uns an diesen sonst stark persönlich<br />

gefärbten, manchmal auch über das polemische Maß hinausgehen<strong>de</strong>n<br />

Ausführungen interessiert, ist lediglich ihr sachlicher<br />

Teil, <strong>de</strong>r auf die Gesinnung Karl Kraus' vor und nach <strong>de</strong>r Kriegszeit<br />

charakteristische Schlaglichter für Uninformierte zu werfen<br />

sucht. Die Redaktion.<br />

Ich zweifle natürlich nicht, daß das rein sachliche Interesse <strong>de</strong>s Neuen<br />

Wiener Journals auch <strong>de</strong>r Ergänzung, die ich <strong>de</strong>n durch Sonnenschein schon<br />

halb Informierten zu geben vermöchte, zugänglich wäre und auch mir Gastfreundschaft<br />

gewährte, und nur weil ich diese nicht mit <strong>de</strong>r Feuerzange annehmen<br />

und jene auch nicht mit <strong>de</strong>m Berichtigungsparagraphen anbieten<br />

wollte, muß sich das Unternehmen zerschlagen, Die Berechtigung Sonnenscheins,<br />

auf Gesinnungen charakteristische Schlaglichter zu werfen, vorweg<br />

eingeräumt, soll an die Kompetenz <strong>de</strong>s Neuen Wiener Journals, hierbei mitzuwirken,<br />

nicht getippt wer<strong>de</strong>n. Speziell meine Gesinnung in Dingen <strong>de</strong>s Kriegs<br />

von ethisch berufenen Faktoren überprüfen zu lassen, ist eine For<strong>de</strong>rung, <strong>de</strong>r<br />

ich mich unmöglich entziehen kann.<br />

Nur mit äußerstem Wi<strong>de</strong>rwillen, aus Notwehr, befasse ich mich<br />

mit einer Angelegenheit, die ich am liebsten <strong>de</strong>n Interessierten<br />

o<strong>de</strong>r hierzu Berufenen überlassen hätte; nichts ist mir gleichgültiger<br />

als die Materie, die zu behan<strong>de</strong>ln mir aufgezwungen wur<strong>de</strong>.<br />

Deshalb bin ich <strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n und Fein<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Kennern und Bekennern<br />

um Karl Kraus, Wien, dankbar, die mir die Arbeit insofern<br />

erleichtert haben, als sie mir, <strong>de</strong>m Unwissen<strong>de</strong>n, direkt o<strong>de</strong>r indirekt<br />

Material aus einer mir frem<strong>de</strong>n Sphäre zusammengetragen<br />

haben. Nach dieser Einleitung erkläre ich: —<br />

Wovor ich mir nur einzuschalten erlaube, daß die Bekenner um mich,<br />

die <strong>de</strong>m weltverkommenen Sonka »Material« aus einer ihm frem<strong>de</strong>n Sphäre<br />

— <strong>de</strong>nn er ist nur in <strong>de</strong>n höheren zuhause —, aus einer Sphäre, die infolge ihrer<br />

Abgeschlossenheit <strong>de</strong>r Legen<strong>de</strong>nbildung leicht ausgesetzt ist, beherzt »zusammengetragen«<br />

haben, eine rechte Bagage sein dürften. Freilich ist es die<br />

einzige Möglichkeit, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Eine an<strong>de</strong>re hatte<br />

auch Sonka, <strong>de</strong>n ich all die Jahre an <strong>de</strong>r Welt verkommen ließ, beim besten<br />

Willen nicht gehabt. Er hätte sich aber getrost selbst um das Material beküm-<br />

64


mern können. Denn gar so nonchalant ist er meiner Sphäre nicht gegenübergestan<strong>de</strong>n.<br />

Unwissend, mag sein; aber doch nicht ohne Interesse. Er hat, wiewohl<br />

er sicherlich dartun wird, daß er mich schon 1913 verachtet hat, mich<br />

noch 1918 verehrt, mir seine Verse, <strong>de</strong>ren Abenteuerlichkeit weniger das Erlebnis,<br />

als <strong>de</strong>n Grad <strong>de</strong>r Talentlosigkeit bezeichnet, in dieser Gesinnung zugesen<strong>de</strong>t<br />

und erst als die Nichtbeachtung einem abweisen<strong>de</strong>n Wort Platz machte,<br />

um sich geschlagen. Er braucht sich keiner an<strong>de</strong>rn Entwicklung als seine<br />

Altersgenossen in <strong>de</strong>r Literatur zu rühmen. Nach <strong>de</strong>n Masern, die nur <strong>de</strong>n Patienten<br />

selbst betreffen, bekommt man die Fackelverehrung, durch die ich in<br />

Mitlei<strong>de</strong>nschaft gezogen bin, und Sonka hat sie verhältnismäßig lange gehabt.<br />

Wenn sie dann von mir genesen und Journalisten wer<strong>de</strong>n, halten sie meinen<br />

Zustand für be<strong>de</strong>nklich. Der Irrtum dieser Generation, die mich so oft durch<br />

ihre Gefolgschaft auf ihre Nichtpersönlichkeit aufmerksam gemacht hat, besteht<br />

in <strong>de</strong>r immer neu zu enttäuschen<strong>de</strong>n Hoffnung, daß <strong>de</strong>r Respekt zurückstrahlen<br />

und mein Wesen, das in sich schon ihre Existenzberechtigung negiert,<br />

von Fall zu Fall mit sich re<strong>de</strong>n lassen wer<strong>de</strong>. Infolge<strong>de</strong>ssen pfeifts dann<br />

aus einer an<strong>de</strong>rn Tonart:<br />

Kraus, <strong>de</strong>r im Sommer 1919 in einem verleum<strong>de</strong>rischen Flugblatt<br />

meinen Namen fälschte, hat mich seither wie<strong>de</strong>rholt in <strong>de</strong>r »Fackel«<br />

in seine Revolverwelt von Verdrehungen, Gerüchten und Anspielungen<br />

einbezogen. So mag Kraus, <strong>de</strong>ssen Witze seit mehr als<br />

zwanzig Jahren alle unproduktiven und chronischen Mitläufer kitzeln<br />

und ergötzen, sich nicht wun<strong>de</strong>rn, wenn ich wohlwollend konstatiere,<br />

daß er feige lügt.<br />

Kraus weiß, daß ich weißgardistische Gerechtigkeit, sowohl seine<br />

als auch je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re, verabscheue. Kraus weiß, daß ich we<strong>de</strong>r<br />

einen Anonymus erfand, noch einem mutigen Anonymus meinen<br />

Dank für seine papierene Tat aussprach; Kraus weiß, daß ich, vor<br />

<strong>de</strong>m Krieg als Anarchist, nach <strong>de</strong>m Krieg als Kommunist, und erst<br />

recht im Krieg als politisch verdächtiger Infanterist verfolgt, unter<br />

Lebensgefahr <strong>de</strong>n Kampf gegen <strong>de</strong>n Mordstaat und seine blutigen<br />

Helfer in <strong>de</strong>r Kaserne, auf <strong>de</strong>r Straße und im Gefängnis führte.<br />

Ich gab Kraus Gelegenheit, sich zu <strong>de</strong>m Unrecht seiner Fälschungen<br />

zu bekennen. Er zog es vor, weiterzulügen.<br />

Es gibt freilich auch produktive und akute Mitläufer, aber die lassen<br />

sich nicht kitzeln, son<strong>de</strong>rn schlagen aus. Nur dürfen sie natürlich nicht glauben,<br />

daß ihr gesamtes Ethos, und wenn es noch so geballt wäre, zu einer simpeln<br />

Ehrenbeleidigung ausreicht. Wenn solch ein Stürmer auch das Wort<br />

»Fälschung« gesperrt druckt und es so klingen soll, als ob da weiß Gott was<br />

für ein Dokument, am En<strong>de</strong> gar eine Einfuhrbewilligung, gefälscht wäre, so<br />

wer<strong>de</strong>n sich die Besucher <strong>de</strong>r Schieberkaffees schon <strong>de</strong>nken, daß es sich um<br />

eine literarische Alfanzerei han<strong>de</strong>ln dürfte, und mich darum nicht für vertrauensunwürdig<br />

halten. Die Besucher <strong>de</strong>r Literaturkaffees aber wissen, daß ich<br />

in jenem Flugblatt nicht bloß <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>s Herrn Sonnenschein, son<strong>de</strong>rn<br />

noch sechs an<strong>de</strong>re gefälscht habe, um sie für die Humanität zu engagieren,<br />

für die sie sich engagiert hatten, und weil sie <strong>de</strong>m mutigen Anonymus, <strong>de</strong>rs<br />

für sie tat, gedankt und nie erklärt hatten, daß auch dieser Dank von einem<br />

Anonymus gefälscht sei. Erst als ich diesen Rattenkönig von Ethos und, Zudringlichkeit<br />

absetzte, parodistisch und doch zu gutem Zweck fortsetzte, erklärte<br />

<strong>de</strong>r Herr Sonnenschein, daß er von nichts gewußt habe, aber mit allem<br />

65


einverstan<strong>de</strong>n sei, nur nicht mit <strong>de</strong>r richtigen Verwendung seines Namens —<br />

von welcher Erklärung <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong> Gebrauch gemacht ward. An weiteres<br />

Geschäft mit einer »Fälschung«, die doch als solche von mir selbst enthüllt<br />

wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ren ganzer Sinn darin lag, daß sie eine war, und <strong>de</strong>ren Urheber<br />

es gar nicht erwarten konnte, sich zu ihr zu bekennen, ist also riskant; —<br />

nicht zu machen. Denn die »weißgardistische Gerechtigkeit«, die ich zu bieten<br />

habe, besteht nicht im Aufhängen, son<strong>de</strong>rn im Abdrucken. Ich »weiß«<br />

nicht, was Herr Sonnenschein vor, nach und im Krieg alles war, aber ich erfahre<br />

es jetzt, wiewohl ich mir <strong>de</strong>n Kampf eines Infanteristen gegen <strong>de</strong>n<br />

Mordstaat zumal in <strong>de</strong>r Kaserne, nicht vorstellen kann und im Gefängnis für<br />

aussichtslos halte. Eher hätte Herr Sonnenschein schon in <strong>de</strong>r Konsumanstalt,<br />

in <strong>de</strong>r er auch längere Zeit gedient hat, Gelegenheit gehabt, ihn aufzunehmen.<br />

Was immer er aber getan haben mag, um die Kriegsdienstleistung zu sabotieren,<br />

so halte ich es zwar nicht für ein heroisches, aber für ein nützliches<br />

Mittel, die allgemeinen Kriegslei<strong>de</strong>n abzukürzen, und ich habe Herrn Sonnenschein<br />

auch nicht um seiner Haltung im Krieg willen geta<strong>de</strong>lt. Er ist wohl eines<br />

<strong>de</strong>r weniger begabten Revolutionstinterl, aber ein Kriegstinterl war er<br />

nicht und aus <strong>de</strong>r Reihe jener Burschen, die es durch die lyrische Empfehlung<br />

eines Stahlbads erreicht haben, wie<strong>de</strong>r einmal trockenen Fußes durch das<br />

rote Meer zu kommen, habe ich ihn ausgenommen. Es hat ihm sogar vor Europa<br />

gegraust, fast so sehr wie uns vor <strong>de</strong>m Gedicht, das aus dieser Stimmung<br />

entstan<strong>de</strong>n ist, und das ich gleichfalls zitiert habe, weil es zwar nicht<br />

<strong>de</strong>fätistisch genug war, um <strong>de</strong>r Kriegszensur zum Opfer zu fallen, aber doch<br />

nicht patriotisch genug, um ihn <strong>de</strong>m Kreise um Franz Werfel usw. auch im<br />

Kriegspressequartier nahestehen zu lassen, und er hat sich wohl auch nicht<br />

wie jener Rotgardist Blei dort um die Aufnahme beworben. Zu weiteren Konzessionen<br />

bin ich nicht zu haben, basta. Wenn er darauf stolz ist, daß er ein<br />

politisch verdächtiger Infanterist war, so kann er von Glück sagen, daß er <strong>de</strong>n<br />

Kampf gegen <strong>de</strong>n Mordstaat und seine blutigen Helfer nur in <strong>de</strong>r Kaserne und<br />

nicht auch an <strong>de</strong>r Front geführt hat, wohin doch die Menschen wegen politischer<br />

Verdächtigkeit gesteckt wur<strong>de</strong>n und wo viele, die <strong>de</strong>r offenen Auflehnung<br />

gegen die Militärgewalt in <strong>de</strong>r Kaserne, auf <strong>de</strong>r Straße und im Gefängnis<br />

keineswegs überwiesen waren, verschwun<strong>de</strong>n sind, ohne später in einem<br />

Wiener Lebensmittelmagazin aufzutauchen. Wenn er jedoch stolz darauf ist,<br />

vor <strong>de</strong>m Krieg Anarchist gewesen zu sein, so sollen es auch die Anarchisten<br />

sein, weil er es nicht mehr ist, während wie<strong>de</strong>r die Kommunisten, zu <strong>de</strong>nen er<br />

sich nach <strong>de</strong>m Krieg mit Stolz zählt, dazu weiß Gott nicht <strong>de</strong>n geringsten<br />

Grund haben. Während aber Sonnenschein <strong>de</strong>n Beweis für seine Gesinnung<br />

durch <strong>de</strong>ren offenen Wechsel erbringen kann, hat sich bei mir alles heimlich<br />

abgespielt.<br />

Dieser Ichweißetwas ist sich seiner Mitschuld am Kriege in <strong>de</strong>m<br />

ihm entsprechen<strong>de</strong>n Wirkungskreis bewußt. Doch er schweigt<br />

darüber, daß er in <strong>de</strong>r Zeit vor Kriegsausbruch tätig war als ein<br />

Lobpreiser und ostentativer Verherrlicher <strong>de</strong>s Militarismus, <strong>de</strong>s<br />

A<strong>de</strong>ls, <strong>de</strong>r Autokratie.<br />

Ich war vor <strong>de</strong>m Krieg ein ostentativer Verherrlicher <strong>de</strong>s Militarismus,<br />

<strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls, <strong>de</strong>r Autokratie. Nach <strong>de</strong>m Krieg gebär<strong>de</strong> ich mich als Revolutionär.<br />

Was habe ich nur im Krieg gemacht? Da bin ich doch offenbar mit meiner Verherrlichung<br />

<strong>de</strong>s Militarismus endlich auf meine Kosten gekommen? Das war<br />

doch die gefun<strong>de</strong>ne Gelegenheit, <strong>de</strong>n Militarismus zu verherrlichen? Das war<br />

doch die Konjunktur, in <strong>de</strong>ren Benutzung ich mich wohl von jenen Schriftstel-<br />

66


lern nicht habe beschämen lassen, die <strong>de</strong>n Militarismus gehaßt hatten und<br />

nun Kriegsgedichte schrieben? Ich hatte es doch leichter, bei mir wär's kein<br />

Umschwung gewesen. Was habe ich also im Krieg gemacht. Belobungsanträge?<br />

Patriotische Aufrufe für Görz? Sonette an die dicke Berta? Terzinen auf<br />

Tiroler Gurgelbisse? Sinnsprüche über die Kriegsanleihe? Re<strong>de</strong>n über Hin<strong>de</strong>nburg?<br />

Photographien von Conrad?<br />

Im Krieg hat Kraus durch mancherlei rücken<strong>de</strong>cken<strong>de</strong> Beziehungen<br />

zu prononzierten Vertretern <strong>de</strong>r Macht wie auch durch die<br />

Kunst seiner geschickt lavieren<strong>de</strong>n Gesinnung die Gefahr von seiner<br />

Person abzuleiten gewußt, irgendwie für seinen Hintertürlpazifismus<br />

einstehen zu müssen. Ich stand, mit Arbeitern und Soldaten,<br />

von Bajonetten umgeben, er saß, seinen Lobkowitzen ergeben,<br />

unter Aristokraten, Lakaien und Machthabern.<br />

Wie, ich war also in Gefahr? Sollte als ostentativer Verherrlicher <strong>de</strong>s Militarismus,<br />

<strong>de</strong>s A<strong>de</strong>ls, <strong>de</strong>r Autokratie eingezogen wer<strong>de</strong>n? Nicht doch. Ich umschmeichelte<br />

<strong>de</strong>n Militarismus vor <strong>de</strong>m Krieg, schwenkte — ganz wie die an<strong>de</strong>rn,<br />

die ihn verabscheut hatten — nach <strong>de</strong>r Kriegserklärung prompt um, zu<br />

irgen<strong>de</strong>inem dunklen Zweck, <strong>de</strong>r mir noch nicht nachgewiesen ist, und nun,<br />

im Krieg, um die Gefahr von meiner Person abzuleiten, nützte ich die Beziehungen<br />

zu prononzierten Vertretern <strong>de</strong>r Macht aus, die mir <strong>de</strong>n Rücken<br />

<strong>de</strong>ckten. Den Militärs, die freilich die mächtigsten waren, hatte ich abgesagt.<br />

Aber <strong>de</strong>r A<strong>de</strong>l war mir noch geblieben. Überdies lavierte ich auch geschickt<br />

mit meiner Gesinnung, in<strong>de</strong>m — was unschwer nachzuweisen ist — auf je<strong>de</strong>n<br />

pazifistischen Aufsatz, <strong>de</strong>r mir schon <strong>de</strong>n Kragen zu brechen drohte, fix ein<br />

kriegerischer Aufsatz in <strong>de</strong>r Fackel folgte, <strong>de</strong>r dann, nebst <strong>de</strong>r Protektion<br />

durch einen Machthaber bei <strong>de</strong>n Machthabern, alles glücklich ins Reine<br />

brachte. Sonnenschein stand von Bajonetten umgeben; ich saß in<strong>de</strong>ssen —<br />

mit Eisner von Eisenhof und Dobner von Dobenau — unter Aristokraten, Lakaien<br />

und Machthabern. Nur zu einer Zeit, wo Sonnenschein bereits in <strong>de</strong>r<br />

Konsumanstalt saß, stand ich vor einer Anklage wegen Verbrechens gegen die<br />

Kriegsmacht, die das Armeeoberkommando betrieb. Längst war ich als das<br />

»Haupt <strong>de</strong>s Defätismus in Österreich« angeschrieben, aber dank meiner geschickt<br />

lavieren<strong>de</strong>n Gesinnung hatte man mir nichts beweisen können; <strong>de</strong>nn<br />

öffentlich sprach ich wohl das Äußerste gegen <strong>de</strong>n kriegführen<strong>de</strong>n Staat, aber<br />

heimlich wagte ich mich wie<strong>de</strong>r nicht hervor. Ein Duckmäuser. Als es zu En<strong>de</strong><br />

ging, schien's Ernst zu wer<strong>de</strong>n. Da rettete mich <strong>de</strong>r böhmische A<strong>de</strong>l, zu jener<br />

Zeit, knapp vor <strong>de</strong>m böhmischen Abfall, ein prononzierter Vertreter <strong>de</strong>r<br />

Macht. So erklärt Sich alles. — Nur nicht, wie ich geistig so leben konnte, daß<br />

für Schwachsinnige doch etwas wie ein Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>r Meinungen in <strong>de</strong>r<br />

Hand bleibt, die sie, von meiner Konsequenz gegen <strong>de</strong>n Krieg befangen, aus<br />

<strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>nsheften und <strong>de</strong>n Kriegsheften <strong>de</strong>r Fackel einzelweis kapieren.<br />

Aber <strong>de</strong>n muß ich bestehen lassen. Denn wenn ich mich auch von je<strong>de</strong>m Ungefähr,<br />

von je<strong>de</strong>m Nichts, von je<strong>de</strong>m Zeitungsblatt zur Sprache bringen lasse,<br />

so wird man doch nicht im Ernst glauben, daß ich mich von solchen Vorwän<strong>de</strong>n<br />

zur Re<strong>de</strong> stellen ließe über Dinge, die meine »Gesinnung« betreffen; daß<br />

ich Bekenntnisse ablegen wer<strong>de</strong>, warum ich die Welt einmal vom Aufgang und<br />

einmal vom Untergang betrachtet habe und warum es zwischen <strong>de</strong>n Sprüchen<br />

Wi<strong>de</strong>rsprüche gibt. Und daß ich geneigt wäre, je<strong>de</strong>n Tropf separat über die<br />

Eselsbrücke zwischen meinen Standpunkten zu geleiten. Nur zum Spaß, wenn<br />

ich ihn mittenwegs sich selbst überlassen kann, will ichs tun; <strong>de</strong>nn unten an-<br />

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gelangt, mag er empfin<strong>de</strong>n, daß das Leben in <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rung schmerzloser ist,<br />

wenn man nicht herunterfiel, son<strong>de</strong>rn gar nicht hinaufgestiegen war. Wie's<br />

immer in mein Luftschloß hineinziehen mag, es kommt ja doch nur drauf an,<br />

daß ichs aushalte, und solange ich selbst damit beschäftigt bin, die Unvollkommenheit<br />

meiner Schöpfung zu bereuen — bei Nacht betreu ich sie, bei<br />

Tag bereu' ich sie —, muß es kein an<strong>de</strong>rer für mich tun. Bliebe nur übrig, daß<br />

er meine »Motive« auf<strong>de</strong>ckt. Gegen <strong>de</strong>n Krieg zu sein? Welches an<strong>de</strong>re wäre<br />

da verborgen als die jähe Erkenntnis, daß nun — trotz <strong>de</strong>m scheinbaren Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

— mein To<strong>de</strong>sschrei über die Menschheit bestätigt, alle Zeitangst<br />

erfüllt sei? Man betreibt im Krieg das Geschäft <strong>de</strong>s Kriegs, und das Motiv<br />

liegt zutage. Wozu aber wird einer, <strong>de</strong>r's bis dahin nicht zu sein schien, am<br />

Tag vor <strong>de</strong>m Ultimatum ein Pazifist? Hat er das nötig, wenn er's nicht muß?<br />

Ich habe mich, hören wir, als Kriegsgegner gebär<strong>de</strong>t, um insgeheim von <strong>de</strong>r<br />

Militärgewalt Erlaubnisse anzunehmen, die ich freilich durch eine Fortsetzung<br />

meiner autokratischen Ten<strong>de</strong>nz noch leichter erlangt hätte. So habe ich<br />

wohl <strong>de</strong>n Pazifismus gebraucht, um die Konjunktur <strong>de</strong>r Freiheit schon fünf<br />

Jahre vor <strong>de</strong>r Revolution zu benützen; um vor <strong>de</strong>n Kommunisten, die inzwischen<br />

für <strong>de</strong>n Konsum <strong>de</strong>r Heeresmacht an Lorbeern o<strong>de</strong>r Lebensmitteln sorgen<br />

mußten, groß dazustehn. Nun, sie lassen sich nichts mehr vormachen:<br />

Das gespielte Pathos einer Kriegsgegnerschaft hat an <strong>de</strong>n Geschehnissen<br />

ebensowenig geän<strong>de</strong>rt wie sein an<strong>de</strong>res buntes Taschenspiel,<br />

das er bei seinem Nächsten am Schottenring verurteilt.<br />

Daß diesem Künstler während <strong>de</strong>s Krieges <strong>de</strong>r Paß nach Italien<br />

und in die Schweiz ohne Kontumaz wie einem Vertrauten <strong>de</strong>r<br />

Regierung gewährt wur<strong>de</strong> — an dieser k. k. Tatsache kann selbst<br />

seine Lyrik, die er <strong>de</strong>r Wohltätigkeit widmet, nichts än<strong>de</strong>rn,<br />

Während <strong>de</strong>r wahre Freiheitsheld durch Sabotage in Kasernen und Konsumanstalten<br />

<strong>de</strong>n Zusammenbruch <strong>de</strong>s Mordstaates herbeiführte, hat mein<br />

gespieltes Pathos einer Kriegsgegnerschaft an <strong>de</strong>n Geschehnissen nichts geän<strong>de</strong>rt,<br />

so wenig wie meine Lyrik an, <strong>de</strong>r Tatsache etwas än<strong>de</strong>rn kann, daß<br />

ich einen kontumazfreien Paß in die Schweiz bekam. Es ist aber ein Glück,<br />

daß meine Lyrik es auch nicht verhin<strong>de</strong>rt hat. Denn schließlich hätte man einem,<br />

<strong>de</strong>m die Kriegszensur soeben das »Gebet« verboten hatte, auch <strong>de</strong>n Paß<br />

in die Schweiz verweigern können. Wenn ich ihn trotz<strong>de</strong>m, und zwar kontumazfrei<br />

»wie ein Vertrauter <strong>de</strong>r Regierung«, bekam, so muß man das offenbar<br />

so verstehen, daß mich die Regierung entwe<strong>de</strong>r zur Propaganda o<strong>de</strong>r zur<br />

Überwachung <strong>de</strong>r auf Propaganda in die Schweiz geschickten Dichter verwen<strong>de</strong>t<br />

hat. Es wäre doch je<strong>de</strong>nfalls auffällig, daß man einen, <strong>de</strong>r sich als Pazifist<br />

gerierte, so auffällig in die Schweiz gelassen hätte, wenn man sich seiner<br />

nicht unauffällig zu einer Mission hätte bedienen wollen, die er gera<strong>de</strong><br />

wegen seines gespielten Pathos <strong>de</strong>r Kriegsgegnerschaft unauffällig bewältigen<br />

konnte. Dieser Plan <strong>de</strong>r Regierung, <strong>de</strong>r so fein eingefä<strong>de</strong>lt war daß ich<br />

gar nichts merkte und erst nach <strong>de</strong>r Rückkehr aus <strong>de</strong>r Schweiz und zwar jetzt<br />

durch Sonnenschein davon erfahren habe, zeigt, bis zu welchem Grad <strong>de</strong>s<br />

Raffinements das österreichische Spionagesystem entwickelt war. Nicht direkt<br />

als ein »Vertrauter« (»das ist eben die List von <strong>de</strong>nen Spionen!« sagte<br />

<strong>de</strong>r Wiener an <strong>de</strong>r Sirk—Ecke), aber doch wie ein Vertrauter ward ich hinausgelassen,<br />

und als ich zurückkam konnte ich, als ob gar nichts geschehen<br />

wäre, meine frie<strong>de</strong>nshetzerische Tätigkeit wie<strong>de</strong>r aufnehmen. In <strong>de</strong>r Schweiz<br />

selbst han<strong>de</strong>lte ich ahnungslos im Sinne meiner Auftraggeber, in<strong>de</strong>m ich<br />

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selbst kein Wort gegen Österreich sprach, während die für Propaganda Bezahlten<br />

sich an Stimmungsmacherei gegen die Firma nicht genugtun konnten.<br />

So ward zwar diese getäuscht, vor allem aber ich. Ich lebte scheinbar als Privatmann<br />

draußen, arbeitete an <strong>de</strong>n »Letzten Tagen <strong>de</strong>r Menschheit« und verharrte<br />

in <strong>de</strong>m Glauben, daß man mir die leichte Ausreise bloß in <strong>de</strong>m berechtigten<br />

Vertrauen bewilligt hatte, daß ich kein militärisches Geheimnis verraten<br />

wer<strong>de</strong> und nicht einmal jenes, daß <strong>de</strong>r Erzherzog Friedrich ein Tepp sei,<br />

was übrigens auch im neutralen Ausland längst kein militärisches Geheimnis<br />

mehr war. Übrigens mache ich heute gar kein Hehl daraus, daß ich, um in die<br />

Schweiz zu gelangen, selbst die Protektion <strong>de</strong>s Erzherzogs Friedrich nicht<br />

verschmäht hätte, es wäre <strong>de</strong>nn, daß ich sie nur um <strong>de</strong>n Preis erlangt hätte,<br />

ihn für ein Genie zu halten o<strong>de</strong>r sonst einem prononzierten Vertreter <strong>de</strong>r<br />

Macht etwas zuliebe zu tun, um Haaresbreite von <strong>de</strong>r Überzeugung abzuweichen,<br />

daß das Vaterland, das mich entließ, von Dummköpfen und Kanaillen regiert<br />

sei, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n publizistischen Ausdruck dieser Überzeugung, soweit ihn<br />

die Zensur zuließ, auch nur um einen Schattenstrich zu dämpfen. Umgekehrt<br />

wäre ich zum Verzicht auf je<strong>de</strong> Reise o<strong>de</strong>r sonstige Wohltat, die die Kriegsgewalt<br />

vergeben konnte, zu je<strong>de</strong>m Opfer an persönlicher Freiheit, aber auch zu<br />

je<strong>de</strong>m Zoll <strong>de</strong>r Überredung, ja zu je<strong>de</strong>m Scherflein heimischer Gemütlichkeit<br />

bereit gewesen, wenn ich mir dadurch von <strong>de</strong>r Macht nur die Möglichkeit erkauft<br />

hätte, sie umso offener zu bekämpfen, ja ich hätte kein österreichisches<br />

Mittel unversucht gelassen, um <strong>de</strong>m österreichischen Zweck <strong>de</strong>n Garaus zu<br />

machen. Denn bis zu <strong>de</strong>r Enthüllung meiner streberischen Beweggrün<strong>de</strong> habe<br />

ich in <strong>de</strong>r Einbildung gelebt, daß ich die ganze Kriegszeit hindurch keine an<strong>de</strong>re<br />

Sehnsucht hatte, als mein Wort gegen <strong>de</strong>n Krieg durchzusetzen, und daß<br />

nur die Gewalt, aber keine Lockung imstan<strong>de</strong> gewesen wäre, es aufzuhalten.<br />

Zur letzten Ehre einer hinreichend befleckten Vergangenheit muß gesagt<br />

sein, daß es wohl nicht an <strong>de</strong>m Vorsatz zur Gewalt gefehlt hat, aber keinem<br />

prononzierten Vertreter <strong>de</strong>r Macht je in <strong>de</strong>n Sinn gekommen ist, es mit <strong>de</strong>r<br />

Güte zu versuchen und etwa einen Austausch behördlicher und publizistischer<br />

Erleichterung vorzuschlagen. Daß ich über die Grenze gelassen wur<strong>de</strong>, mag<br />

— als ein Beweis jener blutigen Gemütlichkeit, die für dasselbe Delikt heute<br />

<strong>de</strong>n Kerker und morgen <strong>de</strong>n Paß hatte — eine k. k. Tatsache, mit kleinen Anfangsbuchstaben,<br />

sein: wie aber sollte sie mich kompromittieren? Wer Lust<br />

hat, mag die Schlamperei noch post festum ta<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r beklagen, wiewohl<br />

doch nur die Auffassung Anstoß nehmen könnte, daß ein Paß <strong>de</strong>r Lohn für<br />

Wohlverhalten im Vaterland, und nicht die gescheitere, daß die Verweigerung<br />

ein Schutz gegen Übelverhalten im Ausland sei. Aber da konnte mich das<br />

Kriegsministerium für <strong>de</strong>n verläßlichsten Bürger <strong>de</strong>r Zentralstaaten halten;<br />

was immer ich gegen die bei<strong>de</strong>n Vaterlän<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Herzen hatte — um das<br />

zu verraten, blieb ich im Lan<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r reiste nach Berlin! Eine K. K. Tatsache —<br />

die mich belastet — wäre <strong>de</strong>r Schweizer Paß nur, wenn ich mich für ihn revanchiert<br />

hätte. Wenn das publizistische Betragen unmittelbar vor o<strong>de</strong>r nach<br />

seiner Erlangung <strong>de</strong>n Schluß zuließe, daß die Bewegungsfreiheit auf Kosten<br />

<strong>de</strong>r Handlungsfreiheit gewährt war. Man wird dieses Betragen im Gegenteil<br />

als krassesten Undank bezeichnen müssen, <strong>de</strong>r freilich <strong>de</strong>n Empfänger weniger<br />

als die Dankbarkeit entehrt. Daß aber ein sittliches Be<strong>de</strong>nken gegen die<br />

bloße Annahme eines Reisepasses stün<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ssen Verweigerung doch ein Unrecht<br />

ist — etwa wie gegen die bloße Annahme einer Bankannonce, die in <strong>de</strong>r<br />

Absicht auf Beeinflussung dargeboten wird —, könnte selbst einer, <strong>de</strong>r im<br />

Lan<strong>de</strong> blieb um sich redlich zu nähren, nicht vorbringen, wenn er nicht gera<strong>de</strong>zu<br />

in Hallstatt blieb. Somit ist auch hier mit Enthüllungen kein Geschäft zu<br />

69


machen, da ich doch wie<strong>de</strong>r einmal bereit bin, die Tasche um und umzuwen<strong>de</strong>n,<br />

ehe die frem<strong>de</strong> Hand hineinfährt. Ich wür<strong>de</strong> nun gern noch mit <strong>de</strong>m »an<strong>de</strong>rn<br />

bunten Taschenspiel, das ich bei meinem Nächsten am Schottenring verurteile«,<br />

entgegenkommen, wenn ich nur wüßte, wie es gemeint ist. Am<br />

Schottenring befin<strong>de</strong>t sich das Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Polizeidirektion, in <strong>de</strong>r ich schon<br />

öfter zu tun hatte, nämlich wegen <strong>de</strong>r Pässe, und die im Krieg die einzige österreichische<br />

Behör<strong>de</strong> war, die die staatsbürgerliche Sicherheit gegen <strong>de</strong>n<br />

frechen Anspruch <strong>de</strong>r Militärs zu schützen gewagt hat. Außer<strong>de</strong>m befin<strong>de</strong>t<br />

sich dort die Börse. Wenn Herr Sonnenschein behaupten will, daß ich auf <strong>de</strong>r<br />

Börse verkehre, so weiß er, daß er lügt, da er mich nie dort getroffen hat.<br />

Wenn er behaupten will — und im Getto soll wirklich und wahrhaftig so ein<br />

Gerücht umgehn —, daß ich irgendwelche Beziehung zu Kursen, Aktien o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>rgleichen Scheuel habe o<strong>de</strong>r je gehabt habe, so erfahre er, daß er lügt. Und<br />

kalkuliere, um wie viel weniger ich mit Börsenspiel im sichersten Falle verdient<br />

hätte, als ich durch meine öffentliche Tätigkeit, in Schrift und Wort, zu<br />

verdienen schon verzichtet habe. Weil ich, wie ein an<strong>de</strong>res am Platz akkreditiertes<br />

Gerücht wissen will, »es nicht nötig habe«? Nein, weil ich nichts nötig<br />

habe. Weil ich zum Leben wenig und zur Arbeit nur Tabak brauche. Über <strong>de</strong>ssen<br />

Knappheit — vor und seit <strong>de</strong>r Rationierung — ich mich allerdings zu jenem<br />

selbstsüchtigen Zweck hinwegsetze, <strong>de</strong>m ich ein wüstes Nachtleben am<br />

Schreibtisch widme. Ich <strong>de</strong>cke meinen Bedarf im freien Han<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>n ich, solange<br />

er nicht mit Ethos und Weltanschauung verquickt ist, also mir in <strong>de</strong>r Figur<br />

eines Kaffeehauskellners und nicht etwa eines Kaffeehausgastes entgegentritt,<br />

für ein passables, wenngleich nicht erfreuliches Werkzeug meines<br />

Bedürfnisses ansehe, ohne mich dadurch in <strong>de</strong>r Kritik jener Ordnung, die es<br />

ermöglicht, für befangen zu halten. Während <strong>de</strong>s Kriegs — ich will, zögernd<br />

aber doch, unter Schluchzen, alles sagen, was ich weiß, was man auf mich<br />

weiß — habe ich eine Zeitlang von <strong>de</strong>r Gefälligkeit eines Militärbeamten —<br />

<strong>de</strong>r, Nichtraucher, aber glühen<strong>de</strong>r Verehrer, mir etliches von seinem Material,<br />

von mir bevorzugte billige Zigaretten und teurere Zigarren, abtrat — Gebrauch<br />

gemacht, zwar bisher von mir nicht publizierten, aber auch nicht verheimlichten<br />

Gebrauch, unter <strong>de</strong>r Bedingung, daß es außer <strong>de</strong>m Verkäufer niemand<br />

an<strong>de</strong>rm entzogen wäre, wenn es aber irgendwie jener Fülle entstammte,<br />

die die Offiziersmessen <strong>de</strong>m Staatsbürger gestohlen haben, womöglich ein<br />

General verkürzt wür<strong>de</strong>. Ich bin mir nun wohl bewußt, daß dieses ehrlich erstan<strong>de</strong>ne<br />

Rauchmaterial, das ich mir nur größer gewünscht hätte, gegen mich<br />

vorliegt, ja <strong>de</strong>n Treffer unter jenem Material bil<strong>de</strong>t, das gegen mich gefaßt<br />

wird — entränn' er jetzt kraftlos seinen Hän<strong>de</strong>n, er hätte keinen zweiten zu<br />

versen<strong>de</strong>n —, und daß hier eine bei Gott erweisliche Wahrheit nach einem<br />

diabolischen Ausdruck ringt, etwa so: (»Fliegen<strong>de</strong> Blätter« unter <strong>de</strong>m Titel<br />

»Gut gegeben« o<strong>de</strong>r »Anspielung«:)<br />

Polemiker über einen Sittenrichter, <strong>de</strong>n er <strong>de</strong>r Korruption beschuldigen<br />

will, weil er mehr gebraucht hat, als er von staatswegen<br />

sollte:<br />

»Braucht Herr K. für seine Zigarette vielleicht ein Feuer? (He?)«<br />

Die ohne Zweifel malitiöse Frage, die für schlichtere Leser noch durch<br />

<strong>de</strong>n eingeklammerten Zusatz verstärkt wer<strong>de</strong>n kann und die mich träfe wie<br />

nur jenen K. H. Wolf die leiseste Anspielung auf Zucker, beantworte ich zuvorkommend:<br />

Danke, ich habe Feuer und bin bereit, es zu geben. (Noch besser<br />

gegeben.) Ausnahmsweise, weil ich sehe, daß es an<strong>de</strong>rn fehlt! Und so geht<br />

70


das Gravamen, das mein Gewissen beschwerte, nicht nur in <strong>de</strong>n Rauch auf,<br />

<strong>de</strong>r meine Arbeit gegen <strong>de</strong>n Krieg geför<strong>de</strong>rt hat, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>n Schall<br />

einer Heiterkeit, die <strong>de</strong>m trostlosen Versuch antwortet, sich nicht mit <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rsprüchen<br />

in meiner öffentlichen Tätigkeit zu beschei<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sie auch<br />

zwischen ihr und einer Lebensführung zu suchen, von <strong>de</strong>r füglich kein Informierter<br />

behaupten wird, daß sie eine ist. Aber nur in einer Sphäre, die sich<br />

über je<strong>de</strong>n ihrer Mängel durch <strong>de</strong>n an Respekt hinweghilft, ist ein solcher<br />

Versuch überhaupt möglich; und nur in einer Stadt, in <strong>de</strong>r alles Geschehnis<br />

als ein Produkt <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>nsart erscheint und sich ein Lauffeuer wie ein Gerücht<br />

verbreiten kann, wird das Problem einer unfaßbaren Einheit von Werk<br />

und Mensch so gelöst, daß man es auf die Formel <strong>de</strong>r eigenen Zwiespältigkeit<br />

bringt. Nur hier kann die überzeugte Nihilität sich für berufen halten, das Unabän<strong>de</strong>rliche<br />

einer Wesensart, die für einen Buchstaben ihres Ausdrucks allen<br />

Vorteil <strong>de</strong>s äußern Lebens hingäbe, von <strong>de</strong>r Charakterseite her anzuzweifeln,<br />

und eine Durchschauermiene aufsetzen, wenn das vorweg Absur<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Rätsels<br />

Lösung bringen soll. Nur in diesem Klima kann sich zwanzig Jahre die<br />

Vermutung erhalten, daß ein Atem, <strong>de</strong>r solche Zeitspanne durchhält, von <strong>de</strong>m<br />

Motiv eines unerreichten Redaktionspostens angefacht sei, und nur hier läßt<br />

das Werk, das er belebt hat, noch einen letzten Verdacht auf Börsenspiel offen.<br />

Denn hier, wo die Toilettefrau und das Gar<strong>de</strong>robepersonal eingeweiht<br />

sind, weil sie nicht nur mitsingen, son<strong>de</strong>rn auch mitwissen, hier fin<strong>de</strong>t, was<br />

an<strong>de</strong>rswo kein Tollhäusler zu erfin<strong>de</strong>n wagte, nicht allein Hörer, son<strong>de</strong>rn<br />

auch Leser; hier ist die Wahrheit, die einer sagt, erbärmlicher als wo an<strong>de</strong>rs<br />

die Lüge, hier schreiben die Ohren— und Telephonbläser für die Zeitung, die<br />

<strong>de</strong>m Bedürfnis dient, <strong>de</strong>n Klatsch nicht nur zu verbreiten, son<strong>de</strong>rn auch zu bil<strong>de</strong>n,<br />

hier sagen es die »Dichter von Mund zu Mund« <strong>de</strong>m Neuen Wiener Journal.<br />

Doch Gerüchte, bei <strong>de</strong>ren Entstehung das Opfer zugegen ist, sind ungefährlich;<br />

vor ihnen hüte sich <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sie erschafft:<br />

Kraus, <strong>de</strong>r meine Dichtung: »Die Legen<strong>de</strong> vom weltverkommenen<br />

Sonka« mit Verleumdungen umspinnt, kann mir nicht verzeihen,<br />

daß ein Kritiker, <strong>de</strong>r sich mir später als Freund vorstellte und <strong>de</strong>m<br />

ich Vertrauen schenkte, einen begeisterten Aufsatz über mich<br />

schrieb. Lei<strong>de</strong>r verriet mich <strong>de</strong>r Mensch an <strong>de</strong>n Kritiker, <strong>de</strong>r als<br />

Sekretär <strong>de</strong>s Kraus und als bezahlter Lektor <strong>de</strong>s »Verlages <strong>de</strong>r<br />

Schriften von Karl Kraus« einen ganzen Waschzettelroman über<br />

einen seiner Brotgeber geschrieben. Die ironische Gegenüberstellung<br />

<strong>de</strong>r Äußerungen dieses Satirikers und jenes Kritikers über<br />

mich auf <strong>de</strong>r Umschlagseite zweier Hefte <strong>de</strong>r Zeitschrift <strong>de</strong>s Genossenschaftsverlags<br />

»Der Neue Daimon« riefen bei <strong>de</strong>m Hel<strong>de</strong>n<br />

dieses Kritikerromans, Kraus, groteske Ausfälle hervor.<br />

Unter <strong>de</strong>n Legen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s weltverkommenen Sonka ist die über <strong>de</strong>n Ursprung<br />

meiner Feindschaft gegen ihn die tiefste. Der Dichter hatte einem Kritiker<br />

sein Vertrauen geschenkt, das er, <strong>de</strong>r Dichter, enttäuscht hat. Nein, verkehrt.<br />

Der Mensch, das heißt <strong>de</strong>r Mensch im Kritiker, also <strong>de</strong>r schlechte<br />

Mensch im guten Kritiker, »verriet ihn an <strong>de</strong>n Kritiker«, das heißt an meinen<br />

Kritiker, <strong>de</strong>r ein noch besserer Kritiker war. Das ist kompliziert genug, und<br />

überflüssig, <strong>de</strong>n moralischen Weichselzopf noch mit Dreck zu verzieren.<br />

Warum war jener mir ein besserer Kritiker als ihm? Warum »verriet« er ihn?<br />

Weil er mein »Sekretär« ist und <strong>de</strong>r bezahlte Lektor <strong>de</strong>s Verlags meiner<br />

Schriften. Er schrieb mithin, »als solcher« — sei es auf meine Bestellung, sei<br />

71


es aus Eifer — »einen ganzen Waschzettelroman über einen seiner Brotgeber«.<br />

Aber so weltverkommen kann <strong>de</strong>r Sonka gar nicht sein, daß er nicht<br />

spürte, welche Schlechtigkeit er da begeht; welche tiefbourgeoise Schlechtigkeit<br />

aus jener allerbourgeoisesten Händleransicht, die die Kette zwischen<br />

Wert und Nutzen bereit hat. Daß er nicht im Innersten wüßte, ein Haar auf<br />

<strong>de</strong>m Haupte dieses bezahlten Lektors sei echter, freier, reiner, sittlicher, geistiger<br />

als die ganze Seele <strong>de</strong>s Herrn Hugo Sonnenschein mit Haut und Haar.<br />

Daß er glaubte, jener könnte eine halbe Stun<strong>de</strong> lang »Sekretär« o<strong>de</strong>r Lektor<br />

sein, wenn ihn nicht bei solcher Tätigkeit die gleiche Liebe zu <strong>de</strong>m Werk erhielte,<br />

die ihn befähigt hat, darüber jenen ganzen Waschzettelroman zu<br />

schreiben, von <strong>de</strong>m ich vor Erscheinen keine Silbe gekannt, an <strong>de</strong>ssen Entstehen<br />

aber Herr Sonnenschein noch begeisterten Anteil genommen hat. Dagegen<br />

kennt <strong>de</strong>ssen Autor mein Werk, ehe es erscheint; ist wie kein zweiter vom<br />

Herzen aus befähigt, sein Wachstum zu verfolgen; und hat sich zu einer Arbeit,<br />

die ohne Liebe so wenig <strong>de</strong>nkbar wäre wie diese ohne jene, bereit gefun<strong>de</strong>n,<br />

als sein »Waschzettelroman« — welch ein Tinterl spuckt da in eine verschlossene<br />

Tiefe! — längst begonnen war, aber nicht besser als im Erlebnis<br />

meiner Produktion reifen konnte. Und dieser Sonnenschein, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n himmelklaren<br />

Ursprung solchen Plans gekannt hat und zu achten vorgab wie nur einer,<br />

stellt <strong>de</strong>ssen Entwicklung, stellt das Verhältnis zwischen mir und <strong>de</strong>m,<br />

<strong>de</strong>ssen Hingabe zur Teilnahme wird, so dar, als ob seine »Anstellung« ihm die<br />

kritische Leistung zur Pflicht o<strong>de</strong>r Fleißaufgabe machte und <strong>de</strong>r geistigste<br />

Dank die Gefälligkeit für einen »Brotgeber« wäre. Als ob die — freilich singuläre<br />

— Nähe zu mir, die doch eine Bedingung <strong>de</strong>s Entstehens war, das Ergebnis<br />

entehrte. Als wäre, wenn schon ich mir Anerkennung kaufen müßte und<br />

könnte, jener fähig sie zu verkaufen. Und als ob <strong>de</strong>r Autor einer Monographie<br />

über mich als unabhängiger Denker beglaubigter wäre, wenn er etwa im freien<br />

Han<strong>de</strong>l seinen Unterhalt verdiente, als da er vom Verlag <strong>de</strong>r Schriften von<br />

Karl Kraus für Korrekturhilfe entlohnt wird. Und als ließe die Offenkundigkeit<br />

dieser Beziehung noch eine »Enthüllung« zu, weil <strong>de</strong>r Schelm von mir einmal<br />

was über die Inkompatibilität <strong>de</strong>s »Kritikers« und <strong>de</strong>s honorierten Theaterschreibers<br />

gehört hat. Und saß — freilich fern von mir — neben <strong>de</strong>m Mann<br />

und seinem Buch, das hominibus bonae voluntatis gewidmet ist. Und spricht<br />

von Vertrauen und <strong>de</strong>ssen Verrat. Wenn das Neue Wiener Journal sein Lebtag<br />

nichts weiter für die Verschandlung <strong>de</strong>r Zeitehre getan hätte, als durch die<br />

Aufnahme dieser charakteristischen Schlaglichter für Uninformierte ein an<br />

keiner Sensation beteiligtes Menschentum zu beflecken, es hätte <strong>de</strong>n Schlechtesten<br />

seiner Zeit genug getan! Welchen Gebrauch gewährt doch das Sprachinstrument,<br />

daß Individuen, die nur in einer Geheimschrift mit <strong>de</strong>m göttlichen<br />

Wesen zu verkehren vorgeben, gleich die kommunste Gelegenheit benützen<br />

können, um sich über das, was an<strong>de</strong>rn respektwürdig ist, fließend auszudrücken.<br />

Welche Möglichkeiten bietet doch dieses Literatentum, und was für<br />

eine Schweinerei kommt heraus, wenn ein Mensch das Unglück hatte, einem<br />

Literaten zu begegnen! Und wenn <strong>de</strong>r Glaube selbst, <strong>de</strong>r Glaube als solcher,<br />

<strong>de</strong>r stärkste, <strong>de</strong>r in einem schwachen Körper Raum hat, nun die Kontur <strong>de</strong>s<br />

freien Menschentums, <strong>de</strong>r kosmischen Wan<strong>de</strong>rschaft, <strong>de</strong>s Feuerkopfes erfüllt<br />

glaubte, ausgerechnet hier, und <strong>de</strong>r schöne Wahn zum kritischen Dokument<br />

wird. Wie sollte ich <strong>de</strong>n Weichselzopf, <strong>de</strong>r statt <strong>de</strong>s Freigeists eines Tags zum<br />

Vorschein kommt, noch verwickeln wollen, in<strong>de</strong>m ich »ihm nicht verzeihen<br />

kann«, daß jener geirrt hat? Ich <strong>de</strong>nke, er selbst kann's jenem nicht verzeihn,<br />

und auch ich müßte doch eher ihm verübeln, was mir ihn in Wahrheit so ehrenwert<br />

macht um seines Bedürfnisses willen nach Verklärung einer häßli-<br />

72


chen Welt, für <strong>de</strong>ren Stöße und Enttäuschung er nur ein Staunen hat. Nein,<br />

»die ironische Gegenüberstellung <strong>de</strong>r Äußerungen dieses Satirikers und jenes<br />

Kritikers« habe ich bloß als die schmarotzerhafte Verfälschung eines Fußtritts<br />

zu einer Reklame gewertet; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Satiriker hatte nie das, womit sich <strong>de</strong>r<br />

Herr Sonnenschein einen Umschlag macht, »geäußert«. Aber daß mir auch<br />

die erboste Ausspielung jener Kritik, nicht als eine gegen mich, son<strong>de</strong>rn gegen<br />

<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn gekehrte Arglist, als die Erbeutung eines Lobs, <strong>de</strong>m längst<br />

<strong>de</strong>r Atem entflohn war, verächtlich schien, will ich nicht leugnen. Und mir<br />

kommt kein Schimpf, <strong>de</strong>n ein aus <strong>de</strong>m Kosmos aufgestörter Skandalreporter<br />

mir antun will, so nah wie diese Verscheußlichung <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s einer e<strong>de</strong>lgebornen<br />

Seele, <strong>de</strong>r ich für alle Liebe, die sie mir je erwiesen hat, nur mit <strong>de</strong>r Feststellung<br />

zu danken berechtigt bin, daß mir je<strong>de</strong>r ihrer kritischen Irrtümer, ob<br />

er nun mich o<strong>de</strong>r einen Literaten beträfe, wertvoller erscheint als alle Wahrheit,<br />

die das Schrifttum dieser nichtswürdigen Epoche zu vergeben hat!<br />

Damit nun Kraus nicht auch weiterhin für tausend Verdächtigungen<br />

unbelohnt bleibe, bin ich gezwungen, diesen gewerbsmäßigen<br />

Wortegaukler, <strong>de</strong>n sophistischen Blen<strong>de</strong>r einer ungewarnten Jugend<br />

durch einfache Konstatierungen zu <strong>de</strong>maskieren.<br />

Wie? Es gibt <strong>de</strong>nnoch »Material« über mich? Freun<strong>de</strong> und Fein<strong>de</strong>, Kenner<br />

und Bekenner tragen es zusammen? Ihm, Sonka, <strong>de</strong>m Dichter von Mund<br />

zu Mund? Die sich über Mangel an Gegenliebe beschweren, wollen Ersatz<br />

durch Beweise? Und ich hatte schon geglaubt, das ganze Material gegen mich<br />

wären meine Schriften und etwa ein Keller voll Korrekturen, Zeitungsausschnitte<br />

und siebzigtausend Hysterikerbriefe, die gegen mich zeugen. Denn<br />

weil ich nie ein Leben außerhalb <strong>de</strong>s Satzbaues geführt habe, so konnte es<br />

auch nie mit <strong>de</strong>m was ich geschrieben in Wi<strong>de</strong>rspruch geraten, umso heftiger<br />

aber das Geschriebene mit sich selbst. In<strong>de</strong>m sie jedoch, mangels an<strong>de</strong>rn<br />

Zwiespalts in mir und aus <strong>de</strong>r Fülle <strong>de</strong>s eigenen, sich schließlich auf diesen<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch <strong>de</strong>r Standpunkte stürzen, übersieht die ungewarnte Jugend, die<br />

mit meinem Wort schnell fertig ist, nur eins: Da die Wandlung selbst <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r<br />

ihr nicht folgen kann, eines ungeistigen Beweggrunds zu entbehren scheint,<br />

da sie unmöglich aus <strong>de</strong>m Punkte zu erklären ist, wo eine mechanische Entschließung<br />

über Meinungen je nach Gunst und Lage verfügte, so stellen sich<br />

<strong>de</strong>m Unternehmen schwere Hin<strong>de</strong>rnisse in <strong>de</strong>n Weg. Denn die organische<br />

Entwicklung ist ihrer so bewußt wie ein Plan; eher könnte die kontrollieren<strong>de</strong><br />

Erinnerung noch diesen als jene überraschen. Doch sie, die ein weit besseres<br />

Gedächtnis hat als je<strong>de</strong>r Zeuge, fühlt sich nicht verpflichtet, über sich und<br />

ihre Stadien Rechenschaft zu geben. Ich will, was einmal gedruckt ist, aus einer<br />

weit schmerzlicheren Ursache nicht mehr sehen, als <strong>de</strong>r Kontrollor vermutet;<br />

aber wiewohl ich's nicht mehr gesehen habe, weiß ich es auswendig,<br />

habe alles lei<strong>de</strong>r gegenwärtig, was er suchen mußte, und spüre je<strong>de</strong>n falschen<br />

Beistrich, <strong>de</strong>n ich selbst gesetzt habe, je<strong>de</strong>s gefälschte Wort, das seinem<br />

Nachweis hilft. Und sollte solcher Erlebnisfähigkeit nicht die Kraft zuzutrauen<br />

sein, die Verschie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r »Ansicht« zu begrün<strong>de</strong>n? Und müßte nicht gera<strong>de</strong><br />

die Berechnung so viel Geschicklichkeit bewahren, im Fall <strong>de</strong>s Ertapptwer<strong>de</strong>ns<br />

<strong>de</strong>n Stellungswechsel auch zu begrün<strong>de</strong>n? Nein, selbst <strong>de</strong>r dümmste<br />

Aufpasser, <strong>de</strong>r die Apparatmäßigkeit einer Produktion von Ansichten voraussetzt<br />

und darum ihre Folgerichtigkeit erwartet, könnte, wenn er nicht auch<br />

von <strong>de</strong>m bösen Willen getrieben ist, jeweils <strong>de</strong>n guten zu verkennen, er, nicht<br />

73


ich, einräumen: er verstehe es zwar nicht — aber es scheine ihm hier doch<br />

eine schlechte Ansicht zu Gunsten einer bessern verlassen.<br />

Mag Kraus weiterhin die »Neue Freie Presse« unter <strong>de</strong>n geistreichen<br />

Pseudonymen »Crêpe <strong>de</strong> Chine« o<strong>de</strong>r »Ingenieur Berdach«<br />

mit seiner Mitarbeit beehren, mag Kraus, <strong>de</strong>r sich als Aftermieter<br />

Maximilian Har<strong>de</strong>ns und Moriz Benedikts einführte, seine »Sehnsucht<br />

nach aristokratischem Umgang« bei Austerlitz o<strong>de</strong>r wo immer<br />

befriedigen, mag mich seine Gefolgschaft verhöhnen, wenn<br />

ich bekenne, daß <strong>de</strong>r Stimmenimitator Kraus als schwarz—gelb—<br />

rote Nummer <strong>de</strong>s allzu geduldigen Varietés Wien Anerkennung<br />

verdient.<br />

Dies ist 'ne törichte Figur: sie fahre wohl, <strong>de</strong>nn ich will ohne Kunst zu<br />

Werke gehn. Ich hatte schon Lebenslaufburschen, die meine Stimme besser<br />

imitiert haben. Der Ingenieur Berdach ist keine unrühmliche Erinnerung; unter<br />

<strong>de</strong>m Pseudonym »Crepe <strong>de</strong> Chine« habe ich nie etwas <strong>de</strong>r Neuen Freien<br />

Presse zukommen lassen, wohl aber einer kleinen Revue, die vor einem Vierteljahrhun<strong>de</strong>rt<br />

bestan<strong>de</strong>n hat, also zu einer Zeit, wo Sonka noch Großes erwarten<br />

ließ. Die »Sehnsucht nach aristokratischem Umgang«, in Anführungszeichen<br />

gesetzt, ist die echt literatenhafte Verwertung <strong>de</strong>s Titels einer Satire,<br />

in<strong>de</strong>m sie entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren Kenntnis bei <strong>de</strong>n Lesern <strong>de</strong>s Neuen Wiener Journals<br />

voraussetzt o<strong>de</strong>r sie glauben machen will, daß ich solche Sehnsucht hatte<br />

o<strong>de</strong>r habe. Die Gelegenheit soll aber nicht versäumt sein, zu sagen, daß ich<br />

sie allerdings »bei Austerlitz befriedigen« könnte und daß nur eine Rasse, bei<br />

<strong>de</strong>r ich sie nie befriedigen konnte, hierin eine Antithese begrinsen kann. Aber<br />

um <strong>de</strong>n Begriff auch in seiner herkömmlichen Geltung zu gebrauchen und<br />

weil ich <strong>de</strong>nn die Kriegszeit hindurch »meinen Lobkowitzen ergeben, unter<br />

Aristokraten, Lakaien und Machthabern saß«, so sei einer emporstreben<strong>de</strong>n<br />

Schicht von Revolutionären noch die folgen<strong>de</strong> Enthüllung ermöglicht: Wenn<br />

einer dieser Lobkowitze, <strong>de</strong>m es übrigens trotz prononzierter Macht nicht gelungen<br />

ist, von <strong>de</strong>r Front in eine Lebensmittelanstalt einzurücken, nicht auch<br />

sonst einer wäre, <strong>de</strong>ssen Umgang <strong>de</strong>n Verzicht auf <strong>de</strong>n mit sämtlichen<br />

Schmierfinken <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Blätterwal<strong>de</strong>s lohnt, weil er geistiger, freier und<br />

sogar a<strong>de</strong>liger <strong>de</strong>nkt als ein kommunistischer Literat, so hätte er sich schon<br />

dadurch, daß ich ihm das Kriegserlebnis <strong>de</strong>s Gedichtes »Der Bauer, <strong>de</strong>r Hund<br />

und <strong>de</strong>r Soldat« verdanke, mehr um die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Menschheit verdient gemacht<br />

und mehr um die <strong>de</strong>utsche Literatur als alle jene, die uns die Freiheit<br />

ihrer Rhythmen gebracht haben und zur neuen Weltordnung durch eine aufgelöste<br />

Syntax führen. Ferner verpflichte ich mich, vor tausend kommunistischen<br />

Arbeitern, selbst wenn darunter hun<strong>de</strong>rt geistige wären, <strong>de</strong>n Vorzug<br />

solchen aristokratischen Umgangs so überzeugend darzustellen, daß jene<br />

schon verstehen wür<strong>de</strong>n, was ich unter A<strong>de</strong>l verstan<strong>de</strong>n habe, und selbst diese<br />

zu kapieren anfingen, daß zwischen meinen Ansichten vor <strong>de</strong>m Krieg und<br />

meiner Haltung im Krieg und nun auch nach <strong>de</strong>m Krieg eigentlich gar kein so<br />

arger Wi<strong>de</strong>rspruch ist. Denn Krieg war Krieg und da hab' ich mein Bündnis<br />

mit <strong>de</strong>m Menschen ausgebaut und vertieft. Du mußt verstehn, aus Eins mach<br />

Zehn. Doch nur fort aus meiner Hexenküche! »Denn ein vollkommner Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Toren« — wenn ihnen die<br />

Kraft fehlt, die sie zum Mittelpunkt reißt. Doch die ungewarnte Jugend läßt<br />

sich nicht warnen, son<strong>de</strong>rn zitiert Sätze aus meinem Blendwerk:<br />

74


Ein Denkzettel aber gebührt <strong>de</strong>m um Monate verspäteten Kriegsgegner<br />

Karl Kraus, <strong>de</strong>m im November 1913 gelegentlich einer im<br />

k. u. k. Kriegshafen Pola abgehaltenen Vorlesung »<strong>de</strong>r Militärhaß<br />

<strong>de</strong>r Demokratie die Überlegenheit <strong>de</strong>s Mißwachses über die<br />

Männlichkeit be<strong>de</strong>utet«, nur weil ihm, <strong>de</strong>m Unbestechlichen, ein<br />

von Marineoffizieren gefüllter Saal, »eine Hoffnung auf Staat und<br />

Menschheit«, wie je<strong>de</strong>r Soubrette applaudiert.<br />

Ja, das war eine Stun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ren ich mich noch heute nicht schäme, auf<br />

die Gefahr hin, mir dadurch »meiner Mitschuld am Kriege bewußt« zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Und wenn <strong>de</strong>r leibhaftige Horthy im Auditorium gesessen hätte: ich wäre<br />

bloß schuldig zu sagen — zu wie<strong>de</strong>rholen —, daß sich mir <strong>de</strong>r Begriff »Demokratie«<br />

gewan<strong>de</strong>lt hat, <strong>de</strong>n ich ehe<strong>de</strong>m nur als <strong>de</strong>n Begriff jener <strong>de</strong>naturierten<br />

Intelligenz verwandte, <strong>de</strong>ren Haß durch Krieg und Frie<strong>de</strong>n doch meine konsequente<br />

Gesinnung bleibt. Aber die Erkenntnis war immer die meine, daß ihr<br />

konservatives Gegenbild nur noch die Fassa<strong>de</strong> war von einem Inhalt, <strong>de</strong>m ich<br />

wohl die Beziehung zu Geist und Natur zuerkannte. Denn längst sah ich <strong>de</strong>n<br />

Wert an die Macht verraten und — durch Technik, Presse und alle Mittel <strong>de</strong>r<br />

neuen Welt — zum Instrument <strong>de</strong>s Erwerbsgeistes entartet. Die am Kriegsbeginn<br />

entstan<strong>de</strong>nen Aphorismen, und vieles Spätere, stellen das, was <strong>de</strong>m intelligenten<br />

Flachsinn als mein vollkommner Wi<strong>de</strong>rspruch erscheint, als jenen<br />

Weltriß dar, <strong>de</strong>n ich wie kein Expressionist erfaßt habe und über <strong>de</strong>n mich<br />

auch kein Tag von Pola, da ich Sonne über <strong>de</strong>m Wasser und noch kein Torpedo<br />

unter ihm sah, betrügen konnte. Aber die Stimmung war nicht vom Dank<br />

für einen Saalerfolg beeinflußt, son<strong>de</strong>rn, wie sichs gebührt, von einer Antithese.<br />

Unbestechlich ist kein Lyriker. Keiner, <strong>de</strong>r's mit <strong>de</strong>r Sprache hält, und am<br />

wenigsten einer, <strong>de</strong>m sie das Schöne und das Häßliche in Einem antut, so daß<br />

er nicht mehr weiß, von wannen er empfin<strong>de</strong>t. Wird solche Erotik auf Sachverhalte<br />

und Ten<strong>de</strong>nzen heruntergeführt, dann war sie freilich eine Übertreibung.<br />

Wird sie als Politik zur Re<strong>de</strong> gestellt, so war sie Irrtum o<strong>de</strong>r Lüge. Und<br />

<strong>de</strong>nnoch bleibt sie wahrer als alle Wirklichkeit. Bestochen bin ich, wenn die<br />

Sonne scheint. Bestochen, wenn ich auf <strong>de</strong>m Schiff die Frage höre: »Wo steht<br />

geschrieben, es brocht einer zum Leben haben zu müssen dreißigtosend, man<br />

kann auch leben mit zwanzigtosend!« Ich sah nichts als Sonnenschein. Ich bin<br />

nicht bloß Stimmenimitator, ich bin ein Hellhörer von Stimmen. »Ich glaube,<br />

daß man nicht leben kann«, schrieb ich, »aber ich weiß, daß die Fahrt zurück<br />

nach Österreich geht.« Die Marineure habe ich sicherlich überschätzt, nicht<br />

das Meer; und die »Entschädigung eines Tages in Pola für ein Jahr in Wien«<br />

bleibt aufrecht, nicht wegen <strong>de</strong>s Saalerfolgs, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r war schon damals in<br />

Wien größer, aber wegen <strong>de</strong>s »Unterschieds von Menschenwert und Fliegenplage«<br />

— selbst da ich jenen überschätzt habe. Und da sie längst in <strong>de</strong>m<br />

großen Unheil untergegangen sind, das da kam, weil <strong>de</strong>r Mensch sich aufgab,<br />

um Fliege zu sein, um seine Menschheit wie seine Mannheit, seine Berechtigung<br />

wie seine Wehrhaftigkeit in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r Fliegen zu stellen, so bleibt<br />

es <strong>de</strong>nnoch wahr, daß <strong>de</strong>r Militärhaß jener Stimme die Überlegenheit <strong>de</strong>s<br />

Mißwachses über die Männlichkeit be<strong>de</strong>utet. Meiner aber stammt von <strong>de</strong>r Erkenntnis,<br />

daß diese Nie<strong>de</strong>rlage zum Krieg geführt hat, und daß auch ein Sieg<br />

sie nicht gewen<strong>de</strong>t hätte. Denn die Stimme auf <strong>de</strong>m Dampfer fand nicht ihr<br />

Auskommen und gab <strong>de</strong>n Text zur Militärmusik. Die »Hoffnung auf Staat und<br />

Menschheit« war die einer Stun<strong>de</strong>, einer schwachen Stun<strong>de</strong>. Der Platz an <strong>de</strong>r<br />

Sonne wur<strong>de</strong> zum Schlachtfeld. Ich habe es nicht gewollt.<br />

75


Ein Denkzettel gebührt einem »Schauspieler <strong>de</strong>r Ethik«, <strong>de</strong>r in<br />

<strong>de</strong>r letzten vor <strong>de</strong>m Krieg erschienenen »Fackel« vom 10. Juli<br />

1914 »politisch nicht einmal bei <strong>de</strong>r französischen Revolution angelangt«,<br />

»einen Konservativismus von einer Blutbereitschaft«<br />

propagiert, »gegen <strong>de</strong>n tausend Jahrgänge von tausend klerikalen<br />

Zeitungen die Sprache einer Protestversammlung <strong>de</strong>s Monistenbun<strong>de</strong>s<br />

zum Schutze reisen<strong>de</strong>r Kaufleute führen.« In seiner Aversion<br />

gegen »eine freie Er<strong>de</strong>, die zum Himmel stinkt« »nur zufrie<strong>de</strong>n<br />

in <strong>de</strong>r Gewißheit, daß <strong>de</strong>m auf <strong>de</strong>n Glanz hergerichteten<br />

Menschlichkeitspofel, <strong>de</strong>r allerorten zu sehen ist, <strong>de</strong>r große Ausverkauf<br />

bevorsteht«, sucht er »einen König, <strong>de</strong>r eine Bombe hätte<br />

für diesen allzuklugen Untertan«.<br />

Wenn mich die Jugend, geblen<strong>de</strong>t von <strong>de</strong>m augenfälligen Unterschied<br />

meiner konservativen und meiner revolutionären Sätze und darum vielleicht<br />

nicht genug urteilssicher, um Material ersucht hätte, ich hätte ihr mit besseren<br />

Beispielen aus <strong>de</strong>r Vorkriegszeit unter die Arme gegriffen. Mit solchen,<br />

die zwar auch einen Sinn haben, <strong>de</strong>r sich durch die Vermittlung eines lebendigen<br />

Organismus an die heutige »Richtung« anschließt und <strong>de</strong>n Verdacht einer<br />

mechanischen Umschaltung ausschließt; aber sie hätte sich wenigstens <strong>de</strong>n<br />

Vorwurf erspart, <strong>de</strong>n erstrebten Eindruck durch Vergewaltigung <strong>de</strong>s Textes —<br />

<strong>de</strong>s zitierten sowohl wie <strong>de</strong>s Zusammenhangs — erreicht zu haben. Es wäre<br />

redlicher gewesen, <strong>de</strong>n Beweis, daß ich politisch nicht einmal bei <strong>de</strong>r französischen<br />

Revolution angelangt bin und jenen Konservativismus von einer Blutbereitschaft<br />

predige etc., unmittelbar und nicht durch ein Bekenntnis zu erbringen,<br />

das schon durch <strong>de</strong>n grotesken Vergleich mit <strong>de</strong>r Protestversammlung<br />

<strong>de</strong>s Monistenbun<strong>de</strong>s zum Schutze reisen<strong>de</strong>r Kaufleute <strong>de</strong>n Leser stutzig<br />

machen muß und ihm die Frage nahe legt, ob ich mich da nicht vielleicht<br />

durch eine absichtliche Übertreibung meiner konservativen Ten<strong>de</strong>nzen gegen<br />

die Anhängerschaft radikaler Schlieferl gewehrt habe, und ob diese nicht, was<br />

kulturkritisch gedacht war, politisch miß<strong>de</strong>uten. Wie sagt doch Friedjung, da<br />

ihm <strong>de</strong>r Gegenbeweis gegen seine Dokumente gelingt? Ei siehe da! Im Juli<br />

1914 antworte ich — eben in jenem Aufsatz »Sehnsucht nach aristokratischem<br />

Umgang« — auf <strong>de</strong>n Vorwurf, daß ich als »Schauspieler <strong>de</strong>r Ethik« ein<br />

Doppelspiel treibe. Der Vorwurf, das Wort stammt von <strong>de</strong>rselben Sorte, die<br />

mich jetzt <strong>de</strong>r moralischen Musterung unterwirft, nur daß sie damals im Berliner<br />

Café <strong>de</strong>s Westens saß. Wie, damals hieß es also, ich hofierte <strong>de</strong>m A<strong>de</strong>l<br />

und wer<strong>de</strong> mich später als Revolutionär gebär<strong>de</strong>n? Nein, die Entwicklung hatte<br />

ich schon hinter mir. Denn ich habe damals meine revolutionäre Vergangenheit<br />

verleugnet, um mich bei <strong>de</strong>n Aristokraten lieb Kind zu machen, während<br />

ich jetzt meine konservative Vergangenheit verleugne, um es bei <strong>de</strong>r Revolution<br />

gut zu haben. Wiewohl sich also <strong>de</strong>r Doppelverrat irgendwie aufzuheben<br />

scheint, war die Angelegenheit schon damals verzwickt. Ich habe nämlich<br />

nicht so sehr durch die Verleugnung meiner revolutionären Vergangenheit als<br />

durch das Bekenntnis meiner revolutionären Gegenwart die Aristokraten zu<br />

kö<strong>de</strong>rn gesucht; <strong>de</strong>nn ich brachte in Prag meine »angeblich linksradikalen Angriffe<br />

auf die jüdischen Liberalen, Bourgeoisie und Neue Freie Presse« zum<br />

Vortrag, die <strong>de</strong>r anwesen<strong>de</strong> A<strong>de</strong>l »mit sehr rechtskonservativem Behagen anhörte«.<br />

Es konnte sich aber nur um ein Mißverständnis han<strong>de</strong>ln, und da ward<br />

vorausgesagt, daß ich mich »in meiner bekannten Ehrlichkeit hüten wer<strong>de</strong>,<br />

dieses Mißverständnis aufzuklären«, eine Prophezeiung, die allerdings nicht<br />

eingetroffen ist. Auch die an<strong>de</strong>re Verheißung, daß meine »radikalen literari-<br />

76


schen Freun<strong>de</strong> mir <strong>de</strong>n Rücken kehren wer<strong>de</strong>n«, ist seither nur, soweit ich<br />

selbst etwas dazu tat und ihnen einzelweis <strong>de</strong>n Laufpaß gab, erfüllt wor<strong>de</strong>n.<br />

Immerhin hieß ich damals ein »in Anbetung <strong>de</strong>s Landjunkertums gelan<strong>de</strong>ter<br />

Revolutionär«, eine Auffassung, die mir die Umkehr zur Revolution durch das<br />

Erlebnis <strong>de</strong>s Weltkriegs hindurch keineswegs unmöglich macht. Freilich habe<br />

ich damals eine solche Kluft zwischen <strong>de</strong>m ehemaligen Revolutionär und seinen<br />

radikalen literarischen Freun<strong>de</strong>n aufgerissen, daß ich es ihnen tatsächlich<br />

für alle Zeiten unmöglich gemacht habe, mich zu reklamieren. Ich meinte<br />

damals, daß sie zwar schreiben, aber nicht lesen können und darum nicht gemerkt<br />

haben, daß ich die Pest weniger hasse als meine radikalen literarischen<br />

Freun<strong>de</strong>. Und nun gings wie Hagelschloßen. Da kam <strong>de</strong>r Satz über die französische<br />

Revolution, bei <strong>de</strong>r ich »politisch noch nicht einmal angelangt bin«, da<br />

kam sogar das Geständnis, »daß ich die Menschheit mit Entziehung <strong>de</strong>r Menschenrechte,<br />

das Bürgertum mit Entziehung <strong>de</strong>s Wahlrechts, die Ju<strong>de</strong>n mit<br />

Entziehung <strong>de</strong>s Telefons, die Journalisten mit Aufhebung <strong>de</strong>r Preßfreiheit und<br />

die Psychoanalytiker mit Einführung <strong>de</strong>r Leibeigenschaft regalieren möchte«.<br />

Im großen Ganzen wird man zugeben, daß es politisch kein übles Programm<br />

für eine Rätediktatur ist und daß ich, <strong>de</strong>r unter Menschheit die Korporation<br />

gegen Geist und Natur verstand und <strong>de</strong>r die wahren Opfer dieser Menschheit<br />

von seinem Fluch ausgenommen hat, kulturell noch heute und heute erst<br />

recht damit Staat machen könnte. Und dann kam, als ich mich vor <strong>de</strong>n radikalen<br />

literarischen Freun<strong>de</strong>n weiter entblößte und es ihnen wie Schuppen von<br />

<strong>de</strong>n Haaren fiel, jener gewalttätige Satz über <strong>de</strong>n Konservativismus mit Blutbereitschaft.<br />

Dann bekannte ich mich als, »untröstlich, die Machtmittel <strong>de</strong>r<br />

Staaten nicht gegen <strong>de</strong>n Zerfall <strong>de</strong>r Völker aufbieten zu können«. Ich wollte<br />

also <strong>de</strong>n Krieg? Ja und zwar schon <strong>de</strong>n »heiligen Krieg« gegen die Hinterlän<strong>de</strong>r,<br />

zu <strong>de</strong>m fünf Jahre später ich die Geister <strong>de</strong>r Erschlagenen im Monolog<br />

<strong>de</strong>s Nörglers aufrufen sollte, <strong>de</strong>nselben, <strong>de</strong>n Kierkegaard gegen die Journalisten<br />

gepredigt hat, <strong>de</strong>n Krieg gegen jene, die ich, 1914 wie alle Jahre vorher,<br />

die Welt anzün<strong>de</strong>n sah — »nur zufrie<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Gewißheit, daß <strong>de</strong>m auf <strong>de</strong>n<br />

Glanz hergerichteten Menschheitspofel, <strong>de</strong>r jetzt allerorten zu sehen ist, <strong>de</strong>r<br />

große Ausverkauf bevorsteht«. Wenngleich nun <strong>de</strong>r Menschheitspofel, <strong>de</strong>r<br />

auch jetzt noch allerorten zu sehen ist, heute eine fette Henkersmahlzeit auf<br />

Kosten seiner Opfer zu sich nimmt, so sollte man doch glauben, daß <strong>de</strong>r Satz<br />

eher für die Verläßlichkeit meines Blicks als für die Unverläßlichkeit meiner<br />

Gesinnung zu zitieren wäre. Allerdings in seinem eigenen Zusammenhang und<br />

vor allem in <strong>de</strong>m verläßlichen Text, <strong>de</strong>n ich hierher setze. In <strong>de</strong>r Anwendung<br />

und in <strong>de</strong>r Fassung, die <strong>de</strong>r Polemiker vorgezogen hat, taugt er allerdings<br />

eher zum vollkommenen Beweise meiner Unmenschlichkeit, die mich, verglichen<br />

mit meinem heutigen Tun, zwar als einen gebesserten Bösewicht erscheinen<br />

läßt, aber die ein unerbittlicher Lichtgeist mir doch vorhalten könnte,<br />

<strong>de</strong>nn ich hätte ja die Menschlichkeit und jene, die schon damals nach ihr<br />

strebten, als einen »Menschlichkeitspofel« bezeichnet. Aber ob nun jener<br />

Lichtgeist mich schwärzer machen will als ich war, o<strong>de</strong>r ob er nur mit <strong>de</strong>m<br />

Druckfehlerteufel im Bun<strong>de</strong> steht, um diesen Eindruck zu erzielen — je<strong>de</strong>nfalls<br />

ist es eine je<strong>de</strong>m Intellektuellen, <strong>de</strong>r nicht nur schreiben, son<strong>de</strong>rn auch<br />

lesen kann, zugängliche Tatsache, daß ich nicht vom Menschlichkeitspofel,<br />

son<strong>de</strong>rn vom Menschheitspofel gesprochen habe, <strong>de</strong>r jetzt allerorten zu sehen<br />

sei, also auch nicht vom Menschheitspofel im Allgemeinen, son<strong>de</strong>rn von meinen<br />

radikalen literarischen Freun<strong>de</strong>n, aber wohl auch von <strong>de</strong>m ganzen Merkantilgesin<strong>de</strong>l,<br />

kurzum <strong>de</strong>r »Fabrikware <strong>de</strong>r Natur«, von <strong>de</strong>r Schopenhauer<br />

gesprochen hat. Und daß we<strong>de</strong>r die Menschlichkeit noch die Menschheit als<br />

77


Pofel bezeichnet war — wiewohl diese ja unter allem was im Kosmos vorrätig<br />

ist, immerhin <strong>de</strong>n Pofel vorstellen dürfte —, son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>r Pofel innerhalb<br />

<strong>de</strong>r Menschheit. Ich hatte meinen Ehrgeiz nach aristokratischem Umgang<br />

bloß unter <strong>de</strong>r ausdrücklichen Bedingung zugegeben, daß dieser »durchaus<br />

so weit wäre, meiner würdig zu sein«, und gemeint, daß ich, wo ich »ihn vergebens<br />

suche«, je<strong>de</strong>nfalls »auf <strong>de</strong>n <strong>de</strong>mokratischen« — das Wort im unpolitischen<br />

Sinne — »verzichte«, ich, »<strong>de</strong>r weiß, daß die Empfindungen <strong>de</strong>s letzten<br />

Stallpintschers erhaben sind über <strong>de</strong>r Ausdrucksfähigkeit eines kosmisch interessierten<br />

Literaturgesin<strong>de</strong>ls, und <strong>de</strong>r von staatswegen einen Kommerzienrat<br />

zwingen möchte, <strong>de</strong>m letzten Stallknecht zu dienen«. Diese schon einigermaßen<br />

bolschewistische For<strong>de</strong>rung und jene Bevorzugung <strong>de</strong>r Natur vor <strong>de</strong>r<br />

Literatur <strong>de</strong>finieren <strong>de</strong>n Menschheitspofel mit einer nicht mehr zu überbieten<strong>de</strong>n<br />

Genauigkeit und wür<strong>de</strong>n, auch wenn mir selbst <strong>de</strong>r Druckfehler wi<strong>de</strong>rfahren<br />

wäre, <strong>de</strong>ssen Sinn und die Zuschiebung eines solchen Sinnes zurückweisen.<br />

Ob ihn nun die Intelligenz meiner radikalen literarischen Freun<strong>de</strong> zuläßt<br />

o<strong>de</strong>r ihre Moral sie verleitet, ihn zu konstruieren — je<strong>de</strong>nfalls wird man<br />

gut tun, die von mir zitierte Fassung nachzuprüfen, da ja zunächst ich und<br />

nicht Herr Sonnenschein im Verdacht steht, Dokumente zu fälschen. Wenn<br />

gar einer, <strong>de</strong>r mich solcher Handlung beschuldigt, einen Satz von mir zitiert<br />

und ich trotz<strong>de</strong>m behaupte, daß er an<strong>de</strong>rs lautet, so wür<strong>de</strong> mir schon ein gewisses<br />

Mißtrauen gegen mich begreiflich erscheinen. Man lasse sich die vergleichen<strong>de</strong><br />

Mühe nicht verdrießen, das Studium meiner Sätze wird zum Gaudium,<br />

wenn man gar erfährt, daß ich, <strong>de</strong>r ich doch jetzt ein Republikaner sein<br />

will, im Jahr 1914 »einen König« gesucht habe, »<strong>de</strong>r eine Bombe für diesen<br />

allzuklugen Untertan hätte«. Kein Zweifel, <strong>de</strong>r Handgranatenangriff, <strong>de</strong>n ich,<br />

<strong>de</strong>r Pazifist von heute, befürwortet habe, war <strong>de</strong>r Demokratie zugedacht. Ich<br />

bezeichnete das Opfer freilich weniger nach Wahlbezirken als mit allgemeinen<br />

Angaben. Ich sprach von einem Umgang, <strong>de</strong>n ich fliehe, weshalb ich in<br />

<strong>de</strong>n Verdacht gekommen sei, <strong>de</strong>n aristokratischen zu suchen: »Er ist die Pest,<br />

die sich <strong>de</strong>s Daseins freut und ihrem eigenen Bazillus nicht auf <strong>de</strong>r Spur ist.<br />

Sein Blick löst Welträtsel und dreht mir <strong>de</strong>n Magen um. Er analysiert mir <strong>de</strong>n<br />

Traum, in <strong>de</strong>n mein Ekel flüchtet. Er weckt mich und ich suche einen König,<br />

<strong>de</strong>r eine Bombe hätte für diesen allzu klugen Untertan«. Ich könnte mich nun<br />

damit herauszure<strong>de</strong>n versuchen, daß mein Polemiker nicht gemeint sein<br />

kann. Aber auf die an<strong>de</strong>rn Intellektuellen bezieht er sich. Wenn sie mir nur<br />

nicht draufkommen, daß dieser Gedanke eine mir peinliche Konsequenz erlebt<br />

hat, in<strong>de</strong>m ich <strong>de</strong>n König später in <strong>de</strong>r Figur <strong>de</strong>s preußischen Fliegers fand,<br />

<strong>de</strong>r sich »wie ein König, mit Bomben bela<strong>de</strong>n, wie ein Gott« vorkommt. Bei<br />

Gott, <strong>de</strong>n habe ich nicht gemeint und seine Opfer waren nicht die meinen.<br />

Denn <strong>de</strong>r schonte nicht <strong>de</strong>s grünen Grases und nicht <strong>de</strong>s Tieres und nicht <strong>de</strong>r<br />

Menschen, welche das Siegel Gottes an ihren Stirnen haben. Ich aber habe alles<br />

reiflich erwogen.<br />

Was aber gebührt einem Gesinnungskünstler, <strong>de</strong>r am 5. Dezember<br />

1914 das Kriegsmanifest Franz Josefs folgen<strong>de</strong>rmaßen begrüßt:<br />

» ... über jenem erhabenen Manifest, das die tatenvolle Zeit eingeleitet,<br />

<strong>de</strong>m einzigen Gedicht, das sie bis nun hervorgebracht hat,<br />

über <strong>de</strong>m menschlichsten Anschlag, <strong>de</strong>n die Straße unserem Auge<br />

wi<strong>de</strong>rfahren lassen könnte ... «?<br />

Mir bleibt doch nichts erspart. Ich glaube aber fast, man hat mich drangekriegt.<br />

Ist dieser Sonnenschein wirklich so intellektuell, daß er <strong>de</strong>n Satz für<br />

78


seine Zwecke benützen zu können glaubt, o<strong>de</strong>r stellt er sich nur so? Hat er<br />

unserm Auge einen »Anschlag« wi<strong>de</strong>rfahren lassen, in<strong>de</strong>m er so tut, als ob<br />

dieses Wort bloß ein Plakat be<strong>de</strong>utete? Als ob ich auf <strong>de</strong>r Suche nach einem<br />

König mit <strong>de</strong>r Bombe für <strong>de</strong>n intellektuellen Untertan nun beglückt gewesen<br />

wäre, schon ein paar Wochen später einen Kaiser zu fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r's <strong>de</strong>r ganzen<br />

Menschheit besorgt? Als ob ich sein Kriegsmanifest wirklich »begrüßt« hätte?<br />

Ja, <strong>de</strong>nkt <strong>de</strong>r Leser, <strong>de</strong>r sich nicht erinnert, was ich am 5. Dezember 1914 erscheinen<br />

ließ: <strong>de</strong>r hat eben im Anfang <strong>de</strong>s Kriegs genau so wie alle an<strong>de</strong>rn<br />

mitgeheult. Er begrüßt nicht nur das erhabene Manifest, son<strong>de</strong>rn auch die tatenvolle<br />

Zeit, er nennt jenes ein Gedicht — was doch offenbar <strong>de</strong>r Superlativ<br />

<strong>de</strong>s Entzückens ist, wie wenn man <strong>de</strong>m Wiener sagt, daß eine Mehlspeise gera<strong>de</strong>zu<br />

ein Gedicht sei —, er gewahrt einen Anschlag, das heißt ein Plakat,<br />

voll <strong>de</strong>s menschlichsten Inhalts, je<strong>de</strong>nfalls in <strong>de</strong>m Sinne, daß wir einen heiligen<br />

Verteidigungskrieg führen und daß unser Sieg die Menschlichkeit über<br />

die Er<strong>de</strong> verbreiten wird, aber nicht im Sinne <strong>de</strong>s Menschlichkeitspofels, <strong>de</strong>r<br />

allerorten zu sehen ist, son<strong>de</strong>rn natürlich ganz an<strong>de</strong>rs, <strong>de</strong>nn nicht Humanität,<br />

son<strong>de</strong>rn Krieg ist wahre Menschlichkeit. Kein Zweifel, <strong>de</strong>r hat damals mit <strong>de</strong>n<br />

an<strong>de</strong>rn, die daheim saßen, berserkerhaft um sich geschlagen und geholfen,<br />

die Russen und die Serben in Scherben zu hauen, um selbst davon enthoben<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Man hat das nur vergessen und ist <strong>de</strong>m Gesinnungskünstler, <strong>de</strong>r<br />

sich immer darauf beruft, er habe vom Ultimatum an — sehr im Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

zu seinen früheren Ansichten — gegen <strong>de</strong>n Krieg gesprochen, glatt aufgesessen.<br />

Es ist Sonkas Verdienst, <strong>de</strong>r Weit, an <strong>de</strong>r er verkommen mußte, während<br />

sie jenen zu Ehren gelangen ließ, die Augen geöffnet zu haben. Jawohl, er<br />

kannte <strong>de</strong>n Satz, er überwand seinen Ekel vor mir, schrie <strong>de</strong>n vor Europa hinaus<br />

und sandte mir das Werk in Verehrung zu. Und ich habe nicht sein Gedicht,<br />

son<strong>de</strong>rn das <strong>de</strong>s Franz Josef gelobt 1 ! Man wird or<strong>de</strong>ntlich neugierig auf<br />

1 Hier <strong>de</strong>r vollständige Text <strong>de</strong>s Manifests:<br />

An Meine Völker!<br />

Seine k. und k. Apostolische Majestät haben das nachstehen<strong>de</strong> Allerhöchste Handschreiben<br />

und Manifest allergnädigst zu erlassen geruht:<br />

Lieber Graf Stürgkh!<br />

Ich habe Mich bestimmt gefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Minister Meines Hauses und <strong>de</strong>s Äußern zu beauftragen,<br />

<strong>de</strong>r königlich serbischen Regierung <strong>de</strong>n Eintritt <strong>de</strong>s Kriegszustan<strong>de</strong>s zwischen <strong>de</strong>r<br />

Monarchie und Serbien zu notifizieren.<br />

In dieser schicksalsschweren Stun<strong>de</strong> ist es Mir Bedürfnis, Mich an Meine geliebten Völker<br />

zu wen<strong>de</strong>n. Ich beauftrage Sie daher, das anverwahrte Manifest zur allgemeinen Verlautbarung<br />

zu bringen.<br />

Bad Ischl, am 28. Juli 1914.<br />

Franz Joseph m. p.<br />

Stürgkh m. p.<br />

An Meine Völker!<br />

Es war Mein sehnlichster Wunsch, die Jahre, die Mir durch Gottes Gna<strong>de</strong> noch beschie<strong>de</strong>n<br />

sind, Werken <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns zu weihen und Meine Völker vor <strong>de</strong>n schweren Opfern und Lasten<br />

<strong>de</strong>s Krieges zu bewahren.<br />

Im Rate <strong>de</strong>r Vorsehung ward es an<strong>de</strong>rs beschlossen.<br />

Die Umtriebe eines haßerfüllten Gegners zwingen Mich, zur Wahrung <strong>de</strong>r Ehre Meiner<br />

Monarchie, zum Schutze ihres Ansehens und ihrer Machtstellung, zur Sicherung ihres Besitzstan<strong>de</strong>s<br />

nach langen Jahren <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns zum Schwerte zu greifen.<br />

Mit rasch vergessen<strong>de</strong>m Undank hat das Königreich Serbien, das von <strong>de</strong>n ersten Anfängen<br />

seiner staatlichen Selbständigkeit bis in die neueste Zeit von Meinen Vorfahren und Mir<br />

gestützt und geför<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n war, schon vor Jahren <strong>de</strong>n Weg offener Feindseligkeit gegen<br />

Österreich-Ungarn betreten.<br />

Als Ich nach drei Jahrzehnten segensvoller Frie<strong>de</strong>nsarbeit in Bosnien und <strong>de</strong>r Hercegovina<br />

Meine Herrscherrechte auf diese Län<strong>de</strong>r erstreckte, hat diese Meine Verfügung im König-<br />

79


<strong>de</strong>n kriegshetzerischen Aufsatz, in <strong>de</strong>m das Lob enthalten war. »In dieser<br />

großen Zeit« heißt er. Aber, <strong>de</strong>nkt da <strong>de</strong>r Leser, <strong>de</strong>r sich zu erinnern beginnt,<br />

das war ja jene radikale Absage an <strong>de</strong>n Krieg und Ansage <strong>de</strong>s Kriegs an ihn,<br />

jenes <strong>de</strong>n Pygmäen <strong>de</strong>r großen und <strong>de</strong>n Parasiten <strong>de</strong>r »tatenvollen Zeit« gestellte<br />

Ultimatum, das durch seinen Freimut die Kriegszensur so verblüfft hat,<br />

daß sie es erscheinen ließ? Wie reimt sich dies Faktum mit jenem Diktum?<br />

Wie entsteht da ein Gedicht? Wie kommt die Stelle in <strong>de</strong>n Aufsatz? Etwas an<strong>de</strong>rs<br />

als ins Neue Wiener Journal; nämlich so: »Über jenem erhabenen Manifest,<br />

jenem Gedicht, das die tatenvolle Zeit eingeleitet, <strong>de</strong>m einzigen Gedicht,<br />

das sie bis nun hervorgebracht hat, über <strong>de</strong>m menschlichsten Anschlag, <strong>de</strong>n<br />

die Straße unserm Auge wi<strong>de</strong>rfahren lassen konnte, hängt <strong>de</strong>r Kopf eines Varietékomikers,<br />

überlebensgroß«. Sogar zweimal wird — in <strong>de</strong>r Kritik <strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong>losigkeit<br />

Wiens — gesagt, daß es ein Gedicht ist? Eben. Hat nun Sonka,<br />

80<br />

reiche Serbien, <strong>de</strong>ssen Rechte in keiner Weise verletzt wur<strong>de</strong>n, Ausbrüche zügelloser Lei<strong>de</strong>nschaft<br />

und erbittertsten Hasses hervorgerufen. Meine Regierung hat damals von <strong>de</strong>m<br />

schönen Vorrechte <strong>de</strong>s Stärkeren Gebrauch gemacht und in äußerster Nachsicht und Mil<strong>de</strong><br />

von Serbien nur die Herabsetzung seines Heeres auf <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>nsstand und das Versprechen<br />

verlangt, in Hinkunft die Bahn <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>r Freundschaft zu gehen.<br />

Von <strong>de</strong>mselben Geiste <strong>de</strong>r Mäßigung geleitet, hat sich Meine Regierung, als Serbien vor<br />

zwei Jahren im Kampfe mit <strong>de</strong>m türkischen Reiche begriffen war, auf die Wahrung <strong>de</strong>r<br />

wichtigsten Lebensbedingungen <strong>de</strong>r Monarchie beschränkt. Dieser Haltung hatte Serbien<br />

in erster Linie die Erreichung <strong>de</strong>s Kriegszweckes zu verdanken.<br />

Die Hoffnung, daß das serbische Königreich die Langmut und Frie<strong>de</strong>nsliebe Meiner Regierung<br />

würdigen und sein Wort einlösen wer<strong>de</strong>, hat sich nicht erfüllt.<br />

Immer höher lo<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Haß gegen Mich und Mein Haus empor, immer unverhüllter tritt<br />

das Streben zutage, untrennbare Gebiete Österreich-Ungarns gewaltsam loszureißen.<br />

Ein verbrecherisches Treiben greift über die Grenze, um im Südosten <strong>de</strong>r Monarchie die<br />

Grundlagen staatlicher Ordnung zu untergraben, das Volk, <strong>de</strong>m Ich in lan<strong>de</strong>sväterlicher<br />

Liebe Meine volle Fürsorge zuwen<strong>de</strong>, in seiner Treue zum Herrscherhaus und zum Vaterlan<strong>de</strong><br />

wankend zu machen, die heranwachsen<strong>de</strong> Jugend irrezuleiten und zu frevelhaften<br />

Taten <strong>de</strong>s Wahnwitzes und <strong>de</strong>s Hochverrates aufzureizen. Eine Reihe von Mordanschlägen,<br />

eine planmäßig vorbereitete und durchgeführte Verschwörung, <strong>de</strong>ren furchtbares Gelingen<br />

Mich und Meine Völker ins Herz getroffen hat, bil<strong>de</strong>t die weithin sichtbare blutige<br />

Spur jener geheimen Machenschaften, die von Serbien aus ins Werk gesetzt und geleitet<br />

wur<strong>de</strong>n.<br />

Diesem unerträglichen Treiben muß Einhalt geboten, <strong>de</strong>n unaufhörlichen Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />

Serbiens ein En<strong>de</strong> bereitet wer<strong>de</strong>n, soll die Ehre und Wür<strong>de</strong> Meiner Monarchie unverletzt<br />

erhalten und ihre staatliche, wirtschaftliche und militärische Entwicklung vor beständigen<br />

Erschütterungen bewahrt bleiben.<br />

Vergebens hat Meine Regierung noch einen letzten Versuch unternommen, dieses Ziel mit<br />

friedlichen Mitteln zu erreichen, Serbien durch eine ernste Mahnung zur Umkehr zu bewegen.<br />

Serbien hat die maßvollen und gerechten For<strong>de</strong>rungen Meiner Regierung zurückgewiesen<br />

und es abgelehnt, jenen Pflichten nachzukommen, <strong>de</strong>ren Erfüllung im Leben <strong>de</strong>r Völker<br />

und Staaten die natürliche und notwendige Grundlage <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns bil<strong>de</strong>t.<br />

So muß Ich <strong>de</strong>nn daran schreiten, mit Waffengewalt die unerläßlichen Bürgschaften zu<br />

schaffen, die Meinen Staaten die Ruhe im Inneren und <strong>de</strong>n dauern<strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n nach außen<br />

sichern sollen.<br />

In dieser ernsten Stun<strong>de</strong> bin Ich Mir <strong>de</strong>r ganzen Tragweite Meines Entschlusses und Meiner<br />

Verantwortung vor <strong>de</strong>m Allmächtigen voll bewußt.<br />

Ich habe alles geprüft und erwogen.<br />

Mit ruhigem Gewissen betrete Ich <strong>de</strong>n Weg, <strong>de</strong>n die Pflicht Mir weist.<br />

Ich vertraue auf Meine Völker, die sich in allen Stürmen stets in Einigkeit und Treue um<br />

Meinen Thron geschart haben und für die Ehre, Größe und Macht <strong>de</strong>s Vaterlan<strong>de</strong>s zu<br />

schwersten Opfern immer bereit waren.<br />

Ich vertraue auf Österreich-Ungarns tapfere und von hingebungsvoller Begeisterung erfüllte<br />

Wehrmacht.<br />

Und Ich vertraue auf <strong>de</strong>n Allmächtigen, daß Er Meinen Waffen <strong>de</strong>n Sieg verleihen wer<strong>de</strong>.<br />

Franz Joseph m. p.<br />

Stürgkh m. p.


<strong>de</strong>m ich eine so feine Abschätzungsfähigkeit für Stilwirkungen gar nicht zugetraut<br />

hätte, nicht vielleicht bewirkt, daß das Lob <strong>de</strong>s »einzigen Gedichts« zum<br />

Lob <strong>de</strong>s Inhalts und die Weglassung <strong>de</strong>s »Gedichts« zum Lob <strong>de</strong>r tatenvollen<br />

Zeit wur<strong>de</strong>? Daß das »erhabene Manifest«, welches nur ein Terminus, eine<br />

Bezeichnung <strong>de</strong>r Sphäre, und die »tatenvolle Zeit«, die eine hohnvolle Anwendung<br />

war, positiven Inhalt bekamen? Ich meinte das »kaiserliche« Manifest,<br />

ein schlichter Reporter hätte es so gesagt; ich sagte, was die feierlichen Reporter<br />

sagen. Deutlicher konnte ich damals lei<strong>de</strong>r nicht aussprechen, daß ich<br />

es nicht für erhaben hielt. Nur als Gedicht erhaben, doch als Tat ein »Anschlag«.<br />

Aber für jene, die mich zu lesen gelernt haben, war's <strong>de</strong>utlich. Um<br />

auch <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn zu helfen, die noch heute so blöd sind, daß für sie die wirkliche<br />

Anerkennung, die die Stelle enthält, nämlich die <strong>de</strong>s Gedichts, auf die politische<br />

Wertung <strong>de</strong>s Manifests abfärbt, ist das Wort »Anschlag«, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />

Sinn kulminiert, also <strong>de</strong>r Hinweis auf das Attentat, in <strong>de</strong>r Buchausgabe »Weltgericht«<br />

verdoppelt. Die Stelle — wie manche an<strong>de</strong>re stilistisch verbessert —<br />

lautet dort: Ȇber jenem erhabenen Anschlag, jenem Gedicht, das die tatenvolle<br />

Zeit eingeleitet, <strong>de</strong>m einzigen Gedicht, das sie bis nun hervorgebracht<br />

hat, über <strong>de</strong>m menschlichsten Anschlag ... « Enthielte sie einen mir fühlbaren<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch zu meiner Auffassung <strong>de</strong>s Kriegs und seines Urhebers (<strong>de</strong>n sie ja<br />

nicht haben kann, weil sie dann nicht entstan<strong>de</strong>n und ganz gewiß nicht in<br />

einen <strong>de</strong>rartigen Aufsatz geraten wäre), o<strong>de</strong>r böte sie auch nur die Möglichkeit<br />

zu einem Mißverständnis auch bei Nichtkretins, so wäre sie entwe<strong>de</strong>r aus<br />

<strong>de</strong>r Buchausgabe fortgeblieben (natürlich mit einem Bekenntnis) o<strong>de</strong>r in einer<br />

Fußnote erläutert wor<strong>de</strong>n. Weil ich mir aber solcher Möglichkeit nur bei <strong>de</strong>r<br />

Fügung »erhabenes Manifest« bewußt war, so ist unter Beibehaltung <strong>de</strong>s »erhaben«<br />

das Motiv <strong>de</strong>s Anschlags, auf das es ankommt und das mit <strong>de</strong>m »Gedicht«<br />

kontrastiert ist, verstärkt wor<strong>de</strong>n — womit ganz bestimmt die Fassung<br />

hergestellt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ren ich im November 1914 habhaft war und die ich <strong>de</strong>r<br />

Zensur unmöglich hätte anbieten können, ohne ihr <strong>de</strong>n ganzen Aufsatz zum<br />

Opfer zu bringen. Die Weglassung <strong>de</strong>s Beisatzes »jenem Gedicht«, die aus einer<br />

Antithese von einem Kriegsruf, <strong>de</strong>r ein Gedicht war, und von Kriegstaten,<br />

die keine Taten sind, ein Klischee zum Preise <strong>de</strong>s Kriegswillens und <strong>de</strong>r<br />

großen Zeit macht, ist <strong>de</strong>m Herrn Sonnenschein außeror<strong>de</strong>ntlich gelungen;<br />

besser als die Anschläge, die ich mit Manifesten, die Fälschungen, die ich mit<br />

Unterschriften ausführe. Fast so wirksam wie das Zitat, das er aus <strong>de</strong>r Kritik<br />

über einen an<strong>de</strong>rn Lyriker zusammengestellt hat. Aber er wird am En<strong>de</strong> einwen<strong>de</strong>n,<br />

die Kürzung sei diesmal unabsichtlich erfolgt und än<strong>de</strong>re nichts am<br />

Lob <strong>de</strong>s Manifests als <strong>de</strong>s »einzigen Gedichts«, das ich doch je<strong>de</strong>nfalls ernst<br />

gemeint habe. Und da hätte er recht. Wer mir zutraut, daß ich das »erhabene<br />

Manifest« im Pathos <strong>de</strong>s Leitartikels, im unmittelbaren und nicht angewandten<br />

Pathos betrachte und daß <strong>de</strong>r »Anschlag« nichts weiter sei als eine Ornamentierung<br />

<strong>de</strong>s Plakats für eine so feierliche Sache, wird überrascht sein zu<br />

hören, daß gera<strong>de</strong> dieser Satz vom Wortgefühl bezogen ist und von keiner politischen<br />

Ambition, die ja durch die Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Aufsatzes schwer geschädigt<br />

wäre. Ich kann also nicht leugnen, und es ist erhaben über je<strong>de</strong>n Zweifel, daß<br />

ich <strong>de</strong>n Franz Josef als Dichter anerkannt habe o<strong>de</strong>r vielmehr <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r<br />

in seiner stilistischen Vertretung sich <strong>de</strong>n Entschluß zum Weltkrieg abgerungen<br />

und das Erlebnis <strong>de</strong>s Greises, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Glauben an die reinste Sache<br />

blutbefleckt über die Schwelle <strong>de</strong>r Zeitlichkeit schreiten wird, gewiß viel<br />

tiefer als Franz Josef begriffen hat. Daß ich das wortknappe Sprachwerk, in<br />

welchem die isolierte Zeile »Ich habe alles reiflich erwogen« wie das einsame<br />

Alter selbst dastand — das wahre Gegenbild zu Goethes königlichem »Lebt<br />

81


wohl!« —, für das einzige Gedicht in jener tatenvollen Zeit — es war En<strong>de</strong><br />

1914 — gehalten habe. Aber ich gehe weiter. Ich halte es noch heute dafür<br />

und für das einzige Kriegsgedicht, das in Österreich bis 1919 erschienen ist,<br />

und ich gebe ihm sogar <strong>de</strong>n Vorzug vor <strong>de</strong>m »Ekel vor Europa«, wiewohl doch<br />

an dieser berechtigten Stimmung gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Inhalt jenes an<strong>de</strong>rn Gedichts die<br />

meiste Schuld trägt. Der kriegsfeindliche Lyriker wird ferner erstaunt sein zu<br />

hören, daß ich die, künstlerische Schätzung Franz Josefs o<strong>de</strong>r vielmehr eines<br />

Stilbeamten <strong>de</strong>s Ministeriums <strong>de</strong>s Äußern reiflich erwogen, durch alle Motive<br />

<strong>de</strong>r Kriegszeit beibehalten und mich ausdrücklich zu <strong>de</strong>m unheimlichen Problem<br />

gestellt habe, wie die erhabenste Zeile, die im Krieg, gesetzt wur<strong>de</strong>, zugleich<br />

<strong>de</strong>ssen fluchwürdigste sein konnte, <strong>de</strong>r menschlichste Anschlag zugleich<br />

<strong>de</strong>r gegen die Menschheit und eben das, was so wenig in seiner Konsequenz<br />

bis zum unabän<strong>de</strong>rlichen En<strong>de</strong> erwogen war, eine so monumentale<br />

Lüge ergeben konnte. Und daß die Sprache <strong>de</strong>r Majestät in Obhut genommen<br />

scheint, ihr Verbrechen amnestiert von <strong>de</strong>r Majestät <strong>de</strong>r Sprache. Und <strong>de</strong>nnoch<br />

ist es so und <strong>de</strong>r Dichter von Mund zu Mund reiße ihn staunend auf, es<br />

im »Nachruf« (Nr. 501 — 507 <strong>de</strong>r Fackel, Januar 1919) zu lesen:<br />

Mit einem Satz, <strong>de</strong>r wahrhaftig die volle Bür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Altersweisheit<br />

trägt und die ganze Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Schwergeprüften — kürzer als je<strong>de</strong>r<br />

Satz, <strong>de</strong>r zur Brandmarkung <strong>de</strong>s Ungeheuers dient — , mit einem<br />

Satz, <strong>de</strong>ssen angemaßte Tiefe nur darum echt war, weil <strong>de</strong>r<br />

Verfasser ein an<strong>de</strong>rer war, ein Stilkünstler aus <strong>de</strong>m Ministerium,<br />

<strong>de</strong>r glaubte und darum erlebte (<strong>de</strong>r an die Fackel und <strong>de</strong>nnoch an<br />

Österreich glaubte), mit einem Satz, <strong>de</strong>ssen ausgesparte Fülle<br />

<strong>de</strong>n Schwall aller Kriegslyrik aufwog: mit einem »Ich habe alles<br />

reiflich erwogen«, springt die Vergangenheit, die sich nicht zu<br />

helfen weiß, <strong>de</strong>r Welt an die Gurgel. Und doch war nie etwas weniger<br />

reiflich erwogen, und Shakespeares altersberatener Monarch,<br />

<strong>de</strong>r aus Hitze und nicht aus Kälte ins Ver<strong>de</strong>rben raste, ist<br />

daneben ein Gipfel staatsmännischer Erkenntnis.<br />

Hat mir nun Sonnenschein Kaiserwetter gemacht o<strong>de</strong>r steht er begossen<br />

da? Habe ich meine Gesinnung o<strong>de</strong>r jener meinen Sinn geschoben? Wenn<br />

es ihm eine Genugtuung bereitet, möge er die Blutsverwandtschaft meiner<br />

Sprache mit <strong>de</strong>m Krieg in <strong>de</strong>m Umstand bestätigt fin<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Verfasser<br />

<strong>de</strong>s Manifests, <strong>de</strong>ssen »Erhabenheit« einen Sinn haben sollte, <strong>de</strong>n mir nunmehr<br />

selbst ein Kriegsmärtyrer und wie erst ein Dichter nachfühlen wird, sich<br />

für die Anerkennung damit bedankt hat, daß er sie <strong>de</strong>r Stilschule <strong>de</strong>r Fackel<br />

zurückgab. Ich glaubte aber die Beruhigung haben zu können, daß aus ihr nur<br />

die Sprache, nicht <strong>de</strong>r Entschluß zur Tat hervorgegangen ist, <strong>de</strong>n ja jener Stilist<br />

nicht gefaßt hat. Immerhin war es mir be<strong>de</strong>nklich, daß zur Sprache <strong>de</strong>r<br />

Glaube an die Tat gehört hat. Aber es mußte mir genügen, daß ich ihn nicht<br />

hatte, und es verschlug mir wenig, ja es machte mir viel Spaß, daß hier eine<br />

harte Nuß und ein hohler Kopf zusammenstoßen könnten und ein Staunen übrig<br />

bliebe, wie mir Franz Josefs Manifest gefallen konnte. Ich habe diesem<br />

Künstler, <strong>de</strong>ssen Werk nicht von ihm, aber <strong>de</strong>ssen Unterschrift im Gegensatz<br />

zu <strong>de</strong>r eines jüngeren Kollegen echt war, einen »Nachruf« gewidmet; ein größerer<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch, ich gebe es zu, ward nicht erlebt, seit<strong>de</strong>m es Zeitschriften<br />

und Jahrgänge gibt. In einer Volksversammlung hätte ich einen schweren<br />

Stand, ihn aufzuklären; zumal wenn sie von Intellektuellen besucht wäre. Und<br />

was gebührt <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r fünf unheilschweren Worten, ja <strong>de</strong>ren graphischer An-<br />

82


ordnung einen künstlerischen Reiz abgewonnen hat, <strong>de</strong>n er we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn<br />

Kriegsgedichten noch auch <strong>de</strong>n Sprachwerken <strong>de</strong>r Revolution zuerkennen<br />

konnte, kann und können wird?<br />

Ihm gebührt, »daß die Republik, die Blutsverwandtschaft erkennend,<br />

mit <strong>de</strong>n hinterbliebenen Parasiten <strong>de</strong>r Kaiserzeit, wie mit<br />

<strong>de</strong>n Mitessern <strong>de</strong>r Revolution ein En<strong>de</strong> mache.«<br />

Ihm gebührt <strong>de</strong>r Dankbrief <strong>de</strong>s <strong>de</strong>mokratischen Präsi<strong>de</strong>nten Seitz<br />

und ein »Nachruf« durch die Wiener »Arbeiter—Zeitung«.<br />

Ich aber habe für weitere Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen mit <strong>de</strong>m Gespenst<br />

Kraus erst dann Zeit, bis es <strong>de</strong>n Mut und die Fähigkeit aufbringt,<br />

einen unverdrehten <strong>de</strong>utschen Satz vor Zeugen zu sprechen<br />

o<strong>de</strong>r öffentlich drucken zu lassen.<br />

Jetzt kann er mich zitieren.<br />

Wien, am 11. März 1920.<br />

Ich tat es. Was die Republik nun nach <strong>de</strong>n einfachen Konstatierungen,<br />

die vor ihren Augen gemacht und von mir wie<strong>de</strong>rholt sind, mit mir vorhat? Ob<br />

sie mir einen Denkzettel o<strong>de</strong>r nur einen Dankbrief geben, ob sie mich behufs<br />

leichterer Ausweisung auffor<strong>de</strong>rn wird, mich um die Landsmannschaft <strong>de</strong>s<br />

Herrn Sonnenschein zu bewerben, o<strong>de</strong>r ob sie gar, mein Wort gegen mich<br />

wen<strong>de</strong>nd, ein En<strong>de</strong> mit mir machen wird, weil ich sowohl ein hinterbliebener<br />

Parasit <strong>de</strong>r Kaiserzeit bin wie ein Mitesser <strong>de</strong>r Revolution — wer kann's wissen.<br />

Charakteristische Schlaglichter sind auf meine Gesinnung gefallen, auf<br />

die vor und nach <strong>de</strong>r Kriegszeit. Zumal meine zwei<strong>de</strong>utige Stellung zu Franz<br />

Josef hat mir die letzten Sympathien abgewen<strong>de</strong>t, die ich noch auf <strong>de</strong>m nach<br />

ihm benannten Quai gehabt habe, und das Mißtrauen <strong>de</strong>s Schottenrings erklärt<br />

sich durch die Tatsache, daß ich schon die längste Zeit von <strong>de</strong>r Börse<br />

ausgeblieben bin. Wur<strong>de</strong> so die Erwartung <strong>de</strong>s Publikums, daß ich dort Benedikt<br />

ersetzen wer<strong>de</strong>, getäuscht, so hat mir <strong>de</strong>r Tod dieses Führers in <strong>de</strong>n Augen<br />

aller, die noch eine Ehre im Leib haben, <strong>de</strong>n Rest gegeben. Ich war sein<br />

ausgesperrter Aftermieter und hinc erklären sich illae irae et lacrimae, die ich<br />

zu seinen Lebzeiten vergoß. Das Motiv gemeiner Rachsucht, das mich ihn bis<br />

ans Grab verfolgen ließ, woselbst es von seinen Angestellten enthüllt wur<strong>de</strong>,<br />

liegt klar zu Tage und daß ich einer älteren Börsengeneration ihre Tüchtigkeit<br />

genei<strong>de</strong>t habe, ist ebenso bewiesen wie die Tatsache, daß mich die Erfolge<br />

<strong>de</strong>r Expressionisten nicht schlafen lassen, weshalb ich mich bei <strong>de</strong>r Nacht<br />

hinsetze, um gegen sie zu schreiben. Was dabei herauskommt, sieht man, Polemiken<br />

von einem Ausmaß, daß <strong>de</strong>r Angegriffene darin verschwin<strong>de</strong>t und<br />

sich <strong>de</strong>shalb so groß vorkommt, wie die Arbeit, die an ihn gewen<strong>de</strong>t ist. Wie<br />

sagt doch Sonka? »Warum fragen sie (<strong>de</strong>nn sie fragen): Wer ist Sonka? Wo,<br />

was?« Und mit solchen Fragen gelangt die alte Frage <strong>de</strong>s polemischen Komments<br />

nach <strong>de</strong>r Würdigkeit <strong>de</strong>s Gegners zur Erörterung, die ich wie immer<br />

damit beantworte, daß man nieman<strong>de</strong>m zu viel Ehre erweist, zu <strong>de</strong>m einem<br />

etwas einfällt, und daß ich die Größe eines Werks nicht nach <strong>de</strong>m Objekt messe,<br />

son<strong>de</strong>rn nach <strong>de</strong>r Distanz und <strong>de</strong>r Fülle <strong>de</strong>ssen, was in ihr Raum hat. Objekt<br />

ist nie <strong>de</strong>r Gegner, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Umstand, daß es ihn gibt, und die Möglichkeit,<br />

daß das Nichtsein jetzt einen Ausdruck und <strong>de</strong>r hysterische Drang<br />

nach Beachtung Publizität fin<strong>de</strong>t. Den zu erlösen, mag mir eine Qual sein,<br />

aber kein Be<strong>de</strong>nken, das mich hemmen könnte, die kranke Zeit an allen Konvulsionen<br />

zu beobachten, die sie doch für mich und vor mir wie sonst nie offenbart.<br />

Wenn ich unsere Dichter auch um ihre Erfolge benei<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Ruhm,<br />

83


<strong>de</strong>n ich ihnen selbst bereite, macht mir nicht bange und ich wage die Überschätzung,<br />

die in einem Essay über »Sonnenschein und die Ursachen« gefun<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n könnte, weil <strong>de</strong>r Mann vielleicht noch weniger Talent hat als Heine<br />

Charakter. Höher als je<strong>de</strong> Rücksicht auf einen ästhetischen Horizont, <strong>de</strong>r<br />

es nie begreift, daß ein breites Geschwätz von zwei Seiten knapp mit vierzig<br />

abgetan wer<strong>de</strong>n kann, steht mir die Pflicht, eine ungewarnte Jugend endlich<br />

von unüberlegten Eingriffen in meine Entwicklung abzuhalten und sie ein für<br />

allemal mit <strong>de</strong>m Rate zu beruhigen, daß sie im Zweifelsfall, ob sie sich an meine<br />

heutige o<strong>de</strong>r an meine ältere Ansicht über eine und dieselbe Frage zu halten<br />

habe, getrost annehmen soll, daß ich bei<strong>de</strong> habe, und sich nicht weiter<br />

<strong>de</strong>n kostbaren Kopf zerbrechen. O<strong>de</strong>r sie kann sich die Lösung <strong>de</strong>s Rätsels<br />

noch einfacher damit erklären, daß ich so beschei<strong>de</strong>n bin, es als die geringste<br />

Folge <strong>de</strong>s Weltkriegs anzusehen, daß ich meinen Standpunkt geän<strong>de</strong>rt habe.<br />

Denn ganz wie die trägen und korrupten Leute, <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Krieg Gelegenheit<br />

und Vorwand geboten hat, sage ich zur Beglaubigung von allem was uns nun<br />

schief und schlecht dünkt — und ich <strong>de</strong>nke, mit weit besserem Recht —: Ja,<br />

lieber Herr, jetzt war Krieg! Und da ist <strong>de</strong>nn das nackte Leben nicht nur ein<br />

Problem gewor<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn als das letzte zurückgeblieben, und nicht, wie die<br />

Idioten, die uns so weit gebracht haben, vermuten, die Ehre. Und weil es <strong>de</strong>nn<br />

so ist und in solcher Zeit die Politik, die es verschul<strong>de</strong>t hat, keinen an<strong>de</strong>rn Inhalt<br />

haben kann als dieses Problem und weil auch alle Kulturkritik nun auf<br />

nichts an<strong>de</strong>res hinausläuft als es zu verlangen, so verschmelzen Weltanschauung<br />

und Politik zu elementarer For<strong>de</strong>rung und so kann es wohl geschehen,<br />

daß jene, schon in <strong>de</strong>r Vorkriegszeit politisch gewertet, und diese, auf <strong>de</strong>m alten<br />

Weg zur Natur erreicht, etwas wie einen Wi<strong>de</strong>rspruch ergeben, <strong>de</strong>r ebensowenig<br />

wie das ganze Buch schuld ist, wenn es im Zusammenstoß mit einem<br />

Kopf hohl klingt. Es kann schon sein, daß von <strong>de</strong>r Verachtung <strong>de</strong>r Politik zu<br />

<strong>de</strong>m Wunsch, daß die Notwehr gegen ihre Folgen ihr Inhalt sei, für <strong>de</strong>n Oberflächling<br />

keine Brücke führt. Aber er soll getrost annehmen, daß ich, wenn ich<br />

durch Erlebnis <strong>de</strong>s Denkens und Fühlens zu <strong>de</strong>m Postulat gelangt bin, allen je<br />

bejahten Lebenswert zu opfern, um das Leben, das ihn doch erschafft, zu retten,<br />

mich darum nicht geän<strong>de</strong>rt habe, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r gleiche geblieben bin, und<br />

nicht zuletzt darin, daß ich jene, die durch die Phrase zu <strong>de</strong>r gleichen For<strong>de</strong>rung<br />

gelangt sind und schon vor mir, nicht als Mitkämpfer gelten lasse, son<strong>de</strong>rn<br />

ablehne wie eh und je. Welche Enthüllung, daß ich für die Menschlichkeit<br />

konservativ und gegen <strong>de</strong>n Pofel, <strong>de</strong>r sie bedroht o<strong>de</strong>r von ihrer Erhaltung<br />

lebt, revolutionär bin!<br />

Aber was hilfts, es zu sein, was hilfts es zu sagen. Die junge Literatur<br />

will gar nicht gewarnt sein, sie wird sich ihr Vorurteil gegen mich, das sie sich<br />

nachträglich erworben hat, nicht nehmen lassen, und die Gespenster, wie ich<br />

ihrer aufgeregten Phantasie eines vorstelle, sind bei weitem keine so guten<br />

Revenants wie die Hausierer. Ich <strong>de</strong>nke, daß das Motiv meines Gesinnungswechsels<br />

und <strong>de</strong>r sonstigen Geschäfte noch oft auftauchen und daß noch mancher<br />

Anhänger Lust bekommen wird, an mir zu en<strong>de</strong>n, und mancher Ehrgeizige,<br />

seine Sporen an mir zu verlieren. Was schafft ihm die Illusion, sie zu gewinnen?<br />

Was bewirkt, daß Leute, die eben noch glücklich waren, mir hereinfallen<br />

zu dürfen, nun <strong>de</strong>n Rausch genießen können, mich zu »<strong>de</strong>maskieren«?<br />

Und daß man ihnen, wenigstens solange <strong>de</strong>r Anfall dauert, wirklich glaubt, sie<br />

fühlten sich dazu »gezwungen«, nicht durch pathologischen, son<strong>de</strong>rn durch<br />

ethischen Beruf? Nichts weiter als <strong>de</strong>r Tonfallschwin<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>n die Zeitung ermöglicht,<br />

und <strong>de</strong>r Sperrdruck, <strong>de</strong>n sie für solche Emotionen zur Verfügung<br />

stellt. Wenn einer, selbst in richtiger Zitierung, Sätze ausbricht und ausruft zu<br />

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<strong>de</strong>m Zwecke, eine ungeheuerliche Gesinnung anzuklagen, so stellt sich bei allen,<br />

die vom Original keinen Ton verstehn, aber schon darauf warten, es überführt<br />

zu sehen, unfehlbar die Wirkung jenes»Ah da schauts her!« ein, die ich<br />

auf <strong>de</strong>r Straße prompt herzustellen mich verpflichte, wenn ich <strong>de</strong>r Menge zurufe,<br />

daß <strong>de</strong>r Herr da soeben seine Uhr aus <strong>de</strong>r Tasche gezogen hat; in <strong>de</strong>m<br />

von mir erzeugten Wirbel — ich brauchte gar nicht die Parole »Haltet <strong>de</strong>n<br />

Dieb!« — könnte ich ruhig verschwin<strong>de</strong>n, selbst wenn ich es war, <strong>de</strong>r ihm die<br />

Uhr aus <strong>de</strong>r Tasche gezogen hat. Ein gemachter Mann. Natürlich kann ich<br />

mich in <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgabe solcher Produktionen nicht darauf beschränken, die<br />

Sätze im Sperrdruck zu geben, die jener ausrufen wollte — meine eigenen —,<br />

son<strong>de</strong>rn muß auch die seinen spationieren, weil dadurch meine Entlarvung<br />

noch besser gelingt. Der Auffor<strong>de</strong>rung, einen unverdrehten <strong>de</strong>utschen Satz zu<br />

sprechen, genüge ich freilich besser damit, daß ich mich selbst zitiere, notabene<br />

in <strong>de</strong>r Fassung, die ein Satz von mir hatte, ehe er verdreht wur<strong>de</strong>. Daß<br />

meine Sätze nicht leicht zu verstehen sind — auch dort nicht, wo sie es scheinen<br />

—, will ich zugeben. Wiewohl sie nur von »Karl Kraus, Wien« sind, also eigentlich<br />

keine Angelegenheit <strong>de</strong>s Kosmos, son<strong>de</strong>rn mehr eine Lokosache, so<br />

sind sie doch nicht ab Wien sofort greifbar und erregen darum häufig Kopfschütteln<br />

und Verdruß. Wer sie trotz<strong>de</strong>m und justament zu greifen sucht, <strong>de</strong>m<br />

bleibt ein plumper Sinn in <strong>de</strong>r Hand, <strong>de</strong>n sie in ihrem geistigen Milieu nicht<br />

hatten, aber im Neuen Wiener Journal wirkungsvoll bewähren. Doch sind es<br />

eben wie gesagt keine unverdrehten <strong>de</strong>utschen Sätze mehr und selbst dann<br />

nicht, wenn sie unversehrt in solche Hän<strong>de</strong> geschoben wären. Sonst freilich<br />

gäbe es noch allerlei Arten, <strong>de</strong>r Auffor<strong>de</strong>rung zu genügen. Falls sie wirklich<br />

noch nicht erfüllt wäre, könnte ich etwa sagen: Mit mir ist kein Geschäft zu<br />

machen! Das ist doch gewiß ein unverdrehter <strong>de</strong>utscher Satz. Aber da könnte<br />

ein Polemiker vielleicht zurückkommen und fragen, ob mit mir nicht vielleicht<br />

doch ein Geschäft zu machen ist. Dann wür<strong>de</strong> ich etwa sagen: Abfahren! Das<br />

ist doch gewiß ein unverdrehter <strong>de</strong>utscher Satz. Welchen er sonst noch zu hören<br />

wünscht, ahne ich nicht. Wir bewegen uns doch im Gebiete <strong>de</strong>r Literatur<br />

und sind mit unsern Spekulationen im Kosmos und nicht auf <strong>de</strong>r Börse. Dort<br />

mag ich in einer dunklen Stun<strong>de</strong> gesehen wor<strong>de</strong>n sein; er ist dort nicht zuhause.<br />

Denn wäre er's, so wür<strong>de</strong> er doch nicht die sittliche Kompetenz aufbringen,<br />

an helllichtem Tage über mich zu richten. Sein Angriff ist mir, wenn ich<br />

je an ihm gezweifelt hätte, ein Beweis für ihn, ein Gegenbeweis gegen die bloße<br />

Möglichkeit, daß sein Denken mit Interessen verknüpft sein könnte, die<br />

das Gerücht mir nachsagt und infolge<strong>de</strong>ssen sein Artikel an<strong>de</strong>utet. Gewiß,<br />

auch mir geschieht unrecht; <strong>de</strong>nn selbst von mir ist es klar, daß ich mich wenigstens<br />

jetzt, wo ich doch schon gewarnt bin, nicht in ethischen Dingen mausig<br />

machen und mit Butter auf <strong>de</strong>m Kopf <strong>de</strong>m Sonnenschein aussetzen wer<strong>de</strong>.<br />

Nichts da, wir sind in <strong>de</strong>r Literatur! Und da gilt, weil wir Nihilisten sind, zwar<br />

auch keine Moral, <strong>de</strong>nn wie sagt doch Sonka:<br />

Zum Teufel die Moral! sie ist nicht Sprache gewor<strong>de</strong>n: es ist<br />

gleich 1 : 1, wenn es sein muß, eins ist nicht zwei, wenn es nicht<br />

sein muß; dies ist <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> klar. Braucht die Er<strong>de</strong> Gott? Was<br />

braucht die Er<strong>de</strong> Gott!<br />

Doch wir ha<strong>de</strong>rn, wenn's schon um je<strong>de</strong>n Preis sein muß, mit Gott, aber<br />

feilschen nicht mit <strong>de</strong>n Menschen. Wohl bin ich ein Ichweißetwas, aber nur in<br />

Beziehung auf eine verdächtige Zeit, in <strong>de</strong>ren Atmosphäre ich das Einzelbild<br />

halte, nie in Beziehung auf <strong>de</strong>n Einzelnen. Möge dieser mit einem unverdreh-<br />

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ten <strong>de</strong>utschen Satz sagen, was er eigentlich meint und ob er auf sich etwas<br />

weiß, was meiner Kenntnis auch dann entzogen bleiben wird, wenn er es gesagt<br />

hat. Ich halte ihn für einen Schriftsteller; wenngleich für einen schlechten.<br />

Ich könnte also vielleicht noch <strong>de</strong>n einen unverdrehten Satz über ihn sagen:<br />

daß er keinen schreiben kann. Und infolge<strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n schreiben<br />

konnte:<br />

— Meerengen von Fischerbooten torpediert; Untersee von Langmut<br />

<strong>de</strong>stilliert; Riesenerze Malachit und Hydroxyd schmelzen im<br />

Tumult <strong>de</strong>r These: Branntwein nistet in <strong>de</strong>r Teuerung; Rosenernte<br />

hämmert in die Stellung aller Offensiven und am Knotenpunkt <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong>n lagert Munition. —<br />

Will man noch zwingen<strong>de</strong>re Sprache? Brauch ich Verstärkung gegen<br />

das Frachtstück im Kampf um <strong>de</strong>n Tanz auf Er<strong>de</strong>n! Ich heiße<br />

Sonka, <strong>de</strong>r Dichter von Mund zu Mund.<br />

Die Menschen sehen mich und hören meine Stimme, sie lesen dieses<br />

Nihilisten Manifeste, sie sehen dieses Mathematikers Skelette,<br />

warum fragen sie (<strong>de</strong>nn sie fragen): Wer ist Sonka? Wo, was?<br />

Ein Ichweißetwas wür<strong>de</strong> antworten: »Wer? Ein Mystiker. Wo? Im Neuen<br />

Wiener Journal. Was? Weiß ich?« Aber auch ich glaube, die Frage in einer ihn<br />

erschöpfen<strong>de</strong>n Art und Weise beantwortet zu haben. Und wenn ich nie einen<br />

eigenen <strong>de</strong>utschen Satz geschrieben hätte, so wäre mir doch durch meine Zitate<br />

aus <strong>de</strong>r zeitgenössischen Literatur meine Stellung in dieser gesichert.<br />

Aber hier setzt das Chaos ein und alles beginnt im Tumult <strong>de</strong>r These zu<br />

schmelzen. Denn obgleich Franz Josefs Manifest wesentlich daran Schuld<br />

trägt, daß heute Branntwein in <strong>de</strong>r Teuerung nistet, so halte ich seine Sprache<br />

noch jetzt für zwingen<strong>de</strong>r als dieses Nihilisten Manifeste, sowohl das von<br />

einem Neuen Daimon wie das vom Neuen Wiener Journal an <strong>de</strong>n Tag gebrachte.<br />

Die Spielart, die sich zugleich so tänzerisch auf <strong>de</strong>n Höhen einer weltzernichten<strong>de</strong>n<br />

Gedanklichkeit und so gewandt im Sammelkanal eines Sensationsblatts<br />

bewegen kann und <strong>de</strong>ren eine Fertigkeit die an<strong>de</strong>re entlarvt, wenn's<br />

nicht je<strong>de</strong>r für sich gelingt, ist zahlreich wie die Fauna einer Untersee, die<br />

selbst Langmut nicht <strong>de</strong>stillieren könnte. Es sind Quallen, Mollusken, Tintenfische,<br />

die, um sich <strong>de</strong>r Verfolgung zu entziehen, einen Wirbel machen und die<br />

Flüssigkeit von sich geben. Sich selbst machen sie, je nach Bedarf, dunkel, in<strong>de</strong>m<br />

sie sich die Artikel und Interpunktionen ausbrechen. Diese jungen Drahrer<br />

reißen <strong>de</strong>r Satzwelt die Syntax aus, weil das Leben auch mit ihr keinen<br />

Sinn hat, weil eh alles Wurst ist und nichts ein Gedanke. Was hauptsächlich<br />

durch die Inkohärenz <strong>de</strong>r Erscheinungen und in<strong>de</strong>m ein jeglich Ding die Zustän<strong>de</strong><br />

kriegt, die es von Natur nicht haben sollte, bewiesen wird. Man traut<br />

ihnen beiweitem nicht zu, daß sie Wert darauf legen, auf <strong>de</strong>m festen Grun<strong>de</strong><br />

moralischer und logischer Geltung Standpunkte einzunehmen. Je<strong>de</strong>nnoch,<br />

wenns gegen mich geht, sind es gute Draufgänger. Dann simulieren sie normal<br />

zu sein, aber ich glaub's ihnen nicht und mir ist, als hämmerte Rosenernte<br />

in die Stellung ihrer Offensiven. Sie sind nichts und das ist es, was sie gegen<br />

mich haben. Wie sie am Stran<strong>de</strong> lagen und meine Sonne auf sie schien,<br />

konnten sie alle Farben spielen und sagten, sie wären Dichter von Mund zu<br />

Mund. Als die letzte Nacht hereinbrach, sagten sie, ich hätte meine Gesinnung<br />

gewechselt. Wohl hab' ich Stellen, wo ich sterblich bin. Denn als ich im<br />

Höllenfluß ba<strong>de</strong>te, um mich unverwundbar gegen Zeitungsangriffe zu machen,<br />

war schon so viel Tinte drin, daß das Gift nicht mehr ganz wirken konn-<br />

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te. Aber wenn ich mir solch einen Apoll bei seinem Licht besehe, mit solch einer<br />

Leier nebbich und mit solchem Pfeil — dann hab' ich, beim Styx!, für meine<br />

Achillesferse nichts zu fürchten. Und selbst mit ihr langt's noch zu einem<br />

Tritt!<br />

Und nun, überzeugt, daß je<strong>de</strong>r Pogrom durch eine Ablenkung bei<strong>de</strong>r<br />

Teile auf mich zu besänftigen wäre, wen<strong>de</strong> ich mich wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m christlich—<br />

germanischen Schönheitsi<strong>de</strong>al zu. Kein Tag, <strong>de</strong>r mir nicht einen Schall von jenem<br />

Rachechor zutrug, immer wie<strong>de</strong>r eine Zusatzstrophe zu Wahnschaffes<br />

unendlicher Melodie, <strong>de</strong>r mich für <strong>de</strong>n heillosen Ausgang seines kriegerischen<br />

Abenteuers verantwortlich zu machen schien, als säße Wilhelm nicht in Amerongen,<br />

wenn ich nicht nach Innsbruck gekommen wäre. Die Lust, nicht mehr<br />

dort zu sein, war beeinträchtigt durch die Erinnerung an jene e<strong>de</strong>ln, hilfreichen<br />

und guten Menschen, die zu mir gestan<strong>de</strong>n hatten und die nun, behaftet<br />

mit diesem Odium, im Gedränge nationaler Tobsucht zurückbleiben mußten.<br />

Ich wußte schon, daß ihrem Wunsch, mich und ihre Vaterstadt, die es dringen<strong>de</strong>r<br />

nötig hat, zu rehabilitieren, noch lange Zeit die Erfüllung versagt bleiben<br />

müßte, und wollte nichts tun, ihre Schwierigkeiten zu vermehren.<br />

Die 'Volks—Zeitung' am 7. Februar:<br />

DER GRÜNE TERROR.<br />

Karl Kraus hat gestern Innsbruck verlassen, ohne die angekündigte<br />

Vorlesung zu absolvieren. Sicherlich haben dazu äußere Umstän<strong>de</strong><br />

beigetragen. Der Musikvereinssaal ist auf eine Reihe Tage<br />

hinaus belegt, an<strong>de</strong>re geeignete Lokale stan<strong>de</strong>n nicht zur Verfügung.<br />

Auf <strong>de</strong>n kleinen Stadtsaal, auf <strong>de</strong>n die Veranstalter <strong>de</strong>s<br />

Abends Anspruch erhoben haben, war ein Verein »eventuell« vorgemerkt.<br />

In<strong>de</strong>s hätte es sich, wie wir überzeugt sind, bei gutem<br />

Willen schon so richten lassen, dieses Lokal für die Vorlesung freizubekommen.<br />

Aber wo <strong>de</strong>r Wille fehlt, gibt es keinen Weg!<br />

Die Herren <strong>de</strong>s Stadtpolizeiamtes waren vielleicht ob <strong>de</strong>r Lokalschwierigkeit<br />

froh, <strong>de</strong>nn sie glauben, daß ihnen diese Not die<br />

Möglichkeit gibt, das gera<strong>de</strong>zu unglaubliche Zurückweichen vor<br />

<strong>de</strong>m stu<strong>de</strong>ntischen Terror einigermaßen zu ver<strong>de</strong>cken. Gelingen<br />

wird das <strong>de</strong>n Allgewaltigen <strong>de</strong>r Innsbrucker Sicherheit allerdings<br />

nicht. Es ist und bleibt eine Schan<strong>de</strong> für Innsbruck, daß die Ausübung<br />

<strong>de</strong>s gesetzlich gewährleisteten und in <strong>de</strong>r Republik wohl<br />

selbstverständlichen Rechtes, Vorlesungen zu halten, die sich u. a.<br />

auch mit <strong>de</strong>n Eigenschaften gewesener Monarchen beschäftigen,<br />

abhängig ist von einer stu<strong>de</strong>ntischen Knüppelgar<strong>de</strong>; es ist eine<br />

Schan<strong>de</strong> für Innsbruck, daß die Polizei, anstatt die jungen Herren,<br />

die mit Prügel und Ochsenziemer ausrücken, das freie Wort zu erschlagen,<br />

in Zügel zu halten, einfach einen Vortrag verbietet. Das<br />

freie Wort ist also in Innsbruck abhängig von <strong>de</strong>r Wohlmeinung<br />

gewisser Herren Stu<strong>de</strong>nten, von <strong>de</strong>r noch grünen Jugend, die sich<br />

in gewissen Verbindungen sammelt. Die Gesetze <strong>de</strong>s Staates garantieren<br />

das freie Wort, aber in Innsbruck darf davon nur so weit<br />

Gebrauch gemacht wer<strong>de</strong>n, als es eben <strong>de</strong>r grüne Terror erlaubt.<br />

Es wird über diese unerhörte Vergewaltigung und die beispiellose<br />

Kapitulation <strong>de</strong>r Polizei vor <strong>de</strong>m grünen Terror <strong>de</strong>r Wilhelm—Ver-<br />

87


ehrer an zuständiger Stelle noch das Notwendige zu sagen sein.<br />

So weit sind wir hoffentlich doch noch nicht, daß die grünen Terroristen<br />

bloß mit <strong>de</strong>m Knüttel zu drohen brauchen und die Polizei<br />

legt durch das Verbot einer Veranstaltung höchstselbst einem <strong>de</strong>n<br />

Herren Stu<strong>de</strong>nten unangenehmen Vortragen<strong>de</strong>n die Mundsperre<br />

auf.<br />

Karl Kraus hat gestern abends Innsbruck verlassen. Er gab jedoch<br />

das Versprechen, einer an ihn ergangenen Einladung Folge zu<br />

leisten und <strong>de</strong>mnächst in Innsbruck einen Vortrag zu halten. An<br />

diesen Vortrag wird, <strong>de</strong>ssen mögen die grünen Terroristen überzeugt<br />

sein, <strong>de</strong>r Knüttel nicht herankommen.<br />

Doch auch nicht <strong>de</strong>r Vortragen<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n, was nun noch kam, <strong>de</strong>s Versprechens<br />

entbin<strong>de</strong>t.<br />

88<br />

'Allgemeiner Tiroler Anzeiger', 10. Februar:<br />

DER TIROLER ANTISEMITENBUND UND DIE KRAUS—VORLESUNG.<br />

In einer Entschließung vom 6. ds. erhebt <strong>de</strong>r Tiroler Antisemitenbund<br />

feierlichen Protest gegen die kürzlich stattgefun<strong>de</strong>ne Karl—<br />

Kraus—Vorlesung, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong> Karl Kraus seinen ganzen Hohn<br />

und Spott über unser namenloses Unglück, über <strong>de</strong>n furchtbaren<br />

moralischen Zusammenbruch <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Volkes ergossen hat.<br />

Niemals kann und wird das <strong>de</strong>utsche Volk einen Volksfrem<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>r mit uns nur die Sprache gemein hat, als Richter anerkennen<br />

o<strong>de</strong>r nur dul<strong>de</strong>n. Es gibt genug <strong>de</strong>utsche Männer, die diese<br />

schrecklichste Zeit, die je über ein Volk gekommen ist, nicht nur<br />

erleben, son<strong>de</strong>rn auch furchtbar unter <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r Ereignisse lei<strong>de</strong>n.<br />

Diese Männer und nur diese, sind berufen, wenn es Not tut,<br />

uns <strong>de</strong>n Spiegel vorzuhalten, weil wir wissen, daß sie es mit bluten<strong>de</strong>m<br />

Herzen tun. Niemals lassen wir ein Beurteilen unseres<br />

Tuns von einem Manne geschehen, <strong>de</strong>r dadurch nur seine teuflischen<br />

Haß—, Spott— und Rachegelüste befriedigt. Der Antisemitenbund<br />

spricht sein Bedauern darüber aus, daß ein <strong>de</strong>utscher<br />

Verlag, mit einem Deutschen, einem Tiroler an <strong>de</strong>r Spitze, es zu<br />

Stan<strong>de</strong> gebracht hat, diesen Deutschenhasser nach Innsbruck einzula<strong>de</strong>n.<br />

Der Bund gibt seinem Verwun<strong>de</strong>rn darüber Ausdruck,<br />

daß <strong>de</strong>r Innsbrucker Musikverein seinen Saal hergegeben hat.<br />

Der Tiroler Antisemitenbund gibt sein Entsetzen darüber kund,<br />

daß nicht alle <strong>de</strong>m Vortrage beiwohnen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Männer<br />

und Frauen nach o<strong>de</strong>r während <strong>de</strong>r Vorlesung <strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rlichen<br />

Szene »Deutsches Hauptquartier«, wenn nicht aus an<strong>de</strong>ren Grün<strong>de</strong>n,<br />

so doch aus angeborenem Schamgefühl <strong>de</strong>n Saal verlassen<br />

haben. Der Tiroler Antisemitenbund gibt ferner <strong>de</strong>r breiten Öffentlichkeit<br />

kund, daß es <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>shauptrnannstellvertreter<br />

Dr. Gruener war, <strong>de</strong>r mit Hilfe <strong>de</strong>r von ihm herbeigerufenen Polizei,<br />

die die Empörten aus <strong>de</strong>m Saale drängten, die Fortsetzung<br />

<strong>de</strong>r Vorlesung und mithin die Fortsetzung <strong>de</strong>r Beschimpfung <strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>utschen Volkes ermöglichte. Der Tiroler Antisemitenbund<br />

spricht <strong>de</strong>m Universitätsprofessor Dr. Kastil sein Mißfallen darüber<br />

aus, daß er es wagte, seinen Hörern, <strong>de</strong>utschen Stu<strong>de</strong>nten<br />

zu sagen, daß er es bedauere, daß die Stu<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>n »großen Ge-


lehrten« Karl Kraus nicht ausre<strong>de</strong>n ließen und eine weitere Vorlesung<br />

verhin<strong>de</strong>rten.<br />

Die Bun<strong>de</strong>sleitung <strong>de</strong>s Tiroler Antisemitenbun<strong>de</strong>s.<br />

Der Tiroler Antisemitenbund irrt. Gera<strong>de</strong> die Sprache habe ich mit ihm<br />

nicht gemein. Die meine ist <strong>de</strong>utsch.<br />

'Allgemeiner Tiroler Anzeiger' 12. Februar:<br />

DER TIROLER ANTISEMITENBUND UND DIE KRAUS—VORLESUNG.<br />

Zu <strong>de</strong>r so betitelten Notiz erhalten wir von Herrn Prof. Kastil folgen<strong>de</strong>s<br />

Schreiben: Im gestrigen Mittagsblatte wird meiner Stellungnahme<br />

zu <strong>de</strong>n Demonstrationen gegen Herrn Kraus in einer<br />

Weise gedacht, die ich berichtigen muß. Es ist mir nicht eingefallen,<br />

Karl Kraus einen »großen Gelehrten« zu nennen, wohl aber<br />

trat ich für ihn als Künstler, Ethiker und Menschen ein, fand seine<br />

lauteren Absichten schwer mißverstan<strong>de</strong>n und verurteilte die terroristische<br />

Metho<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch gegen ihn geäußert<br />

hat, als durchaus unpassend, unstu<strong>de</strong>ntisch und <strong>de</strong>m geistigen<br />

Leben unserer Stadt höchst gefährlich. Für die Aufnahme dieser<br />

Zeilen verbindlich dankend usw. Professor Kastil.<br />

Hier hat einer, <strong>de</strong>r in Innsbruck lebt, nicht meinen Mut verloren, son<strong>de</strong>rn<br />

ihn in meiner Vertretung — ich war verhin<strong>de</strong>rt — bewährt. Die wenigen<br />

Menschen, die in Europa leben, wiewohl sie in Mitteleuropa leben, wer<strong>de</strong>n<br />

ihm dafür dankbar sein, je lebhafter sie sich vorstellen, welchen Anfeindungen<br />

er sich durch seine Haltung in jenem Kreise ausgesetzt hat, <strong>de</strong>ssen Denken<br />

sich noch unter weit ungeistigeren Bedingungen als das <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>nten<br />

vollzieht: in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Professoren, die auch als Kollegen zur Ausübung <strong>de</strong>r<br />

Mißgunst berufen sind. Jenes aka<strong>de</strong>mische Neu—Deutschland, das nach <strong>de</strong>n<br />

Göttinger Sieben durch dreiundneunzig Intellektuelle erst das Maß vollzumachen<br />

wähnte; jene Sorte, die für Schlächtermeister die Ehrendoktorate bereit<br />

hielt und <strong>de</strong>m Professor Nicolai die wissenschaftliche Wür<strong>de</strong> aberkannt hat;<br />

jene Oberstlehrerschaft, die schon wie<strong>de</strong>r Tod und Ehre doziert — sie hat<br />

auch in Innsbruck ihren Mann gestellt, einen von allem Spiritus freien Rektor,<br />

<strong>de</strong>r infolge<strong>de</strong>ssen auch <strong>de</strong>r Anreger stu<strong>de</strong>ntischer Tatkraft wur<strong>de</strong>. Er heißt<br />

Diehl, ist ein Reichs<strong>de</strong>utscher, verfaßt urkomische nationale Aufrufe, <strong>de</strong>ren<br />

Stilblüten von Magnifizenz sind und von Gymnasiasten gesammelt wer<strong>de</strong>n,<br />

und flocht bei einer Promotion, zwei Tage nach meiner Vorlesung, in seine Ansprache<br />

an <strong>de</strong>n Kandidaten einige Bemerkungen ein gegen <strong>de</strong>n »rassefrem<strong>de</strong>n<br />

Verhöhner <strong>de</strong>r herrlichsten Gestalten <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Volkes« (Wilhelm<br />

und <strong>de</strong>r Generale), was, wie <strong>de</strong>r Gewährsmann hervorhebt, »<strong>de</strong>n anwesen<strong>de</strong>n<br />

Stu<strong>de</strong>nten als Auffor<strong>de</strong>rung erschien, sich an Ihnen zu vergreifen ... Erfreulich<br />

war nur das Eintreten <strong>de</strong>s Philosophieprofessors Kastil (Obmanns <strong>de</strong>r hiesigen<br />

Liga für Völkerbund) für Sie vor seinen Hörern, die seine Ansprache mit<br />

Achtung aufnahmen. Dafür ist er auch jetzt unter <strong>de</strong>r Professorenschaft ziemlich<br />

isoliert und verfehmt.« Es geht ihm also wie Tirol, <strong>de</strong>ssen Schicksal jener<br />

prächtige Rektor in einem Aufruf »an die gesittete Menschheit« beklagt hat,<br />

<strong>de</strong>r einem bei <strong>de</strong>r geschichtlichen Tragödie Tränen <strong>de</strong>r Heiterkeit entlocken<br />

konnte. Denn »die Universität Innsbruck ist« — und wer außer mir wür<strong>de</strong> es<br />

bezweifeln? — »weitblicken<strong>de</strong>n und abgeklärten Geistes genug, um zu erkennen<br />

und zu wissen«, daß nur ein schneller Anschluß helfen kann. Der Feind<br />

89


habe »einem in mehrtausendjähriger Geschichte gestählten und bewährten<br />

Volke« ein Recht verweigert, »das man selbst Analphabeten mit offener, segnen<strong>de</strong>r<br />

Hand hinwarf«; <strong>de</strong>r durch einen unerbittlichen Machtspruch geschaffene<br />

»Keil« aber »ist ein Tummelplatz jener Elemente«, nämlich <strong>de</strong>r »zweifelhaften,<br />

gewissenlosen Kreaturen aller Art«, worunter außer mir noch die<br />

Schieber gemeint sind, keineswegs jedoch die Radaumacher, wiewohl diese<br />

<strong>de</strong>r gesitteten Menschheit gera<strong>de</strong> auch nicht imponieren dürften. Man kann<br />

es <strong>de</strong>m Professor Kastil schon nachfühlen, daß ihm unter solchen Umstän<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Anschluß erschwert wird.<br />

Ein zweiter noch schien sich aus <strong>de</strong>m Kreise jener abson<strong>de</strong>rn zu wollen,<br />

<strong>de</strong>nen man die <strong>de</strong>m Lehrer geziemen<strong>de</strong> Führerschaft an <strong>de</strong>n stu<strong>de</strong>ntischen<br />

Bestrebungen nachrühmte. Noch in Innsbruck erreichte mich sein Brief:<br />

Prof. Dr. Paul Mathes Innsbruck, 5. Feber 20<br />

Vorstand <strong>de</strong>r Univ. Frauen—Klinik Kaiser Wilhelmstr. 16<br />

Sehr geehrter Herr!<br />

Gestatten Sie, daß ich Ihnen im Namen <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skommission für<br />

Mutter— und Säuglingsfürsorge, <strong>de</strong>r ich als Obmann vorstehe,<br />

<strong>de</strong>n Dank dafür ausspreche, daß Sie in so großherziger Weise<br />

über das Reinerträgnis Ihrer Vortragsaben<strong>de</strong> verfügt haben. Lei<strong>de</strong>r<br />

ist <strong>de</strong>r Plan nicht so zur Ausführung gekommen, wie es gehofft<br />

wur<strong>de</strong>.<br />

Mit <strong>de</strong>n besten Empfehlungen und <strong>de</strong>m Ausdrucke <strong>de</strong>r vorzüglichsten<br />

Hochachtung ergebener<br />

Mathes<br />

Um die enttäuschte Hoffnung nachträglich zu erfüllen, machte ich eine<br />

Geldsendung postfertig, durch welche eine von einem Wiener Vortrag erübrigte,<br />

schon ursprünglich <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rfürsorge zugedachte Summe an <strong>de</strong>n Innsbrucker<br />

Verein gelangen sollte. Die Hörer <strong>de</strong>s Professors Mathes, <strong>de</strong>r nur<br />

durch Zufall in <strong>de</strong>r Kaiser Wilhelmstraße zu wohnen schien, sollten wenigstens<br />

<strong>de</strong>n einen Triumph nicht haben, seine Mütter und Säuglinge verkürzt zu<br />

haben. Der erste Abend hatte, wiewohl er auch die Kosten <strong>de</strong>s zweiten <strong>de</strong>cken<br />

mußte, immerhin 722 K 90 h <strong>de</strong>m Verein eingebracht. Nun wünschte ich auch<br />

<strong>de</strong>n größeren Ausfall zu ersetzen. Da geschah etwas, das diesen Wunsch erstarren<br />

ließ, ehe er als Zudringlichkeit erschienen wäre:<br />

90<br />

DIE LANDESKOMMISSION FÜR MUTTER— UND SÄUGLINGSFÜRSORGE<br />

ist durch das Verbot <strong>de</strong>s zweiten Vortragsaben<strong>de</strong>s von Karl Kraus<br />

um eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Einnahme gekommen. Der Vortragen<strong>de</strong> hatte<br />

durch <strong>de</strong>n Brennerverlag beim Stadphysikat anfragen lassen, welches<br />

gemeinnützige Unternehmen einer Unterstützung beson<strong>de</strong>rs<br />

bedürftig sei, worauf die Säuglingsfürsorge genannt wur<strong>de</strong>. Der<br />

Vorstand hatte unbe<strong>de</strong>nklich die Widmung anzunehmen erklärt<br />

und gehofft, durch die Veranstaltung an Popularität und Geldmitteln<br />

zu gewinnen. Diese Hoffnung ist nun lei<strong>de</strong>r fehlgeschlagen.<br />

Der Vorstand bittet nun alle, die schon Karten gelöst hatten, <strong>de</strong>n<br />

Betrag <strong>de</strong>r Säuglingsfürsorge, 'Margarethenplatz 1, zu widmen


und das blühen<strong>de</strong>, angestrengt tätige Unternehmen DEN<br />

GESCHEHENEN MISSGRIFF nicht entgelten zu lassen.<br />

Das erschien in <strong>de</strong>n 'Innsbrucker Nachrichten' am 12. Februar. Konnte<br />

alles, was bis dahin geschehen und erschienen war, als das satirische Schauspiel,<br />

wie sich so viel Stumpfheit <strong>de</strong>r Hirne und Häßlichkeit <strong>de</strong>r Herzen mit<br />

Hilfe <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong>nsart zur Empörung emportrieb, <strong>de</strong>n Betroffenen, <strong>de</strong>r doch immer<br />

ein Betrachten<strong>de</strong>r blieb, bei lebendigen Kräften erhalten, so war dieses<br />

an<strong>de</strong>rs. Ein bitterer Geschmack im Mun<strong>de</strong> ließ nur noch <strong>de</strong>n Verzicht zu, eine<br />

menschliche Handlung gegen <strong>de</strong>n zu schützen, <strong>de</strong>m sie geschehen war und<br />

<strong>de</strong>r sie hinnahm, um ihren Sinn preiszugeben. Die Hän<strong>de</strong> dir zu reichen<br />

schauerts <strong>de</strong>n Reinen, und selbst <strong>de</strong>m Bettler, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Kirchenpforte sitzt,<br />

um nicht die Gabe, doch ihre Absicht zu verschmähn. Er hatte einen Mißgriff<br />

getan. Der Not gehorchend, darum doppelt bemitlei<strong>de</strong>nswert, brachte die Humanität<br />

sich selbst zum Opfer dar. Ihr und mir will ich weitere Beschämung<br />

ersparen, durch ein weiteres Wort, durch die weitere Gabe. Es wird ein <strong>de</strong>utsches<br />

Datum bleiben. Möchten jene Innsbrucker Hörer, die in unverwan<strong>de</strong>lt<br />

mir zugetaner Gesinnung <strong>de</strong>n zweiten Vortrag besuchen wollten, die Bitte <strong>de</strong>s<br />

Vorstands beherzigt und Säuglinge die Gesinnung ihrer Fürsorger nicht haben<br />

entgelten lassen. Mich aber, <strong>de</strong>r unbe<strong>de</strong>nklich zu geben geglaubt hatte,<br />

nicht meinen Mißgriff.<br />

Wo ich hingeraten war, wies mir, wenn ichs nicht schon gewußt hätte,<br />

<strong>de</strong>r 'Allgemeine Tiroler Anzeiger', <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>mselben Tag die folgen<strong>de</strong> Notiz<br />

brachte:<br />

EIN SKANDAL. — — Das Geld muß es manchen Leuten nur so hereinschneien,<br />

daß sie nicht wissen, was anfangen. Für die ist in <strong>de</strong>n<br />

Lä<strong>de</strong>n und in <strong>de</strong>n Wirtshäusern nichts zu teuer, keine Unterhaltung<br />

zu lustig und kein Vergnügen zu ausgelassen. Die Vergnügungslokale<br />

sind immer hübsch voll, während ein an<strong>de</strong>rer Teil <strong>de</strong>r<br />

Bevölkerung in <strong>de</strong>n kalten Löchern daheim frieren und hungern<br />

mag. Und es gibt immer Unternehmer, welche <strong>de</strong>r Ausgelassenheit<br />

einer übermütigen Gesellschaft Vorschub leisten. Beson<strong>de</strong>rs<br />

bedauerlich ist, daß auch Theaterdirektor Exl da mittut. Für<br />

Samstag ist in <strong>de</strong>n Kammerspielen im »Grauen Bären« »Frühlings<br />

Erwachen« von We<strong>de</strong>kind angesagt, ein Stück, das schon zu <strong>de</strong>n<br />

ärgsten Schweinereien gehört, die überhaupt je geschrieben wor<strong>de</strong>n<br />

sind. Das ist nicht mehr Kunst, son<strong>de</strong>rn Schweinstall. Ist die<br />

heutige Zeit, und eine Stadt, wo die Not aus tausend Fensterlä<strong>de</strong>n<br />

grinst, geeignet, mit <strong>de</strong>r niedrigsten Verhöhnung alles <strong>de</strong>ssen,<br />

was anständige Leute Sitte nennen, einem übermütigen, satten<br />

und geilen Schmarotzertum die Nachtstun<strong>de</strong>n zu würzen? Es<br />

könnte diesen Übermütigen schon doch einmal etwas passieren,<br />

wenn man nicht aufhört die Bevölkerung herauszufor<strong>de</strong>rn, Daß<br />

die einen hungern müssen, in<strong>de</strong>s die an<strong>de</strong>ren bei <strong>de</strong>r Sauglocke<br />

vor Vergnügen wiehern und in <strong>de</strong>r moralischen Gosse sich wälzend,<br />

vor Wonne grunzen, könnte mit <strong>de</strong>r Zeit doch auch <strong>de</strong>n geduldigen<br />

Innsbruckern zu dick wer<strong>de</strong>n. Der Landbevölkerung ist<br />

dieser Skandal ohnedies schon längst ein Ärgernis. Zu wun<strong>de</strong>rn<br />

ist nur, daß es In <strong>de</strong>r Stadt niemand gibt, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Skandal<br />

aufräumt. Das wäre <strong>de</strong>r Stadt in je<strong>de</strong>r Beziehung nur von Nutzen.<br />

91


Infolge<strong>de</strong>ssen verbot die Innsbrucker Behör<strong>de</strong> die Aufführung von<br />

Frank We<strong>de</strong>kinds »Frühlings Erwachen«. (Die 'Volks—Zeitung' hat auf <strong>de</strong>n<br />

Zusammenhang all dieser Greuel hingewiesen.) Nein, auch <strong>de</strong>n brauchen wir<br />

nicht, auch <strong>de</strong>r braucht nicht zu kommen, rief die Lan<strong>de</strong>sbildung.<br />

Der Rumor dieser armen Seelen erbrach sich nun in <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Debatte<br />

<strong>de</strong>s Innsbrucker Gemein<strong>de</strong>rates, die an <strong>de</strong>n Berichten, soweit sie Verschie<strong>de</strong>nheiten<br />

enthalten, dargestellt sei, aber sicher noch Kulturwerte geför<strong>de</strong>rt<br />

hat, zu <strong>de</strong>ren Überlieferung ein Protokoll erwünscht wäre.<br />

92<br />

Die 'Volks—Zeitung' (14. Februar) berichtete:<br />

Im Vor<strong>de</strong>rgrun<strong>de</strong> stand die durch eine Interpellation unserer Genossen<br />

hervorgerufene Debatte über die verbotene Kraus—Vorlesung.<br />

Unsere Interpellation beanstan<strong>de</strong>te das Vorgehen <strong>de</strong>r Innsbrucker<br />

Polizeibehör<strong>de</strong>, welche eine bereits genehmigte Vorlesung<br />

eines bekannten Schriftstellers einfach aus <strong>de</strong>m Grun<strong>de</strong> verbot,<br />

weil sie eingeschüchtert durch die Drohungen verschie<strong>de</strong>ner<br />

Herrchen, diese Vorlesung zu stören, fürchtete, bei allfälligen Gegenströmungen<br />

einschreiten zu müssen. Dies war <strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>r<br />

Innsbrucker Polizei unangenehm — nicht <strong>de</strong>r Polizeimannschaft<br />

selber, die hätte wohl sicher solche radaulustige Burschen und feige<br />

all<strong>de</strong>utsche Krakeeler gerne in ihre Obhut genommen —, <strong>de</strong>shalb<br />

wur<strong>de</strong> die Vorlesung verboten. Unsere Interpellation richtete<br />

sich nur gegen diesen Vorgang, <strong>de</strong>n man als eine Unterdrückung<br />

<strong>de</strong>r freien Meinungsäußerung bezeichnen muß. Einen <strong>de</strong>rartigen<br />

bequemen, aber auch unrühmlichen Ausweg zu suchen, ist we<strong>de</strong>r<br />

ein Ruhmesblatt für die Innsbrucker Polizei, noch für <strong>de</strong>n Herrn<br />

Bürgermeister, <strong>de</strong>r ein solches Vorgehen auch bestätigte. Nur gegen<br />

diese Praxis <strong>de</strong>r Handhabung <strong>de</strong>r Polizeigewalt richtete sich<br />

unsere Interpellation.<br />

Der Bürgermeister beantwortete diese Anfrage dahin, daß er<br />

selbst <strong>de</strong>r Polizei diesen Auftrag gegeben habe, und zwar habe er<br />

sich von sicherheitspolizeilichen Grün<strong>de</strong>n leiten lassen. Er habe<br />

das Verbot auch im Einvernehmen mit <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sregierung, <strong>de</strong>r<br />

er als Bürgermeister für die Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r Ruhe und Ordnung<br />

verantwortlich sei, erlassen.<br />

Wir sind nun allerdings <strong>de</strong>r Ansicht, daß <strong>de</strong>r Herr Bürgermeister<br />

bei diesem Entschlusse nicht ganz frei war von äußeren Einflüssen,<br />

sei es durch gefärbte Polizeiberichte, sei es auch wegen persönlichen<br />

Mißbehagens, kurz, <strong>de</strong>r Bürgermeister nahm zu <strong>de</strong>m<br />

wenig rühmlichen Auskunftsmittel — Verbot <strong>de</strong>r Vorlesung — Zuflucht<br />

und verschanzt sich jetzt hinter sicherheitspolizeiliche<br />

Grün<strong>de</strong>. Dieser Vorgang ist falsch; Sache <strong>de</strong>s Bürgermeisters<br />

wäre es gewesen, für die Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r Ruhe gegen die<br />

Störenfrie<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r Vorlesung Vorkehrungen zu treffen; das wäre<br />

das einzig Richtige gewesen.<br />

In <strong>de</strong>r sich nun anschließen<strong>de</strong>n Debatte wichen die Redner <strong>de</strong>r<br />

Deutschfreiheitlichen und Christlichsozialen <strong>de</strong>m Kern <strong>de</strong>r Interpellation<br />

— Knebelung <strong>de</strong>r freien Meinungsäußerung durch ein<br />

Polizeiverbot sorgfältig aus, zerrten die Angelegenheit auf das politische<br />

Gebiet hinüber und schimpften weidlich über K. und seine<br />

Vorlesung selbst. Es wurmte diese arischen Herrschaften furcht-


ar, daß sie sich die Wahrheit über ihre angebeteten Götzen auf<br />

<strong>de</strong>n Thronen sagen lassen mußten. Die Haltung <strong>de</strong>r sogenannten<br />

»freiheitlichen Republikaner« war eine gera<strong>de</strong>zu erbärmliche<br />

Selbsterniedrigung ihres eigenen Ichs. Ärger, furchtbarer Ärger<br />

sprach aus ihren Worten, daß es vor allem Volke nun enthüllt<br />

ward, vor welch allerhöchsten Zotenreißern sie Jahrzehnte auf<br />

<strong>de</strong>m Bauche gelegen sind. Sie wollen es nicht zugeben, daß sie<br />

sich schämen müssen, <strong>de</strong>shalb wird über jenen, <strong>de</strong>r ihnen <strong>de</strong>n<br />

Spiegel vorhält, aus <strong>de</strong>m ihnen ihre eigene Fratze entgegenschaut,<br />

losgezogen. Daß es dazu noch ein Ju<strong>de</strong> ist, <strong>de</strong>r ihnen die<br />

Wahrheit über »ihren Kaiser« ins Gesicht schleu<strong>de</strong>rt, bringt diese<br />

arischen Sklavennaturen vollständig außer sich. — —<br />

Namens unserer Fraktion brachte GR. Foltin nachstehen<strong>de</strong> Interpellation<br />

zur Verlesung:<br />

»Der Brenner—Verlag hat für <strong>de</strong>n 4. und 5. Februar <strong>de</strong>n<br />

Wiener Schriftsteller und Herausgeber <strong>de</strong>r »Fackel« Karl<br />

Kraus für Vorträge aus eigenen und frem<strong>de</strong>n Werken gewonnen.<br />

Gelegentlich <strong>de</strong>s ersten dieser Vortragsaben<strong>de</strong> kam<br />

es seitens vereinzelter Besucher, die von Karl Kraus offenbar<br />

noch nie gehört hatten und Darbietungen an<strong>de</strong>rer Art<br />

erwartet haben mochten, zu lärmen<strong>de</strong>n Kundgebungen gegen<br />

<strong>de</strong>n Vortragen<strong>de</strong>n, die schließlich durch Entfernung <strong>de</strong>r<br />

Ruhestörer been<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n. Für <strong>de</strong>n zweiten Abend waren<br />

neuerliche Krawallszenen geplant. die Kraus am Vorlesen<br />

verhin<strong>de</strong>rn sollten. Trotz<strong>de</strong>m nun die städt. Polizei rechtzeitig<br />

verständigt wor<strong>de</strong>n war und ihre Vorkehrungen treffen<br />

konnte, um eventuell durch ein verstärktes Wacheaufgebot<br />

die Ruhe aufrecht zu erhalten und die Interessen <strong>de</strong>r Zuhörer<br />

gegen <strong>de</strong>n Terrorismus einzelner Personen zu schützen,<br />

wur<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>m ganz unpassen<strong>de</strong>n Auskunftsmittel gegriffen,<br />

die Fortsetzung <strong>de</strong>s Vortrages am zweiten Abend zu verbieten.<br />

Es ist ein durchaus unbestrittenes Recht je<strong>de</strong>s Einzelnen,<br />

sich zu K. zu stellen, wie er will. Je<strong>de</strong>nfalls hat K. einen so<br />

bekannten Namen, daß man annehmen muß daß je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r<br />

seine Vorlesungen besucht, im voraus weiß, in welcher Richtung<br />

sich sein Vortrag bewegen wird. Wem seine Art, die<br />

Weltereignisse zu sehen und zu beurteilen, nicht paßt, hat<br />

das allereinfachste Mittel zur Verfügung — er kann <strong>de</strong>n Vorlesungen<br />

fernbleiben. Wer sich aber einmal entschließt,<br />

einen Vortrag zu besuchen, übernimmt die selbstverständliche<br />

Anstandspflicht, die übrigen Besucher nicht zu stören<br />

und ihnen seine persönliche Anschauung, um die er nicht<br />

befragt wur<strong>de</strong>, nicht aufzudrängen. Wenn aber wirklich Ruhestörungen<br />

vorkommen, so ist es Sache <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong>, für<br />

die weiterhin ungestörte Fortsetzung <strong>de</strong>r Darbietung umfassen<strong>de</strong><br />

Sorge zu tragen.<br />

Durch die Verfügung <strong>de</strong>r Polizei wur<strong>de</strong>n jedoch: 1. die Zuhörer<br />

geschädigt, <strong>de</strong>ren unbestreitbares Recht es wohl war,<br />

die angekündigten Vorträge anzuhören; 2. erreichten die<br />

wenigen Ruhestörer gegen <strong>de</strong>n Willen aller übrigen Besu-<br />

93


94<br />

cher voll und ganz ihren Zweck, die Vorlesung zu verhin<strong>de</strong>rn;<br />

3. wird das Ansehen <strong>de</strong>r Stadt Innsbruck durch <strong>de</strong>rgleichen<br />

Vorfälle, die sich in <strong>de</strong>r letzten Zeit wie<strong>de</strong>rholen<br />

(ich erinnere an <strong>de</strong>n telepathischen Abend Rubinis und an<br />

<strong>de</strong>n kosmogenetischen Vortrag Valiers) und gera<strong>de</strong>zu Schule<br />

machen, durchaus nicht gehoben; 4. erkennen die Gefertigten<br />

in <strong>de</strong>n Verfügungen <strong>de</strong>r Polizei, die auf solche Weise<br />

die Ruhestörer schützt, eine schwere Gefährdung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>mokratischen<br />

Rechtes <strong>de</strong>r freien Meinungsäußerung, und stellen<br />

daher an <strong>de</strong>n Herrn Bürgermeister die Anfrage:<br />

Ist er gewillt, die an <strong>de</strong>m verfügten Verbot <strong>de</strong>r Vorlesung<br />

schuldtragen<strong>de</strong>n Organe strenge zur Verantwortung zu ziehen?<br />

Ist er gewillt, Vorkehrungen zu treffen, daß in Hinkunft <strong>de</strong>rartige<br />

unbegrün<strong>de</strong>te Verbote nicht mehr erlassen und Darbietungen,<br />

wenn sie einmal als statthaft erkannt wur<strong>de</strong>n,<br />

nicht willkürlich verboten wer<strong>de</strong>n können, weil es einer verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Anzahl von Teilnehmern beliebt, diese nicht<br />

nach ihrem Geschmacke zu fin<strong>de</strong>n und als Ruhestörer aufzutreten?«<br />

Der Bürgermeister teilte hierzu mit, daß er die Polizeiorgane nicht<br />

zur Verantwortung ziehen könne, weil er selbst das Verbot <strong>de</strong>r<br />

Vorlesung veranlaßt habe. Er habe sich verpflichtet gefühlt, aus<br />

sicherheitspolizeilichen Grün<strong>de</strong>n dieses Verbot zu erlassen, weil<br />

es leicht zu Schlägereien hätte kommen können. Übrigens sei er<br />

in diesem Falle im Einvernehmen mit <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>sregierung vorgegangen.<br />

In <strong>de</strong>r Debatte führte unser Genosse Foltin aus, daß <strong>de</strong>r Bürgermeister<br />

die Verantwortung für das Verbot einer or<strong>de</strong>ntlich angekündigten<br />

und angemel<strong>de</strong>ten Vorlesung auf sich genommen habe.<br />

Es handle sich nicht um eine Parteiangelegenheit, son<strong>de</strong>rn um<br />

eine Angelegenheit <strong>de</strong>s persönlichen Rechtsempfin<strong>de</strong>ns. Je<strong>de</strong>m<br />

stehe es frei, zu einer Vorlesung hinzugehen o<strong>de</strong>r nicht; durch terroristische<br />

Akte einen Vortrag eines bekannten Schriftstellers unmöglich<br />

zu machen, mache für Innsbruck keinen guten Eindruck<br />

in <strong>de</strong>r Welt. In <strong>de</strong>r letzten Zeit seien überhaupt auch an<strong>de</strong>re Vorlesungen<br />

in einer Weise gestört wor<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m Anstandsempfin<strong>de</strong>n<br />

wi<strong>de</strong>rspreche. Durch polizeiliche Verbote <strong>de</strong>rartige, das Ansehen<br />

<strong>de</strong>r Stadt Innsbruck untergraben<strong>de</strong> Vorfälle zu för<strong>de</strong>rn und<br />

die Störenfrie<strong>de</strong> solcherart zu schützen, könne nicht Aufgabe <strong>de</strong>r<br />

Polizei sein. Das Verbot <strong>de</strong>r Vorlesung sei vom Standpunkt <strong>de</strong>s<br />

Rechtsempfin<strong>de</strong>ns in keiner Weise gerechtfertigt.<br />

Namens <strong>de</strong>r sogenannten »Freiheitlichen« sprachen Dr. E<strong>de</strong>r,<br />

Pembaur und Frau Schnei<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Bürgermeister das Vertrauen<br />

aus, welchen sich namens <strong>de</strong>r Christlichsozialen Dr. Tragseil anschließt.<br />

Der Inhalt ihrer Ausführungen war ein ohnmächtiges,<br />

ö<strong>de</strong>s Geschimpfe auf Karl Kraus o<strong>de</strong>r hohle nationale Phrasen, die<br />

einen gera<strong>de</strong>zu erbarmungswürdigen Eindruck hinterließen.<br />

Gen. Rapoldi weist die Stelle <strong>de</strong>s Polizeiberichtes, in welchem von<br />

sozial<strong>de</strong>mokratischen Gegen<strong>de</strong>monstrationen die Re<strong>de</strong> ist, als un-


wahr zurück und bezeichnet es als eine Krähwinkelei, einem Manne<br />

wie Kraus in Innsbruck Vorträge unmöglich zu machen.<br />

Die christlich—soziale Stimme ('Allgemeiner Tiroler Anzeiger', 13. Februar)<br />

gab es wie folgt wie<strong>de</strong>r:<br />

Durch eine Interpellation <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen Fraktion, die<br />

für <strong>de</strong>n je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsche Empfin<strong>de</strong>n auf das tiefste verletzen<strong>de</strong>n<br />

Vortrag <strong>de</strong>s »Fackel«—Herausgebers Karl Kraus eine Lanze<br />

brach, wur<strong>de</strong> eine »Kraus«—Debatte abgeführt, in <strong>de</strong>r sowohl <strong>de</strong>r<br />

Sprecher <strong>de</strong>r Tiroler Volkspartei, GP Dr. Tragseil, wie auch die<br />

Sprecher <strong>de</strong>r Deutschfreiheitlichen <strong>de</strong>n Kraus—Vortrag in das einzig<br />

richtige Licht rückten und hervorhoben, daß K. durch seinen,<br />

von GR Dr. Pembaur als »pornographisch« bezeichneten Vortrag<br />

das Ansehen <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Volkes auf das schwerste schädigte.<br />

Von dieser Seite aus wur<strong>de</strong> ihm auch <strong>de</strong>r Wink gegeben, es ja<br />

nicht mehr zu versuchen, <strong>de</strong>n Innsbrucker Bo<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>rlei<br />

Vorträge zu entweihen. — Etwas son<strong>de</strong>rbar nahm sich aus <strong>de</strong>m sozial<strong>de</strong>mokratischen<br />

Mun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ruf nach <strong>de</strong>r Polizei zur Sicherung<br />

<strong>de</strong>r freien Meinungsäußerung aus. GR. Dr. Tragseil hat für diese<br />

Heuchelei <strong>de</strong>r Sozial<strong>de</strong>mokraten die richtige Antwort gefun<strong>de</strong>n,<br />

wenn er auf die bekannte, von sozial<strong>de</strong>mokratischer Seite hervorgerufene<br />

Unterbindung <strong>de</strong>r freien Meinungsäußerung gelegentlich<br />

<strong>de</strong>r Heimkehrerfeier auf <strong>de</strong>m Berg Isel hinwies und sagte:<br />

»Wenn Sie über die <strong>de</strong>m Karl Kraus zuteil gewor<strong>de</strong>ne Behandlung<br />

klagen, dann müssen Sie das Vorgehen gegenüber Bru<strong>de</strong>r Willram<br />

verdammen.«<br />

GR Foltin (Soz.) richtet an <strong>de</strong>n Bürgermeister eine Interpellation<br />

über das Verbot <strong>de</strong>r Kraus—Vorlesungen, diese als einen Kunstwert<br />

erster Güte hinstellend und fragt, ob <strong>de</strong>r Bürgermeister gewillt<br />

ist, die an <strong>de</strong>m verfügten Verbote schuldtragen<strong>de</strong>n Organe<br />

zur strengsten Verantwortung zu ziehen und Vorsorge zu treffen,<br />

daß in Hinkunft <strong>de</strong>rartige unbegrün<strong>de</strong>te (?) Verbote unterbleiben.<br />

BM Greil bemerkt, daß er die Polizeiorgane wegen dieses Verbotes<br />

nicht zur Verantwortung ziehen könne, da er selbst <strong>de</strong>n Auftrag<br />

zur Erlassung dieses Verbotes erteilt habe Er beruft sich dabei<br />

auf Mitteilungen <strong>de</strong>s Polizeiamtes, aus <strong>de</strong>nen hervorgeht, daß<br />

von sozial<strong>de</strong>mokratischer Seite gegen die für <strong>de</strong>n zweiten Abend<br />

zu befürchten<strong>de</strong>n Kundgebungen eine Gegen—Demonstration geplant<br />

gewesen sei. Unter Berücksichtigung drohen<strong>de</strong>r Zusammenstöße<br />

habe er sich zu diesem Auftrage bemüßigt gesehen.<br />

GR Foltin meint, daß <strong>de</strong>r Vortrag Kraus, <strong>de</strong>ssen geistige Kapazität<br />

<strong>de</strong>r Redner über <strong>de</strong>n grünen Klee lobt, nichts anstößiges enthalten<br />

hat, und verurteilt es, wenn eine Min<strong>de</strong>rheit durch Störungen<br />

die freie Meinungsäußerung beeinträchtigt.<br />

GR E<strong>de</strong>r ist <strong>de</strong>r Meinung, daß es für <strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>rat eine Krausaffäre<br />

nicht geben kann, zollt <strong>de</strong>m Bürgermeister für seine Haltung<br />

Anerkennung, die die Stadt vor <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rholung einer Unanständigkeit<br />

bewahrt hat. Es sei niemand eingefallen, mit Gewalt<br />

vorzugehen, aber man hätte auch niemand es zumuten können,<br />

solchen Geschmacklosigkeiten, wie sie Kraus gebracht hat, Beifall<br />

zu zollen. Es haben ihm Leute, die bisher Anhänger <strong>de</strong>s Karl<br />

95


96<br />

Kraus gewesen sind, gestan<strong>de</strong>n, daß sie am Schlusse <strong>de</strong>s Vortrages<br />

ein physisches Unwohlsein befallen hat. Ein Grammophon,<br />

<strong>de</strong>r die ältesten Gassenhauer herleiert, hätte diesen wie eine anheimeln<strong>de</strong><br />

Musik geklungen gegenüber <strong>de</strong>m Pathos, Gewesenes<br />

als Seien<strong>de</strong>s hinzustellen. Niemand habe bei <strong>de</strong>r Ankündigung <strong>de</strong>s<br />

Vortrages geahnt, daß so etwas geboten wer<strong>de</strong>, Kraus hat in Innsbruck<br />

einen Gutteil seines Geistes gelassen. Seine Fe<strong>de</strong>r ist ihm<br />

geblieben, die wird er auch weiterhin in Gift und Galle tauchen.<br />

BMSt Rapoldi stellt es in Abre<strong>de</strong>, daß von sozial<strong>de</strong>mokratischer<br />

Seite, zumal Kraus gar nicht <strong>de</strong>ren Anhänger sei, Gegen<strong>de</strong>monstrationen<br />

geplant gewesen seien. Wohl aber sei von dieser Seite<br />

die Bereitwilligkeit ausgesprochen wor<strong>de</strong>n, zum Schutze <strong>de</strong>s ungestörten<br />

Verlaufes weiterer Vorträge <strong>de</strong>r Polizei Ordner zur Unterstützung<br />

beizustellen. Schließlich meint er, daß es wie eine<br />

Krähwinkelei aussehe, wenn man K., <strong>de</strong>r eine Kapazität ist, in einer<br />

Universitätsstadt hin<strong>de</strong>re, Vorträge zu halten.<br />

GR Dr. Pembaur bringt ein Beispiel aus <strong>de</strong>m Vortrage Kraus, <strong>de</strong>n<br />

er als pornographisch bezeichnen müsse, wen<strong>de</strong>t sich dagegen,<br />

daß ein Ju<strong>de</strong> sich erkühnt, in Innsbruck über das <strong>de</strong>utsche Volk zu<br />

Gericht zu sitzen und sich das Recht anmaßt, in einer so unflätigen<br />

Art an <strong>de</strong>n Fehlern <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Volkes Kritik zu üben.<br />

Frau GR Dr. Schnei<strong>de</strong>r bedauert <strong>de</strong>n Vortrag vom Standpunkte<br />

<strong>de</strong>r Kriegerfrauen und sagt: Wenn Kraus noch einmal es wagen<br />

sollte, nach Innsbruck zu kommen, wer<strong>de</strong>n wir Frauen es sein, die<br />

nochmals das Nationalgefühl aufbringen, um einen solchen Vortrag<br />

unmöglich zu machen.<br />

GR Dr. Tragseil (Tir. Volksp.): Ich war nicht ein persönlicher Zeuge<br />

dieses Vortrages, ich habe aber nach <strong>de</strong>m Gelesenen die Empfindung<br />

gewonnen, daß<br />

KRAUS DAS GASTRECHT IN TIROL SCHWERSTENS VERLETZT<br />

hat. Er ist in <strong>de</strong>r Absicht hierher gekommen, um die alte Treue<br />

<strong>de</strong>r Tiroler und <strong>de</strong>ren Standpunkt zu verhöhnen. (So ist es!) Sein<br />

Vortrag war darauf eingerichtet, unsere Jungmannschaft, die im<br />

Fel<strong>de</strong> gestan<strong>de</strong>n war und für das <strong>de</strong>utsche Volk gekämpft hat, lächerlich<br />

zu machen. Ich glaube, daß übrigens diese Störung <strong>de</strong>s<br />

Vortrages das Ansehen <strong>de</strong>r Stadt Innsbruck nicht im geringsten<br />

geschädigt hat, wohl aber hat Kraus durch seinen Vortrag das Ansehen<br />

<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Volkes geschädigt. Es ist eine Schmach, daß<br />

ein solcher »Deutscher« hergeht, hier wo Italiener und an<strong>de</strong>re von<br />

<strong>de</strong>r Entente sind — es sollen auch Italiener <strong>de</strong>m Vortrage angewohnt<br />

haben — über das, <strong>de</strong>utsche Volk und seine ehemaligen<br />

Führer in solcher Art loszuziehen. Man sagt von sozial<strong>de</strong>mokratischer<br />

Seite, man sollte die freie Meinungsäußerung nicht unterbin<strong>de</strong>n.<br />

Hat man ebenso gehan<strong>de</strong>lt, als Professor Müller bei <strong>de</strong>r<br />

Heimkehrerfeier auf <strong>de</strong>m Berg Isel seine freie Meinung geäußert<br />

hat? Was <strong>de</strong>m einen recht ist, soll <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren billig sein. Wenn<br />

Sie sich über die Behandlung Kraus' beklagen, dann müssen Sie<br />

das Vorgehen gegen Bru<strong>de</strong>r Willram verdammen. Nach <strong>de</strong>m Gehörten<br />

war es nur zweckdienlich, <strong>de</strong>n zweiten Vortrag Kraus zu<br />

verbieten.


hört:<br />

Der Freisinn ('Innsbrucker Nachrichten', 13. Februar) hatte es so ge-<br />

— — eine Interpellation <strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen Fraktion, die<br />

<strong>de</strong>n Karl—Kraus—Skandal zu einem Angriff auf die Polizei benützte,<br />

rief die gera<strong>de</strong>zu einmütige Verurteilung und Brandmarkung<br />

dieser wi<strong>de</strong>rlichen, je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsche Empfin<strong>de</strong>n beschmutzen<strong>de</strong>n<br />

Vorlesung hervor.<br />

GR Foltin — — Es sei untunlich, daß die Abhaltung eines einmal<br />

bewilligten Vortrages vom Gutdünken einer gewissen Min<strong>de</strong>rheit<br />

von jungen Leuten abhänge, je<strong>de</strong>nfalls sei die Art und Weise, <strong>de</strong>n<br />

Vortrag einfach zu verbieten, einer Stadt wie Innsbruck unwürdig<br />

und müsse unser Ansehen im Ausland schädigen, da Karl Kraus<br />

doch literarischen Weltruf genieße.<br />

Der Bürgermeister erwi<strong>de</strong>rte — — Es sei in je<strong>de</strong>m Falle außeror<strong>de</strong>ntlich<br />

schwer, das Richtige zu treffen und je<strong>de</strong>r Partei recht zu<br />

tun. — — In Hinkunft müsse die Befugnis und Verantwortlichkeit<br />

<strong>de</strong>s Bürgermeisters genauer umschrieben wer<strong>de</strong>n.<br />

— — GR E<strong>de</strong>r bezeichnete <strong>de</strong>n Kraus—Skandal als einen Hohn<br />

und Spott für das <strong>de</strong>utsche Volk, für die <strong>de</strong>utsche Stadt Innsbruck.<br />

Für <strong>de</strong>n Gemein<strong>de</strong>rat gäbe es keine Kraus—Affäre, diese<br />

sei lediglich Sache <strong>de</strong>s Anstandsgefühles und es könne das Vorgehen<br />

<strong>de</strong>s Herrn Bürgermeisters, die Wie<strong>de</strong>rholung einer solchen<br />

Unanständigkeit zu verhin<strong>de</strong>rn, nur gebilligt wer<strong>de</strong>n. Die nie<strong>de</strong>rträchtige<br />

Art, <strong>de</strong>r sich Kraus in seinem Vortrag bediente, habe<br />

selbst viele seiner Anhänger befrem<strong>de</strong>t, wir Deutsche brauchen<br />

solche Richter nicht. Unsere <strong>de</strong>mokratische Gesinnung ist stark<br />

genug, um nicht solcher erbärmlicher Mätzchen zu bedürfen.<br />

— — Dr. Pembaur betonte, daß neben <strong>de</strong>m Recht <strong>de</strong>r freien Meinungsäußerung<br />

auch das Recht <strong>de</strong>r freien Kritik bestehe und am<br />

Krausabend durchaus nicht nur junge grüne Leute, son<strong>de</strong>rn die<br />

Mehrzahl <strong>de</strong>s aus gereiften Männern und Frauen bestehen<strong>de</strong>n Publikums<br />

sich mit Entrüstung gegen diese Verhöhnung gewen<strong>de</strong>t<br />

habe. Was Kraus vorgebracht, habe nicht die geringste literarische<br />

Geltung, son<strong>de</strong>rn sei einfach Pornographie. Der Redner belegte<br />

dies durch einige <strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rlichsten Zitate aus <strong>de</strong>m Krausvortrag.<br />

Frau GR Dr. Schnei<strong>de</strong>r — — Wir Frauen lassen uns nicht unsere<br />

Männer, die in ehrlicher Begeisterung in <strong>de</strong>n Kampf gezogen, so<br />

verhöhnen. — —<br />

GR Dr. Tragseil — — die Tatsache <strong>de</strong>s Vortrages schädige unser<br />

Ansehen vor unseren in <strong>de</strong>r Stadt weilen<strong>de</strong>n Fein<strong>de</strong>n am<br />

schlimmsten.<br />

In Wien hatte — abgesehen von <strong>de</strong>n Lügen<strong>de</strong>peschen über <strong>de</strong>n Abbruch<br />

<strong>de</strong>r ersten Vorlesung — nur die 'Arbeiter—Zeitung' einen sachlichen Bericht<br />

über <strong>de</strong>n Vorfall (8. Februar) und über die Interpellations<strong>de</strong>batte (19. Februar)<br />

gebracht, und über diese das Abendblatt <strong>de</strong>r 'Reichspost' (18. Februar) geschrieben:<br />

— — Da es vermutlich auch in Wien interessieren dürfte, warum<br />

gera<strong>de</strong> Innsbruck, wo Karl Kraus seinerzeit wie<strong>de</strong>rholt Erfolge<br />

ernten konnte, die mit <strong>de</strong>n Vorträgen verbun<strong>de</strong>ne umstürzlerische<br />

97


Propaganda fernzuhalten wünscht, sei aus <strong>de</strong>r Debatte das Wesentliche<br />

kurz berichtet — —<br />

Rückschrittlich wie ich bin, hatte ich in Innsbruck noch im Februar<br />

1920 für einen Umsturz Propaganda gemacht, <strong>de</strong>r sich bekanntlich schon im<br />

November 1918 zugetragen hatte. Warum gera<strong>de</strong> Innsbruck eine solche Propaganda<br />

fernzuhalten wünscht — was vermutlich auch in Wien interessieren<br />

dürfte — ging aus einer Debatte klar hervor, die wie keines Anatomen Messer<br />

die Struktur <strong>de</strong>r dortigen Gehirne bloßlegte. Hierbei stellte sich heraus, daß<br />

ich in <strong>de</strong>r Absicht nach Innsbruck gekommen bin, um die alte Treue <strong>de</strong>r Tiroler<br />

und <strong>de</strong>ren Standpunkt (<strong>de</strong>r mir doch erst jetzt bekannt ist) zu verhöhnen,<br />

und daß mein Vortrag darauf eingerichtet war, die dortige Jungmannschaft lächerlich<br />

zu machen (wiewohl ich doch am Abend noch nicht wußte, wie sie<br />

sich später benehmen wer<strong>de</strong>). Was <strong>de</strong>n Bürgermeister anlangt, so bietet mir<br />

sein Verhalten insofern keine Überraschung mehr, als ich die Schriftzüge, die<br />

das Polizeiverbot unterfertigt haben, in jenem Werbeblatt für die sechste<br />

Kriegsanleihe fin<strong>de</strong>, für die er seinen unerschütterlichen Glauben an <strong>de</strong>n Endsieg<br />

eingesetzt hat, <strong>de</strong>n ihm wie<strong>de</strong>r sein Glaube an die <strong>de</strong>utschen Unterseeboote,<br />

welche ihm das Meer zu beherrschen schienen, verbürgte. Im Gegensatz<br />

zu Wilhelm, mit <strong>de</strong>m er nun auch die Enttäuschung teilt, ist <strong>de</strong>r Bürgermeister<br />

von Innsbruck noch mächtig genug, die infolge <strong>de</strong>r Ereignisse entstan<strong>de</strong>ne<br />

Republik zu wi<strong>de</strong>rrufen. Was die Frau Schnei<strong>de</strong>r betrifft, die<br />

vielleicht auch vom Standpunkt <strong>de</strong>r Kriegerfrauen aus besser getan hätte,<br />

Schnei<strong>de</strong>rin zu sein als ein männlicher Gemein<strong>de</strong>rat zu wer<strong>de</strong>n, so hat ihr<br />

eine Geschlechtsgenossin unter <strong>de</strong>m Titel »Wir Frauen haben an<strong>de</strong>re<br />

Sorgen!« ('Volks—Zeitung' 17. Februar) von <strong>de</strong>m Versuch, ihre Drohung »mit<br />

einer Frauen<strong>de</strong>monstration im Falle einer neuerlichen Kraus—Vorlesung« zu<br />

verwirklichen, dringend abgeraten: »Da könnte aber die geehrte Frau eine<br />

schwere Enttäuschung erleben«. Es ist ja auch klar, daß sie das Nationalgefühl,<br />

welches die Innsbrucker Frauen aufbringen sollen, nur von solchen verlangen<br />

kann, die auch 50 Waggons Marmela<strong>de</strong> aufbringen können. Die an<strong>de</strong>rn<br />

Innsbruckerinnen, die we<strong>de</strong>r vom Schleichhan<strong>de</strong>l noch durch ihn leben,<br />

sind <strong>de</strong>rzeit ausschließlich mit <strong>de</strong>r martern<strong>de</strong>n Sorge belastet, wie sie die Folgen<br />

jenes unheilvollen Krieges durchstehen sollen, <strong>de</strong>ssen Erinnerung die<br />

Innsbrucker nicht vertragen können Denn wo <strong>de</strong>n Männern die Phantasie gefehlt<br />

hat, um ihn zu unterlassen, und das Gedächtnis fehlt, ihn für die Ursache<br />

ihrer Lei<strong>de</strong>n zu halten, bleibt <strong>de</strong>n Frauen — wenn sie nicht Schleichhändler<br />

o<strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>räte sind — <strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen einem Herd ohne<br />

Hausbrand und einem Kaiserhaus mit Weltbrand gegenwärtig.<br />

98<br />

Die 'Volks—Zeitung' am 15. Februar:<br />

DIE KRAUS—DEBATTE IM INNSBRUCKER GEMEINDERAT.<br />

In <strong>de</strong>r gestrigen Gemein<strong>de</strong>ratssitzung rief <strong>de</strong>r GR Dr. E<strong>de</strong>r mit Pathos<br />

aus: »Für <strong>de</strong>n Innsbrucker Gemein<strong>de</strong>rat gibt es keine Krausaffäre«,<br />

und dann gingen er und seine Fraktionsgenossen<br />

Dr. Pembaur und Frau Dr. Schnei<strong>de</strong>r her und machten aus <strong>de</strong>m<br />

von unserer Fraktion bekämpften Vortragsverbot tatsächlich eine<br />

Skandalaffäre. Denn als ein Skandal muß es doch bezeichnet wer<strong>de</strong>n,<br />

wenn in einer öffentlichen Körperschaft die Wahrheit gera<strong>de</strong>zu<br />

unglaublich verdreht wird.


Dr. E<strong>de</strong>r meinte, ihre <strong>de</strong>mokratische Gesinnung sei stark genug,<br />

um nicht solcher Mätzchen zu bedürfen. Ja, verehrtester Herr<br />

Doktor, wer hat <strong>de</strong>nn diese »Mätzchen« aufgeführt, Kraus o<strong>de</strong>r<br />

Wilhelm? — Sie sprechen von »Unanständigkeit«, von »nie<strong>de</strong>rträchtiger<br />

Art« <strong>de</strong>s Vortrages. Wir sind da schon <strong>de</strong>r Meinung,<br />

daß die Unanständigkeit ausschließlich <strong>de</strong>m angeschuldigt wer<strong>de</strong>n<br />

muß, <strong>de</strong>r solche Nie<strong>de</strong>rträchtigkeiten begeht. Das gleiche gilt<br />

für Herrn Dr. Pembaur, <strong>de</strong>r sich gar erkühnte, zu sagen, was K.<br />

vorgebracht, habe nicht die geringste literarische Geltung, son<strong>de</strong>rn<br />

sei einfach Pornographie. Einem Menschen, <strong>de</strong>r die pornographischen<br />

Gelüste eines allerhöchsten Zotenliebhabers geißelt,<br />

<strong>de</strong>n Vorwurf <strong>de</strong>r Pornographie zu machen, das ist zu geschmacklos,<br />

um ernst genommen zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Selbstverständlich hielt es Frau Dr. Schnei<strong>de</strong>r für ihre Pflicht, ihren<br />

beleidigten nationalen Gefühlen gehörigen Ausdruck zu verleihen.<br />

Mit altgermanischer Hel<strong>de</strong>npose ließ sie folgen<strong>de</strong> hohle<br />

Phrase los: »Wir Frauen lassen uns nicht unsere Männer, die in<br />

ehrlicher Begeisterung in <strong>de</strong>n Kampf gezogen, so verhöhnen. Sollte<br />

K. wie<strong>de</strong>r nach Innsbruck kommen, so wer<strong>de</strong>n wir Frauen es zu<br />

verhin<strong>de</strong>rn wissen, daß sich seine Beschimpfungen wie<strong>de</strong>rholen«.<br />

Karl Kraus wird froh sein, dieser kriegslustigen Amazone entronnen<br />

zu sein.<br />

Wir fragen Frau Dr. Schnei<strong>de</strong>r: Durch was wur<strong>de</strong> das <strong>de</strong>utsche<br />

Volk, <strong>de</strong>ssen Männer tatsächlich mit ehrlicher Begeisterung in<br />

<strong>de</strong>n Kampf gezogen sind, mehr verhöhnt und beschimpft, durch<br />

solche allerhöchste Zoten und Gemeinheiten o<strong>de</strong>r durch jenen,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Volke die Augen öffnet, welch sittlich tiefstehen<strong>de</strong>s Götzenbild<br />

auf <strong>de</strong>in Kaiserthron es angebetet hat?<br />

Aus allen Ausführungen klang die Wut und die Scham, daß diese<br />

Anbeter <strong>de</strong>s Gottesgna<strong>de</strong>ntums nun vor aller Welt bloßgestellt erscheinen,<br />

welch hohlen Götzenbil<strong>de</strong>rn sie Jahrzehnte hindurch gehuldigt<br />

haben, vor welchen Kreaturen sie ehrerbietig im Staube<br />

lagen und dankbar je<strong>de</strong>n abgeschmackten allerhöchsten, wenn<br />

auch schlüpfrigen Witz mit einem untertänigsten Lächeln quittierten.<br />

Daß man sich solche bittere Wahrheiten, noch dazu von einem<br />

Ju<strong>de</strong>n, ins Gesicht sagen lassen muß, bringt unsere Arier, die<br />

ihre nationalen Pflichten vielfach im Heilschreien erblickten und<br />

an<strong>de</strong>re dafür <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>ntod sterben ließen, ganz außer sich.<br />

Der christlichsoziale Gemein<strong>de</strong>rat Dr. Tragseil zog zwischen<br />

Kraus und Bru<strong>de</strong>r Willram einen ganz unpassen<strong>de</strong>n Vergleich.<br />

Darin liegt eine vollständige Verkennung <strong>de</strong>r Tatsachen. Während<br />

es sich im Falle Bru<strong>de</strong>r Willram um Heimkehrer han<strong>de</strong>lte, die von<br />

Lan<strong>de</strong>s wegen gela<strong>de</strong>n waren, also um Leute aller Parteirichtungen,<br />

die fünf Jahre <strong>de</strong>s schrecklichsten Mor<strong>de</strong>ns hinter sich hatten,<br />

vor <strong>de</strong>nen dann <strong>de</strong>r größte Verherrlicher <strong>de</strong>s Krieges eine<br />

Agitationsre<strong>de</strong> für jene Dynastie halten wollte, die an <strong>de</strong>m furchtbaren<br />

Kriege und seinem Elend Schuld trug, war es bei Kraus gera<strong>de</strong><br />

umgekehrt. Hier stand es je<strong>de</strong>rmann frei, hinzugeben o<strong>de</strong>r<br />

nicht, hier war es kein Blutdichter, son<strong>de</strong>rn hier las ein Mann, <strong>de</strong>r<br />

in eiserner Konsequenz immer <strong>de</strong>n Mut aufgebracht hat, gegen<br />

Krieg und Kriegshetzer aufzutreten. Es war also keine Schmach,<br />

Herr Dr. Tragseil, daß ein »solcher« Deutscher hergeht und <strong>de</strong>m<br />

99


Volke die Augen öffnet, für welch unwürdige Götzen es sich willenlos<br />

abschlachten lassen mußte. Vielmehr muß es als eine<br />

Schmach empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, daß es Deutsche gibt, die mit Gewalt<br />

verhin<strong>de</strong>rn wollen, daß <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Volke endlich reiner<br />

Wein eingeschenkt wird, was für ein Betrug, welch ungeheuerliche<br />

Geschichtsfälschungen an ihm mit <strong>de</strong>m Gottesgna<strong>de</strong>ntum begangen<br />

wur<strong>de</strong>n. War es in <strong>de</strong>r Monarchie oberstes Gesetz, alle<br />

auch noch so schweren Verfehlungen ihrer Herrscher <strong>de</strong>m Volke<br />

gegenüber zu verschweigen o<strong>de</strong>r zu beschönigen, so soll und muß<br />

es <strong>de</strong>m um alles betrogenen Volke heute gesagt wer<strong>de</strong>n, wem es<br />

die heutige Not verdankt, wer diejenigen waren, die es in dieses<br />

grauenhafte Elend gestürzt haben.<br />

Wenn man aber heute noch <strong>de</strong>n traurigen Mut aufbringt, die<br />

Wahrheit <strong>de</strong>m Volke vorzuenthalten, sie mit Knüppeln mundtot zu<br />

machen, so ist dies nur ein Beweis, daß man das Volk wie<strong>de</strong>r unter<br />

drücken<strong>de</strong> Botmäßigkeit bringen will, daß man, um die eigene<br />

Schan<strong>de</strong> nicht eingestehen zu müssen, lieber alle Nie<strong>de</strong>rträchtigkeiten<br />

<strong>de</strong>r Herrschen<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>m Volke heute noch zu verteidigen<br />

sucht. Es ist dies ein Beweis von <strong>de</strong>r Ehrlichkeit <strong>de</strong>r »<strong>de</strong>mokratischen<br />

Gesinnung« <strong>de</strong>rer, die heute noch allerhöchste »Mätzchen«<br />

verteidigen zu müssen glauben. — er.<br />

Wer <strong>de</strong>r »Bru<strong>de</strong>r Willram« eigentlich ist, <strong>de</strong>ssen Sache im Innsbrucker<br />

Gemein<strong>de</strong>rat gegen die meine ausgespielt wur<strong>de</strong>, erfährt man zu seinem fünfzigsten<br />

Geburtstage, <strong>de</strong>ssen Feier die dunkelste Region christlich—germanischer<br />

Literaturbestrebungen erhellt hat. Das gewisse Schönheitsi<strong>de</strong>al, das<br />

auch in <strong>de</strong>r Sprachkunst die Fülle <strong>de</strong>r Gesichte meint, die eine Auslage <strong>de</strong>r<br />

Rahmenhandlung Nedomansky bietet, hat in diesem Dichter seine Erfüllung<br />

gefun<strong>de</strong>n. Alle Abneigung gegen jene Literatur, die durch Zeitschwin<strong>de</strong>l und<br />

intelligente Mache einen Schein von Mo<strong>de</strong>rnität behauptet und nur als Möglichkeit<br />

und nicht als Resultat eine kulturelle Tatsache be<strong>de</strong>utet, kann einen<br />

nicht vor <strong>de</strong>m Schamgefühl retten, das <strong>de</strong>n Betrachter jener <strong>de</strong>utsch—arischen<br />

Literaturprodukte überwältigt, die das waschechte Analphabetentum<br />

für »Poesie« hält. In<strong>de</strong>m ich an die Erscheinungen <strong>de</strong>nke, die unter <strong>de</strong>n Begriff<br />

»Deutsch—österreichische Schriftstellergenossenschaft« fallen, kann ich<br />

die Vorstellung nicht los wer<strong>de</strong>n, daß die Hippokrene durch <strong>de</strong>n Hufschlag eines<br />

Wiener Einspännerrosses entstan<strong>de</strong>n ist, und als Kastali<strong>de</strong>n verklei<strong>de</strong>te<br />

Fahnenjungfrauen scheinen mir <strong>de</strong>n göttlichen Funken in einem Magistratsdiurnisten<br />

anzufachen. Man weiß, daß die Sorte die Dürftigkeit ihres Außenbil<strong>de</strong>s<br />

während <strong>de</strong>s Kriegs nicht nur durchhalterisch bestätigt, son<strong>de</strong>rn auch<br />

durch eine förmliche Blutbesoffenheit Lügen gestraft hat. All ihren Goldschnitt<br />

haben sie auf <strong>de</strong>m Altar <strong>de</strong>s Vaterlands geopfert und reimten wie<br />

selbstverständlich Sieg auf Krieg, sie, die sonst zufrie<strong>de</strong>n waren, im Herzen<br />

bloß jene Schmerzen zu empfin<strong>de</strong>n, die schon Generationen mitfühlen<strong>de</strong>r Leserschaften<br />

beglückt haben. Um die ganze Hoffnungslosigkeit dieser Schönheitswelt<br />

zu erfassen, die natürlich ihre Talmii<strong>de</strong>ale noch mit Frechheit verteidigt<br />

— <strong>de</strong>nn gegen ihre Öldruckheiligen ist Frank We<strong>de</strong>kind ein armer Teufel<br />

—, lese man bloß die Titel dieser Willram—Produktion: »Blütenstaub und<br />

Blättergold«, »Aus gol<strong>de</strong>nen Tagen«, »Bil<strong>de</strong>r auf Goldgrund« und <strong>de</strong>rgleichen<br />

Unfug. »Er wird wirklich schon fünfzig, <strong>de</strong>r Feuerkopf!« hebt ein Gratulant<br />

<strong>de</strong>r 'Reichspost' an, <strong>de</strong>r skrupellos, in einer Zeit, da das Ausland noch immer<br />

<strong>de</strong>s tiefsten Mißtrauens gegen die Zentralstaaten voll ist, das Lan<strong>de</strong>sgeheim-<br />

100


nis preisgibt, Bru<strong>de</strong>r Willram sei »die volkstümlichste Erscheinung im Lan<strong>de</strong><br />

Tirol«.<br />

Aber <strong>de</strong>r Kristall seiner Dichtung, das Silber seiner Re<strong>de</strong> — ich<br />

meine, bei<strong>de</strong>s hätte noch nicht genügt, um aus Willram <strong>de</strong>n Erz—<br />

und Haupttiroler zu machen, als <strong>de</strong>r er gilt: dazu mußte noch ein<br />

Drittes kommen, das Gold seiner Persönlichkeit.<br />

Und wohl auch das Papier dieser Sprache. Aber <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r Willram,<br />

man sollt's nicht für möglich halten, hat auch eine »Entwicklungslinie« in seiner<br />

Poesie:<br />

Sie führt vorn Schlichten, rein Lyrischen immer stärker zum<br />

Prächtigen, Epischen ... Es wird stets Sache <strong>de</strong>s persönlichen Geschmackes<br />

bleiben, ob man die älteren, einfacheren, o<strong>de</strong>r die<br />

neueren, auf höchstem Kothurn schreiten<strong>de</strong>n Dichtungen Willrams<br />

vorzieht.<br />

Kein Zweifel, und es ist gut, daß zur Auswahl sowohl vom Schlichten,<br />

Lyrischen wie vom Prächtigen, nämlich Epischen ein Beispiel gegeben wird,<br />

wiewohl einem die Wahl schwer fällt. Was <strong>de</strong>n Redner Willram anlangt, so<br />

wird von ihm, offenbar im Gegensatz zum Lyriker, behauptet, daß er sich das<br />

Recht erstritten habe, »die Worte nicht auf die Goldwaage legen zu müssen«.<br />

Der Kampf um dieses Vorrecht hat ihm manche bittere Stun<strong>de</strong> bereitet<br />

und nicht selten zittert die Erregung in seinem Wesen nach.<br />

Dann beginnen seine Augen zu funkeln und die Lippen triefen vor<br />

Hohn.<br />

Also nicht von Hohn, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong>zu vor Hohn. So unappetitlich das<br />

für westeuropäische Betrachter sein mag —<br />

In solchen Momenten ist er seinen Freun<strong>de</strong>n eine beson<strong>de</strong>re Letzung<br />

für Augen und Ohren, furchtbar aber jenen, die ihn zu fürchten<br />

haben. Und das sind alle, die ein Dichterherz nicht verstehen.<br />

Man wür<strong>de</strong> somit, beson<strong>de</strong>rs im Hinblick auf die äußere Erscheinung<br />

mit <strong>de</strong>m »kraushaarigen Schwarzkopf« und mit Rücksicht auf die Vorliebe <strong>de</strong>s<br />

Dichters »für orientalisch anmuten<strong>de</strong> Pracht <strong>de</strong>s Ausdrucks« vermuten, daß<br />

<strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r Willram ein Rabbiner ist. Tatsächlich ist er aber ein katholischer<br />

Priester, wie die folgen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Innsbrucker 'Volkszeitung' entnommenen Zitate<br />

aus seinen Werken dartun. Anweisungen an »meine wackeren Schüler im<br />

Fel<strong>de</strong>«<br />

»Im Kampf mit Drachen und Molchen die stinken<strong>de</strong> Brut erdolchen«,<br />

»die Fein<strong>de</strong> dreschen nach Herzenslust und je<strong>de</strong>m das<br />

schrille Blei in die Brust«, »das Gottesschwert in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Faust« schwingen, »mähen wie beim Weizenschnitt«, »ins Herz<br />

<strong>de</strong>r Fein<strong>de</strong> ritzen: wir sind die Kaiserschützen!« usw.<br />

In <strong>de</strong>r Innsbrucker Weinstube rief dieser katholische Priester nicht etwa<br />

<strong>de</strong>r Kellnerin, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m Feind die Worte zu:<br />

So zahlen wir, und bräch' darob die ganze Welt zusammen!<br />

101


Und ohne daß die Kellnerin nach weiteren Wünschen gefragt hätte:<br />

Uns lechzt das Herz und loht <strong>de</strong>r Sinn nach Blut— und Feuertaufen!<br />

Als eine starke Übertreibung hat sich auch die Behauptung herausgestellt:<br />

Nun wiehert laut mein Schlachtenroß und schnaubt voll edlen<br />

Muts und trägt mich in <strong>de</strong>r Fein<strong>de</strong> Troß durch Bäche roten Bluts!<br />

Und dies zu einer Zeit, wo selbst die Kavallerie schon abgesessen und<br />

ein Einspänner von <strong>de</strong>r Weinstube heimwärts schon unerschwinglich war. Aus<br />

diesem Notstand scheint das Bild geschöpft:<br />

Dann liegen wir röchelnd auf weiter Flur in unseren Wun<strong>de</strong>n und<br />

Wehen und lächeln ...<br />

Aber in Wahrheit hat Willram hier nicht <strong>de</strong>n Kanonenrausch, son<strong>de</strong>rn<br />

wie<strong>de</strong>r nur <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>ntod rekommandieren wollen, <strong>de</strong>r ganz sein Geschmack<br />

war, wie auch die Stellen beweisen:<br />

Wir fiebern nach <strong>de</strong>m Braus <strong>de</strong>r Schlacht ...<br />

Ob's Eisen regnet, Feuer speit, 's ist immer eine lust'ge Zeit in unserm<br />

Schützengraben; das Lager: feuchter Lehm und Stroh, wem<br />

sollten da nicht Tränen froh <strong>de</strong>n süßen Schlummer laben?<br />

Wir lachen <strong>de</strong>r Hölle, die Eisen speit, wir lechzen nach brüllen<strong>de</strong>n<br />

Schlachten und lachen <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s und lachen <strong>de</strong>r Not ... und ob<br />

uns auch nimmer die Sonne scheint <strong>de</strong>s lachen<strong>de</strong>n Glücks und<br />

holdvereint sich Gattin und Kind in uns schmiegen, wir lachen <strong>de</strong>r<br />

Tränen, um uns geweint: nur siegen wollen wir, siegen!<br />

Und selbst dieser Wunsch ist <strong>de</strong>m Bru<strong>de</strong>r Willram nicht in Erfüllung gegangen.<br />

Aber es stellt sich heraus, daß er, <strong>de</strong>r wie <strong>de</strong>r Gratulant <strong>de</strong>r<br />

'Reichspost' beziehungsvoll hervorhebt, »als Sohn eines Zimmermanns geboren«<br />

ist, eigentlich nicht <strong>de</strong>n Priester im Streben nach <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r Unbarmherzigkeit<br />

darstellen wollte, son<strong>de</strong>rn sich nur mit täuschen<strong>de</strong>r Echtheit in die<br />

Seele <strong>de</strong>r sogenannten »Blumenhun<strong>de</strong>« versetzt hat:<br />

Wir beißen tiefe Wun<strong>de</strong>n, wir beißen scharf und gut ... und wen es<br />

trifft zu sterben, <strong>de</strong>r freut sich noch im Tod, sein E<strong>de</strong>lweiß zu färben<br />

mit seinem Blute rot.<br />

Blut ist ihm ein »rotes Blühn«, er träumt voll einem »Blutfrühling«, er<br />

sieht ein »Brunellenrot«, Blut »betaut« ihm <strong>de</strong>n Fels, daß »duftend« E<strong>de</strong>lweiß<br />

wächst, ihm wan<strong>de</strong>rn »ruhig die Sterne weiter«, wenn auch »lautlos brach ein<br />

Herz entzwei«. Er ruft: »Auf, zu starken <strong>de</strong>utschen Hieben!«, »Drauf und dran<br />

mit lautem Halloh!« Er bittet <strong>de</strong>n Herrn, zu »segnen ... daß selbst <strong>de</strong>m Teufel<br />

graust, wenn wir uns ba<strong>de</strong>n im Blute«. Dem Teufel schon, aber nicht <strong>de</strong>m<br />

Priester. Er betet: »Du lieber Gott im Himmel, gib <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Faust <strong>de</strong>n<br />

rechten Hieb, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Blei die stolze Kraft!« Er beruft »<strong>de</strong>r Blut— und<br />

Feuertaufe hochheilig Sakrament«, er hört: »Es splittern die Schä<strong>de</strong>l wie klir-<br />

102


en<strong>de</strong>s Glas«, er sieht: »Sie liegen bei<strong>de</strong> im Blute, drum hat sie <strong>de</strong>r Kaiser,<br />

<strong>de</strong>r gute, zu Kaiserjägern gemacht!« Sein Motto: »Gott, Kaiser und Vaterland<br />

seien das Dreigestirn meines Wirkens und Schaffens«. Er spricht vom »welschen<br />

Schuft«, vom »welschen Kote« und erlebt die Genugtuung:<br />

Zum Freiwild ist gewor<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r feige welsche Wicht ... Wir jagen<br />

und wir pirschen ihn an bei Tag und Nacht, wir schütteln Blut und<br />

Feuer aufs gift'ge Ungeheuer und säubern <strong>de</strong>utsche Er<strong>de</strong> von welscher<br />

Nie<strong>de</strong>rtracht.<br />

Und wie<strong>de</strong>r gilt ihm »gleichviel«, ob das Weib zur Witwe, die Kin<strong>de</strong>r<br />

»jammernd zu Waislein wer<strong>de</strong>n: heut' ist Schonzeit nicht: Kopf o<strong>de</strong>r Herz!«<br />

Horch, Piff und Paff, und je<strong>de</strong>r Schuß ein Treffer!<br />

ruft <strong>de</strong>r Zimmermannssohn. Er hört <strong>de</strong>m Röcheln <strong>de</strong>n Text ab: »Kaiser,<br />

es war für dich!«, doch auch Mutter und Braut »<strong>de</strong>nken still für sich: Kaiser,<br />

es geschah für dich!« Was sie ja allerdings schon in <strong>de</strong>n meisten Fällen tun.<br />

... Ja, diesem kriegsfesten Festredner will man sogar zur Begrüßungsfeier<br />

<strong>de</strong>r wenigen, die noch heimgekehrt sind, »aufwarten«<br />

(schreibt die Volks—Zeitung')<br />

und es wäre hierzulan<strong>de</strong>, wo man Karl Kraus nie<strong>de</strong>rzupfuien versuchte,<br />

eine »Feier« dieses Dichters <strong>de</strong>nkbar, wo die bekanntlich<br />

von Priestern komponierten allerblutrünstigsten »Schwertlie<strong>de</strong>r«<br />

dieses Heimdichters von einem Männerchor von Daheimgebliebenen<br />

vorgebrüllt wür<strong>de</strong>n! ... Schwarz und gelb kann einem vor <strong>de</strong>n<br />

Augen wer<strong>de</strong>n, wenn man dies alles be<strong>de</strong>nkt ... Wahrlich, es gibt<br />

keine Entschuldigung für solche Ausschreitungen einer Dichterphantasie<br />

und — da keine Reue sichtbar ist, son<strong>de</strong>rn im Gegenteil<br />

Stolz und »gesalbter Mut« auch weiterhin — auch keine Gna<strong>de</strong>!<br />

Und so zeigen wir zur Beleuchtung <strong>de</strong>r Feier <strong>de</strong>s 50. Geburtstages<br />

dies Dichterbildnis verfluchenswürdig. Verfluchenswürdig umsomehr,<br />

als, wie gesagt, keine Reue und keine Scham sich zeigt über<br />

das, was gewesen ... Ihm, als glaubenseifern<strong>de</strong>m Priester und haßtollem<br />

Kriegsdichter zugleich, gebührt <strong>de</strong>r erste Platz auf <strong>de</strong>m<br />

Scheiterhaufen <strong>de</strong>r Literatur!<br />

Nein, mir: <strong>de</strong>ssen Versuch, die »Jungmannschaft« zu kränken und die<br />

alte Tiroler Hohenzollerntreue zu verhöhnen, nun schon in allen Tälern ruchbar<br />

war. Die 'Tiroler Bauernzeitung' (20. Februar) brachte auf ihrer Stirnseite<br />

in Buchstaben, an <strong>de</strong>nen die Kreuzelschreiber das Alphabet erlernen müssen,<br />

die folgen<strong>de</strong>n Titel:<br />

JÜDISCHE BELEIDIGUNG DES DEUTSCHEN VOLKES IN INNSBRUCK.<br />

DIE TIROLER SOZI HELFEN DEN JUDEN!<br />

103


Der Wiener Ju<strong>de</strong> Kraus beschimpft in seinem Vortrage in Innsbruck<br />

das ganze <strong>de</strong>utsche Volk. Die Tiroler Sozi drohen die Störung<br />

<strong>de</strong>s jüdischen Vortrages mit Gewalt zu unterdrücken.<br />

Dies wird <strong>de</strong>s Näheren erläutert:<br />

JÜDISCHE FRECHHEIT.<br />

Der Wiener Ju<strong>de</strong> Karl Kraus kam unlängst nach Innsbruck, um einige<br />

Vorträge im Stadtsaal zu halten. Gleich in seinem ersten Vortrage<br />

behan<strong>de</strong>lte er das <strong>de</strong>utsche Volk in <strong>de</strong>rart gemeiner Weise,<br />

daß sich <strong>de</strong>r Stadtmagistrat veranlaßt sah, die geplante Fortsetzung<br />

<strong>de</strong>s Vortrages zu verbieten, <strong>de</strong>nn die in ihren Gefühlen<br />

schwer beleidigte <strong>de</strong>utsche Bevölkerung hätte <strong>de</strong>m frechen Ju<strong>de</strong>n<br />

ganz gehörig mitgespielt. Von einem national geschlechtslosen Ju<strong>de</strong>n<br />

kann man füglich nichts an<strong>de</strong>res erwarten, das Schönste aber<br />

ist, daß die Tiroler Sozi für <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n Partei ergriffen und ganz offen<br />

erklärten, daß sie eine Störung <strong>de</strong>s Vortrages mit Gewalt verhin<strong>de</strong>rn<br />

wer<strong>de</strong>n. Weiters beschwerten sich die roten Gemein<strong>de</strong>räte<br />

in einer Gemein<strong>de</strong>ratssitzung, daß die Innsbrucker Polizei <strong>de</strong>n<br />

zweiten Vortrag <strong>de</strong>s unverschämten Ju<strong>de</strong>n verboten hat und erblickten<br />

darin eine Verletzung <strong>de</strong>r freien Meinungsäußerung. Man<br />

sieht daraus wie<strong>de</strong>r einmal, daß Ju<strong>de</strong>n und Sozi unzertrennlich in<br />

nationaler Geschlechtslosigkeit verbun<strong>de</strong>n sind.<br />

Die Herren Sozi sind aber nicht unter allen Umstän<strong>de</strong>n für die<br />

freie Meinungsäußerung und Gesinnung, das sah man kürzlich bei<br />

<strong>de</strong>m Streik in <strong>de</strong>n jüdischen Ankerbrotwerken in Wien usw.<br />

In<strong>de</strong>m ich die auf mich eindringen<strong>de</strong> Überfülle von Gemeinheit und Stupidität<br />

durch die Reproduktion einer Fülle zu meistern suche, in <strong>de</strong>r die<br />

freundlichen Gegenstimmen wie ein Stilfehler wirken, bin ich mir wohl bewußt,<br />

daß noch die wertloseste Äußerung, an die schon Lettern und Lektüre<br />

<strong>de</strong>s Originals vergeu<strong>de</strong>t waren, in diesem Bil<strong>de</strong> ihre Position hat. Wenn dagegen<br />

im völkischen Stimmengewirr plötzlich ein Ju<strong>de</strong>nton auftaucht, und einer,<br />

<strong>de</strong>m selbst die führen<strong>de</strong> Gewalt anzuhören und nachzuweisen wäre, so wür<strong>de</strong><br />

diese Nuance keineswegs die phonographische Abschrift rechtfertigen. Typisch<br />

ist alles, was die Krähwinkler Presse von sich gibt; aber daß ein zugereister<br />

Literat sich ebendort ansässig und mit einer Wochenschrift selbständig<br />

gemacht hat anstatt in Wien bei irgen<strong>de</strong>inem Mittagblatt Stimmungen und<br />

Schmonzes zu leisten, daran ist höchstens das eine typisch, daß <strong>de</strong>r Tiroler<br />

Antisemitenbund hier keinen Anlaß zur Unzufrie<strong>de</strong>nheit fin<strong>de</strong>t. Es ist jener<br />

Fall, wo <strong>de</strong>r Bauer <strong>de</strong>m Ju<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r ihm zum Beweise völliger Akklimatisierung<br />

mit einem weithin schallen<strong>de</strong>n »Grüaß Gott!« aufwartet, mit einem toleranten<br />

»Grüaß Gott, Herr Jud!« antwortet und gegen die weitere literarische Betätigung<br />

nichts einzuwen<strong>de</strong>n hat. Umso weniger, wenn <strong>de</strong>r Herr Jud allen Stimmungen<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s gerecht zu wer<strong>de</strong>n versteht, in<strong>de</strong>m er während <strong>de</strong>s<br />

Kriegs durch einen weithin sichtbaren schwarzgelben Fleck Aufsehn erregte,<br />

nach <strong>de</strong>m Krieg Töne für die Menschheit fand und nun die Mezzie erlebt, sich<br />

für das Deutschtum einsetzen zu können. Als ich in meiner Innsbrucker Vorlesung<br />

<strong>de</strong>n Nörgler von <strong>de</strong>n Verwun<strong>de</strong>tenzügen sprechen ließ, »die das Gesin<strong>de</strong>l<br />

abschil<strong>de</strong>rn durfte«, ahnte ich nicht, daß einer <strong>de</strong>r beliebtesten Abschil<strong>de</strong>rer<br />

von Verwun<strong>de</strong>tenzügen, <strong>de</strong>n die Freie Presse mit dieser Aufgabe betraut<br />

104


hatte, in meinem Auditorium saß, um über mich zu richten. Das Urteil wäre<br />

natürlich ebenso begeistert ausgefallen wie alle jene Artikel, die <strong>de</strong>r Kühne,<br />

meiner Nichtbeachtung trotzend, vorher publiziert haben soll, wenn am an<strong>de</strong>rn<br />

Tag <strong>de</strong>r günstige Wind, <strong>de</strong>n die Lokalpresse machte, seine vor mir schon<br />

gestrichenen Segel in die an<strong>de</strong>re Richtung gebläht hätte. Die Erklärung <strong>de</strong>s<br />

Phänomens, daß so viele journalistische Temperamente, die selbst mein abgewen<strong>de</strong>ter<br />

Blick noch zu bändigen vermochte, gegen mich losgelassen waren,<br />

liegt im Zauber <strong>de</strong>r Regie. Im Saal ist sie mir allein überlassen; da gelänge es<br />

keiner Individualität gegen <strong>de</strong>n regieren<strong>de</strong>n Willen aufzukommen: haben sich<br />

doch sogar in Innsbruck, wie von eingeweihter Seite zugegeben wur<strong>de</strong>, die<br />

bestellten Demonstranten »so mächtig angezogen und angeregt« gefühlt, daß<br />

sie »<strong>de</strong>n Einsatz gründlich verpaßten und das verabre<strong>de</strong>te Zeichen — lautes<br />

Zuschlagen <strong>de</strong>r Saaltüre — dreimal gegeben wer<strong>de</strong>n mußte, bis <strong>de</strong>r Chor <strong>de</strong>r<br />

Pfuirufer sich endlich entschloß, seine übernommene Pflicht zu erfüllen und<br />

<strong>de</strong>n sie scheinbar doch brennend interessieren<strong>de</strong>n Vortrag zu stören«. Ich<br />

wur<strong>de</strong> noch nach<strong>de</strong>m sie ihre Pflicht erfüllt hatten, mit ihnen fertig, und<br />

selbst <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand ließ ich <strong>de</strong>r Wirkung dienen. Aber hinterdrein wirkt<br />

eine an<strong>de</strong>re Regie. Mit einem Erreger wie <strong>de</strong>r gekränkten <strong>de</strong>utschen Ehre,<br />

<strong>de</strong>r nach mir und zumal gegen <strong>de</strong>n Ortsfrem<strong>de</strong>n und bald Entrückten leichteres<br />

Spiel hat, kann ich es nicht aufnehmen. Eine ähnliche, erst kürzlich bewährte<br />

Kraft, auch <strong>de</strong>n Kleinlauten Stimme zu geben und die Unsichtbaren zu<br />

versammeln, hat <strong>de</strong>r Tod, in <strong>de</strong>ssen Komparserie auch solche gegen mich zu<br />

sprechen wagten, die bei Benedikts Lebzeiten das Maul gehalten hätten. In<br />

Innsbruck ließen sich meine besten Verehrer zu einem unsichern Geschäft<br />

hinreißen, und jener Literat, <strong>de</strong>r da weiß, wie es gemacht wur<strong>de</strong>, war entschlossen,<br />

gründlich mit mir abzurechnen und <strong>de</strong>m Türzuschlagen seinen 'Wi<strong>de</strong>rhall'<br />

(15. Februar) zur Verfügung zu stellen. Wohl ist es nur ein schmieriger<br />

Einzelfall, <strong>de</strong>r eigentlich nicht nach Innsbruck gehört, und hier wird es<br />

mir kaum gelingen, die Null zu verunendlichen, in<strong>de</strong>m ich mich vor sie stelle.<br />

Aber trotz<strong>de</strong>m und obschon ich mir bewußt bin, daß die Ehre, von <strong>de</strong>rgleichen<br />

besu<strong>de</strong>lt zu wer<strong>de</strong>n, reichlich durch die Schmach wettgemacht wird, sich damit<br />

zu befassen, ist es doch unerläßlich, zu zeigen, welche Spielarten das völkische<br />

Bewußtsein hat und <strong>de</strong>r Tiroler Antisemitismus verträgt. Der Faktor<br />

<strong>de</strong>s Innsbrucker Kunstlebens also, <strong>de</strong>ssen Kriegsgedichte <strong>de</strong>m Erzherzog<br />

Friedrich gemun<strong>de</strong>t haben und <strong>de</strong>r, während Altersgenossen in Verwun<strong>de</strong>tenzügen<br />

lagen, »im Hauptquartier geweilt«, wirklich und wahrhaftig geweilt,<br />

aber nach <strong>de</strong>r Waffenstreckung einen »entfesselten Schrei« ausgestoßen hat,<br />

schrieb <strong>de</strong>n Satz.<br />

Wie einem nicht—entarteten Ju<strong>de</strong>n bei dieser Vorlesung zumute<br />

war, zeigt am besten <strong>de</strong>r Ausruf eines Innsbrucker jüdischen Kaufmannes<br />

beim Verlassen <strong>de</strong>s Saales: »Wenn mit nur ein an<strong>de</strong>rer<br />

Ausdruck für 'Saujud' eingefallen wäre!«<br />

Es muß auch solche Innsbrucker jüdische Han<strong>de</strong>lsleute geben, <strong>de</strong>nen<br />

nicht gleich etwas einfällt, wenn sie in Stimmung sind, aber es ist nicht ausgeschlossen,<br />

daß es ein Mann mit Schamgefühl war, <strong>de</strong>n jemand auf die Anwesenheit<br />

eines Kriegsliteraten in einer solchen Vorlesung aufmerksam gemacht<br />

hatte. Dieser spürte schon am Abend, also noch ehe die 'Innsbrucker Nachrichten'<br />

erschienen waren, die wachsen<strong>de</strong> Erregung und <strong>de</strong>n Unwillen, <strong>de</strong>r<br />

sich »<strong>de</strong>r großen Mehrzahl <strong>de</strong>r Hörer beim Vortrag <strong>de</strong>r Szene 'Kaiser Wilhelm<br />

II. und die Generale' bemächtigte«, eine Erregung, »die noch heute in <strong>de</strong>r<br />

105


Innsbrucker Bevölkerung nachzittert«. Während aber einerseits »<strong>de</strong>r starke<br />

monarchistische und antisemitische Impuls« feststeht, »<strong>de</strong>r von dieser Veranstaltung<br />

ausging«, so ist doch an<strong>de</strong>rseits klar, daß »die Empörung <strong>de</strong>r Mehrzahl<br />

<strong>de</strong>r Hörer nicht monarchistisch, nicht all<strong>de</strong>utsch, nicht antisemitisch<br />

war«:<br />

nein, sie war zum Teil die Empörung <strong>de</strong>s im Tiefsten verletzten<br />

Geschmackes, <strong>de</strong>s nicht min<strong>de</strong>r beleidigten anständigen Tones,<br />

<strong>de</strong>r in einer Gesellschaft halbwegs gut erzogener Menschen, in<br />

<strong>de</strong>r sich auch Frauen befin<strong>de</strong>n, noch immer üblich ist, zum Teil<br />

Enttäuschung über <strong>de</strong>n Vortragen<strong>de</strong>n in einem großen Kreise von<br />

Bewun<strong>de</strong>rern, <strong>de</strong>n er hier hatte, die einen Propheten zu hören kamen<br />

und einen Erzähler mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r guter Wiener jüdischer<br />

Kaffeehauswitze aus <strong>de</strong>r Kriegszeit ertragen mußten.<br />

Einer <strong>de</strong>r besten jüdischen Kaffeehauswitze aus <strong>de</strong>r Kriegszeit, die ich<br />

zur Enttäuschung jenes großen Kreises von Bewun<strong>de</strong>rern erzählte, war <strong>de</strong>r<br />

Schrei <strong>de</strong>s sterben<strong>de</strong>n Soldaten, ferner das Gebet und die <strong>de</strong>n Vortrag durchwalten<strong>de</strong><br />

Anklage gegen ein Schicksal, das die Schlachtenlose so verteilt hat,<br />

daß Patroklus im Verwun<strong>de</strong>tenzug lag und Herr Otto König dafür Feuilletonhonorar<br />

bekam. Aber sein Los ist doch beklagenswerter:<br />

Gera<strong>de</strong> die Besten haben an ihm <strong>de</strong>n Mitkämpfer, vielmehr, <strong>de</strong>n<br />

Vorkämpfer verloren und fragen sich heute in <strong>de</strong>r ersten schmerzlichen<br />

Enttäuschung über <strong>de</strong>n Verlust, ob er ihnen überhaupt jemals<br />

Führer war?<br />

Wie<strong>de</strong>r einer von <strong>de</strong>n Besten, die ich getäuscht habe. Aber offen gestan<strong>de</strong>n<br />

und wenn meine Meinung in dieser Angelegenheit von Belang ist: ich<br />

glaube selbst nicht, daß ich ihnen überhaupt jemals usw. Ich war nicht unter<br />

<strong>de</strong>n vielen, die <strong>de</strong>m Otto König etwas vorgekämpft haben, und daß ich sein<br />

Mitkämpfer beim Einlaß ins Hauptquartier war, ist mir auch nicht erinnerlich.<br />

Ich glaube darum, daß <strong>de</strong>r Verlust, <strong>de</strong>n er an mir erlitten hat, nicht gar so<br />

groß ist und daß er über <strong>de</strong>n ersten Schock bald hinwegkommen dürfte. Ich<br />

hatte immer das ehrliche Bestreben, <strong>de</strong>n Besten meiner Zeit genug zu tun,<br />

wenngleich zu <strong>de</strong>m selbstsüchtigen Zweck, für alle Zeiten gelebt zu haben,<br />

aber es hat nicht sollen sein und was nicht ist, ist nicht.<br />

Karl Kraus im Dienste <strong>de</strong>r Kanaille und <strong>de</strong>r Geschmacklosigkeit —<br />

die Geisteswelt <strong>de</strong>utscher Zunge wird diesen Verlust schwer verwin<strong>de</strong>n.<br />

Ich leichter. Denn ich weiß zu gut, was die Geisteswelt mit ihrer <strong>de</strong>utschen<br />

Zunge während <strong>de</strong>s Kriegs für Persönlichkeiten wie <strong>de</strong>n Erzherzog<br />

Friedrich und an<strong>de</strong>re Ehrendoktoren <strong>de</strong>r Philosophie getan hat, so daß ich ihr<br />

nicht einmal gestatten wür<strong>de</strong>, mir <strong>de</strong>n letzten Liebesdienst, zu <strong>de</strong>m's noch<br />

langte, zu erweisen. Aber König gibt mich doch nicht auf:<br />

106<br />

Und man kann nur hoffen, daß weniger blin<strong>de</strong> und aufrichtigere<br />

Anhänger als die Brennerleute ihm helfen könnten, <strong>de</strong>n Weg zurückzufin<strong>de</strong>n<br />

zur Denkart <strong>de</strong>r Besten, die in <strong>de</strong>utscher Sprache


<strong>de</strong>nken, re<strong>de</strong>n und schreiben und die ihn bisher vorbehaltlos zu<br />

<strong>de</strong>r Auslese guter Europäer gezählt haben.<br />

Aber wie ich schon bin, wer<strong>de</strong> ich mir wahrscheinlich nicht helfen lassen<br />

wollen. Denn abgesehen davon, daß mir schon immer ein schlechter Afrikaner<br />

lieber war als ein guter Europäer, ziehe ich heute die »besten Zahler<br />

Wiens« in puncto Denkart <strong>de</strong>n besten Schriftstellern Innsbrucks vor, die alles<br />

können und sogar in <strong>de</strong>utscher Sprache <strong>de</strong>nken, re<strong>de</strong>n und schreiben. Sie<br />

zwar wollen nicht leugnen, daß er, <strong>de</strong>n sie nun lei<strong>de</strong>r aufgeben müssen, »als<br />

<strong>de</strong>utscher Stilist eine Klasse für sich gewesen ist«.<br />

Denn das ist er.<br />

No also. Und das wollt' ich mir auch ausgebeten haben, daß ich etwa<br />

mit <strong>de</strong>m König in einer Klasse gewesen wäre. Aber nun ist's freilich aus. Seit<br />

ich verraten habe, daß Wilhelm <strong>de</strong>n Generalen resolut an jene Partie griff, <strong>de</strong>r<br />

sich doch die Kriegslyriker nur mit Ehrfurcht genähert haben, ist mit allen Illusionen<br />

auch die von mir verloren gegangen. Schuld tragen ausschließlich<br />

diese »Brenner—Leute«, die »vom guten Geschmack und vom genius loci«<br />

weniger spüren als ein Jud, nämlich »so wenig, daß sie vom Vortrag jener Szene,<br />

die <strong>de</strong>n Sturm entfesselte, nicht abrieten«. Wie habe ich mir gescha<strong>de</strong>t,<br />

was war ich früher und was bin ich jetzt:<br />

Die Macht <strong>de</strong>r Persönlichkeit, die aus <strong>de</strong>m gedruckten Wort<br />

sprach, war so groß, daß <strong>de</strong>r Kreis seiner Anhänger weit über das<br />

engere Gebiet seines Wirkens wuchs und auch in <strong>de</strong>r Provinz, sogar<br />

in Innsbruck, Menschen von be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n geistigen Qualitäten<br />

vereinigte, ja meist die Besten einer Stadt.<br />

Und so, durch diese Erfolge übermütig gemacht, konnte ich mir schon<br />

alles erlauben:<br />

Denn: er durfte es schließlich wagen, seine Persönlichkeit in Lebensgröße<br />

neben seine Artikel zu stellen, er durfte sie mit unzureichen<strong>de</strong>m<br />

und oft mißtönen<strong>de</strong>m Organ selbst vorlesen, ohne daß<br />

<strong>de</strong>r Zuschauer über <strong>de</strong>n Zuhörer und dieser wie<strong>de</strong>r über <strong>de</strong>n Leser<br />

die Oberhand gewonnen hätte.<br />

In<strong>de</strong>m ich nun beim Applaus die Oberhän<strong>de</strong> gar nicht mehr unterschei<strong>de</strong>n<br />

konnte, habe ich vergessen, aus welch trüben Elementen sich meine Anhängerschaft<br />

zusammensetzte. Denn es stellt sich plötzlich heraus, daß sie<br />

zwar die Besten, aber hauptsächlich die Schlechtesten vereinigte, nebst <strong>de</strong>n<br />

Scha<strong>de</strong>nfrohen hauptsächlich »die Riesenzahl jener, die überall <strong>de</strong>m Erfolg<br />

nachlaufen«. Da kann <strong>de</strong>r Otto König nicht mit. »Unter <strong>de</strong>n aufrechten, gera<strong>de</strong>n,<br />

selbst national empfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n, wie sie <strong>de</strong>r Schule Herzls entstammen,<br />

zu <strong>de</strong>nen Martin Buber, Max Brod, Moritz Heimann und an<strong>de</strong>re be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong><br />

Schriftsteller <strong>de</strong>utscher Sprache gehören«, hatte ich »keine Freun<strong>de</strong>«,<br />

während gera<strong>de</strong> die All<strong>de</strong>utschen meine »begeisterten Mitläufer« waren,<br />

wenn ich mich »über Österreich, über Ungarn und über die Ju<strong>de</strong>n lustig<br />

machte«. Tatsächlich kann ich mich auch dunkel erinnern, daß <strong>de</strong>r Graf Reventlow<br />

mir die Bücher <strong>de</strong>s Max Brod so lange in Verehrung zugeschickt hat,<br />

bis es sich klar herausstellte, daß ich einer Verehrung we<strong>de</strong>r zugänglich noch<br />

107


ihrer fähig war. Aber dies alles dürfte auf das Konto meiner bekannten Wi<strong>de</strong>rsprüche<br />

zu buchen sein, die ich schließlich nur so bereinigte, daß ich »an diesem<br />

Abend <strong>de</strong>r Kanaille alter und neuer Richtung zuliebe gesprochen« habe.<br />

»Kein ersehntes Wort seiner vernichten<strong>de</strong>n Kritik <strong>de</strong>r größeren Zeit, die <strong>de</strong>r<br />

von ihm so grimmig gegeißelten großen gefolgt ist«, hat man in Innsbruck<br />

von mir zu hören bekommen, und nicht ein Wort über Versailles und St. Germain.<br />

Aber wie könnte ich vom Frie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Entente sprechen, ohne vom Krieg<br />

Deutschlands das Maß für diese wie für alle Schrecken zu nehmen, die fortan<br />

in <strong>de</strong>r Welt sind! Von einem Frie<strong>de</strong>n gegen das unschuldige Volk das doch<br />

schuldig ist, mit <strong>de</strong>n Verführern und also mit <strong>de</strong>r Vergangenheit nicht abgerechnet<br />

zu haben. Die Innsbrucker waren offenbar <strong>de</strong>r Meinung, daß ich ihnen<br />

das sagen wer<strong>de</strong>, was sie zu hören wünschten, und ich habe ihnen bloß<br />

das gesagt was ich zu sagen wünschte; und das war eben <strong>de</strong>r Fehler. Meine<br />

vernichten<strong>de</strong> Kritik <strong>de</strong>r »größeren« Zeit habe ich vor <strong>de</strong>m Vortrag schnell gesucht<br />

aber nicht gefun<strong>de</strong>n, da ich plötzlich ent<strong>de</strong>cken mußte, daß ich diese<br />

Zeit im Vergleich mit <strong>de</strong>r großen gelobt hatte. Aber auch »kein Wort über die<br />

Unzulänglichkeit unserer politischen Führer und Machthaber von heute«<br />

ward von mir vernommen,<br />

kein Aufschrei <strong>de</strong>r Empörung aus seinem Mun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r so aufpeitschen<strong>de</strong><br />

Worte fin<strong>de</strong>t, wenn es sich um <strong>de</strong>n Schlachtentod von<br />

Soldaten, so erschüttern<strong>de</strong>, wenn es sich um das Krepieren eines<br />

Hun<strong>de</strong>s han<strong>de</strong>lt!<br />

und nur solche mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r gute Wiener jüdische Kaffeehauswitze.<br />

Und da bin ich wie<strong>de</strong>r einmal von einem ehrlichen Tonfall auf frischer Tat<br />

ertappt. Wie, ein Publizist, <strong>de</strong>r so erschüttern<strong>de</strong> Worte fin<strong>de</strong>t, wenn es sich<br />

um das Krepieren eines Hun<strong>de</strong>s han<strong>de</strong>lt, schweigt beim Schlachtentod von<br />

Soldaten? Nein, er fin<strong>de</strong>t aufpeitschen<strong>de</strong> Worte. Aber ein Publizist, <strong>de</strong>r über<br />

solche Lappalien wie <strong>de</strong>n Schlachtentod von Soldaten und das Krepieren eines<br />

Hun<strong>de</strong>s aufpeitschen<strong>de</strong> und erschüttern<strong>de</strong> Worte fin<strong>de</strong>t, schweigt über<br />

die Unzulänglichkeit <strong>de</strong>r politischen Führer von heute! Anstatt zu sagen, wie<br />

schlecht es uns jetzt geht, habe ich <strong>de</strong>n Innsbruckern erzählt, daß wir einen<br />

Weltkrieg geführt haben! Was doch schon längst nicht mehr wahr ist, wenn's<br />

nicht immer eine feindliche Lüge war. Je<strong>de</strong>nfalls tempi passati, wie man jetzt<br />

in Innsbruck sagt, wo man sich nur noch durch die Lire—Währung an <strong>de</strong>n<br />

Weltkrieg erinnern läßt. Aber das ist halt <strong>de</strong>r Fehler, ich komm' und komm'<br />

davon nicht los. Dieses »noch immer währen<strong>de</strong> Verweilen in einer Perio<strong>de</strong> die<br />

heute Vergangenheit ist, scheint <strong>de</strong>m Otto König »und vielen an<strong>de</strong>ren geistiger<br />

Stillstand«. Das Hauptquartier ist längst geschlossen, somit kann nur<br />

noch von »Befriedigung niedriger Scheel— und Rachsucht« gesprochen wer<strong>de</strong>n,<br />

die mir »die ehrlich Streben<strong>de</strong>n, die unermüdlich Suchen<strong>de</strong>n und die<br />

redlich Wollen<strong>de</strong>n nicht verzeihen«. Mit einem Wort, die Besten. Bei <strong>de</strong>nen<br />

habe ich mirs verschüttet.<br />

108<br />

Und ein an<strong>de</strong>res noch bäumt sich in uns, wenn wir einen solchen<br />

Abend lang immer nur von unserem, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen, <strong>de</strong>m österreichischen,<br />

<strong>de</strong>m jüdischen Verkommensein hören: nur wir lebten<br />

die »letzten Tage <strong>de</strong>r Menschheit«?? Und drüben, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

Seite, gab's keine größenwahnsinnigen Machthaber, keine vertrottelten<br />

Generale, keine wollüstig Blutbä<strong>de</strong>r beschreiben<strong>de</strong>n Berichterstatter,<br />

keine im Taumel <strong>de</strong>s Erlebens mitgerissenen,


durch Suggestion überkommener Anschauung falsche Bahnen begeistert<br />

preisen<strong>de</strong> Dichter?<br />

Bitte, hab ich etwas gesagt?<br />

Das sag ich ja —<br />

Ich schäme mich nicht —<br />

zu <strong>de</strong>nen gehört zu haben, die das, was sie draußen im Fel<strong>de</strong> an<br />

menschlicher Aufopferung, an hel<strong>de</strong>nhaftem Ertragen, an aufflammen<strong>de</strong>r<br />

Begeisterung miterlebten, nie<strong>de</strong>rzuschreiben, zu beschreiben,<br />

zu preisen versucht haben.<br />

Er »schämt sich <strong>de</strong>ssen so wenig«, wie er sich »jener an<strong>de</strong>ren Ausbrüche<br />

brüstet«, die er »im dritten Kriegsjahre in <strong>de</strong>r Erkenntnis <strong>de</strong>s Irrweges, in<br />

<strong>de</strong>n die Menschheit geführt, gestoßen wur<strong>de</strong>, nie<strong>de</strong>rschrieb und die selbstverständlich<br />

erst nach <strong>de</strong>m Umsturz in Druck und Vortrag zur Kenntnis eines<br />

größeren Kreises gelangen konnten«. Immer wie<strong>de</strong>r soll er <strong>de</strong>n Versuch gemacht<br />

haben, sie früher herauszubringen, er hat sogar im Hauptquartier geweilt,<br />

um es zu ertrotzen, auf die Gefahr hin, einen Verwun<strong>de</strong>tentransport einmal<br />

von drinnen mitzumachen, aber es gelang eben nicht. Was will man von<br />

ihm haben? Er hat sein Bestes eingesetzt. Wie sagt doch König:<br />

Ich bin <strong>de</strong>m Leben nie ausgewichen.<br />

Und hats mich gefor<strong>de</strong>rt, so stand ich da;<br />

Ich bin nie durch Seitengassen geschlichen,<br />

Wenn in <strong>de</strong>r Straße was Großes geschah.<br />

Das tun zwar alle neugierigen Passanten o<strong>de</strong>r solche, die für Zeitungen<br />

schreiben; aber er hat im Gegensatz zu diesen auch »seinen Rücken nie<br />

krumm gebogen« und noch sonst allerlei getan, was in Teschen Staunen erregt<br />

hat. So zum Beispiel:<br />

Ich zahlte in Leid und zahlte in Schmerzen,<br />

Ich zahlte mit meinem Blute und Herzen.<br />

Da irrt mein Blick auf eine benachbarte Notiz »Wie wir belogen<br />

wur<strong>de</strong>n«, dann aber fin<strong>de</strong>t er sich wie<strong>de</strong>r zurecht:<br />

Ich zahlte mit manchem lebendigen Glück<br />

Und hielt oft nur das nackte Leben zurück.<br />

Was nicht alle, <strong>de</strong>ren Aufopferung er während <strong>de</strong>s Krieges gepriesen<br />

hat, als ihr Kriegserlebnis bekun<strong>de</strong>n können. Aber dafür war es ihm wie<strong>de</strong>r<br />

beschie<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Glauben an mich zu verlieren und die herbe Enttäuschung zu<br />

erleben, die eben jenen erspart geblieben ist.<br />

Gefallen bin ich. Er aber blieb aufrecht. Und Schulter an Schulter mit<br />

ihm hat das Innsbrucker Wun<strong>de</strong>r noch diesen schlichten Bekenner erstehen<br />

lassen, wie<strong>de</strong>r einen von <strong>de</strong>n Besten, die in <strong>de</strong>utscher Sprache <strong>de</strong>nken, re<strong>de</strong>n<br />

und vor allem schreiben können:<br />

109


Meine Ansicht zum Falle »Karl Kraus« hat kein Gewicht. Trotz<strong>de</strong>m<br />

fühle ich mich verpflichtet, sie öffentlich auszusprechen. Denn ich<br />

schrieb vor einigen Monaten für dieses Blatt einen begeisterten<br />

Aufsatz über Karl Kraus und sein Werk.<br />

Ich glaubte, <strong>de</strong>r Wahrheit zu dienen.<br />

Heute <strong>de</strong>nke ich an<strong>de</strong>rs ...<br />

O meine Bürger, welch ein Fall war das!<br />

Das Motiv von <strong>de</strong>n »Besten«, die ich vor <strong>de</strong>n zerbrechlichen Kopf gestoßen<br />

habe — wie aus einer Verbindung von »Einen bessern findst du nit« und<br />

<strong>de</strong>r Annonce »Innsbrucker Wasteln sind doch die besten« — wird sobald nicht<br />

zur Ruhe kommen. Da ersteht <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Heiland, <strong>de</strong>r Besten Einer, <strong>de</strong>r Allerbeste.<br />

Von einem Unentwegten zur Re<strong>de</strong> gestellt, beteuert er, er habe »mit<br />

lauterem Wollen und reiner Hand die Scheidung vollzogen«, wiewohl er, abgeklärt<br />

wie er ist, »gern <strong>de</strong>n Vollzug einem an<strong>de</strong>rn überlassen hätte«. Er hat<br />

es nicht gewollt.<br />

Möge auch Karl Kraus seine elegante und gefährliche Waffe gegen<br />

mich ohne Haß führen!<br />

Vor Jahren wollte ich diese hohe Intelligenz durch Unterstellung<br />

einer hochlangen<strong>de</strong>n sittlichen Absicht mahnen, daß sie sich nicht<br />

verführen lasse von <strong>de</strong>n Listen <strong>de</strong>s Bösen. — Er lächelte wohl in<br />

seiner selbstvergotten<strong>de</strong>n Sicherheit darüber.<br />

Viele <strong>de</strong>r Besten folgten ihm ...<br />

Lächeln ist gar kein Wort für meine Gemütsbewegung. Dieses Innsbruck<br />

scheint sich allen Ernstes für <strong>de</strong>n Buckel <strong>de</strong>r Welt zu halten, <strong>de</strong>n sie sich voll<br />

lacht. Die dortigen Besten, die ihr endgültig das Urteil in geistigen Dingen besorgen,<br />

sind Attraktionen für <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>nverkehr, wie sie bei <strong>de</strong>n heutigen<br />

Schwierigkeiten kaum eine zweite Metropole aufzuweisen hat.<br />

Ludwig Ficker im 'Brenner' (Heft 3):<br />

110<br />

NOTIZ DES HERAUSGEBERS<br />

Eine vorn Brenner am 4. Februar in Innsbruck zugunsten <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skommission<br />

für Mutter— und Säuglingsfürsorge veranstaltete<br />

Vorlesung von Karl Kraus wur<strong>de</strong> — unmittelbar vor <strong>de</strong>ren En<strong>de</strong>,<br />

als K. im Anschluß an die wi<strong>de</strong>rspruchslos mit Applaus quittierte<br />

Szene »Deutsches Hauptquartier« <strong>de</strong>n Fluch eines sterben<strong>de</strong>n<br />

Soldaten vortrug — durch ein paar machtlose, à tempo durch minutenlangen<br />

Beifall unterdrückte Pfuirufe einiger tapfer die Türen<br />

hinter sich zuschlagen<strong>de</strong>r Demonstranten zu stören versucht: ein<br />

Vorfall, wie man sieht, in seiner äußeren Struktur kaum <strong>de</strong>r Beachtung<br />

wert. Denn dieser mehr als beschei<strong>de</strong>ne Versuch, <strong>de</strong>m<br />

Pathos eines Anklägers, <strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Front <strong>de</strong>s Geistes in diesen<br />

blutigen Henkersjahren — und zwar allein, auf exponiertestem<br />

Posten — wie ein Löwe gegen <strong>de</strong>n Krieg gekämpft und so mehr<br />

Mut bewiesen hat, als wir — Zwangssoldaten einer geistig unhaltbaren,<br />

<strong>de</strong>m blin<strong>de</strong>n Walten eines mör<strong>de</strong>rischen Zufalls auf Gnad<br />

und Ungnad ausgelieferten Front — jemals im Krieg bewähren<br />

konnten, mit <strong>de</strong>n Hausmittelchen einer moralisch—politischen Gereiztheit<br />

beizukommen, mußte in je<strong>de</strong>m Fall mißlingen. Mußte


umso kläglicher mißlingen, als er nicht <strong>de</strong>r momentanen Aufwallung<br />

einer unversehens ins Mark ihrer geistigen Unzurechnungsfähigkeit<br />

getroffenen »nationalen Wür<strong>de</strong>«, son<strong>de</strong>rn — wie das verwaschenste<br />

<strong>de</strong>r Innsbrucker Tagesblätter (das seinerzeit, nach<br />

<strong>de</strong>m Zusammenbruch, sich in Verlegenheitsexzessen seines über<br />

Nacht erwachten, noch etwas schlaftrunkenen <strong>de</strong>mokratischen<br />

Gewissens nicht genug tun konnte und die abgehaustesten Dynasten<br />

und Generale, vor <strong>de</strong>nen es gestern noch Kotau gemacht,<br />

durch Wochen und Monate hindurch wahllos mit Kübeln Unflats<br />

übergoß), mit Genugtuung hervorhob — <strong>de</strong>m feigen Hinterhalt eines<br />

vorsätzlichen, doch schließlich nur am eigenen Lampenfieber<br />

krepierten Radaubedürfnisses entsprang. Dieses an sich herzlich<br />

unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Ereignis ... in einen »stürmischen Verlauf« <strong>de</strong>s<br />

Abends umzulügen — glattweg herauszulügen, daß K. nicht durch<br />

<strong>de</strong>n minutenlangen Beifall, son<strong>de</strong>rn durch anhalten<strong>de</strong> Kundgebungen<br />

<strong>de</strong>r Empörung am Weiterlesen verhin<strong>de</strong>rt war: dieses Stümperstückchen<br />

einer verlogenen Berichterstattung konnte natürlich<br />

wie<strong>de</strong>r nur <strong>de</strong>m Freisinn jenes selben Blattes gelingen, das zwischen<br />

moralischer Entrüstung im Vor<strong>de</strong>r— und moralischer Weitherzigkeit<br />

im Hinterteil <strong>de</strong>r drohen<strong>de</strong>n Konkurrenz <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Schwerindustrie ratlos ins Auge starrt. Damit aber war das Signal<br />

zu einer regelrechten Revolution in Krähwinkel gegeben. Nicht<br />

nur, daß jener unselige Bankvorstand, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r weithinschleifen<strong>de</strong>n<br />

Toga eines lyrischen Hohepriesters, hochaufgeschossen ins<br />

Tollkraut seiner göttlichen Verblendung, sich längst Titel und<br />

Charakter eines Lokal—Anwalts <strong>de</strong>s lieben Gottes verdiente,<br />

prompt, aber tiefbewegt, sein ANATHEMA SIT von sich gab und statt<br />

eines Fallens <strong>de</strong>s Devisenkurses uns die nahe Nie<strong>de</strong>rkunft eines<br />

»<strong>de</strong>utschen Heilands« in sichere Aussicht stellte — ein magerer<br />

Trost, aber das macht nichts, das tut höchstens <strong>de</strong>m Zwerchfell<br />

weh — ; nicht nur, daß ein Kritiker, <strong>de</strong>m man Besseres zutrauen<br />

mochte, bei <strong>de</strong>m krampfhaften Versuch, Karl Kraus als »Komödianten«<br />

zu entlarven ... durch die unverhüllte Absicht, <strong>de</strong>m toten<br />

Georg Trakl, bzw. mir <strong>de</strong>n Star zu stechen, eine Kurzsichtigkeit<br />

bewies, die wirklich auf die Sehnerven ging: <strong>de</strong>nn ich will ihm nur<br />

verraten, daß noch meine blin<strong>de</strong> Treue zu Kraus eine tiefere Einsicht<br />

in Wert und Be<strong>de</strong>utung, in Wesen und Gebun<strong>de</strong>nheit seines<br />

geistigen Charakters in sich schlösse, als alle optische Selbsttäuschungsgeschicklichkeit<br />

eines schielen<strong>de</strong>n und seiner selbst nicht<br />

sicheren Intellekts; also nicht genug damit — aber halt, bald hätte<br />

ich vergessen: eine feierliche Protestresolution <strong>de</strong>r »Bun<strong>de</strong>sleitung«<br />

<strong>de</strong>s »Tiroler Antisemitenbun<strong>de</strong>s« (mit <strong>de</strong>r Warenbörse offenbar<br />

die wichtigste Neugründung im alpenländischen Schieber<br />

—Dorado) ... von all <strong>de</strong>m also, und was etwa an weiteren Kretinismen<br />

noch folgen mag, abgesehen, hat die Aufbauschung <strong>de</strong>s lächerlichen<br />

Zwischenfalls durch das Lügenmaul <strong>de</strong>r Presse in <strong>de</strong>r<br />

Berichterstattung nach auswärts so groteske Dimensionen angenommen,<br />

daß man in Wiener Blättern von einer »Sprengung« <strong>de</strong>r<br />

Vorlesung und von Ausbrüchen eines furor teutonicus lesen konnte,<br />

<strong>de</strong>r K. angeblich mit Schimpf und Hohn vom Podium fegte. So<br />

erheiternd diese Darstellung, als Ausgeburt einer offenbar betrunkenen<br />

Reporterphantasie, auf je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Abend besucht hat,<br />

111


112<br />

wirken muß, so ist doch das eine bemerkenswert an ihr, daß sie<br />

nämlich das unerreichte Vorbild <strong>de</strong>ssen darstellt, was <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>ntenschaft<br />

<strong>de</strong>r — einst altehrwürdigen — Alina mater Oenipontana<br />

als I<strong>de</strong>albild einer befreien<strong>de</strong>n Tat vorschwebte. Unerreicht: <strong>de</strong>nn<br />

ihre Vertretung im Hochschulausschuß beschloß zwar, eine für<br />

<strong>de</strong>n nächsten Abend zu <strong>de</strong>m gleichen wohltätigen Zweck (also für<br />

Mütter und Säuglinge!) angesagte zweite Kraus—Vorlesung unter<br />

allen Umstän<strong>de</strong>n — wenns sein müßte: mit Waffen—, heißt das:<br />

mit Knüppelgewalt! — zu verhin<strong>de</strong>rn — nur daß eben dieser edlen<br />

Absicht die Polizei zuvorkam, in<strong>de</strong>m sie ihrerseits <strong>de</strong>n angestrebten<br />

Effekt durch ein Verbot <strong>de</strong>r Vorlesung in letzter Stun<strong>de</strong> auf eigene<br />

Faust zu sichern verstand. Das ist nun freilich drollig, und<br />

enthebt mich je<strong>de</strong>r weiteren Glossierung. Wie hätte ich auch die<br />

Möglichkeit, einer Polizei zu begegnen, welche geplanten Ruhestörungen<br />

beherzt damit begegnet, daß sie in aller Ruhe zunächst<br />

für ihre eigene Ruhe sorgt. O<strong>de</strong>r wie könnte es mir einfallen, an<br />

die Einsicht jugendlicher Enthusiasten und ihrer in Ehren ergrauten<br />

Konkneipanten, an die Einsicht sogenannter »Alter Herren« zu<br />

appellieren, die — ließe ich mir etwa beifallen, sie über die Be<strong>de</strong>utung<br />

eines Karl Kraus aufzuklären — diesen unvorsichtigen Versuch<br />

unfehlbar mit <strong>de</strong>m Einwand abschnitten: er sei ein Ju<strong>de</strong> und<br />

gehöre nicht hierher, und falls ich <strong>de</strong>nnoch darauf bestün<strong>de</strong>, sich<br />

bestenfalls zu <strong>de</strong>r Erkenntnis verstiegen: ach was, er sei »ein Saujud.<br />

und gehöre überhaupt nicht auf die Welt. Vor solcher Torheit<br />

bewahre mich <strong>de</strong>r Himmel! Nichts<strong>de</strong>stoweniger muß ich sagen,<br />

daß eine aka<strong>de</strong>mische Jugend, die ihr Recht auf Geistlosigkeit gegen<br />

einen geistigen Wert, <strong>de</strong>r ihr von rechtswegen Kopfzerbrechen<br />

machen müßte, mit <strong>de</strong>m Knüppel in <strong>de</strong>r Hand zu verteidigen<br />

entschlossen ist ... — daß also diese stu<strong>de</strong>ntische Jugend, meine<br />

ich, mitsamt <strong>de</strong>m Kulissenwert ihrer auf brachiale Tüchtigkeit gestellten<br />

I<strong>de</strong>ale, <strong>de</strong>m fundus instructus ihrer ausrangierten Gebräuche,<br />

heute, da Europa in allen Fugen kracht, die »blutige Operette«<br />

ausgespielt und kein wanken<strong>de</strong>s Vaterland mehr durch Statisten<br />

zu stützen ist, doch eine etwas klägliche und, wie mir scheint,<br />

romantisch überlebte Figur macht. Diese Jugend besinne sich. Sie<br />

besehe sich einmal im Ernst jene trippeln<strong>de</strong>n Dreikäsehochs, die<br />

als rectores magnifici, als »Spektabilitäten«: kurz als geistige Repräsentanten<br />

jener Sphäre von »falscher Wür<strong>de</strong> und echter<br />

Dummheit«, die Theodor Haecker so freimütig gekennzeichnet<br />

hat, <strong>de</strong>n Gott, <strong>de</strong>r Eisen wachsen ließ, auch noch in einer von Gottes<br />

Zorn erschlagenen Welt aufs Wohl <strong>de</strong>r Jugend — Pröstchen! —<br />

hochleben lassen. Nein: sie stelle <strong>de</strong>n Knüppel an die Wand. Ehe<br />

es zu spät ist. Ehe sie damit vollends im Finstern herumfuchtelt<br />

und — ohne Ahnung, wo sie hintrifft — am End' sich selbst erschlägt.<br />

Und wenn es ihr gelingt, und wenn <strong>de</strong>r eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re,<br />

im Dämmeranflug einer künftigen Erleuchtung — noch dumpf vielleicht<br />

und noch befangen — hier aufmerksam zu wer<strong>de</strong>n beginnt,<br />

so gebe er das Heft, das er in Hän<strong>de</strong>n hält, nicht aus <strong>de</strong>r Hand: ja,<br />

dieses Heft und blättere nach vorne! Und hat ihm Gott <strong>de</strong>n nötigen<br />

Verstand gegeben, so lese er; lese aufmerksam und öffne sich<br />

die Augen. Und frage sich, ob <strong>de</strong>utschen Geistes Ehre hier bewahrt<br />

sei. Und frage sich, ob Geist <strong>de</strong>r Menschlichkeit, ob Geist


<strong>de</strong>s Christentums hier bewahrt sei. Und wun<strong>de</strong>re sich, wie das mit<br />

Kraus zusammenhängt. Und wun<strong>de</strong>re sich noch mehr, wenn ich<br />

ihm sage, daß ohne die Erscheinung dieses Luzifers, <strong>de</strong>r Antijud<br />

und Antichrist ja lichterloh in einem ist die Stelle nie ent<strong>de</strong>ckt, die<br />

Stelle nicht belichtet wäre, auf <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Brenner steht. Denn dieser<br />

fußt auf <strong>de</strong>m Gottseibeiuns und <strong>de</strong>m Respekt vor ihm. Man glaube<br />

es, bekreuzige sich, und — schweige!<br />

In <strong>de</strong>m vom freisinnigen Innsbrucker Bürgermeister eingeräumten<br />

Stadtsaal tagte am 22. Februar eine Versammlung <strong>de</strong>s Tiroler Antisemitenbun<strong>de</strong>s,<br />

die als »eine imposante Kundgebung <strong>de</strong>s christlich und völkisch bewußten<br />

Volkes gegenüber <strong>de</strong>r drohen<strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>ngefahr« verlief und in <strong>de</strong>r<br />

nach <strong>de</strong>r Erklärung, daß wir gelegentlich »die Ju<strong>de</strong>n in Tirol für vogelfrei erklären<br />

wer<strong>de</strong>n (brausen<strong>de</strong>r Beifall)«, <strong>de</strong>r Professor Edgar Meyer eine Re<strong>de</strong><br />

hielt, in <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>m Bericht <strong>de</strong>s Allgemeinen Tiroler Anzeigers, (23. Februar)<br />

das folgen<strong>de</strong> vorkam:<br />

Er zeigte dann weiters, wie <strong>de</strong>r jüdische Geist Immer mehr im Volke<br />

Einklang fin<strong>de</strong>t und sich im Wuchertume, Schleichhan<strong>de</strong>l, in<br />

<strong>de</strong>r Preistreiberei, Profitwut äußert, <strong>de</strong>ssen Bekämpfung eine <strong>de</strong>r<br />

obersten Aufgaben <strong>de</strong>s Antisemitenbun<strong>de</strong>s sein muß. Auch wir in<br />

Tirol müssen sehen, wie man von jüdischer Seite fortgesetzt das<br />

christliche und nationale Bewußtsein mit Füßen tritt. Ja wir mußten<br />

uns <strong>de</strong>n Vortrag eines Ju<strong>de</strong>n Kraus gefallen lassen. Der Redner<br />

kommt darin auf die Mittel zur Rettung in <strong>de</strong>r letzten Stun<strong>de</strong><br />

zu sprechen, darunter auf die notwendige Bekämpfung <strong>de</strong>r Jüdischen<br />

Presse.<br />

Nun ließ man auch endlich Taten sehn:<br />

Dr. Pfandler bespricht dann nach Annahme <strong>de</strong>r Resolution die wesentlichsten<br />

Charaktereigenschaften eines Ju<strong>de</strong>n; er ist herrschsüchtig,<br />

hat kein Mitgefühl. Bei diesen Worten ruft eine Jüdin vom<br />

Korridor: »Er hat schon Mitgefühl!« Es währte nicht lange, so befand<br />

sich die Dame an <strong>de</strong>r frischen Luft.<br />

Es war gegen halb 12 Uhr, als die imposant verlaufene Versammlung<br />

ihren Abschluß fand. Die Versammlungsteilnehmer zogen<br />

zum Landhause, woselbst eine Deputation die Resolution überreichte.<br />

Deutsche Worte hör' ich wie<strong>de</strong>r.<br />

Während <strong>de</strong>r Überreichung <strong>de</strong>rselben erschallten aus <strong>de</strong>r Menge<br />

hun<strong>de</strong>rtstimmige Rufe: »Heraus mit Dr. Gruener!«, welcher Ruf<br />

immer mächtiger und stärker wur<strong>de</strong>, bis schließlich viele Demonstranten<br />

ins Landhaus gingen, um auf <strong>de</strong>r Kanzlei <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>shauptmannstellvertreters<br />

Dr. Gruener vorzusprechen. Dr. Gruener<br />

war aber nicht im Landhausgebäu<strong>de</strong>. Und so wur<strong>de</strong> die Parole<br />

ausgegeben: »Zum Donauhof, wo Dr. Gruener wohnt. In geschlossenem<br />

Zuge gingen die Versammlungsteilnehmer dorthin. Aber<br />

auch hier war Dr. Gruener nicht zu treffen.<br />

113


Dazu die Volks—Zeitung' (24. Februar):<br />

... Edgar Meyer hat uns seinerzeit prophezeit, daß er uns »Tirol<br />

ungeteilt von Kufstein bis zur Berner Klause« erhalten, <strong>de</strong>n Welschen<br />

aus <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> jagen und die Sieben Gemein<strong>de</strong>n dazu erobern<br />

wird, und man hat es ihm geglaubt. Und nun wagt es <strong>de</strong>rselbe<br />

Herr Meyer nicht nur, sich überhaupt noch blicken zu lassen,<br />

son<strong>de</strong>rn sogar uns zu glauben zu zwingen, daß wie<strong>de</strong>r er das<br />

<strong>de</strong>utsche Volk und mit ihm sein Land Tirol von <strong>de</strong>n bösen Ju<strong>de</strong>n<br />

befreien wird, ohne daß jemand es als böses Omen ausspräche<br />

o<strong>de</strong>r wenigstens ansähe, daß dieser zusammengekrachte Agitator<br />

sich auf ein neues Roß zu schwingen versucht. Edgar Meyer hat<br />

übrigens nicht mehr gezogen, und <strong>de</strong>r schwache Beifall muß ihn<br />

wehmütig an bessere Zeiten erinnert haben, die er gesehen hat.<br />

Aus seinen Ausführungen wollen wir nur mitteilen, daß er ehrlich<br />

genug war, anzuführen, daß <strong>de</strong>r Deutsche kein Schamgefühl mehr<br />

hat ... und daß er, gewiß als Praktiker, feststellte, daß kein Volk<br />

für Phrasen empfänglicher ist als das <strong>de</strong>utsche. Zur künstlichen<br />

Belebung <strong>de</strong>r schon in Langweile übergehen<strong>de</strong>n Kampfstimmung<br />

zog dieser, nun auch Redner—Dilettant, auch Karl Kraus und <strong>de</strong>n<br />

Universitätsprofessor Kastil bei <strong>de</strong>n Haaren herbei. (Pfui!)<br />

... Inzwischen verlangten aber schon einige Karl—Kraus—Stürmer<br />

und Dränger <strong>de</strong>n Passamani zu sehen, während die noch Intellektuelleren<br />

nach <strong>de</strong>m »Kommunisten—Häuptling« Dr. Gruener riefen<br />

...<br />

… Dr. Gruener hat offenbar durch sein entschie<strong>de</strong>nes Auftreten<br />

gegen <strong>de</strong>n grünen Terror in <strong>de</strong>r ersten Kraus—Vorlesung <strong>de</strong>n Haß<br />

<strong>de</strong>r jungen Herren sich zugezogen. Was ihnen an Genossen Passamani<br />

mißfällt, wissen die Götter. Die jungen Herren schrien ihre<br />

Kehle mit Pfui— und Abzug—Rufen auf <strong>de</strong>n »Kommunisten—<br />

Häuptling« Dr. Gruener heiser. Nach<strong>de</strong>m sie sich gehörig ausgetobt,<br />

zogen sie durch die Maria Theresienstraße wie<strong>de</strong>r ab.<br />

… Wenn die jungen Herren noch einmal Lust haben sollten, einen<br />

Vertrauensmann unserer Partei von <strong>de</strong>r Straße aus anzukläffen,<br />

dann wer<strong>de</strong>n die sozial<strong>de</strong>mokratischen Arbeiter sich auch einfin<strong>de</strong>n<br />

und dann sollen die grünen Terroristen einen Hosenlupf erleben,<br />

an <strong>de</strong>n sie lange zu <strong>de</strong>nken haben wer<strong>de</strong>n.<br />

KONSTITUIERENDE NATIONALVERSAMMLUNG. — 63. SITZUNG AM 25. FEBRUAR 1920.<br />

293/1/ K. N. V.<br />

Anfrage<br />

<strong>de</strong>r<br />

Abgeordneten Friedrich Austerlitz, Wilhelm Scheibein und Genossen an <strong>de</strong>n<br />

Herrn Staatssekretär für Inneres und Unterricht, betreffend das Verbot <strong>de</strong>s<br />

Vortragsabends <strong>de</strong>s Schriftstellers Karl Kraus in Innsbruck.<br />

114<br />

Ein Kreis von Innsbrucker Schriftstellern, <strong>de</strong>r sich um die Zeitschrift<br />

»Der Brenner« sammelt, hatte <strong>de</strong>n Wiener Schriftsteller


Karl Kraus eingela<strong>de</strong>n, in Innsbruck zwei Vorlesungen abzuhalten.<br />

Die erste Vorlesung fand am 4. Februar statt; Kraus las Szenen<br />

aus seinem berühmten Drama: »Die letzten Tage <strong>de</strong>r Menschheit«<br />

vor. Die Vorlesung fand stürmischen Beifall; nur bei <strong>de</strong>r letzten<br />

Szene: Wilhelm II und seine Generale, ereignete sich ein Zwischenfall,<br />

<strong>de</strong>r aber durchaus unvermögend war, <strong>de</strong>n starken Eindruck<br />

<strong>de</strong>r Vorlesung zu beeinträchtigen o<strong>de</strong>r zu stören. Der »Zwischenfall«<br />

bestand darin, daß ein Besucher aufstand, <strong>de</strong>n Saal<br />

verließ und dabei <strong>de</strong>monstrativ die Türe zuschlug. Die Ungezogenheit<br />

fand insofern Fortsetzung, als noch zwei o<strong>de</strong>r drei mißvergnügte<br />

Zuhörer <strong>de</strong>n Saal verließen; dagegen wirkte die »Demonstration«,<br />

die vielleicht vorbereitet war, auf die Masse <strong>de</strong>r Zuhörer<br />

so, daß <strong>de</strong>r Beifall für <strong>de</strong>n Vortragen<strong>de</strong>n immer noch stürmischer<br />

und begeisterter wur<strong>de</strong>. In keinem Falle erfor<strong>de</strong>rte aber die Episo<strong>de</strong><br />

irgen<strong>de</strong>ine Beachtung <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong>; daß zwei o<strong>de</strong>r drei Leuten<br />

ein Bruchteil <strong>de</strong>r Vorlesung nicht gefiel und sie <strong>de</strong>m Mißfallen<br />

in einer anmaßlichen Weise Ausdruck gegeben haben, kann<br />

selbstverständlich kein Anlaß für eine Amtshandlung <strong>de</strong>r Behör<strong>de</strong><br />

gegen <strong>de</strong>n Vortrag o<strong>de</strong>r gegen <strong>de</strong>n Vortragen<strong>de</strong>n sein.<br />

Dennoch hat die Innsbrucker Behör<strong>de</strong> die zweite Vorlesung, die<br />

am 5. Februar stattfin<strong>de</strong>n sollte, verboten, und zwar mit folgen<strong>de</strong>m<br />

Bescheid:<br />

»Vom Stadtmagistrate als Sicherheitsbehör<strong>de</strong> Innsbruck.<br />

2157/S Innsbruck, 5. Februar 1920.<br />

An <strong>de</strong>n Brenner—Verlag (Ludwig Ficker und Kurt Lechner)<br />

in Innsbruck<br />

Der Stadtmagistrat sieht sich veranlaßt, die Abhaltung <strong>de</strong>s heutigen<br />

Vortragsabend durch Schriftsteller Karl Kraus im Musikvereinssaale<br />

in Innsbruck aus sicherheitspolizeilichen Grün<strong>de</strong>n zu untersagen.<br />

Der Bürgermeister.«<br />

Bei diesem erstaunlichen Verbot, das in Inhalt und Form an die<br />

übelsten Gewohnheiten <strong>de</strong>s absolutistischen Staates gemahnt,<br />

fällt vor allem auf, daß es sich we<strong>de</strong>r auf ein Gesetz beruft, noch<br />

einen Rechtsweg eröffnet; <strong>de</strong>r Herr Bürgermeister von Innsbruck<br />

meint anscheinend, daß er keine Gesetze braucht und über ihn<br />

niemand Macht hat. Er sieht sich »veranlaßt« und das müsse doch<br />

genügen. Deshalb verschmäht er auch, das Verbot irgendwie zu<br />

rechtfertigen, <strong>de</strong>nn die Berufung auf »sicherheitspolizeiliche«<br />

Grün<strong>de</strong> ist einleuchten<strong>de</strong>rweise eine Spiegelfechterei. Solche<br />

Grün<strong>de</strong> könnten obwalten, wenn sich zum Beispiel in <strong>de</strong>m Raume,<br />

in <strong>de</strong>m die Vorlesung erfolgen sollte, irgendwelche Baugebrechen<br />

gezeigt hätten, die die Sicherheit <strong>de</strong>r Besucher gefähr<strong>de</strong>n hätten<br />

können. Davon ist natürlich keine Re<strong>de</strong> und es kann ernstlich<br />

nicht vorgebracht wer<strong>de</strong>n. In Wahrheit han<strong>de</strong>lt es sich um folgen<strong>de</strong>s:<br />

Nach <strong>de</strong>r ersten Vorlesung setzte gegen <strong>de</strong>n Vortragen<strong>de</strong>n<br />

eine regelrechte Preßhetze ein. Vor allem wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r »Zwischen-<br />

115


116<br />

fall«, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Vorlesung in keiner Weise Abbruch getan hatte,<br />

maßlos übertrieben — wur<strong>de</strong> doch nach Wien gemel<strong>de</strong>t, die Vorlesung<br />

hätte abgebrochen wer<strong>de</strong>n müssen und hätte nicht beendigt<br />

wer<strong>de</strong>n können. Obwohl es sich um <strong>de</strong>n Vortrag einer Szene han<strong>de</strong>lte,<br />

die längst im Drucke vorlag und von <strong>de</strong>m Dichter in Wien<br />

wie<strong>de</strong>rholt, kurz vor <strong>de</strong>r Innsbrucker Vorlesung auch in Berlin und<br />

München vorgetragen wor<strong>de</strong>n war, wur<strong>de</strong> es so dargestellt, als ob<br />

die Szene, die nur das pathologische Bild jenes Monarchen zeichnet,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Menschheit zu solcher Qual gereicht hat,<br />

zur Verhöhnung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Volkes und »gleichsam eigens, für<br />

Innsbruck entworfen wor<strong>de</strong>n wäre. Diese Preßhetze hatte vornehmlich<br />

<strong>de</strong>n Zweck, je<strong>de</strong>nfalls aber die Wirkung, daß sich in gewissen<br />

Kreisen <strong>de</strong>r Stadt, <strong>de</strong>nen die Achtung vor <strong>de</strong>m geistigen<br />

Schaffen mangelt, die Absicht regte, an <strong>de</strong>m zweiten Abend die<br />

»Demonstrationen« fortzusetzen. Daß aber das Verlauten dieser<br />

Absicht bei an<strong>de</strong>ren Klassen <strong>de</strong>r Stadt, nicht zum wenigsten bei<br />

<strong>de</strong>r sozial<strong>de</strong>mokratischen Arbeiterschaft Entrüstung erregte, ist<br />

natürlich und wenn sich die Entrüstung zu <strong>de</strong>m Entschluß verdichtete,<br />

<strong>de</strong>rlei bübischen Störungen entgegenzutreten, so war<br />

das nur erfreulich. Was folgte daraus nun für die Behör<strong>de</strong>? Selbstverständlich<br />

die Verpflichtung, von <strong>de</strong>r Vorlesung die geplanten<br />

und überhaupt alle Störungen fernzuhalten! Denn sonst könnte ja<br />

je<strong>de</strong>r Rohling eine künstlerische Veranstaltung unmöglich machen;<br />

er brauchte nur, weil ihm <strong>de</strong>r Vortragen<strong>de</strong> mißfällt o<strong>de</strong>r das<br />

Thema nicht gefällt, mit Gegen<strong>de</strong>monstrationen zu drohen! Die<br />

Behör<strong>de</strong> war also verpflichtet, die Störungen zu verhin<strong>de</strong>rn; sie<br />

war dazu durchaus imstan<strong>de</strong>. Denn erstens stand, wie es <strong>de</strong>r Verlauf<br />

<strong>de</strong>r ersten Vorlesung beweist, <strong>de</strong>r überwiegen<strong>de</strong> Teil <strong>de</strong>r Zuhörer<br />

auf <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s Vortragen<strong>de</strong>n und die Unruhe ist erst am<br />

nächsten Tage durch eine feindselige Presse hervorgerufen wor<strong>de</strong>n;<br />

und zweitens hätte die Entschlossenheit <strong>de</strong>r Zuhörer, die gekommen<br />

wären, um einen Künstler zu vernehmen, und willens waren,<br />

ihn vor Unbill zu schützen, vorweg ausgereicht, die Absicht<br />

<strong>de</strong>r »Gegen<strong>de</strong>monstranten« im Keime zu ersticken. Dur Stadtmagistrat<br />

kann sich also nicht einmal auf jene »sicherheitspolizeilichen«<br />

Grün<strong>de</strong> berufen, <strong>de</strong>ren Gefahr höchstens darin bestand,<br />

daß sich ein paar mißvergnügte Zuhörer in Ungezogenheiten ergangen<br />

hätten; sein Verbot hat vor <strong>de</strong>m Gesetze nicht <strong>de</strong>n geringsten<br />

Bestand. In Wahrheit war es eine Konzession an jene von<br />

zwei<strong>de</strong>utigen Presseleuten schlecht informierte Öffentlichkeit, die<br />

<strong>de</strong>m freien und tapferen Geiste wi<strong>de</strong>rstrebt, <strong>de</strong>r in jenem Drama<br />

lebendig ist.<br />

Daß die erleuchteteren Menschen in Innsbruck die Sache nicht<br />

an<strong>de</strong>rs auffassen, geht aus <strong>de</strong>r Interpellation hervor, die Gemein<strong>de</strong>rat<br />

Foltin im Innsbrucker Gemein<strong>de</strong>rate einbrachte und die mit<br />

Recht feststellt, daß zu <strong>de</strong>m Verbot <strong>de</strong>r Vorlesung we<strong>de</strong>r ein Anlaß<br />

noch eine Berechtigung vorlag. In einer Innsbrucker Zeitung<br />

erklärt Professor Kastil, Professor <strong>de</strong>r Philosophie an <strong>de</strong>r Innsbrucker<br />

Universität, daß er für Kraus als Künstler, Ethiker und<br />

Mensch eintrete, seine lauteren Absichten schwer mißverstan<strong>de</strong>n<br />

fin<strong>de</strong> und die terroristische Metho<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

gegen ihn geäußert hat, als durchaus unpassend, unstu<strong>de</strong>ntisch


und <strong>de</strong>m geistigen Leben <strong>de</strong>r Stadt höchst gefährlich verurteile.<br />

Von dieser aufrechten Gesinnung unterschei<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Rektor<br />

<strong>de</strong>r Universität allerdings beträchtlich, <strong>de</strong>r die Gelegenheit einer<br />

Promotion dazu benutzte, um von <strong>de</strong>r »Schmach« zu re<strong>de</strong>n, »die<br />

rassefrem<strong>de</strong> Menschen <strong>de</strong>m Innsbrucker Leben angetan haben«.<br />

Aber aus dieser Bemerkung, die sich von selbst richtet, wird es<br />

gleichfalls ersichtlich, daß das Verbot <strong>de</strong>r Vorlesung, das Nachgeben<br />

gegenüber <strong>de</strong>r »terroristischen Metho<strong>de</strong>« war, die das Innsbrucker<br />

Geistesleben vergewaltigen möchte.<br />

Das Vorgehen <strong>de</strong>s Innsbrucker Bürgermeisters erscheint aber<br />

noch aus einem an<strong>de</strong>ren Grun<strong>de</strong> als höchst be<strong>de</strong>nklich. Karl Kraus<br />

ist nach Innsbruck keineswegs gekommen, um sich etwa eine<br />

Gel<strong>de</strong>innahme zu verschaffen. Das Reinerträgnis bei<strong>de</strong>r Vorlesungen<br />

war vielmehr zur Gänze für eine Wohlfahrtsinstitution bestimmt:<br />

<strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skommission für Mütter— und Säuglingsfürsorge,<br />

und schon dieser Umstand hätte <strong>de</strong>n Bürgermeister veranlassen<br />

müssen, <strong>de</strong>n Vortrag vor Störungen zu behüten, hätte ihn von<br />

<strong>de</strong>m Verbote <strong>de</strong>r Vorlesung unter allen Umstän<strong>de</strong>n abhalten müssen.<br />

Denn wenn es ihm schon wenig zu verschlagen scheint, eine<br />

künstlerische Veranstaltung zu unterdrücken, die Schädigung einer<br />

Wohlfahrtsinstitution hätte er nie verüben dürfen! Daß man in<br />

Innsbruck einen berühmten <strong>de</strong>utschen Schriftsteller nicht vorlesen<br />

lassen will, ist schlimm genug: daß man ihn, <strong>de</strong>r gekommen<br />

war, seine Kunst für eine humanitäre Institution <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s zur<br />

Verfügung zu stellen, als einen mißliebigen Eindringling behan<strong>de</strong>lt,<br />

<strong>de</strong>ssen man sich so rasch als möglich entledigen will, ist eine<br />

Schan<strong>de</strong>. Und <strong>de</strong>r Bürgermeister <strong>de</strong>r Stadt, <strong>de</strong>r an die Wohlfahrtsinstitution<br />

nicht <strong>de</strong>nkt, vielmehr nur im Sinne hat, die aufgeregten<br />

Terroristen zu versöhnen, hat nicht als würdiges Oberhaupt <strong>de</strong>r<br />

Stadt gehan<strong>de</strong>lt.<br />

Es dürfte seit Begründung <strong>de</strong>r Republik vielleicht <strong>de</strong>r erste Fall<br />

sein, daß eine künstlerische Vorlesung verboten ward. Und die begleiten<strong>de</strong>n<br />

Umstän<strong>de</strong> sind nur geeignet, die Be<strong>de</strong>nken über diese<br />

Vergewaltigung zu verschärfen.<br />

Die Unterzeichneten stellen daher an <strong>de</strong>n Herrn Staatssekretär<br />

die Frage:<br />

»Ist er bereit, im Wege <strong>de</strong>r Tiroler Lan<strong>de</strong>sregierung <strong>de</strong>n<br />

Innsbrucker Stadtmagistrat zu unterrichten, daß die Versammlungsfreiheit<br />

zu achten ist, daß das Verbot <strong>de</strong>r Vorlesung<br />

von Karl Kraus ungesetzlich war und einem Eingriff in<br />

die künstlerische Freiheit gleichkommt?«<br />

Wien, 25. Februar 1920.<br />

Fr. Adler. Austerlitz.<br />

Alina. W. Scheibein.<br />

Bretschnei<strong>de</strong>r. Leuthner.<br />

Schneidmadl. O. Bauer.<br />

Hölzl. Rieger.<br />

Witzany. Jos. Tomschik.<br />

Witternigg. A. Popp.<br />

Proft. Abram.<br />

Polke. Domes.<br />

117


Am 7. März habe ich in Wien das folgen<strong>de</strong> gesprochen:<br />

Es ist schon horrend, daß Gerüchte an mein Ohr dringen können<br />

von einem Lärm, <strong>de</strong>r in diesem Saal geplant sei, um das, was in<br />

Innsbruck versucht wur<strong>de</strong>, nunmehr in Wien zu praktizieren und<br />

die Schändlichkeit, die dort an mir begangen wur<strong>de</strong>, hier an mir<br />

zu rächen. Es mag ja sein, daß <strong>de</strong>r Wunsch <strong>de</strong>r Vater dieses Gedankens<br />

ist, aber er täte weiß Gott besser, ihn als einen Bastard,<br />

gezeugt mit <strong>de</strong>r Dummheit, zu verleugnen. Ich wür<strong>de</strong> ihn keineswegs<br />

groß wer<strong>de</strong>n lassen. Denn es ist ausgeschlossen, daß sich in<br />

diesem Saal Gedanken ausleben könnten, die nicht von mir sind,<br />

und es sind alle Garantien vorhan<strong>de</strong>n, daß sich, wie sagt doch<br />

Schiller, hart im Raume die Sachen stoßen wür<strong>de</strong>n. Ich will es<br />

nicht erst dazu kommen lassen. Ich meine, daß mein Wort Manns<br />

genug ist, um mit Gewalttätern fertig zu wer<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn mir ist zum<br />

Glück die Sprache gegeben, um zwar nicht meine Gedanken zu<br />

verbergen, aber um solche Gedanken zu unterdrücken! Für <strong>de</strong>n<br />

Fall also, daß es wirklich auch in <strong>de</strong>r Stadt, in <strong>de</strong>r ich zwar nicht<br />

Gast bin, aber lebe, erwünscht sein sollte, mein Wort in <strong>de</strong>m Wirbel<br />

zu ersticken, <strong>de</strong>n die nach diesem Krieg hinterbliebenen<br />

Schild— und Spießbürger erzeugen wollen, um die Kriegsurheberschaft<br />

ihres Geistes zu vertuschen, sei ihnen <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong> Vers zugerufen:<br />

Wozu <strong>de</strong>r Lärm? Brächt' er mich auch zum Schweigen,<br />

<strong>de</strong>r Abschluß könnte nimmer uns versöhnen.<br />

Den Lärm, zu <strong>de</strong>m sie sich entschlossen zeigen,<br />

ihn wür<strong>de</strong> laut mein Schweigen übertönen.<br />

Und wenn die unberufnen Stimmen rufen,<br />

und wenn sie noch so laut <strong>de</strong>n Saal durchschallten,<br />

in <strong>de</strong>m Skandal, <strong>de</strong>n sie sich selbst erschufen,<br />

werd' ich <strong>de</strong>n letzten Piuiruf doch behalten!<br />

Wo in Deutschösterreich o<strong>de</strong>r Deutschböhmen nur ein Wisch erscheint,<br />

um darzutun, daß die <strong>de</strong>utsche Sprache weit mehr von <strong>de</strong>n Redakteuren <strong>de</strong>r<br />

Nation als von <strong>de</strong>ren Fein<strong>de</strong>n unterdrückt wird, war die Lüge von <strong>de</strong>r abgebrochenen<br />

Vorlesung und <strong>de</strong>r daran geknüpfte Schimpf zu lesen. Eines <strong>de</strong>r<br />

wi<strong>de</strong>rwärtigsten Fachorgane für die <strong>de</strong>utsche Ehre, die 'Reichenberger Zeitung',<br />

konnte sich und ihr gar nicht genug tun und breitete die Lüge unter<br />

<strong>de</strong>m sympathischen Titel »Gegen die Begeiferung Kaiser Wilhelms durch <strong>de</strong>n<br />

'Fackel'—Kraus« (7. Februar) aus, <strong>de</strong>r mit einem Artikel <strong>de</strong>s 'Vorwärts' (Reichenberg,<br />

8. Februar) in das Ehrenmaul zurückgegeben wur<strong>de</strong>. Es kann nicht<br />

geleugnet und bei <strong>de</strong>r kulturgeschichtlichen Betrachtung, die sich die Begebenheit<br />

verdient hat, wird nicht übersehen wer<strong>de</strong>n, daß in je<strong>de</strong>r dieser Filialen<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Ehre sich doch ein besseres Gewissen, das etwas dawi<strong>de</strong>r<br />

hatte, geregt und daß die sozialistische Provinzpresse es war, die gegen die<br />

nationalistische eine Angelegenheit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Literatur verteidigt hat.<br />

Diese Einschränkung <strong>de</strong>r Kritik provinzieller Geistesschan<strong>de</strong> gilt auch für<br />

118


Linz, und die österreichische Erkenntnis, daß man nicht generalisieren darf —<br />

bekanntlich das letzte was <strong>de</strong>m Österreicher geblieben ist —, bestätigt sich<br />

nicht nur an einer Einladung <strong>de</strong>s oberösterreichischen Lan<strong>de</strong>sbildungsausschusses<br />

zu einem Vortrag, <strong>de</strong>n er »beson<strong>de</strong>rs nach <strong>de</strong>m Kapitel 'Innsbruck'«<br />

wünscht, son<strong>de</strong>rn auch an <strong>de</strong>m Beispiel <strong>de</strong>s Protestes, <strong>de</strong>n ein unzweifelhaft<br />

christlicher Schriftsteller im 'Linzer Tagblatt' (9. März) gegen die Tiroler<br />

Heuchler und zur Ehre einer besseren Gesittung geschrieben hat:<br />

KARL KRAUS IN DER GEGENWART<br />

Von Prof. Hans Ziegler<br />

Innsbruck empfin<strong>de</strong>t eine naive Freu<strong>de</strong> darüber, daß es Berlin<br />

nicht im Stiche gelassen hat, als es galt, zu zeigen, was germanische<br />

Kultur abzulehnen bereit ist: die Vergangenheit, die sie selber<br />

verschul<strong>de</strong>t hat und die ein Unerbittlicher ihr als Spiegel vors<br />

Gesicht hält.<br />

Der neue Deutsche und <strong>de</strong>r neue Österreicher sehen sich zum<br />

Verwechseln ähnlich. — — —<br />

Wer sieht, wie lebendiges Leben von <strong>de</strong>r Maschine erfaßt wird,<br />

schreit auf. Wer aber erkennt, daß diese Maschine von Teufeln in<br />

Menschengestalt bedient wird, <strong>de</strong>m erstirbt vor Grauen <strong>de</strong>r Laut<br />

auf <strong>de</strong>n Lippen. Dann kommt freilich die Sprache wie<strong>de</strong>r. Aber<br />

welche Sprache! Karl Kraus trat ins Leben dieser Maschine gewor<strong>de</strong>nen<br />

Gegenwart. Er schrie, ins Leben getreten, auf. Er sah<br />

die von <strong>de</strong>r Maschine erfaßte Menschheit. Aber er verbarg seinen<br />

Schmerz und ließ ihn erst verwan<strong>de</strong>lt wie<strong>de</strong>rsehen, verwan<strong>de</strong>lt in<br />

jene vom lebendigen Wesen <strong>de</strong>r Sprache genährte Bosheit, die allein<br />

noch fähig ist, Wahrheit ahnen zu lassen, wenn das Wort, das<br />

da von Anfang her ist, umsonst Einlaß in stumpf gewor<strong>de</strong>ne Herzen<br />

begehrt ... Er sah die Natur bedroht, die doch erst <strong>de</strong>n Nährbo<strong>de</strong>n<br />

für <strong>de</strong>n Geist abgeben kann. So wur<strong>de</strong> er Weltverbesserer<br />

im hohen Sinn. Erzieher, wie er in <strong>de</strong>r neueren Geschichte <strong>de</strong>r<br />

Menschheit beispiellos dasteht. Er machte die Bahn für <strong>de</strong>n Menschen<br />

erst wie<strong>de</strong>r frei. Er räumte Schutt weg, damit <strong>de</strong>r Mensch<br />

wie<strong>de</strong>r Wege <strong>de</strong>s Ursprunges gehen konnte.<br />

Was aber <strong>de</strong>m Wort Karl Kraus' erst lebendigen Wert gibt, das ist<br />

die hinter <strong>de</strong>m Wort stehen<strong>de</strong> Gesinnung, das ist <strong>de</strong>r Umstand,<br />

daß einer einen Weg durch alles Wirrsal nicht bloß sah, son<strong>de</strong>rn<br />

auch ging. Ging unter <strong>de</strong>n herbsten Verlusten. Wich einer von <strong>de</strong>n<br />

Menschen, <strong>de</strong>nen Karl Kraus sein Vertrauen geschenkt hatte, von<br />

<strong>de</strong>m Wege ab, <strong>de</strong>r Lauterkeit hieß, wies sein Leben etwas auf, was<br />

<strong>de</strong>m Geiste seines Schrifttums wi<strong>de</strong>rsprach … , wur<strong>de</strong> er sein unerbittlichster<br />

Gegner, auch wenn er einmal sein bester Freund<br />

war.<br />

So wur<strong>de</strong> er vielen Irren<strong>de</strong>n eine Stütze und vielen Suchen<strong>de</strong>n<br />

eine Verheißung reinerer Zeiten. Im Kriege aber wur<strong>de</strong> er <strong>de</strong>r Anwalt<br />

<strong>de</strong>r dressierten, geknebelten, hingemor<strong>de</strong>ten Menschheit.<br />

War ihr Anwalt in einer Sprache, die die <strong>de</strong>utsche heißt, obwohl<br />

sie erst wie<strong>de</strong>r durch ihn diesen Namen verdient. Und war es mit<br />

einem Aufwand von Geist, <strong>de</strong>r unerschöpflich ist. Und nur unerschöpflicher<br />

wur<strong>de</strong>, je mehr Gegner es gab, die in diesen von Pa-<br />

119


120<br />

triotismus triefen<strong>de</strong>n Zeiten ja wie Pilze aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> schossen.<br />

Denn mochte auch je<strong>de</strong>r von ihnen seinen heimtückischen Wünschen<br />

und Gefühlen diesem unverfälschten Menschentum gegenüber<br />

noch so sehr Luft machen, Luft wur<strong>de</strong>n sie erst wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

Luft, die <strong>de</strong>r Atem Karl Kraus' erzeugte.<br />

Karl Kraus ist Ju<strong>de</strong>. Ich sage das jenen Ariern, die es peinlich<br />

empfin<strong>de</strong>n, wenn ein Ju<strong>de</strong> ihnen an ethischer Kraft überlegen ist.<br />

Und um so peinlicher, ,je weniger sich im Umkreis ein Arier ent<strong>de</strong>cken<br />

läßt, <strong>de</strong>r diesem »Ju<strong>de</strong>n« im geistigen Erkennen das<br />

Gleichgewicht zu halten imstan<strong>de</strong> wäre. Den wenigen an<strong>de</strong>ren<br />

sage ich das nicht, weil sie ohnehin ahnen, daß hier ein Mensch,<br />

<strong>de</strong>r zu seiner Innerlichkeit gefun<strong>de</strong>n, seine Rasse als Hülle hinter<br />

sich gelassen hat, sich aber dieser Hülle gleichwohl bedient, um<br />

durch sie einen Defekt im Menschlichen anschaulicher vor Augen<br />

treten zu lassen.<br />

Wenn ein Ju<strong>de</strong> die Kraft hat, <strong>de</strong>r Vergangenheit ins leichenfarbene<br />

Antlitz zu sehen — und dieser Ju<strong>de</strong> hat sie, da sein Verhältnis zu<br />

dieser Vergangenheit, als sie noch Gegenwart war, nichts an<br />

Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ, während das schriftstellern<strong>de</strong><br />

Verhältnis von Germanen zu ihr höchstens bezeugte, daß sie<br />

politisch so unreif waren, daß sie ein Jahrhun<strong>de</strong>rt mit einem an<strong>de</strong>rn<br />

verwechseln und die Nibelungentreue von 1813 <strong>de</strong>r Exporttüchtigkeit<br />

von 1914 andichten konnten —, wenn also ein Ju<strong>de</strong><br />

diese Kraft hat, so bleibt uns Germanen wohl nichts übrig, als zur<br />

Besinnung zu kommen, zur Besinnung unserer Art ...<br />

Karl Kraus stand und steht je<strong>de</strong>r Organisation ferne. Was ihn mit<br />

<strong>de</strong>m Sozialismus verband, war nicht <strong>de</strong>ssen Lehre, nach <strong>de</strong>r sich<br />

das Leben eines Volkes auf Vernunft und Wissen aufbaut — er<br />

fühlt sich <strong>de</strong>m dunklen Leben mit seiner Brunst und seiner Inbrunst<br />

mehr verbun<strong>de</strong>n als eine führen<strong>de</strong> Wissenschaft o<strong>de</strong>r eine<br />

I<strong>de</strong>e —, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>ssen Front gegen <strong>de</strong>n Kapitalismus nur und die<br />

ihm dienen<strong>de</strong>n Mächte, die <strong>de</strong>n Menschen zum Material und<br />

Werkzeug einer staatlich—militärischen Organisation erniedrigten.<br />

Karl Kraus will <strong>de</strong>n Menschen frei von je<strong>de</strong>r Organisation wissen.<br />

Wie überall wird er auch hier Führer aus <strong>de</strong>r Zeit heraus, die<br />

es heute noch vorzieht, <strong>de</strong>n Teufel durch Beelzebub auszutreiben.<br />

*<br />

Die Innsbrucker Intellektuellen sind über <strong>de</strong>n Karl—Kraus—Abend<br />

empört. In <strong>de</strong>n »Innsbrucker Nachrichten« (6. / 2. 20) fängt einer<br />

zu re<strong>de</strong>n an, <strong>de</strong>ssen paar Worte allein schon erkennen lassen, wes<br />

Geistes Kind sich da bemüht, einer Leere Ausdruck zu geben. Er<br />

will mit nicht geringerem sittlichen Zorn als Kraus selbst gegen<br />

die idiotische und verruchte Kanaillität dieses Krieges und je<strong>de</strong>s<br />

Krieges überhaupt aufgetreten sein, Er begreift nicht, daß so eine<br />

Anmaßung, entspringend einem Mangel an Distanzgefühl, also<br />

einen alten <strong>de</strong>utschen Erbfehler, nur bei <strong>de</strong>nen, die im Geist daheim<br />

sind, das bedrücken<strong>de</strong> Gefühl auslöst, daß es dunkel in <strong>de</strong>r<br />

Welt ist, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn aber bloß Anlaß zur Erheiterung bietet. Dieser<br />

Schriftsteller will partout von einem »aus unseren Reihen angeklagt,<br />

gerichtet und gestraft« sein, Von wem <strong>de</strong>nn? Ereifert er<br />

sich etwa gegen die Mondbewohner? Die Ekstase aber, mit <strong>de</strong>r er<br />

zum Schlusse <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Gefühl einen »Deutschen Heiland«


abnötigt, <strong>de</strong>r da natürlich kommen soll, zu richten die lebendigen<br />

Deutschen, dürfte ungefähr <strong>de</strong>r vermessenen Kaltblütigkeit entsprechen,<br />

mit <strong>de</strong>r das <strong>de</strong>utsche Gemüt (das protestantische wie<br />

das katholische) <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn an die politische Praxis verraten hat.<br />

Das ist nicht eine vereinzelte Stimme. Im »Wi<strong>de</strong>rhall« läßt sich da<br />

einer wie folgt vernehmen: »Karl Kraus' noch immerwähren<strong>de</strong>s<br />

Verweilen in einer Perio<strong>de</strong>, die heute Vergangenheit ist, scheint<br />

mir und vielen an<strong>de</strong>ren geistiger Stillstand, Befriedigung niedriger<br />

Scheel— und Rachsucht, die ihm die ehrlich Streben<strong>de</strong>n, die<br />

unermüdlich Suchen<strong>de</strong>n und redlich Wollen<strong>de</strong>n nicht verzeihen 1 ,<br />

so wenig wie sie ihm die Sün<strong>de</strong> gegen <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>s guten Geschmackes<br />

vergeben können.« Und ein an<strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>r einmal für<br />

das gleiche Blatt einen begeisterten Aufsatz über Karl Kraus geschrieben<br />

haben will, sagt: »Ein Zyniker wühlte mit sadistischer<br />

Wollust in ekelhaften Wun<strong>de</strong>n und rührte dann mit schmutzigen<br />

Hän<strong>de</strong>n an letzte Geheimnisse.« Hat <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r eine die Absicht,<br />

neben Karl Kraus noch redlich Wollen<strong>de</strong> zu sehen? Ich glaube gewiß,<br />

daß es solche gibt; nur dürfen sie nicht in einem Atem mit<br />

Karl Kraus genannt wer<strong>de</strong>n, so wenig wie Kernstock mit Georg<br />

Trakl in einem Atem als Dichter genannt wer<strong>de</strong>n darf. Der einem<br />

Durchschnittsmenschen eingeborene Trieb, bestehen<strong>de</strong> Unterschie<strong>de</strong>,<br />

die ihn von einer höheren Art trennen, zu verwischen,<br />

darf nicht durch die Bereitwilligkeit, lächerlich zu erscheinen,<br />

eine Trübung erfahren. Die sich strebend bemühen, hinter sich zu<br />

lassen, was man nicht hinter sich lassen kann, sollen aber natürlich<br />

nicht aufgehalten wer<strong>de</strong>n, einer Zukunft entgegenzueilen, die<br />

sich für sie ebenso flüchtig erweisen wird, wie <strong>de</strong>r Blick, mit <strong>de</strong>m<br />

sie heute schon die — nicht erlebte, aber — mitgemachte Vergangenheit<br />

sehen. »Die Sün<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>s guten Geschmackes«<br />

ist es, die diese feminine Wohlerzogenheit aus <strong>de</strong>r<br />

Fassung bringt. Die Sün<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Geist, nicht bloß die wi<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s guten Geschmackes — die ist bei uns schon lange daheim,<br />

ist vier Jahre lang in einer fürchterlichen Lebendigkeit umgegangen<br />

und jetzt, da einer aus dieser Wirklichkeit die letzte Folgerung<br />

zieht, nämlich verlangt, sie als Entartungserscheinung zu erkennen,<br />

wagt ein Abiturient — er wäre es, auch wenn er schon<br />

zwei Dutzend Jahre die Matura hinter sich hätte —, für diese<br />

Schreckenszeit und für die Menschen, die an ihr doch auch mitschuldig<br />

waren, von einem Karl Kraus das Taktgefühl einer Bie<strong>de</strong>rmeierzeit<br />

zu for<strong>de</strong>rn. Und ein an<strong>de</strong>rer hielt bei dieser Zeremonie<br />

mit. »Ekelhafte Wun<strong>de</strong>n und sadistische Wollust« hat es wohl<br />

genug gegeben, aber <strong>de</strong>r gestalten<strong>de</strong> Berichterstatter darf doch<br />

nicht mit <strong>de</strong>nen verwechselt wer<strong>de</strong>n, die es angeht. Dies feine<br />

Taktgefühl, das <strong>de</strong>n Dunst <strong>de</strong>r Seele wohl verriet, aber nicht die<br />

Seele selbst, ließ die bei<strong>de</strong>n wohlerzogenen Jünglinge einen öffentlichen<br />

Abend abwarten, um sich mit Pornp von <strong>de</strong>m loszusagen,<br />

<strong>de</strong>m sie doch stets nur »Anhänger« waren. Voll <strong>de</strong>r harten<br />

Güte, die Karl Kraus auszeichnet, trennt sie schon die ehemalige<br />

1 Es sind die Brü<strong>de</strong>r im Geiste, die ihre Untaten schnellstmöglich vergessen machend wollen.<br />

Ausgerechnet die Kommunisten (die Nachfolge— und Fortsetzungspartei <strong>de</strong>r SED heißt DIE<br />

LINKE) schreien heute am lautesten nach »sozialer Gerechtigkeit« und »Menschenrechten«,<br />

ihre Verbrechen sollen mittels <strong>de</strong>r Neiddiskussion aus <strong>de</strong>m Gedächtnis <strong>de</strong>r Menschen<br />

verdrängt wer<strong>de</strong>n.<br />

121


Schwärmerei für ihn. (Begeisterung, die <strong>de</strong>m Ruhm gilt, entfernt<br />

<strong>de</strong>n Geist.) Von seiner Kraft aber das En<strong>de</strong>, das da ist, auch zu sehen,<br />

trennt sie die Lust, in die Zukunft zu entweichen. Von <strong>de</strong>m<br />

Leid, daß dieser erlauchte Geist auf sich genommen hat, haben sie<br />

keinen Begriff. Dies erst gibt ihm zur Qual das Recht, alles Fürchterliche<br />

noch einmal in einem Wurf zusammenzufassen. Zur Qual<br />

das Recht, in <strong>de</strong>r Vergangenheit zu verweilen, die noch in so vielen<br />

Dingen Gegenwart ist.<br />

Vielleicht besteht die Tragödie Karl Kraus darin, daß er in <strong>de</strong>r<br />

Vergangenheit, die für ihn, <strong>de</strong>r sie wie keiner erlebt hat, Gegenwart<br />

bleiben muß, nicht los kann, da er die Gegenwart stets nur<br />

im Spiegel <strong>de</strong>r Vergangenheit, unserer Vergangenheit wird sehen<br />

können. Wie viele wer<strong>de</strong>n da noch von ihm abfallen, die gerne an<br />

ihn heranträten, gerne an ihn glaubten, wenn er sich entschlösse,<br />

so zu schreiben, wie es ihrem I<strong>de</strong>al entspräche. Aber gera<strong>de</strong> er<br />

bietet von allen Schriftstellern die geringste Aussicht, sich von österreichischer<br />

Gutmütigkeit mißbrauchen zu lassen. Für Karl<br />

Kraus hieße Abkehr von <strong>de</strong>r gegenwärtigen Vergangenheit: sich<br />

aufgeben, sich mit <strong>de</strong>r Zeit gegen die Ewigkeit, gegen das lebendige<br />

Zentrum <strong>de</strong>s Menschen verbün<strong>de</strong>n, das Gewissen töten. Wie<br />

wäre es möglich, da sich an ihm das Gewissen Mitteleuropas erst<br />

orientieren muß? Dieses Mitteleuropa erst durch ihn wie<strong>de</strong>r erfahren<br />

muß, was ein Charakter ist?<br />

Nun geschah es in Innsbruck, daß die Schaufenster einer Buchhandlung<br />

von Mittelschülern zertrümmert und zwei italienische Bücher über Wilhelm II.<br />

verbrannt wur<strong>de</strong>n, »Einige nichtjüdische Mittelschüler« richteten eine Zuschrift<br />

an die 'Volks—Zeitung' (14. März), in <strong>de</strong>r es hieß:<br />

Wir sen<strong>de</strong>n diesen Bericht aus folgen<strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n ein: Seit <strong>de</strong>r<br />

Vorlesung Karl Kraus lesen wir in dieser Zeitung nicht selten Angriffe<br />

auf unsere Hochschüler. Wir halten diese für voll berechtigt<br />

und stimmen ihnen ganz und gar bei. Nur sollte man das eine<br />

nicht vergessen, daß zwar die Innsbrucker Hochschüler im allgemeinen<br />

so sind, wie sie hier beschrieben wer<strong>de</strong>n (die Farbentragen<strong>de</strong>n<br />

wohl ausnahmslos), daß es aber eine nicht ganz kleine<br />

Gruppe von Leuten gibt, die <strong>de</strong>m allgemeinen Typus in allem entgegengesetzt<br />

ist ... Diese nette monarchistische Demonstration<br />

veranstalteten Mittelschüler. Wir vermuten, daß sich die kommen<strong>de</strong>n<br />

Angriffe dieser Zeitung nun auch auf uns Mittelschüler erstrecken<br />

wer<strong>de</strong>n. Die Einsen<strong>de</strong>r halten das für vollkommen berechtigt<br />

... Sie wollen diesem Schreiben also auch nicht <strong>de</strong>n Versuch einer<br />

»Ehrenrettung« untergeschoben wissen, son<strong>de</strong>rn wollten nur dieses<br />

erreichen: <strong>de</strong>n körperlich Arbeiten<strong>de</strong>n versichern, daß nicht<br />

<strong>de</strong>r ganze geistige Nachwuchs vom greisenhaften Nationalmonarchismus<br />

verseucht ist, son<strong>de</strong>rn auch jetzt 'einige junge Leute für<br />

die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Pazifismus und <strong>de</strong>r Menschenliebe leben.<br />

122<br />

Die Zeitung bemerkt hierzu:<br />

Natürlich sind die Mittelschüler für <strong>de</strong>n gestrigen Vorfall nicht allein<br />

verantwortlich; sie sind ja nur die Geschobenen, die Opfer <strong>de</strong>r<br />

Hetze, die da vom sicheren Hinterhalt aus durch einige Chauvinisten<br />

betrieben wird. Auch das Verhalten <strong>de</strong>r Polizei, die bei <strong>de</strong>m


ekannten Kraus—Vortrag gegen <strong>de</strong>n Vortragen<strong>de</strong>n anstatt gegen<br />

die Ruhestörer eingeschritten ist, die bei <strong>de</strong>r stu<strong>de</strong>ntischen Demonstration<br />

nach <strong>de</strong>r Antisemitenversammlung und die auch gestern<br />

abends erst sichtbar gewor<strong>de</strong>n ist, nach<strong>de</strong>m die Auslagen <strong>de</strong>r<br />

Firma Kaltschmidt zertrümmert und die italienischen Bücher in<br />

Rauch aufgegangen waren, erweckt in <strong>de</strong>n jungen Terroristen die<br />

Auffassung, daß die Freiheit <strong>de</strong>r Republik darin besteht, daß sie<br />

sich alles erlauben dürfen.<br />

Von <strong>de</strong>m gestrigen Vorfall und <strong>de</strong>m völlig passiven Verhalten <strong>de</strong>r<br />

Polizei wird noch viel gere<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n müssen, und wir fürchten<br />

sehr, daß die Stadt für die von einigen Nationalisten arrangierte<br />

Politik <strong>de</strong>r Straße ein schweres Lehrgeld zu zahlen haben wird.<br />

Im »Brenner« (Heft 4) leitet Ludwig, Ficker einen längeren »Nachtrag«<br />

mit einem Zitat aus Kierkegaard (»Furcht und Zittern«, 1843) ein:<br />

» ... Doch darum kümmert man sich wenig in unserer Zeit,<br />

welche zu <strong>de</strong>m Höchsten gelangt ist, während doch keine<br />

Zeit, wie gera<strong>de</strong> sie, <strong>de</strong>m Komischen verfallen gewesen ist.<br />

Und unbegreiflich ist es, daß das Erwartete nicht schon eingetreten<br />

ist, daß die Zeit selbst noch nicht durch eine generatio<br />

aequivoca ihren Hel<strong>de</strong>n aus sich herausgeboren hat,<br />

<strong>de</strong>n Dämon, <strong>de</strong>r schonungslos das schreckliche Schauspiel<br />

aufführen wird, das die ganze Zeit zum Lachen bringen und<br />

sie zugleich vergessen lassen wird, daß sie über sich selbst<br />

lacht ... In einer Art Hellseherei offenbart die Zeit ihr Gebrechen,<br />

so wie ein Dämonisches sich immer selbst offenbart<br />

ohne sich selbst zu verstehen; <strong>de</strong>nn sie for<strong>de</strong>rt immer wie<strong>de</strong>r<br />

das Komische ... Sollte die Zeit wirklich <strong>de</strong>r lächerlichen<br />

Erscheinung eines Erweckten bedürfen, um etwas zum Lachen<br />

zu haben, o<strong>de</strong>r sollte sie nicht vielmehr bedürfen, von<br />

einer solchen begeisterten Erscheinung an das erinnert zu<br />

wer<strong>de</strong>n, was vergessen ist?«<br />

Als aber — endlich! nach mehr als einem Halbjahrhun<strong>de</strong>rt — <strong>de</strong>r<br />

Dämon aus <strong>de</strong>m Schoße dieser Prophezeiung in die Welt seiner<br />

Bestimmung und wie ein <strong>de</strong>plazierter Witz aufs Podium sprang;<br />

siehe, da ward es dunkel über <strong>de</strong>m Parterre <strong>de</strong>r Welt. — — —<br />

Welt, dort, ins Jenseits aufgehobene — Welt, gestern noch ein<br />

Stück von uns im Überfluß bewegten Daseins: als Toteninsel ward<br />

sie, fern schon, verschollen fast <strong>de</strong>m Tag, nur noch umnachtetem<br />

Gesicht ein weither winken<strong>de</strong>s, traurig versinken<strong>de</strong>s Fanal. Hier,<br />

Welt, zurückgebliebene im Diesseits — Welt, heute noch ein Stück<br />

von uns und schwankes Festland unter unsern Füßen: ein Tummelplatz<br />

versklavter Lebenstriebe, ein Pandämoniun, verkrachten<br />

Übermuts, enthüllt sie noch in je<strong>de</strong>r Regung ihrer Lei<strong>de</strong>nschaft: in<br />

je<strong>de</strong>m Ausfall ihres blutigen Ernstes, in je<strong>de</strong>r blutigen Reflexbewegung<br />

ihres Galgenhumors, <strong>de</strong>n bunten Varietéprospekt verwester<br />

Lebensfreu<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>m ihr Frie<strong>de</strong> wie ihr Krieg und, bei<strong>de</strong>s<br />

überragend, <strong>de</strong>r hochgestapelte Raubbau ihrer Geldwirtschaft an<br />

all <strong>de</strong>m à la hausse wie à la baisse gottlos verspekulierten Lebensgut<br />

sich himmelauf und höllenab gebaut hat. — Dies also ist und<br />

123


124<br />

wird und war einmal, und keine Vision <strong>de</strong>r Trauer vermag zu sagen,<br />

wohin es führt. Aber es lebt als Vision <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaft im<br />

Geiste und als eherne Legen<strong>de</strong> im Werke eines Dämons, <strong>de</strong>r diese<br />

Schreckensphantasie <strong>de</strong>r Wirklichkeit in eine Zauberwelt <strong>de</strong>s<br />

Worts gebannt, in <strong>de</strong>r die Zeit, zu Tod getroffen, in ihrem eigensten<br />

Jargon noch aufkreischt und verstummt, um schließlich als<br />

verlorenes Echo in jene tiefste, wun<strong>de</strong>rlichste Selbstbesinnung<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache einzugehn, die eines Ju<strong>de</strong>n beseeligend—<br />

erschüttern<strong>de</strong>s Erlebnis war; eines Ju<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sich selbst darin<br />

geoffenbart und sich in dieser Höllen—, dieser Himmelsmission —<br />

lei<strong>de</strong>r, ihr Arier! — noch immer besser verstan<strong>de</strong>n hat als diejenigen<br />

unter euch, die sie ihm in Liebe o<strong>de</strong>r Haß auf ihre Art ver<strong>de</strong>utschen<br />

wollten. Denn diesen Dämon einer frem<strong>de</strong>n — aber was<br />

heißt Menschen »frem<strong>de</strong>n«? — Rasse wird heute kein Arier mehr<br />

mit <strong>de</strong>r Aussicht, sich geistig gegen ihn behaupten zu können, als<br />

seinen Wi<strong>de</strong>rpart ins Auge fassen dürfen, er sei <strong>de</strong>nn religiös bewegt,<br />

also ein Christ, und also mehr als <strong>de</strong>r Arier o<strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r<br />

sich innerhalb <strong>de</strong>r Rasse seine Bestimmung sucht. Der Christ<br />

aber, <strong>de</strong>r nicht zugleich sein Verhältnis zur Zeit und das Maß seiner<br />

geistigen Berufenheit im Kampfe gegen die Welt am Wirken<br />

dieses Ju<strong>de</strong>n orientiert und geklärt hätte: er trete vor und werfe —<br />

auf die Gefahr hin, sich selbst als Christen zu verleugnen — <strong>de</strong>n<br />

ersten Stein auf ihn! Denn wohlgemerkt: nie war die Gelegenheit<br />

dazu günstiger als jetzt, da er neuerdings und diesmal aus <strong>de</strong>m<br />

Hintergrund eines erfüllten Schicksals in die fragwürdig erhellte<br />

Welt seiner Bestimmung tritt und als die vollen<strong>de</strong>te Weissagung<br />

<strong>de</strong>r Zeit und <strong>de</strong>ren wesentlich erschöpfte Herausfor<strong>de</strong>rung das<br />

Podium ihrer Verlegenheit bestieg, um ihr die Bestialität ihres<br />

verlorenen Kriegs und das Elend ihrer Nie<strong>de</strong>rlage mit einer Lei<strong>de</strong>nschaft<br />

ins Gewissen zu hämmern, die reichlich unbarmherzig<br />

anmutet, im übrigen jedoch darauf zu pochen scheint, daß hier<br />

nichts in Erinnerung, son<strong>de</strong>rn alles erst zur Besinnung zu rufen<br />

ist. — — — Also silentium, ihr Hel<strong>de</strong>n von Krieges Gna<strong>de</strong>n, die ihr<br />

— <strong>de</strong>r und jener — vielleicht noch ehegestern meine guten Kamera<strong>de</strong>n<br />

im Fel<strong>de</strong> wart, jung und aller Achtung wert; ehrt — <strong>de</strong>n<br />

Schläger, die Attrappe eurer Hinterlandswehrhaftigkeit, im Geiste<br />

o<strong>de</strong>r meinetwegen auch <strong>de</strong> facto in <strong>de</strong>r Hand — ehrt eure streitbaren<br />

spiritus rectores magnifici durch Sympathiekundgebungen soviel<br />

ihr wollt (ich weiß, es macht euch Freu<strong>de</strong> und mich ficht's<br />

nicht an): aber verschwin<strong>de</strong>t, bitte, einen Augenblick hinter die<br />

Kulissen eurer I<strong>de</strong>ale, <strong>de</strong>nn ich will mir die Erscheinung jenes an<strong>de</strong>ren,<br />

jenes immerhin beträchtlicheren spiritus rector, <strong>de</strong>r ohne<br />

an<strong>de</strong>re Rücken<strong>de</strong>ckung als die seiner Wahrhaftigkeit <strong>de</strong>m Geist<br />

<strong>de</strong>r Menschlichkeit in diesen blutigen Henkersjahren mit einem<br />

Wagemut ohnegleichen <strong>de</strong>n Rücken ge<strong>de</strong>ckt hat, ich will ihn mir<br />

als eine geistige Wirklichkeit gera<strong>de</strong> in jenem kritischsten Moment<br />

vergegenwärtigen, da die Dämonie seiner Selbstaufopferung,<br />

sich selbst mit Begeisterung rezitierend, ganz offenbar Gefahr<br />

läuft, sich selbst in Frage zu stellen. — — —<br />

— — Diese Zeit aber steht am En<strong>de</strong> ihrer glänzen<strong>de</strong>n Laufbahn.<br />

Und was da oben schließlich so verwirrendmächtig aus <strong>de</strong>r<br />

schmächtigen Gestalt <strong>de</strong>s überzeitlichen Satirikers tritt, ist die Vi-


sion <strong>de</strong>s Mör<strong>de</strong>rs seiner Zeit. Des Mör<strong>de</strong>rs, <strong>de</strong>r sein Opfer völlig<br />

in seiner Lei<strong>de</strong>nschaft begräbt. Fürwahr, kein Schrnerztöter tobt<br />

sich hier aus, son<strong>de</strong>rn ein Lustmör<strong>de</strong>r. Der passionierte Lustmör<strong>de</strong>r<br />

all <strong>de</strong>r besinnungslosen Bestialität, die seit un<strong>de</strong>nklichen Bie<strong>de</strong>rmeierzeiten<br />

<strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>r Menschlichkeit genotzüchtigt, geschän<strong>de</strong>t,<br />

hingeschlachtet, mit <strong>de</strong>m Mantel <strong>de</strong>r Nächstenliebe zuge<strong>de</strong>ckt,<br />

ein Kreuz darüber gemacht und ihn zuguterletzt im Massengrab<br />

<strong>de</strong>s Weltkriegs mit Gloria—Viktoria zur letzten Ruh — zur<br />

Ruh in Gott! — bestattet hat. Aber gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Christ, <strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>r<br />

Theodizee <strong>de</strong>r Unbarmherzigkeit, die sich da wie ein blitzen<strong>de</strong>s<br />

Lasso über schlagen<strong>de</strong> Herzen und betäubte Köpfe in die Dunkelheit<br />

eines Saales wirft, am tiefsten erschüttert steht und nie die<br />

Sorge los wird, ob sie bei Licht besehen nicht auch die Schlinge<br />

ist, in <strong>de</strong>r sich letzten En<strong>de</strong>s noch <strong>de</strong>r Henker <strong>de</strong>s Henkers fängt;<br />

er, <strong>de</strong>r sich sagen muß, daß <strong>de</strong>r Geist einer Zeit, aber auch <strong>de</strong>r<br />

Geist, <strong>de</strong>r ihn zu überwältigen berufen war, noch nie so in die<br />

Enge getrieben war wie heute und hier, in diesem Engpaß <strong>de</strong>r<br />

Kraus'schen Satire, aus <strong>de</strong>m heraus erst Geist wie<strong>de</strong>r ins Freie atmen<br />

kann: er also auch besinne sich am tiefsten. Er besinne sich,<br />

daß hinter <strong>de</strong>m Grauen dieser Offenbarung die Erscheinung unseres<br />

Dämons immer wie<strong>de</strong>r Schimmer und Umriß jenes Engels<br />

mit <strong>de</strong>m flammen<strong>de</strong>n Schwert annimmt, <strong>de</strong>r die Erinnerung in ein<br />

verlorenes Paradies verteidigt. Und er vergesse nicht, daß aus<br />

<strong>de</strong>m Laster— und Lästergrund seiner Satire, daß hinter <strong>de</strong>m phosphoreszieren<strong>de</strong>n<br />

Höllenspuk seiner metrischen Grotesken immer<br />

wie<strong>de</strong>r Verse dieses Karl Kraus aufsteigen, in <strong>de</strong>nen die Erinnerung<br />

in das verlorene Paradies in eine Wortgestalt von so erhellter<br />

Tragweite gehoben ist, daß sie sich wie ein Steg <strong>de</strong>r Sehnsucht —<br />

und bleibe er auch, wie alle Poesie, ein schwanker Notsteg — ins<br />

ewige Wort Gottes spannt. Aus <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s großen Kriegs <strong>de</strong>r<br />

christlichen Völker Verse sind es eines Erzju<strong>de</strong>n — aufgetaut zum<br />

Herzfrie<strong>de</strong>n eines ewig menschlichen Gedächtnisses. Verse wie<br />

diese, wahrlich <strong>de</strong>r Treue eines christlich bewegten Menschen<br />

wert, <strong>de</strong>m sie einstmals — wie lange ist das her? — im Schneegrab<br />

einer Frühjahrsoffensive und unter <strong>de</strong>m Gekläffe <strong>de</strong>r Geschütze<br />

trostreicher Klang im Ohr und wie die Wie<strong>de</strong>rauferstehung<br />

zur Ehre Gottes — die endliche! — einer zu Ehren Satans<br />

eingeschmolzenen Osterglocke waren:<br />

Heute ist Frühling. Zittern<strong>de</strong>r Bote <strong>de</strong>s Glücks,<br />

kam durch <strong>de</strong>n Winter <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r gol<strong>de</strong>ne Falter.<br />

Oh knieet, segnet, hört, wie die Er<strong>de</strong> schweigt.<br />

Sie allein weiß um Opfer und Träne.<br />

Die 'Staatswehr' (19. März):<br />

HERR KRAUS IN INNSBRUCK. Wir erhielten ein Schreiben aus Innsbruck<br />

— lei<strong>de</strong>r etwas verspätet — zur Stellungnahme gegen die<br />

Kraus—Vorlesung dortselbst. Nur auszugsweise sei hier <strong>de</strong>r markanteste<br />

Teil <strong>de</strong>s Inhaltes wie<strong>de</strong>rgegeben: ... eine Unanständigkeit,<br />

echt jüdischer Infamie, war das Auftreten dieses Sch . . . .,<br />

das sich erfrecht, über das <strong>de</strong>utsche Volk zu Gericht zu sitzen. Ei-<br />

125


nem Stamm—Pornograph solchen Kalibers gebühren Hiebe, <strong>de</strong>nen<br />

er ein nächstesmal nicht entgeht. So ähnlich sprachen<br />

Dr. Pembauer und Frau Dr. Schnei<strong>de</strong>r über die Tätigkeit <strong>de</strong>s ungebetenen<br />

Eindringlings in unser Tirol ...<br />

Wir haben dieser Charakteristik nichts hinzuzufügen.<br />

Die Punktierungen sind <strong>de</strong>m Original entnommen. Die 'Staatswehr' ist<br />

das Feld <strong>de</strong>r Ehre <strong>de</strong>r uns hinterbliebenen Offiziere <strong>de</strong>r ehemaligen Armee.<br />

Im April 1919 war in <strong>de</strong>r Fackel zu lesen:<br />

Der in Wien und Prag laut gewor<strong>de</strong>nen Dummheit, die durch<br />

schlechtes Deutsch die nationale Ehre gegen mich zu wahren versuchte,<br />

seien unter zahllosen die folgen<strong>de</strong>n zwei Äußerungen eines<br />

mir persönlich unbekannten Reichs<strong>de</strong>utschen gegenübergestellt,<br />

<strong>de</strong>r nach Zuständigkeit und sozialem Rang zur Vertretung<br />

<strong>de</strong>r völkischen Sache berufener scheint und mit seiner Gesinnung<br />

sie auch besser rechtfertigt als ein Wiener Kasma<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r ein Prager<br />

Schmock:<br />

I.<br />

Berlin, 31. Mai 1918.<br />

Herrn Karl Kraus, Herausgeber <strong>de</strong>r 'Fackel' Wien<br />

Ich gehöre seit 12 Jahren zu ihren Bewun<strong>de</strong>rern und habe Ihnen<br />

noch jüngst, als Sie hier Vorträge hielten, eine kleine Aufmerksamkeit<br />

erwiesen.<br />

Ich kann es aber nicht leugnen, daß ich oft durch die Art, in <strong>de</strong>r<br />

Sie im Kriege mein Vaterland beschimpften, abgestoßen wur<strong>de</strong>,<br />

und mich von Ihnen entfernte. Immer zog mich wie<strong>de</strong>r Ihr Genie<br />

an. Nun aber kann ich nicht mehr mit. In Deutschland und in Österreich<br />

ist, wie Sie sagen, die Hölle. Wir allein haben <strong>de</strong>n Krieg<br />

angefangen, wir allein setzen ihn fort, alles Schlechte ist bei uns,<br />

aller Glanz und alles Recht sind auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite. Den Eindruck<br />

bekommt man, wenn man die Fackel liest.<br />

Ich wer<strong>de</strong> Sie weiter bewun<strong>de</strong>rn und Sie gleichzeitig nach besten<br />

Kräften bekämpfen. Das Ihnen mitzuteilen halte ich, nach meinem<br />

letzten Brief an Sie, für notwendig.<br />

II.<br />

Berlin, 10. Dezember 1918.<br />

Sehr geehrter Herr!<br />

Ich bitte Ihnen von ganzem Herzen meinen letzten Brief ab. Zehn<br />

Jahre war ich Ihnen gefolgt, und ging erst dann von diesem Wege<br />

ab, als ich glaubte, daß Sie sich gegen mein Land versündigten.<br />

Aber Sie allein hatten Recht; in allem. Ich habe keine an<strong>de</strong>re Entschuldigung,<br />

als diese, daß ich in ein Netz von Lügen verstrickt<br />

war.<br />

So muß ich <strong>de</strong>nn um Verzeihung bitten. Ihr ...<br />

Daß aller Glanz und alles Recht auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite ist, dürfte aus keinem<br />

meiner Kriegsaufsätze zu entnehmen sein, wohl aber das sittliche Gebot,<br />

126


die Schäbigkeit und das Unrecht auf <strong>de</strong>r eigenen Seite zu erkennen und zu<br />

bekennen. Wenn dortige Geister ihrerseits die Pflicht erfüllen, wird <strong>de</strong>r<br />

Menschheit geholfen; wir haben das Unsrige zu tun. Die Pflicht ist mit <strong>de</strong>m<br />

Frie<strong>de</strong>n nicht erfüllt. Der Feind hat zu vergessen, was <strong>de</strong>r Feind ihm, und darf<br />

nie vergessen, was er <strong>de</strong>m Fein<strong>de</strong> angetan hat. Bei<strong>de</strong> lei<strong>de</strong>r sündigen gegen<br />

bei<strong>de</strong>rlei Gebot.<br />

Der Autor <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Briefe schrieb am 23. Januar einen dritten:<br />

Verehrter Herr Kraus!<br />

Mein Freund L. H. stellte mich Ihnen gestern vor. Sie erwiesen<br />

mir die Ehre, zwei Briefe von mir abzudrucken. In tiefer Dankbarkeit<br />

für die drei wun<strong>de</strong>rvollen Aben<strong>de</strong>, bitte ich Sie, die Güte zu<br />

haben, hun<strong>de</strong>rt Mark für Zwecke <strong>de</strong>r Wohltätigkeit aus meinen<br />

lei<strong>de</strong>r nur beschei<strong>de</strong>nen Mitteln anzunehmen.<br />

Wenn ich eine Bitte aussprechen darf, so wäre es die: die ganze<br />

Summe einem Wiener Künstler, <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r hat, zu übergeben. —<br />

Fühlten Sie gestern unser Hingerissensein? Muß Sie das nicht<br />

stärken in Ihren schweren Kämpfen und Lei<strong>de</strong>n? Ach, —gäbe es<br />

ein Mittel, die Millionen <strong>de</strong>utscher Menschen zu zwingen, Sie anzuhören:<br />

— sie wür<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r gläubig wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>mütig, und<br />

sie könnten <strong>de</strong>r Sintflut entgehen.<br />

Doch wie sollte man zu jenen sprechen, die, wenn sie von I<strong>de</strong>alen re<strong>de</strong>n,<br />

sie zu haben glauben, und noch zu haben glauben, wenn sie das Gegenteilige<br />

tun? In Berlin ging's. Aber sie brauchen nur wie in Innsbruck auf mich vorbereitet<br />

zu sein, so verhin<strong>de</strong>rn sie, daß zu ihnen gesprochen wer<strong>de</strong>. Sklaven<br />

zwingt man nicht, zu hören, selbst wenn sie schon gefühlt haben. Hätte <strong>de</strong>r<br />

Geist eine Polizei, ihm bliebe übrig, einen Pestkordon um Gegen<strong>de</strong>n zu ziehen,<br />

wo die Lüge <strong>de</strong>n Krieg überlebt. Ein Sieger, von <strong>de</strong>m ich sagte, daß er<br />

vom Sieg aufs Haupt geschlagen sei, hat gezeigt, welches Deutschland er zu<br />

erhalten wünscht, und die Besiegten, <strong>de</strong>nen von allen Kriegsfolgen wenigstens<br />

die geistige Erneuerung erspart bleibt, wissen, in welchem Deutschland<br />

sie zu leben und an welches sie sich anzuschließen wünschen. Als die Ratten,<br />

die schwarzen Ratten — die weißen — neulich an die Nächstenliebe appellierten<br />

und <strong>de</strong>n Kapitän baten, ihnen beim Verlassen <strong>de</strong>s Schiffs behilflich zu<br />

sein, taten sie's nicht wegen <strong>de</strong>r Nahrung allein. I<strong>de</strong>alisten wissen nicht nur,<br />

wo sichs besser leben, son<strong>de</strong>rn auch wo sichs besser lügen läßt. Hätten sie<br />

aber rechtzeitig <strong>de</strong>n Anschluß an die Wahrheit gefun<strong>de</strong>n; hätten sie das tiefere<br />

Selbstbestimmungsrecht behauptet, welches Leben und Sterben <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n<br />

Willen entzieht; hätten sie schon ehe<strong>de</strong>m Wilhelm und <strong>de</strong>n Generalen ein<br />

Pfui zugerufen — so wären sie dort, wohin sie wollen.<br />

Wozu <strong>de</strong>r Lärm? Wir streiten um <strong>de</strong>s Kaisers Bart! Ob meines o<strong>de</strong>r jener<br />

Christen Tun christlicher, meine o<strong>de</strong>r jener Deutschen Sprache <strong>de</strong>utscher<br />

ist, muß nicht sogleich entschie<strong>de</strong>n sein. Ob ich Gott gegeben habe, was Gottes<br />

ist, darüber steht ihnen kein Urteil zu. Aber ob ich <strong>de</strong>m Kaiser gegeben<br />

habe, was ihm gebührt, das läßt sich untersuchen, wenn wir nur erst so ehrlich<br />

sind einzugestehen, daß es um ihn geht und daß es sich um ein Stück<br />

Wirklichkeit han<strong>de</strong>lt, an welches <strong>de</strong>r ehrfurchtbefreite Blick Beweise zuläßt.<br />

So schmerzlich es einer abgerichteten Generation sein mag, nicht mehr lügen<br />

zu müssen, so furchtbar <strong>de</strong>r neue Anblick aller Wirklichkeiten ist, die man<br />

durch fünf Jahre Krieg und durch fünfzig Jahre Frie<strong>de</strong>n ausschalten mußte,<br />

um selbstgerecht sündigen zu können, so tragisch es ans Herz greift, daß die<br />

127


Heroengestalt, die allem Wahn Wurzel und Symbol war, als <strong>de</strong>r Rüpel <strong>de</strong>r<br />

Welttragödie erkannt wird — hier wie in allem, was wir getan und gelassen<br />

haben, empfangen wir das Recht, uns vom Vergangenen zu lösen, nur durch<br />

die Weihe <strong>de</strong>r Wahrheit. In <strong>de</strong>n unzüchtigen Gebär<strong>de</strong>n dieses gekrönten<br />

Scheusals spüren wir <strong>de</strong>n Griff an die Menschenwür<strong>de</strong> und an die leibliche Sicherheit<br />

einer Welt, <strong>de</strong>n sie ehr— und wehrlos ertrug, und mit <strong>de</strong>m Grauen,<br />

das wir vor uns selbst verspüren, wollen wir lieber Sklaven sein als wissen,<br />

daß wir es waren. Und <strong>de</strong>nnoch müssen wir es erfahren, um es nicht mehr zu<br />

sein. Ich habe schon in <strong>de</strong>r Zeit, da die Selbsterhaltung durch die Lüge tägliches<br />

Gebot war und die Schul<strong>de</strong>n an Menschlichkeit und Vernunft gehäuft<br />

wur<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n todsichern Zahltag zu erstrecken, da die Lügner vom Lügen<br />

lebten, die Gläubigen hungerten und die Ahnen<strong>de</strong>n am kranken Herzen starben,<br />

das Bild <strong>de</strong>s Tages gesehn, an <strong>de</strong>m die <strong>de</strong>utsche Menschheit, vom ersten<br />

Blick in die Wirklichkeit in <strong>de</strong>n Taumel <strong>de</strong>r Selbstvernichtung gejagt, mit Messern<br />

aufeinan<strong>de</strong>r losgehen wer<strong>de</strong>. Daß sie dann einer Aufklärung über die<br />

Idole, die in <strong>de</strong>m luftleeren Raum ihrer Welt regierten, noch lange nicht zugänglich<br />

wären, konnte mich nicht überraschen. Wer so im Namen <strong>de</strong>r Wahrheit<br />

gelogen hat, muß <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sie sagt, für einen Lügner halten. Nun heißt es<br />

— trotz aller Versicherung, daß man so etwas nicht erfin<strong>de</strong>n könne —, <strong>de</strong>n<br />

Wilhelm, <strong>de</strong>n ich zeigte, <strong>de</strong>n hätte ich erfun<strong>de</strong>n. Und ich kann nicht leugnen,<br />

daß ich ihn tatsächlich so erfun<strong>de</strong>n hatte, ehe ich erfuhr, daß er so sei, und<br />

ich weiß darum nicht, ob die Wahrheit meine Erfindung o<strong>de</strong>r, zu besserem Beweise,<br />

meine Erfindung die Wahrheit bestätigt. Zehn Millionen Tote konnten<br />

nicht gegen diese Lichtgestalt zeugen. Daß sie ihre Kondolenz betätigte, in<strong>de</strong>m<br />

sie sich und jenen, die man Wür<strong>de</strong>nträger nannte, lachend auf <strong>de</strong>n<br />

Schenkel schlug, war eine Verleumdung, die das redliche Bewußtsein, es<br />

nicht gewollt zu haben, befleckte. Der Mann, <strong>de</strong>r bei seinen Opfern tragisches<br />

Mitleid erweckt, weil es ihm heute benommen ist, <strong>de</strong>n Hanswurst von Gottesgna<strong>de</strong>n<br />

zu spielen, beschäftigt <strong>de</strong>utsche Zivilgerichte 1 , um eine merkantile<br />

Ausschrotung seiner Kinofigur, eine nur als Erbteil seines kulturellen Waltens<br />

mögliche Sensation, zu verhin<strong>de</strong>rn. Er versuche es und wehre sich mit <strong>de</strong>m<br />

Recht, das selbst wo Nichts ist, <strong>de</strong>r Kaiser nicht verloren hat, gegen die Entlarvung<br />

durch die beleidigte Ehre <strong>de</strong>r Menschheit! Ich habe Szenen aus seinem<br />

Leben erfun<strong>de</strong>n, erlogen, ten<strong>de</strong>nziös ausgebeutet. Er la<strong>de</strong> mich wie sein<br />

Dichter Hans Müller, <strong>de</strong>ssen Empfang durch ihn auch eine <strong>de</strong>r unwahrscheinlichen<br />

Szenen aus seinem Leben und <strong>de</strong>nnoch wahr gewesen ist, vor das<br />

Schwurgericht. Mein Kronzeuge ist Ferdinand von Bulgarien, <strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>n<br />

Rücken gekehrt hat, weil jener, als er's einmal tat und zum Fenster hinaussah,<br />

einen unziemlichen Gebrauch davon machte. Ich rufe sie alle zu Zeugen,<br />

die, dankbarer für solche Huld, »Zu gnädig, Euer Majestät!« sagten o<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n<br />

Schmerz verbeißend, schwiegen. Doch, auf die Gefahr hin, daß einer in Innsbruck<br />

Szenen aus meinem Leben ausbeuten könnte, die mich noch verächtlicher<br />

erscheinen ließen als ich Wilhelm zeichne, aber vielleicht, weil ich sicher<br />

bin, daß es an<strong>de</strong>re Szenen aus meinem Leben als die zwanzig gedruckten<br />

Jahrgänge nicht gibt, bin ich bereit, schon im Vorverfahren <strong>de</strong>n Wahrheitsbeweis<br />

anzutreten. Möge es die Gläubigen Wilhelms nicht gereuen, an mir gezweifelt<br />

zu haben!<br />

Ich habe ihnen gesagt, daß ich <strong>de</strong>n Berichten entsetzter Augen— und<br />

Ohrenzeugen manche Anregung zu <strong>de</strong>r Szene »Wilhelm und die Generale«<br />

1 Und <strong>de</strong>r Herr Egon Krenz, ehemaliger DDR—Staatsratsvorsitzen<strong>de</strong> ruft <strong>de</strong>n »Europäischen<br />

Gerichtshof für Menschenrechte« an, weil er eine lächerliche freigangserleichterte<br />

Gefängnisstrafe für seine Mitschuld an <strong>de</strong>n Mauermor<strong>de</strong>n absitzen soll.<br />

128


verdanke. So die wi<strong>de</strong>rwärtige Frage an <strong>de</strong>n einen Flügeladjutanten, seinen<br />

erotischen Geschmack betreffend, die in Donau—Eschingen gesprochen ward<br />

und für die nicht Wilhelm, son<strong>de</strong>rn ich ein Pornograph genannt wur<strong>de</strong>; sie<br />

war, als Eingriff in eine eheliche Intimität, noch weit abscheulicher als die an<br />

einen erfun<strong>de</strong>nen Namen geknüpfte Wendung. Ferner jenen scherzhaften<br />

Fußtritt für <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn Flügeladjutanten, <strong>de</strong>r sich in Schönbrunn ereignet<br />

hat, und zwar im Beisein Franz Josefs, <strong>de</strong>s Prinzregenten und von allem was<br />

dazu gehört, auf <strong>de</strong>r Szene <strong>de</strong>s höchsten Zeremoniells, das sich die untertane<br />

Phantasie ausmalt, vor <strong>de</strong>n verblüfften Vertretern aller Höfe. Ich habe nichts<br />

als <strong>de</strong>n Schauplatz dieser Gräßlichkeiten verän<strong>de</strong>rt, ihn ins <strong>de</strong>utsche Hauptquartier<br />

verlegt und die Rüpelszene mit <strong>de</strong>m Bombast <strong>de</strong>r Gottesaufmachung<br />

kontrasthaft verbun<strong>de</strong>n. Das Material zu <strong>de</strong>m eigenartigen Unfug, <strong>de</strong>n ich <strong>de</strong>n<br />

gekrönten Tollhäusler mit seiner Generalität treiben lasse — die heute kaum<br />

die Unbefangenheit aufbringen wird, als das letzte, was ihr geblieben ist, ausgerechnet<br />

die Ehre vorzuweisen — entstammt <strong>de</strong>m Werk »Der Seekrieg« von<br />

Konteradmiral Persius (Verlag <strong>de</strong>r Weltbühne, Charlottenburg 1919), aus <strong>de</strong>m<br />

ich hiermit die folgen<strong>de</strong>n Stellen zitiere—<br />

— — Die schon vorliegen<strong>de</strong>n Veröffentlichungen und die sicherlich<br />

noch zahllosen nachfolgen<strong>de</strong>n über Wilhelm <strong>de</strong>n Zweiten wer<strong>de</strong>n<br />

auch Dem, <strong>de</strong>ssen Blick bisher byzantinisch verschleiert war,<br />

klar machen, daß von Pflichttreue, ernster Auffassung seiner Stellung<br />

und <strong>de</strong>rgleichen nicht die Re<strong>de</strong> sein kann. Krasser Materialismus<br />

war die Triebfe<strong>de</strong>r für fast je<strong>de</strong> Handlung <strong>de</strong>s Exkaisers. —<br />

—<br />

— — Der Gedanke, daß Wilhelm <strong>de</strong>r Zweite, einer seiner Söhne<br />

o<strong>de</strong>r sein Bru<strong>de</strong>r Heinrich ernste Arbeit leisten könnten, ist einfach<br />

absurd.<br />

— — Die guten Eigenschaften <strong>de</strong>r meisten Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Seeoffiziercorps<br />

wur<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n übeln Einfluß Wilhelms <strong>de</strong>s Zweiten<br />

vielfach ertötet. Kriecherei nach oben, Fußtreten nach unten, ungesun<strong>de</strong>s<br />

Strebertum, Genußsucht, Bombastereien wur<strong>de</strong>n durch<br />

ihn großgezogen, und <strong>de</strong>m Material hat er durch sein Dreinre<strong>de</strong>n<br />

in die Kriegsschiffkonstruktion unendlich gescha<strong>de</strong>t. Unter <strong>de</strong>m<br />

Motto: »Mehr scheinen als sein« entstand so mancher Kriegsschiffbau.<br />

Es war im Königlichen Schloß zu Berlin, am 25. Februar<br />

1905: ich war aus Ostasien in die Heimat zurückgekehrt und hatte<br />

Wilhelm <strong>de</strong>m Zweiten die Abgabe meines Kommandos zu mel<strong>de</strong>n.<br />

Ich erzählte ihm, daß die Chinesen mein Schiff mit geringschätzigen<br />

Augen betrachtet hätten, weil es nur Einen Schornstein führte.<br />

Schiffe mit mehreren Schloten, auch wenn sie schwächer armiert<br />

waren, hätten sich <strong>de</strong>r Achtung dieser Kin<strong>de</strong>r in weit höherm<br />

Maße erfreut. »Nein, nein, so ists überall nicht nur in<br />

China«, wur<strong>de</strong> ich unterbrochen. »Die Menschen wollen Sand in<br />

die Augen gestreut bekommen. Klappern gehört zum Handwerk,<br />

das sage ich Tirpitz immer. Powerful, powerful muß solch ein Kasten<br />

ausschauen. Das ist die Hauptsache.— —<br />

Im Kreise <strong>de</strong>s Personals <strong>de</strong>r Marine erfreute sich Wilhelm <strong>de</strong>r<br />

Zweite keiner Sympathien. Die Offiziere <strong>de</strong>r »Hohenzollern« — die<br />

Gar<strong>de</strong> — und ähnliche Günstlinge unterdrückten selbstverständlich<br />

je<strong>de</strong> Kritik, aber sonst wur<strong>de</strong> offen über <strong>de</strong>n Kaiser geschimpft.<br />

Man nahm ihn nicht ernst, wußte, das er ein Scharlatan<br />

129


130<br />

war. Dem Korrespon<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r 'Daily Chronicle' hat Wilhelm <strong>de</strong>r<br />

Zweite erklärt, daß seine Generale ohne seine Zustimmung gemacht<br />

hätten, was sie wollten. Das taten sie, und das taten mehr<br />

o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r alle Offiziere bereits im Frie<strong>de</strong>n. Die zahllosen Allerhöchsten<br />

Kabinettsordres wur<strong>de</strong>n mit einem Lächeln gelesen und<br />

beiseite gelegt. Niemand richtete sich danach. »Je mehr Luxus<br />

und Wohlleben um sich greifen, umso mehr hat <strong>de</strong>r Offizier die<br />

Pflicht … « Wer kennt sie nicht, alle die leeren Worte! Luxus und<br />

Wohlleben wur<strong>de</strong>n im Offiziercorps durch Wilhelm <strong>de</strong>n Zweiten<br />

großgezogen.<br />

Wilhelm <strong>de</strong>r Zweite hat — wenn auch nur »mit <strong>de</strong>m Mun<strong>de</strong>« —<br />

unsre Flotte geschaffen, lei<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn sie war <strong>de</strong>r ureigenste<br />

Grund <strong>de</strong>s Krieges und unsrer Nie<strong>de</strong>rlage. Ohne unsre Flotte hätte<br />

sich Großbritannien niemals unsern Fein<strong>de</strong>n gesellt. Aber was<br />

tat nun Wilhelm <strong>de</strong>r Zweite im Kriege für die Flotte? Er erschien<br />

oft in Kiel und Wilhelmshaven und hielt Ansprachen. Nach <strong>de</strong>r<br />

Schlacht vor <strong>de</strong>m Skagerrak sagte er, am fünften Juni an Bord <strong>de</strong>s<br />

Flotten—Plaggschiffs in Wilhelmshaven, zu <strong>de</strong>r Abordnung <strong>de</strong>r<br />

Manschaften sämtlicher Schiffe: »Die englische Flotte wur<strong>de</strong> geschlagen.<br />

Der erste gewaltige Hammerschlag wur<strong>de</strong> getan, <strong>de</strong>r<br />

Nimbus <strong>de</strong>r englischen Weltherrschaft ist geschwun<strong>de</strong>n. Ein neues<br />

Kapitel <strong>de</strong>r Weltgeschichte ist von euch aufgeschlagen. Der<br />

Herr <strong>de</strong>r Heerscharen hat eure Arme gestählt, hat euch die Augen<br />

klar gehalten. Kin<strong>de</strong>r, was ihr getan habt, das habt ihr getan für<br />

unser Vaterland, damit es in alle Zukunft auf allen Meeren freie<br />

Bahn habe für seine Arbeit und seine Tatkraft ... « Ein sehr loyaler,<br />

äußerst königstreuer alter Seeoffizier, <strong>de</strong>r die Schlacht mitgemacht<br />

hatte und bei <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> anwesend war, sprach bald darauf<br />

die folgen<strong>de</strong>n Worte: »Wir lagen mit unsern arg zusammengeschossenen<br />

Schiffen am Bollwerk. Die vielen Toten und Verwun<strong>de</strong>ten<br />

wur<strong>de</strong>n an Land geschafft. An <strong>de</strong>n Kais stan<strong>de</strong>n die schwarz<br />

geklei<strong>de</strong>ten Angehörigen, Frauen und Kin<strong>de</strong>r weinten herzzerbrechend.<br />

Uns war gar nicht siegestrunken zu Mut. Wir wußten, daß<br />

dies die erste und letzte Schlacht gewesen war, die wir schlagen<br />

konnten. Unerhörtes Glück hatten wir gehabt, un<strong>de</strong>nkbar, daß es<br />

noch einmal so gut für uns abgehen wür<strong>de</strong>. Da kam <strong>de</strong>r Kaiser an<br />

Bord, sehr aufgekratzt, übersät mit Or<strong>de</strong>n, umgeben von seinem<br />

großen Gefolge, das lachend gnädigst rechts und links Hän<strong>de</strong>drücke<br />

und Glückwünsche austeilte. Die bombastische Ansprache<br />

<strong>de</strong>s Kaisers, <strong>de</strong>r ganze Zauber war mir so wi<strong>de</strong>rwärtig, daß ich<br />

mich schüttelte. Ich ziehe die Uniform aus, sobald es möglich ist.«<br />

So also war die Wirkung »kaiserlichen« Gebarens! Überall verscherzte<br />

sich Wilhelm die Sympathien; von Keinem, <strong>de</strong>r sich ein<br />

bißchen Rückgrat bewahrt hatte, konnte er geachtet wer<strong>de</strong>n.<br />

In einem norwegischen Hafen wars. Wilhelm kehrte an Bord zurück.<br />

Wir Offiziere stan<strong>de</strong>n am Fallreep zur Begrüßung. Wilhelm<br />

stieg »high spirits« die Treppe herauf. Er schwankte ein wenig.<br />

Wir konnten ein <strong>de</strong>spektierliches Lächeln nicht unterdrücken. Wilhelm<br />

bemerkte es und rief mit einer drastischen Handbewegung:<br />

»Was, Ihr verf. . . Kerls, wollt Ihr euern Obersten Kriegsherrn auslachen?<br />

Ich wer<strong>de</strong> euch ... «


Ein Kreuzer hielt Schießübungen ab. Wilhelm an Bord. Heiterer<br />

Sonnenschein, warmes schönes Wetter. Wilhelm war in bester<br />

Laune. Hier und dort, wie er das bei solchen Gelegenheiten liebte,<br />

teilte er mit seiner starken rechten Hand Schläge aus an — Bevorzugte,<br />

ulkte überall herum. Sein Leibmedicus, <strong>de</strong>r Generalarzt . . .<br />

stand auf <strong>de</strong>r rechten Seite <strong>de</strong>r Kommandobrücke, am hintern Gelän<strong>de</strong>r.<br />

Dem alten Herrn war das lange Stehen wohl beschwerlich.<br />

Traumverloren schaute er, hintenüber gelehnt, aufs glitzern<strong>de</strong><br />

Meer, in <strong>de</strong>n blauen Himmel und ließ sich wohlig von <strong>de</strong>r warmen<br />

Sonne bescheinen. Da sprang Wilhelm auf ihn zu, griff ihm mit<br />

<strong>de</strong>r rechten Hand zwischen bei<strong>de</strong> . . . und rief ihm einige Worte<br />

zu, die ich, weil ich einige Schritte entfernt stand, nicht genau hören<br />

konnte, Der arme Generalarzt taumelte vor wahnsinnigem<br />

Schmerz und krampfte sich an das Gelän<strong>de</strong>r, um nicht nie<strong>de</strong>rzusinken.<br />

Krei<strong>de</strong>bleich war er gewor<strong>de</strong>n. Wilhelm war anfangs in<br />

ein tolles Gelächter ausgebrochen, wandte sich aber, als er die<br />

Wirkung seines Zugriffs sah, stumm ab und ging auf die andre<br />

Seite <strong>de</strong>r Brücke. Es sollte wohl ein Scherz sein, aber es war ein<br />

höchst übler Scherz und ein unanständiger, beson<strong>de</strong>rs zu verurteilen,<br />

weil das Signalpersonal und verschie<strong>de</strong>ne Matrosen <strong>de</strong>n Vorfall<br />

mitansahen,<br />

Auf einem Schiff, mit <strong>de</strong>m Prinz Heinrich längere Zeit auf <strong>de</strong>r ostasiatischen<br />

Station geweilt hatte, gab es bei <strong>de</strong>r Heimkehr in Kiel<br />

Inspizierung durch Wilhelm. Es war im März und das Linoleum<br />

auf <strong>de</strong>r Kommandobrücke schwitzte bei <strong>de</strong>r feuchten Witterung<br />

viele dicke _Tropfen aus. Wilhelm war in übermütigster Laune und<br />

riß einen Witz nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn. Sein Flügeladjutant Admiral . . .<br />

stand vor ihm, mit <strong>de</strong>m Rücken zu ihm. Plötzlich sauste die rechte<br />

Hand Wilhelms mit aller Wucht auf <strong>de</strong>s Admirals hintere Front<br />

nie<strong>de</strong>r, so daß dieser sich vor Schmerzen krümmte. »Sind Sie verrückt<br />

gewor<strong>de</strong>n? P . . . . . Sie mir doch nicht immer auf die Stiebeln«,<br />

schrie Wilhelm ihn an. Die breite große Kommandobrücke<br />

<strong>de</strong>s Panzerkreuzers war voll von Offizieren, Unteroffizieren und<br />

Matrosen, die das Schauspiel grinsend mitansahen. Kann jemand<br />

ermessen, was solch ein Gebaren Wilhelms für einen Offizier be<strong>de</strong>utete,<br />

<strong>de</strong>r mit heißer Liebe an seinem Beruf hing, <strong>de</strong>r loyal seine<br />

Kräfte in <strong>de</strong>n Dienst seines Obersten Kriegsherrn zu stellen bemüht<br />

war? Nur Der kanns, <strong>de</strong>r sich in ähnlicher Situation befand.<br />

Der weiß, wie einem <strong>de</strong>r Ekel in <strong>de</strong>n Hals stieg, wie man jenen,<br />

<strong>de</strong>r einem alle Begeisterung vernichtete, hätte anspeien mögen.<br />

Mir war an <strong>de</strong>m Tage die Freu<strong>de</strong> über das Wie<strong>de</strong>rsehen mit <strong>de</strong>r<br />

Heimat geraubt. Als wir Offiziere am Schluß <strong>de</strong>r Inspizierung, bevor<br />

Wilhelm von Bord ging, zusammen mit ihm für die 'Woche'<br />

photographiert wur<strong>de</strong>n, barg ich meinen Kopf hinter <strong>de</strong>n Rücken<br />

eines Kamera<strong>de</strong>n — ich wollte nicht mit S. M. auf einem Bild erscheinen.<br />

Und solche Fälle waren keineswegs Ausnahmen. Wie<br />

häufig machte man sich im engern Kamera<strong>de</strong>nkreis Luft mit Worten<br />

wie: »Dieser Idiot!« o<strong>de</strong>r: »Den Kerl kann ja kein Mensch<br />

ernst nehmen.« Und obgleich nur Eine Stimme über Wilhelm<br />

herrschte, obgleich alle ältern Seeoffiziere darin einig waren, daß<br />

er die Flotte und das ganze <strong>de</strong>utsche Volk <strong>de</strong>m Ver<strong>de</strong>rben zuführe,<br />

fand sich Niemand, konnte sich unter <strong>de</strong>n obwalten<strong>de</strong>n Ver-<br />

131


132<br />

hältnissen Niemand fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Mut zur retten<strong>de</strong>n Tat aufgebracht<br />

hätte. Erst die Tragödie <strong>de</strong>s viereinhalbjährigen Krieges<br />

führte zur Katharsis.<br />

Wer mir vorwirft, ich hätte hier übertrieben, <strong>de</strong>m empfehle ich<br />

das köstliche Porträt Wilhelms <strong>de</strong>s Zweiten von Johannes Fischart,<br />

das in <strong>de</strong>r 'Weltbühne' erschienen ist. Und wie ein andrer Seeoffizier<br />

— Admiral Foß — über seinen Obersten Kriegsherrn <strong>de</strong>nkt,<br />

das entnehme man einigen Stichproben aus seinen »Enthüllungen<br />

über <strong>de</strong>n Zusammenbruch«. »Wilhelm <strong>de</strong>r Zweite war von vorn<br />

herein von <strong>de</strong>r Überzeugung durchdrungen, daß ein durch Gottes<br />

Gna<strong>de</strong> an die Spitze eines Volkes gestellter Fürst Alles könne.<br />

Daraus entwickelte sich, geschürt durch eine gra<strong>de</strong> bei seiner<br />

Veranlagung beson<strong>de</strong>rs ver<strong>de</strong>rbliche Vergötterung seitens seiner<br />

Umgebung eine schließlich krankhaft gewor<strong>de</strong>ne Eitelkeit, die dahin<br />

führte, daß er glaubte, die Fähigkeiten zu besitzen, sein eigner<br />

Kanzler und Generalstabschef sein zu können. Er dul<strong>de</strong>te keine<br />

Einwendungen gegen seine Ansichten und Befehle. Wer sich zu<br />

Vorstellungen für verpflichtet hielt, wur<strong>de</strong> entfernt. So ist es gekommen,<br />

daß es schließlich keine aufrechten Männer mehr um<br />

ihn gab. Und wenn seine Verteidiger manche <strong>de</strong>r Unbegreiflichkeiten<br />

seiner Handlungen seinen Beratern zur Last legen wollen,<br />

so muß darauf erwi<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, daß er selbst daran schuld war,<br />

wenn diese nichts taugten. Es fehlte Wilhelm an Charakter. Es ist<br />

entschie<strong>de</strong>n irrig, wenn von ihm als einem pflichtgetreuen Mann<br />

gesprochen wird. Sein ganzes Tun war nur von persönlichen Launen<br />

und Neigungen bestimmt. Überall wollte er mitre<strong>de</strong>n, auch in<br />

Sachen, von <strong>de</strong>nen er schon <strong>de</strong>swegen nichts verstehen konnte,<br />

weil er sich ein Urteil nur auf Grund von Studien hätte bil<strong>de</strong>n können,<br />

zu <strong>de</strong>nen ihm die dazu erfor<strong>de</strong>rliche Zeit, und <strong>de</strong>r dazu nötige<br />

Fleiß fehlten. Sein Wissen war ganz oberflächlicher Art. Es gab<br />

kein Gebiet, in das er sich versenkt hätte. We<strong>de</strong>r taktisch noch<br />

strategisch kam er als Führer in Betracht, weil dazu neben andrer<br />

Begabung Nerven gehören, und die besaß er nicht. Alles trieb er<br />

in oberflächlicher, spielerischer, dilettantischer Art, ließ eine Sache<br />

fallen, die er zuerst mit Feuer aufgenommen hatte, da sie<br />

nach kurzer Zeit das Interesse für ihn verlor, o<strong>de</strong>r kümmerte sich<br />

nicht mehr um sie, wenn er auf nicht ohne weiteres zu überwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Hin<strong>de</strong>rnisse stieß. Seine Überzeugung, alles zu verstehen,<br />

ging so weit, daß er sich sogar an einem vom Reichsmarineamt<br />

ausgeschriebenen Wettbewerb betreffend <strong>de</strong>n Entwurf von Plänen<br />

für <strong>de</strong>n Bau zu einem Panzerkreuzer beteiligte. Natürlich fehlte<br />

ihm dazu die erfor<strong>de</strong>rliche technische Bildung, und so wur<strong>de</strong> ihm<br />

ein Techniker als Mitarbeiter und Handlanger zur Verfügung gestellt.<br />

Das Unglück wollte aber, daß dieser lange <strong>de</strong>r Praxis entrückte<br />

Herr seiner Aufgabe ebensowenig gewachsen war, und so<br />

erklärt es sich, daß, wie bei <strong>de</strong>r Prüfung festgestellt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r<br />

kaiserliche Kreuzer umgefallen sein wür<strong>de</strong>, wenn er ausgeführt<br />

und zu Wasser gebracht wor<strong>de</strong>n wäre. Wilhelm dul<strong>de</strong>te keinen<br />

aufrechten Mann in seiner Umgebung. Schon seine krankhafte Eitelkeit<br />

erlaubte nicht, daß sich in seiner Nähe ein geistig hochstehen<strong>de</strong>r<br />

Mann sehen ließ. Er dachte nur an sich und sein Vergnügen.<br />

Ein sehr kluger und hoher Seeoffizier sagte im Sommer


1918: 'Wehe <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>, an <strong>de</strong>ssen Spitze ein solcher Feigling<br />

steht!'«<br />

Genügt das? Man erkennt, daß Admiral Foß weit schärfer spricht, als<br />

ich es getan. Danach brauch' ich wohl nichts mehr von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Seite hierher<br />

zu setzen, von <strong>de</strong>r Partei <strong>de</strong>s Grafen Schulenburg, <strong>de</strong>r »die liebe starke<br />

Hand unter Tränen zum letzten Mal küßte«, bevor Wilhelm als Deserteur über<br />

die holländische Grenze floh.<br />

Der Admiral Foß ist ein All<strong>de</strong>utscher. Eine Stelle aus <strong>de</strong>m »Porträt«, auf<br />

das Persius verweist, betrifft die von mir verwertete Kaviar—Episo<strong>de</strong> und lautet:<br />

Der Kaiser war, am ersten Juli 1901, auf <strong>de</strong>m kleinen Kreuzer<br />

»Nymphe«, um in <strong>de</strong>r Lübecker Bucht einem Torpedo—Versuchsschießen<br />

im Anschluß an die Kieler Woche beizuwohnen. Ein<br />

großes Gefolge war an Bord. In <strong>de</strong>n Zwischenpausen <strong>de</strong>r Anläufe<br />

kam Wilhelm ins Kartenhaus und erledigte hier Unterschriften.<br />

Tirpitz legte ihm die Schriftstücke vor. Als es ihm zu langweilig<br />

wur<strong>de</strong>, blickte er zu <strong>de</strong>m Offizier neben sich auf: »Schrecklich,<br />

dieser Tirpitz mit seiner Tinte! Ein Glas Sekt wär' mir lieber.« »Zu<br />

Befehlt, schnarrte <strong>de</strong>r Offizier, sprang hinaus nach einer Ordonnanz<br />

und ließ eine Flasche besten Heidsieck kommen. (Für <strong>de</strong>n<br />

Kaiser mußte freilich <strong>de</strong>r französische Champagner mit <strong>de</strong>m Etikett<br />

»Burgeff—Grün« versehen wer<strong>de</strong>n, weil er zu glauben<br />

wünschte, daß er vorzüglichen <strong>de</strong>utschen Sekt vor sich habe.) Der<br />

Kaiser trank das Glas bis auf einen kleinen Rest aus, ging, impulsiv,<br />

auf die Kommandobrücke, rief auf das Ver<strong>de</strong>ck, wo sich das<br />

ganze Gefolge in Gala aufgestellt hatte: »Ha — Hahnke, Sie möchten<br />

wohl auch Sekt«, und schwippte <strong>de</strong>n Rest auf das Gefolge. »Zu<br />

gnädig, Euer Majestät«, stammelten die Herren da unten und verbeugten<br />

sich tief. Der Kaiser kam belustigt ins Kartenhaus zurück<br />

und verlangte etwas zu essen. Man reichte ihm geröstete Kaviarschnitten.<br />

Er schmierte von einer mit <strong>de</strong>m Zeigefinger <strong>de</strong>r rechten<br />

Hand <strong>de</strong>n Kaviar und die Butter herunter, strich sie sich in <strong>de</strong>n<br />

Mund, trat wie<strong>de</strong>r hinaus auf die Kommandobrücke, rief hinunter:.<br />

»Ha — Hahnke, möchten wohl auch Kaviar haben ... !« und<br />

warf das leere Stück Brot unter die Hahnke und Konsorten. Ein<br />

neues: »Zu gnädig, Euer Majestät« war die <strong>de</strong>voteste Antwort.<br />

Dann erkundigte Majestät sich ganz leise bei <strong>de</strong>m Offizier nach<br />

<strong>de</strong>r Geschwindigkeit dieses Kreuzers und fragte, belehrt, hinunter:<br />

»Na — Hahnke, wieviel Knoten fährt das Schiff in <strong>de</strong>r<br />

Stun<strong>de</strong>?« Und als <strong>de</strong>r Generaloberst stammelnd seine Unkenntnis<br />

zugestand. »Ha — Hahnke, wissen auch garnichts. Einundzwanzig<br />

Knoten, und Sie sind <strong>de</strong>r zweiundzwanzigste.« »Zu gnädig, Euer<br />

Majestät.«<br />

Dies, mit <strong>de</strong>m Herrn <strong>de</strong>r Heerschaaren im Lästermaul, ist die Gestalt,<br />

die die Menschheit regiert und in <strong>de</strong>n Tod geführt hat. Wie? ich habe, als ich<br />

sie vorführte, nicht diese, son<strong>de</strong>rn mich in meiner »wahren Gestalt gezeigt«?<br />

Sie sahen in Innsbruck »die Mache eines eitlen Menschen, <strong>de</strong>r klug genug<br />

war, sich <strong>de</strong>n Anschein eines Gottesstreiters zu geben und so die Besten zu<br />

täuschen«? Vielleicht sehen sie sie jetzt! Sie erkannten »die namenlose Ge-<br />

133


schmacklosigkeit, <strong>de</strong>n Wehrlosen zu treten«, sie wur<strong>de</strong>n sich »mit einem<br />

Schlage bewußt«, hier sei einer »ohne Maske«? Ja, wer vermöchte sich <strong>de</strong>nn<br />

auch <strong>de</strong>m Eindruck dieser Szenen an Bord, da eine animierte Majestät handgemein<br />

wird, zu entziehen, wer erlebte nicht schau<strong>de</strong>rnd »die ekelerregen<strong>de</strong><br />

Minute <strong>de</strong>r Offenbarung solcher Niedrigkeit«? Welche Enthüllung! Welch eine<br />

Wendung durch Gottes Fügung! Millionen starben und dieser Kaiser machte<br />

sich einen Jux. Der Weltmord war ein Trunkenheits<strong>de</strong>likt. Aber er war sich<br />

<strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>r Tat bewußt. Soweit bewußt: »die Früchte seiner Kälte einzuheimsen,<br />

die ihm freilich je<strong>de</strong> innere Anteilnahme verbot, und seine Eitelkeit<br />

damit zu füttern.« Wer sähe es nicht endlich! »Und wer sein von ekelhafter<br />

Eitelkeit gesättigtes Gesicht sah, als die Bravorufe seiner Getreuen die Empörung<br />

Ehrlicher nie<strong>de</strong>rschrieen, wer auf diesem Gesicht, <strong>de</strong>utlichst für alle, nur<br />

die Befriedigung las, daß um ihn da unten gerauft wer<strong>de</strong>«, da unten, wo die<br />

Millionen starben, »<strong>de</strong>r wußte alles von ihm«! Ich wußte es, vielleicht wissen<br />

sie es jetzt auch. »Wäre es ihm auch nur eine Sekun<strong>de</strong> ernst gewesen um das,<br />

was er mit tönen<strong>de</strong>n Worten am En<strong>de</strong> vortrug«, noch am En<strong>de</strong>, »er hätte sich<br />

nie — niemals so lächelnd, so befriedigt zeigen können. Der blaue Mantel fiel,<br />

aber es war kein Erz darunter, nur ein Komödiant«. So ist es, so muß, wer Augen<br />

hat zu sehen und Ohren zu hören, es endlich erkennen; <strong>de</strong>nn Donner und<br />

Blitze eines, <strong>de</strong>r als Gott aus <strong>de</strong>r Kriegsmaschine zu <strong>de</strong>r Menschheit sprach,<br />

sie waren nur »die Gemeinheit und letzte Aussage einer Verworfenheit, die,<br />

<strong>de</strong>n eigenen Haß auszuspeien und eine Eitelkeit <strong>de</strong>s Umstrittenseins zu befriedigen,<br />

selbst die Tragik — <strong>de</strong>nn Tragik ist es doch! — nicht respektiert«.<br />

Merken die Innsbrucker, daß ich noch immer vom Weltkrieg spreche, »<strong>de</strong>r<br />

längst zu En<strong>de</strong> ist«? Haben sie mich nicht mit <strong>de</strong>m Wilhelm verwechselt, <strong>de</strong>n<br />

ich ihnen vorführte, und <strong>de</strong>n Wilhelm mit mir? Es kann nicht an<strong>de</strong>rs sein! Sie<br />

haben Gestalt und Gestalter verwechselt. Daher <strong>de</strong>r Lärm! Sie haben in Innsbruck<br />

gegen die Zumutung getobt, daß ein solcher Ausbund Kaiser aller Deutschen<br />

gewesen sein will, und es mich entgelten lassen. Merken sie schon, wie<br />

sie's gemeint haben, und daß ich liebe, wenn ich hasse? Sie liebe ich nicht<br />

und von ihnen wür<strong>de</strong> ich die Liebe nicht lernen. Es sind viele Schieber unter<br />

ihnen; doch die an<strong>de</strong>rn sind unehrlicher. Sie wer<strong>de</strong>n mir kein Denkmal errichten.<br />

Es wird mir jenes genügen müssen, das ich ihnen errichtet habe.<br />

Und noch ein solches sollte ihnen zu <strong>de</strong>nken geben. Ich habe an <strong>de</strong>r<br />

Küste eines norwegischen Fjords vor vielen Sommern einen Leichenstein gesehen,<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>nken eines dort plötzlich verstorbenen <strong>de</strong>utschen Offiziers<br />

errichtet ist, <strong>de</strong>r gleichfalls Hahnke geheißen hat, aber nur Leutnant<br />

war. Einheimische waren zu einer Auskunft erbötig. Der Leutnant Hahnke<br />

hatte einen jener Späße, die die Majestät, wie gewohnt, an Bord trieb und <strong>de</strong>n<br />

er als Angriff auf seine Menschenehre empfand, mit einer leiblichen Berührung<br />

seines Kaisers beantwortet und aus <strong>de</strong>m hierdurch entstan<strong>de</strong>nen Konflikt<br />

mit <strong>de</strong>r Offiziersehre augenblicklich <strong>de</strong>n Weg in <strong>de</strong>n Selbstmord gefun<strong>de</strong>n.<br />

Ehre seinem An<strong>de</strong>nken! Er war <strong>de</strong>r einzige Deutsche, <strong>de</strong>r mit Wilhelm II.<br />

die Sprache gesprochen hat, die Wilhelm verstand. Hätten sich zwanzig Jahre<br />

später so mutige Männer gefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r größte Leichenstein, <strong>de</strong>r je einen Planeten<br />

überragt hat, wäre <strong>de</strong>m unsern erspart geblieben.<br />

Nach<strong>de</strong>m er aber errichtet war, erhob sich <strong>de</strong>r Prinz Joachim von Hohenzollern<br />

von seinem Tische im Hotel Adlon, ließ »Deutschland Deutschland<br />

über alles« spielen und befahl einem Amerikaner, <strong>de</strong>r auf Krücken ging, sich<br />

zu erheben. Er befahl es auch einem Hollän<strong>de</strong>r, und als es auch die Franzosen<br />

nicht tun wollten, warf er mit <strong>de</strong>utschen Sektflaschen nach ihnen. In dieser<br />

großen Zeit brachten die illustrierten Blätter Bil<strong>de</strong>r, auf <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche<br />

134


Soldat, von <strong>de</strong>m auslieferungsgierigen Feind am Arm gehalten, von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Mutter Abschied nimmt; es war jener, <strong>de</strong>r ein Kind in <strong>de</strong>n Armen <strong>de</strong>r<br />

Mutter getötet hatte. Und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsche Offizier nahm, herzbewegen<strong>de</strong>n Abschied<br />

von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Mädchen; es war jener, <strong>de</strong>r nachhause geschrieben<br />

hatte: »Und dann gibt es hier junge Mädchen, die hübsch zu entjungfern<br />

sind«. Daß ein harter Sieger, <strong>de</strong>r in fünf Jahren <strong>de</strong>utsch gelernt hatte, die<br />

Macht zur Sühne <strong>de</strong>s Unrechts mißbrauchen wollte, schrie zum Himmel, nicht<br />

unser Tun. Eine Woche nach <strong>de</strong>m Durchbruch bei Adlon feierte Berlin Seelenaufschwung<br />

und in Deutschland gab es zehntausend Tote. Wenn diese tiefe<br />

Unbelehrbarkeit, die aus <strong>de</strong>m Scha<strong>de</strong>n so wenig klug ward, daß sie ihn wie<strong>de</strong>r<br />

erlei<strong>de</strong>n möchte, vor nichts ihrer Weltunmöglichkeit inne wird, so sollte<br />

sie sich doch fragen, ob sie damals, als sie trunken in die große Nacht dieser<br />

Bluthochzeit taumelte, darauf gefaßt war, daß ihr einmal <strong>de</strong>r Bezirksrichter<br />

dies To<strong>de</strong>surteil schreiben wür<strong>de</strong>: daß je<strong>de</strong>m Diebstahl ein Mil<strong>de</strong>rungsgrund<br />

zuteil wird gemäß <strong>de</strong>r »nach <strong>de</strong>m Kriege allgemein erfolgten Herabsetzung<br />

<strong>de</strong>r Moral«. Und ob <strong>de</strong>r nicht wahr gesprochen hat, <strong>de</strong>r ihnen prophezeite,<br />

daß sie so viel Glorie erwerben wer<strong>de</strong>n, um so viel Dreck zu behalten! Sie, die<br />

uns die Zukunft gemor<strong>de</strong>t haben, wollen, daß ihre Vergangenheit begraben<br />

sei? Nichts ist lebendiger als die Vergangenheit, nichts haben sie außer ihr!<br />

Das von Mordlust und Raubgier gezeichnete Gesicht, das die Lüge ihnen verklärt<br />

hatte, die Totenmaske dieses Zeitalters, hält durch!<br />

Nachruf<br />

an alle, die mich an einem Grabe geschmäht haben<br />

Und wur<strong>de</strong> einer unter Sün<strong>de</strong>n alt,<br />

sobald er starb, war's eine Lichtgestalt.<br />

Als könnte ihm, <strong>de</strong>r starb, sein heillos Han<strong>de</strong>ln,<br />

weil es vorbei, <strong>de</strong>r Tod in Tugend wan<strong>de</strong>ln.<br />

Die weite Welt versank in Tod und Nacht —<br />

sie priesen <strong>de</strong>s Vollbringers Geistesmacht.<br />

Und daß vom Vaterlan<strong>de</strong> nichts geblieben,<br />

auf seiner Fahne steht es aufgeschrieben.<br />

Wir haben alle dieses Dasein satt.<br />

Er wirkte unermüdlich für das Blatt.<br />

Gram beugt die Welt, es kam <strong>de</strong>r Fluch von oben.<br />

Das Blatt wird täglich seinen Meister loben.<br />

Ein Sphärenklang ist aus <strong>de</strong>m Leben fort.<br />

Der Leitartikel sprach das letzte Wort.<br />

Kein Mißton trübt uns dieses reine En<strong>de</strong>.<br />

Bankdirektoren falten ihre Hän<strong>de</strong>.<br />

135


136<br />

Der uns sein Lebtag um die Wahrheit trog,<br />

die Lüge hält ihm nun <strong>de</strong>n Nekrolog.<br />

Gott mag <strong>de</strong>r armen Seele gnädig sein.<br />

Doch kein Journal macht dieses Leben rein.<br />

Wer feige schwieg und erst <strong>de</strong>n Toten rächt<br />

im großen Schutz <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s, betet schlecht!<br />

Die Wahrheit folgt lebendigem Gebot<br />

und totgeschwiegen, sprach sie vor <strong>de</strong>m Tod.<br />

Und schweigt nicht: daß die hochgeweihte Ehre<br />

<strong>de</strong>r Ewigkeit dies Tagwerk nicht verkläre.<br />

Und nimmt vor jener Zunft <strong>de</strong>n Hut nicht ab,<br />

die mich verschimpft bei ihres Meisters Grab.<br />

Dem Mitarbeiter bot ein Leben Zeit;<br />

nun hat er leichtere Gelegenheit.<br />

Ein Gottesdienst war dieses Tagewerk.<br />

Wer zweifelt, ist ein giftgeschwollner Zwerg.<br />

Schmach <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r Geistesgröße so verkannt;<br />

ich bin ein Zwerg und er war ein Gigant!<br />

Zum Himmel ruft die Sippe <strong>de</strong>n Verlust.<br />

Wie haben wir um edlern Gram gewußt!<br />

Nie lassen wir für bessere Annalen<br />

das Bild <strong>de</strong>r Zeit mit Tintenfingern malen!<br />

Mit unserm Untergang und seinem Höhnen<br />

soll uns sein Tod, sein Schweigen jetzt versöhnen.<br />

Doch als die Kreatur im Krieg verreckt,<br />

hat er Hyänen noch zum Schmaus ge<strong>de</strong>ckt.<br />

Und als ein Fein<strong>de</strong>sschiff zur Tiefe glitt,<br />

wünscht' er <strong>de</strong>n Haien guten Appetit.<br />

Des schweigt die Lüge, daß Millionen starben,<br />

die lautlos unsre Ehrfurcht sich erwarben.<br />

Sie übt die allerschlimmste Pietät,<br />

da sie die Wahrheit erst am Grabe schmäht.<br />

Denn Wahrheit lebt und gibt <strong>de</strong>r Welt sich kund.<br />

Der eigne Tod allein schließt ihr <strong>de</strong>n Mund!


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