DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi
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<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />
<strong>ORDNUNG</strong><br />
begründet von Laurentius Siemer OP<br />
und Eberhard Welty OP<br />
Nr. 5/2002 Oktober 56. Jahrgang<br />
Sozial gerechte Marktwirtschaft<br />
Editorial<br />
Wolfgang Ockenfels, Wahlen, Wahrheit und<br />
politische Kampfspiele<br />
Gisela Meister-Scheufelen, „Gerechtigkeit“<br />
in der Sozialen Marktwirtschaft<br />
Bernhard Niemann, Kulturelle Rahmenbedingungen<br />
der Sozialen Marktwirtschaft<br />
Karl Schwarz, Die kinderlose Gesellschaft<br />
und ihre Folgen<br />
Frank Loges / Lothar Susok, Basel II und die<br />
Kirchen<br />
Jörg Splett, „Selbstverwirklichung“ – chris tlich?<br />
Bericht und Gespräch<br />
Ambrosius Esser, Ein neuer Heiliger:<br />
Josemaría Escrivá de Balaguer<br />
Hans Thomas, Was ist das Opus Dei?<br />
Paul Johannes Fietz, Subsidiarität in der<br />
Kirche?<br />
Clemens Breuer, Die Bedeutung der<br />
Religion für die Gesellschaft<br />
Besprechungen<br />
322<br />
324<br />
330<br />
341<br />
348<br />
359<br />
369<br />
376<br />
388<br />
392<br />
396<br />
Herausgeber:<br />
Institut für<br />
Gesellschaftswissenschaften<br />
Walberberg e.V.<br />
Redaktion:<br />
Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />
Heinrich Basilius Streithofen OP<br />
Bernd Kettern<br />
Redaktionsbeirat:<br />
Stefan Heid<br />
Martin Lohmann<br />
Edgar Nawroth OP<br />
Herbert B. Schmidt<br />
Günter Triesch<br />
Rüdiger von Voss<br />
Redaktionsassistenz:<br />
Andrea und Hildegard Schramm<br />
Druck und Vertrieb:<br />
Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />
53708 Siegburg<br />
Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />
Die Neue Ordnung erscheint alle<br />
2 Monate<br />
Bezug direkt vom Institut<br />
oder durch alle Buchhandlungen<br />
Jahresabonnement: 25,- €<br />
Einzelheft 5,- €<br />
zzgl. Versandkosten<br />
ISSN 09 32 – 76 65<br />
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(BLZ 380 500 00)<br />
Postbank Köln<br />
Konto-Nr.: 13104 505<br />
(BLZ 370 100 50)<br />
Anschrift der<br />
Redaktion und des Instituts:<br />
Simrockstr. 19<br />
53113 Bonn<br />
Tel. + Fax Redaktion: 0228/222323<br />
Tel. Institut: 0228/21 68 52<br />
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Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />
Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />
Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />
Haftung<br />
Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />
geben nicht unbedingt<br />
die Meinung der Redaktion wieder.<br />
Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />
Vervielfältigung nur mit<br />
Genehmigung der Redaktion<br />
http://www.die-neue-ordnung.de<br />
321
Editorial<br />
322<br />
Wahlen, Wahrheit und politische Kampfspiele<br />
Nach Wahlen fühlt man sich wohler, auch wenn „die Falschen“ gewonnen haben<br />
sollten. Hauptsache, dieser gräßliche Wahlkampf ist vorbei. Die beleidigend<br />
dummen Phrasen verhallen, die Plakate mit den grinsenden Visagen verwehen<br />
im Herbstwind - und das Fernsehen verlagert seine spannenden Spielchen und<br />
Duelle auf andere Felder. Was bleibt ist ein Rest von Ekel und Müdigkeit, vor<br />
allem ein dringendes Reinigungsbedürfnis. Doch die heißen Bäder, die Thomas<br />
von Aquin empfahl, halten nicht lange vor. Schon droht man dem unbescholtenen<br />
Bürger mit einer neuen Phrase: „Nach der Wahl ist vor der Wahl!“ Sie rührt aus<br />
der Sprache des Fußballs und an die Emotionen der Fans. Aber was hat der Fußball<br />
mit dem politischen Wahlkampf zu tun?<br />
Was beide verbindet ist der Kampf zwischen Freund und Feind (Carl Schmitt).<br />
Aber während es beim Fußball, wenigstens bei Weltmeisterschaften, um die „nationale<br />
Ehre“ geht, haben unsere Parteipolitiker nicht das Wohl des Landes,<br />
sondern das ihrer Wählerklientel vor Augen. Und während es im Fußball um die<br />
Befolgung von Spielregeln geht, fehlen diese im Wahlkampf. Dort gewinnen<br />
gerade jene politischen Vabanque-Spielernaturen, denen die Regeln des moralischen<br />
Anstands schnuppe sind. Auf dem Felde des politischen Kampfes fehlen<br />
überdies die unparteiischen Schieds- und Linienrichter, die auf Chancengleichheit<br />
und Fairneß achten. Die Fouls und Abseitspositionen in der Politik verbindlich<br />
zu markieren und zu bestrafen, dazu sind die Medien weder berufen noch in<br />
der Lage. Vor allem ist das Fernsehen nur an der äußeren Darstellung, an der<br />
Dramaturgie der Spannung und an der Zuschauerquote interessiert. Den Ausgang<br />
des Spiels bestimmen allein die Zuschauer, also die Wähler, „der Souverän“.<br />
Wie souverän die Bürger bei der Betrachtung der Bilder, bei Bier und Salzgebäck<br />
und mit Blick auf ihre private Gewinnerwartung entscheiden, ist ihre höchst<br />
persönliche Sache.<br />
Äußerst knapp war diesmal das Ergebnis. Rot-Grün muß nun zur Strafe weiterregieren<br />
und nachsitzen. Das Regierungsbündnis hat jetzt das schlechte Verhältnis<br />
zu den USA, die miserable Wirtschaftslage, die gravierende Arbeitslosigkeit,<br />
den desolaten Zustand der sozialen Sicherungssysteme etc., also alles das, was es<br />
mitverschuldet hat, wieder in Ordnung zu bringen. In eine „neue Ordnung“, wie<br />
der regierungsamtliche Terminus heißt, hinter dem kein ordnungspolitischer<br />
Begriff erkennbar ist. Vielmehr droht jetzt die Fortsetzung rotierender Regierungspolitik,<br />
in der sich nichts rührt, außer an der Werbetrommel.<br />
Was sich „der Wähler“ dabei gedacht hat? Offensichtlich nicht viel. Das Kollektivwesen<br />
ist launisch und leicht erregbar, von vielen Stimmungen hin- und hergeschüttelt.<br />
An der Weisheit des Wählers sind Zweifel geboten. Volkes Stimme<br />
mit der Stimme Gottes gleichzusetzen, gehört zu den sonderbaren Mythen der<br />
Demokratie. Sie laufen darauf hinaus, Mehrheit mit Wahrheit, Macht mit Recht
zu vertauschen, also zu täuschen. Aber „Mehrheit ist Mehrheit“, meinte Adenauer.<br />
Mehr ist aus dieser tautologischen Banalität nicht herauszulesen.<br />
Zwischen realen und imaginären Problemen, zwischen Elbe und Flut, zwischen<br />
Krieg und Frieden wurden die Themen, auf die es langfristig ankommt, zerrieben.<br />
Die Zwischenräume boten viel Platz für allerlei künstliche Erzeugungen von<br />
Angst, Betroffenheit und Verheißung. Der neue maoistische Personenkult, der<br />
ausgerechnet bei SPD und Grünen ausgebrochen ist, überdeckt die Sachprobleme<br />
durch austauschbare Attrappen. Die von Werbeagenturen hochstilisierten und<br />
für den Fernsehgebrauch zurechtgestutzten Führer-Persönlichkeiten wollen und<br />
können keine Entscheidungen mehr treffen, sondern treten ihre Verantwortung<br />
an Kommissionen ab. Politiker spielen den starken Mann und hauen theatralis ch<br />
auf den Tisch, übernehmen aber keine Verantwortung mehr, auf die man sie<br />
festnageln könnte. Kaum sind die Wahlkabinen geschlossen, werden schon die<br />
ersten Wahlversprechen gebrochen. Man hatte sich nur versprochen.<br />
Der spielerische Umgang mit der Politik raubt ihr jeden ernsten Realitäts- und<br />
Wahrheitsgehalt und ruft alle möglichen Filous, Dandys und Bohemiens auf den<br />
Plan. Von denen würde man zwar keinen Gebrauchtwagen kaufen, aber als politische<br />
Spaßmacher und Designer sind sie willkommen. Deren Lügen haben zwar<br />
kurze Beine, aber noch kürzer ist das Gedächtnis der Leute.<br />
Die Wahlkriterien der katholischen Kirche haben wohl einige ethische Forderungen<br />
und uneingelöste Ansprüche in Erinnerung gerufen. Da sie jedoch auf allgemeines<br />
Wohlwollen bzw. Desinteresse fast aller Parteien stießen, spielten sie -<br />
wie überhaupt der „C“-Faktor - im Wahlkampf keine Rolle. Ernster zu nehmen<br />
waren die gewohnheitsmäßigen Drohungen der DGB-Gewerkschaften mit „Massenprotesten“,<br />
falls eine neue Regierung die rechtlichen Bedingungen des Arbeitsmarktes<br />
zugunsten der Arbeitslosen verändern sollte.<br />
Gründliche Reformen sind in diesem Land nicht möglich, solange der Mut zur<br />
Wahrheit fehlt. Die Allensbacherin Elisabeth Noelle teilte kürzlich mit, daß das<br />
Vertrauen der Bevölkerung in die öffentlichen Institutionen weiter zurückgegangen<br />
sei. Auf die Frage: „Bei welchen Berufsgruppen würden Sie alles in allem<br />
darauf vertrauen, daß sie die Wahrheit sagen?“ liegen die Ärzte mit 50 Prozent<br />
an der Spitze, gefolgt von Pfarrern, Richtern, Durchschnittsbürgern, Lehrern und<br />
Nachrichtensprechern. Von den Politikern erwarten nur noch vier Prozent, daß<br />
sie die Wahrheit sagen. Haben hier wenigstens die befragten „Durchschnittsbürger“<br />
die Wahrheit gesagt? Wollen sie nicht betrogen werden?<br />
Vielleicht brauchen wir mehr Ärzte in der Politik, die uns reinen Wein einschenken,<br />
und auch Pfarrer, die nicht das Jammertal als Paradies umdeuten - oder<br />
„Visionen“ als reale Reformen ausgeben. Die ungeschminkte Wahrnehmung der<br />
Wirklichkeit wird hierzulande meist als Miesmacherei und Nörgelei schlechtgeredet.<br />
Wahrscheinlich müssen die schlimmen Ereignisse, die Politik rechtzeitig<br />
abwenden soll, erst einmal eintreten. Damit dem Publikum unmittelbar einleuchtet,<br />
daß Politik mehr zu sein hat als Spiel, Illusion und Stimmu ngsmache. Die<br />
erlittene Wirklichkeit ist immer noch der beste Lehrmeister.<br />
Wolfgang Ockenfels<br />
323
324<br />
Gisela Meister-Scheufelen<br />
„Gerechtigkeit“ in der Sozialen Marktwirtschaft<br />
Zunehmend wird die politische Diskussion von Vorwürfen beherrscht, wie: „Die<br />
Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer“, oder „wir entwikkeln<br />
uns zur Zwei-Drittel-Gesellschaft“, d. h. ein Drittel geht es gut, zwei Drittel<br />
geht es schlecht. Parteien wird vorgeworfen, sie planten den Sozialabbau. Viele<br />
fürchten, die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft zu verlieren. Gemeint<br />
ist das gut funktionierende soziale Sicherungssystem. 54% der Bevölkerung<br />
rechnen damit, daß die Arbeitslosigkeit durch die Globalisierung zunimmt<br />
(Bundesverband deutscher Banken, Januar 1999 ). „Die Globalisierung verschärft<br />
die sozialen Unterschiede“ (PDS, Haushaltsdebatte November 2001).<br />
Nicht nur die Angst vor dem Verlust sozialer Sicherheit, auch die Unzufriedenheit<br />
mit den bestehenden Verhältnissen nimmt zu. Auf die Frage von Allensbach:<br />
„Halten Sie die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, d. h. was die<br />
Menschen besitzen und was sie verdienen, für gerecht oder nicht für gerecht?“<br />
antworteten im Februar 2000 47% der Befragten: „nicht gerecht“ und 35% „gerecht“.<br />
47% würden sich, wenn sie sich zwischen persönlicher Freiheit und mö glichst<br />
großer Gleichheit entscheiden müßten, für persönliche Freiheit entscheiden,<br />
37 % wäre eine möglichst große Gleichheit wichtiger. (Allensbach Februar<br />
2000).<br />
Dies erinnert an den Ausspruch von Bismarck: „Der Deutsche opfert eher die<br />
Freiheit als die Ordnung.“ Unsere Gesellschaft tut sich mit dem Begriff der sozialen<br />
Gerechtigkeit schwer. Wir interpretieren ihn höchst unterschiedlich, sind<br />
anfällig für politische Manipulationen, ändern unser Werteverständnis in wichtigen,<br />
die Gesellschaft betreffenden Grundfragen und lassen uns von Stimmungen<br />
leiten, die immer wieder von tagespolitischen Einflüssen bestimmt werden. Wie<br />
ist der Gerechtigkeitsbegriff in der sozialen Marktwirtschaft zu definieren? Nach<br />
welchem Maßstab ist er auszurichten?<br />
I. Gerechtigkeitsbegriff<br />
Aristoteles (384–322 v. Chr.) unterteilte die Gerechtigkeit in eine Tauschgerechtigkeit<br />
(kommutative), d. h. die direkten sozialen Beziehungen zwischen Menschen<br />
betreffend, in eine verteilende (distributive), d. h. die Verpflichtung des<br />
Gemeinwesens (heute: des Staates) gegenüber dem einzelnen zur gerechten Ve rteilung<br />
von Lasten und Nutzen sowie in eine legale, d. h. daß der einzelne seinen<br />
Beitrag zum Gemeinwesen zu leisten hat.<br />
Nach wie vor brauchbar ist der Gerechtigkeitsbegriff des römischen Juristen<br />
Ulpian (170-228 n. Chr.): „Gerechtigkeit ist der feste und dauernde Wille, jedem<br />
sein Recht zuzuteilen.“ Geregelt wird die Beziehung von Menschen zu anderen<br />
Menschen. Zentrale Frage ist, wie das „ius suum“, das „sein Recht“ bestimmt
wird. Bis in das 19. Jahrhundert war Gerechtigkeit als Tugend aufgefaßt worden.<br />
Gemeint war eine individuelle Haltung, eine Einstellung, nach der der Akteur die<br />
einzelnen Handlungen ausführt.<br />
Erst seit dem 19. Jahrhundert, d. h. seit dem Beginn der Nationalstaaten und der<br />
Industrialisierung, gibt es den Begriff der sozialen Gerechtigkeit. Der Gerechtigkeitsmaßstab<br />
wird jetzt nicht mehr allein an das Handeln einzelner oder einzelnen<br />
gegenüber angelegt, sondern an das Regelsystem, nach denen die Handlungen<br />
erfolgen. Damit wird der schwierige Versuch unternommen, eine Handlungskategorie<br />
auf eine Systemkategorie umzuformulieren.<br />
Bis heute fehlt jedoch eine allgemein anerkannte Begriffsdefinition von sozialer<br />
Gerechtigkeit, die auch nur annähernd die Präzision erreichen würde, die wir<br />
Aristoteles oder Ulpian verdanken. Dies ist um so problematischer, als das Thema<br />
der sozialen Gerechtigkeit seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine<br />
zentrale Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung erlangt hat. Ist es<br />
sozial ungerecht, wenn die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erst am zweiten<br />
oder dritten Tag einsetzt? Ist es sozial ungerecht, wenn ein Kleinbetrieb mit<br />
sechs Beschäftigten im Fall betriebsbedingter Kündigungen die Auswahl der zu<br />
Kündigenden im wesentlichen nach betrieblichen Interessen vornimmt? Ist es<br />
sozial gerecht, daß ein Handwerker in Deutschland mehr als 4 Stunden arbeiten<br />
muß, bevor er sich „auf Rechnung“ eine Arbeitsstunde von einem Kollegen<br />
leisten kann? Unsere Gesellschaft hat diese Fragen nicht ausdiskutiert. Das Ve rständnis<br />
von sozialer Gerechtigkeit umfaßt die Spannbreite von Verteilungsgerechtigkeit<br />
versus Leistungsgerechtigkeit sowie Wirtschaftlichkeitsbetrachtung<br />
versus Chancen- und Beteiligungsgerechtigkeit.<br />
II. Verteilungsgerechtigkeit<br />
Die Verteilungsgerechtigkeit bzw. Ergebnisgerechtigkeit macht die Gerechtigkeit<br />
an bestimmten gesamtwirtschaftlichen Verteilungsergebnissen fest. Maßstab<br />
ist dabei praktisch immer die Gleichverteilung. Die Verteilungsgerechtigkeit ist<br />
das Grundprinzip des Wohlfahrtsstaats. Er räumt der staatlichen Verantwortung<br />
für die Gewährleistung der Daseinsvorsorge seiner Einwohner Vorrang gegenüber<br />
der Eigenverantwortung und der individuellen Eigenvorsorge ein.<br />
Der Maßstab der Gleichheit läßt sich insbesondere am Beispiel der Einkommensverteilung<br />
veranschaulichen. So war z. B. das Einkommensgefälle in der<br />
DDR sehr gering. Das höchste Gehaltsniveau – mit Ausnahme desjenigen von<br />
SED-Spitzenpolitikern – hatten Angehörige medizinischer Berufe. Das Netto-<br />
Monatsgehalt lag für Chefärzte wie für Apotheker bei ca. 2.000 DDR-Mark.<br />
Folge der Staats- und Wirtschaftssysteme, die das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit<br />
als Gleichheitsprimat durchsetzen, ist eine vergleichsweise geringe Leistungsbereitschaft<br />
der Bevölkerung sowie eine sehr geringe Effektivität sowie<br />
Effizienz der Wirtschaftsabläufe und damit ein geringes Wirtschaftswachstum<br />
und ein geringer Lebensstandard.<br />
Während die Wirtschaftsleistung je Einwohner in der Bundesrepublik von 1950<br />
bis 1989 von 8.215 DM auf 35.856 DM stieg (+ 336 %), stieg sie in der DDR im<br />
325
gleichen Zeitraum von 4.285 DM auf 11.829 DM (+ 176%), also praktisch nur<br />
um die Hälfte.<br />
Inzwischen hat sich bei vielen die Erkenntnis durchgesetzt, daß das Gleichheitsprinzip<br />
ein Irrweg ist, weil es auf wichtige Leistungsanreize verzichtet, wenn es<br />
keine Möglichkeiten von Einkommensgestaltung und Eigentum sowie Vermögensbildung<br />
einräumt.<br />
Angesichts der erheblichen Schlechterstellung gegenüber Wettbewerbsgesellschaften<br />
werden die Menschen unzufrieden und revoltieren. Die friedliche Revolution<br />
der DDR-Bevölkerung von 1989 und der Zusammenbruch des kommunistischen<br />
Wirtschaftssystems der Ostblockstaaten sowie der Sowjetunion war ein<br />
eindrucksvoller Beleg.<br />
326<br />
III. Verfahrensgerechtigkeit<br />
Überwiegend wird soziale Gerechtigkeit als Verfahrens- und Leistungsgerechtigkeit<br />
verstanden. Das heißt, ob ein Zustand oder eine Maßnahme als sozial<br />
gerecht einzustufen sind, bemißt sich danach, ob es die zugrundeliegenden Regeln<br />
sind. Die am Maßstab der sozialen Gerechtigkeit ausgerichteten Regeln<br />
formulieren die „berechtigten Erwartungen“ der Akteure (Brennan/Buchanan).<br />
Die Regeln sind dann gerecht, wenn sie höheren Regeln entsprechen.<br />
Ein Regelsystem ist sozial gerecht, wenn es gelungen ist, es so auszugestalten,<br />
daß die „berechtigten Erwartungen“ der Mitglieder einer Gesellschaft im Einvernehmen<br />
mit diesen festgelegt wurden. Die Bewertung, wie das Regelsystem<br />
auzurichten ist, um soziale Gerechtigkeit zu erzielen, bestimmt sich wesentlich<br />
nach der Geschichte und der Kultur der betreffenden Gesellschaft. So erklärt<br />
sich, daß eine Gesellschaft Regelinhalte als sozial gerecht betrachtet, die von<br />
einer anderen Gesellschaft als höchst ungerecht empfunden werden können.<br />
Schwachpunkt dieses Gerechtigkeitsverständnisses ist, daß sich die Bewertung,<br />
ob das Regelsystem als gerecht einzustufen ist, auch danach richtet, was für den<br />
einzelnen letztlich dabei herauskommt. Es kann also nicht unabhängig von seiner<br />
konkreten Lebenssituation beurteilt werden. Damit kommt der Maßstab der Ergebnisgerechtigkeit<br />
wieder zum Tragen.<br />
IV. Leistungsgerechtigkeit<br />
Der eigentliche Gegensatz zum Verteilungsprinzip ist der Maßstab der Leistungsgerechtigkeit.<br />
Er stellt darauf ab, ob Leistung und Gegenleistung, ob Arbeit<br />
und Lohn, ob Beitrag und Versicherungsleistung, ob Anwartschaft und Leistungshöhe<br />
in einem entsprechenden Verhältnis stehen.<br />
Dies erinnert an die Begriffe der kommutativen, distributiven und legalen Gerechtigkeit<br />
von Aristoteles. Die Antike kannte den Wohlfahrtsstaat nicht.<br />
Schwachpunkt der Leistungsgerechtigkeit ist der Mangel an sozialen Aspekten<br />
und damit ein Mangel an Gerechtigkeit gegenüber Leistungsschwachen. Um dies<br />
zu erfassen, spricht die katholische Soziallehre vom „Prinzip der Billigkeit“<br />
(Joachim Giers).
V. Beteiligungsgerechtigkeit<br />
Der entscheidende Gegensatz unterschiedlichen Gerechtigkeitsverständnisses ist<br />
inzwischen weniger die Frage, ob stärker der Aspekt der Ergebnisgleichheit oder<br />
der Leistungsgerechtigkeit betont wird. Entscheidend ist, ob soziale Gerechtigkeit<br />
ausschließlich nach ökonomischen oder eher nach Teilhabeaspekten definiert<br />
wird. Ein Großteil der Gesellschaft wird die Definition: „Soziale Gerechtigkeit<br />
herrscht, wenn die ökonomischen Verhältnisse der Staatsbürger zu einem<br />
gerechten Ausgleich gekommen sind“ für richtig halten. Zunehmend setzt sich<br />
aber auch die Erkenntnis durch, daß nicht der Staat allein, sondern auch die Gesellschaft,<br />
d. h. die Summe aller Individuen, für die Herstellung von sozialer<br />
Gerechtigkeit verantwortlich ist. Wenn dies so ist, kommt es nicht allein auf die<br />
„verteilende Gerechtigkeit“ des Staates an, sondern auf Chancengleichheit und<br />
das Recht eines jeden einzelnen, am gesellschaftlichen Fortschritt teilzuhaben.<br />
Dies setzt voraus, daß alle diejenigen, die von bestimmten Entscheidungen betroffen<br />
sind, an diesen Entscheidungen beteiligt werden.<br />
VI. Gerechtigkeitsbegriff der modernen Bürgergesellschaft<br />
Nach dem amerikanischen Wirtschaftshirtenbrief von 1986 beinhaltet soziale<br />
Gerechtigkeit, „daß die Menschen die Pflicht zu aktiver und produktiver Teilnahme<br />
am Gesellschaftsleben haben und daß die Gesellschaft die Verpflichtung<br />
hat, dem einzelnen diese Teilnahme zu ermöglichen“. Entsprechend dem chris tlichen<br />
Menschenbild beinhaltet dieses Gerechtigkeitsverständnis nicht nur Rechte,<br />
sondern angesichts des eigenverantwortlich handelnden und in seiner<br />
personalen Würde zu respektierenden Individuums auch Pflichten.<br />
John Rawls und viele andere Sozialtheoretiker stellen demgegenüber lediglich<br />
auf das „Recht auf Teilhabe“ ab. Die Ve rbindung zu den ökonomischen Verhältnissen,<br />
die gegeben sein müssen, damit der einzelne an den Entscheidungen zum<br />
gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt überhaupt teilhaben kann, hat am<br />
besten Ludwig Erhard dargelegt:<br />
1. Wohlstand für alle<br />
Die Vision von Ludwig Erhard im ausgebombten Nachkriegsdeutschland war für<br />
niemand so zu verstehen, daß der Staat durch eine geschicktere Umverteilung<br />
Wohlstand für alle organisieren könnte. Sein Credo war: „Das mir vorschwebende<br />
Ideal beruht auf der Stärke, daß der einzelne sagen kann: Ich will mich aus<br />
eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für<br />
mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du Staat dafür, daß ich dazu in<br />
der Lage bin.“<br />
Beteiligungsgerechtigkeit als modernes Verständnis von sozialer Gerechtigkeit<br />
setzt die Freiheit und die Eigenverantwortung des einzelnen, also insbesondere<br />
den Rechtsstaat und die Demokratie voraus. Das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft,<br />
so wie Erhard sie einführte, beruht auf der Überzeugung, daß das Individuum<br />
und gerade nicht das Kollektiv, d. h. die anonyme Gesellschaft, im Mittelpunkt<br />
des Systems stehen darf. Nicht der Staat sorgt für den sozialen, gesell-<br />
327
schaftlichen und kulturellen Fortschritt, sondern der einzelne. Der Staat schafft<br />
die Rahmenbedingungen, damit dem einzelnen dies möglich ist.<br />
Sie verlangt Subsidiarität, d. h. was der einzelne leisten kann, darf ihm nicht<br />
abgenommen werden. „So wenig Staat wie möglich, soviel Staat wie nötig“.<br />
Ludwig Erhard wollte den schlanken, aber starken Staat. Bei einer Staatsquote<br />
von 48,4% und einem Sozialbudget von über 33% des Bruttoinlandsprodukts<br />
sind wir dabei, das Gegenteil zu erreichen.<br />
Sie verlangt Solidarität und soziale Verantwortung gegenüber den Schwächeren<br />
und unter den Generationen. Die Dominanz des Staates, die ungelösten Finanzierungsprobleme<br />
der gesetzlichen Sozialversicherung und der Umfang der<br />
Schwarzarbeit stehen dieser Solidarität entgegen. Ein nach diesen Grundprinzipien<br />
ausgerichtetes und auch praktiziertes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem<br />
löst hohe Leistungsanreize aus, schafft die Voraussetzung für Effektivität und<br />
Effizienz der Wirtschaftsabläufe, hat die Chance hoher Wertschöpfung und damit<br />
die Chance auf Vollbeschäftigung und Wohlstand.<br />
2. Anspruchs-, Neid- und Angstgesellschaft<br />
Seit Jahren beklagen wir, daß die deutsche Gesellschaft nur noch aus Ansprüchen<br />
gegenüber dem Staat bestünde. So ist gerade das Verlangen nach noch<br />
mehr sozialer Sicherheit ein bestimmendes Moment. Andererseits ist der Neid<br />
ein beherrschendes Gefühl. Die Diskussion um sog. „Besserverdienende“, denen<br />
kein „Dienstmädchenprivileg“ eingeräumt werden darf, macht die aufgeladene<br />
Stimmung deutlich. Schließlich hat sich die New York Times schon Mitte der<br />
90er Jahre mit der Befindlichkeit der Deutschen auseinandergesetzt und das<br />
Phänomen „the German Angst“ beschrieben.<br />
Bei alledem wird übersehen, daß diese Schwächen keine tieferen wesensmäßigen<br />
Ursachen haben, sondern lediglich Ausfluß einer Reduzierung des Begriffs der<br />
sozialen Gerechtigkeit auf wirtschaftliche Verhältnisse, „insbesondere meine im<br />
Vergleich zu meinem Nachbarn“ sind. Wenn ein Schiff in Seenot gerät, ist es<br />
fatal, wenn sich die Besatzung um die vorderen Plätze streitet. Man muß dazu<br />
wissen, daß von der Titanic sämtliche Passagiere der 1. Klasse ertrunken sind,<br />
während es einigen der 2. Klasse gelang zu überleben. Wenn wir den „gerechten<br />
Ausgleich ökonomischer Verhältnisse“ zum zentralen politischen Anliegen machen,<br />
kommt die Frage, wie überhaupt Wertschöpfung erzielt wird, d. h. wie der<br />
Wohlstand insgesamt vermehrt werden kann, zu kurz. Einer der Hauptgründe,<br />
warum Deutschland beim Wirtschaftswachstum in der EU derzeit Schlußlicht ist.<br />
3. Recht auf Chancen und Teilhabe<br />
Wesentliches Moment des Gerechtigkeitsbegriffs einer Bürgergesellschaft ist die<br />
Chancengleichheit. Sie besteht darin, dem Zwerg die Leiter zu reichen, damit er<br />
sich den Apfel pflücken kann. Wohlbemerkt: Sie besteht nicht darin, daß ein<br />
Staatsdiener dafür bezahlt wird, ihm den Apfel zu reichen. Jeder ist verpflichtet,<br />
das nach seinen Kräften und Fähigkeiten Mögliche zu leisten, um die eigene<br />
Existenz zu sichern und am Fortschritt der Gesellschaft mitzuwirken. Es entspricht<br />
dem christlichen Menschenbild, dies auch von Schwachen und Behinderten<br />
zu erwarten. Nur auf diese Weise kann ihnen die Achtung entgegengebracht<br />
328
werden, die ihnen zukommt. Das Prinzip des Wohlfahrtsstaats, ihnen nichts<br />
zumuten zu wollen und in Wahrheit nichts zuzutrauen, mißachtet ihre Menschenwürde.<br />
Beteiligungsgerechtigkeit als Ausfluß eines Freiheitsverständnisses, des Prinzips<br />
der Eigenverantwortung und der Selbstvorsorge setzt voraus, daß dem einzelnen<br />
der Zugang zu Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten eingeräumt wird, die<br />
ein menschenwürdiges, mit der Bevölkerungsmehrheit vergleichbares Leben und<br />
eine effektive Mitarbeit am Gemeinwohl ermöglicht (Sozialwort der Kirchen<br />
1999). Dazu gehört in Deutschland vor allem der Abbau von Massenarbeitslosigkeit<br />
und struktureller Arbeitslosigkeit.<br />
Entscheidender Aspekt ist, daß nicht der Staat, sondern der einzelne und die<br />
Gesellschaft, d. h. die Summe der einzelnen Mitglieder, Garanten der sozialen<br />
Gerechtigkeit sind. Es ist also ein Anspruch, den wir zunächst an uns selbst stellen<br />
und ein Wert, von dem wir anerkennen, daß wir im wesentlichen selber für<br />
ihn verantwortlich sind.<br />
Dr. Gisela Meister-Scheufelen ist Präsidentin des Statistischen Landesamtes<br />
Baden-Württemberg in Stuttgart.<br />
329
330<br />
Bernhard Niemann<br />
Kulturelle Rahmenbedingungen<br />
der Sozialen Marktwirtschaft<br />
Marktwirtschaft ist zwar die effizienteste Wirtschaftsform, aber in Bezug auf kulturelle<br />
und politische Rahmenbedingungen recht empfindlich. Ihre Abhängigkeit<br />
von politischen Rahmenbedingungen erscheint unmittelbar einsichtig: In einem<br />
sozialistischen Umfeld etwa gedeiht Marktwirtschaft nicht, auch dann nicht, wenn<br />
Unternehmer meinen, sich mit Sozialisten arrangieren zu können. Ebenso schlugen<br />
aber auch die Versuche fehl, Marktwirtschaften mit Hilfe von Diktaturen durchzusetzen:<br />
So etwas bekommt weder dem Markt noch der Diktatur. Marktwirtschaft<br />
gedeiht offensichtlich nur in einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie,<br />
und sie ist zugleich die der Demokratie angemessene Wirtschaftsform.<br />
Neben den politischen haben aber auch kulturelle Rahmenbedingungen großen<br />
Einfluß auf den Wirtschaftsstil, der sich in einer Gesellschaft entwickelt. Tatsächlich<br />
gelang es noch nie, eine von allen kulturellen und politischen Bindungen freie<br />
Marktwirtschaft zu verwirklichen, obwohl es mehrfach und auch mit diktatorischen<br />
Mitteln versucht wurde. Das hat mindestens zwei Ursachenbündel: Zum<br />
einen trägt eine annähernd freie Marktwirtschaft Elemente in sich selbst, die den<br />
Markt wieder beseitigen; außerdem verursacht sie Schäden, die wachsenden kulturellen<br />
Widerstand provozieren:<br />
- Marktwirtschaft neigt dazu, Konkurrenz zwischen Unternehmen zu behindern,<br />
Wettbewerb nach und nach zu unterbinden und Monopole zu bilden: Dann ist da<br />
bald kein Markt mehr.<br />
- Außerdem kann der ökonomische Zwang, nicht nur besser zu produzieren und zu<br />
verkaufen als die Konkurrenz, sondern auch billiger, nicht von sich aus Halt machen<br />
vor den Arbeitsbedingungen: Er zwingt die Produzenten zur Ausbeutung der<br />
Menschen. In der Tat haben Strukturanpassungsprogramme, die auf ungehinderten<br />
freien Markt setzten, die traurige Erfahrung gebracht, daß Mittelstände verarmten<br />
und Arme in extreme Armut fielen.<br />
- Markt in Verbindung mit der Funktion des Unternehmers, schwarze Zahlen zu<br />
produzieren, kennt auch keine Verantwortung für das Leben künftiger Generationen.<br />
Konferenzen wie die von Rio oder Kyoto kamen nicht von ungefähr.<br />
Ein Wirtschaftsstil, der sich über kulturelle und politische Rahmenbedingungen<br />
hinwegsetzt, zerstört die ökonomischen Voraussetzungen, auf die Marktwirtschaft<br />
angewiesen ist. Und er provoziert nicht zu unterschätzenden Widerstand der Gesellschaft,<br />
wenn Marktteilnehmer sich über kulturell verankerte Überzeugungen,<br />
Werte und soziale Normen hinwegsetzen.<br />
Manche wenden ein, ein freier Markt sei durchaus fähig, von Katastrophe zu<br />
Katastrophe dazuzulernen, wenn man ihn nur lange genug seine Erfahrungen mit<br />
der Freiheit machen ließe. Das mag schon sein, aber weder mir noch anderen
Freiheit machen ließe. Das mag schon sein, aber weder mir noch anderen Betroffenen<br />
gefällt die Reihenfolge. Tatsächlich liegt es im Interesse der Marktwirtschaft<br />
selbst, daß sie von einem starken demokratischen Staat, also durch Politik, in<br />
Rahmenbedingungen eingebunden wird, die den Fortbestand der Marktwirtschaft<br />
sichern. Und auch dann wird sie nur gedeihen, wenn sie auch die jeweiligen kulturellen<br />
Rahmenbedingungen akzeptiert.<br />
In Deutschland bemüht sich die Ordnungspolitik als Bindeglied zwischen der<br />
abendländisch christlich geprägten Kultur und staatlicher Machtausübung darum,<br />
Marktwirtschaft, Kultur und Politik zum Wohl der Gesellschaft miteinander in<br />
Einklang zu halten. Ordnungspolitik kann sowohl im Sinne der Freiburger Schule<br />
als auch im Sinne der Programmatik der CDU/CSU als Begrenzung des Politischen<br />
durch normatives Ordnungsdenken verstanden werden. Die Grundlage für<br />
die Begrenzung des politischen Handelns durch Ordnungspolitik sind der verantwortungsvolle<br />
Umgang mit der Freiheit, die Wertbindung des Privatrechtes, der<br />
Gedanke der Subsidiarität und die allgemeinen Prinzipien von Solidarität und<br />
Gerechtigkeit.<br />
Ordnungspolitik ist also nicht etwa eine Sammlung von Gesetzen. Gesetze sind<br />
ohnehin nur wirksam, wenn und soweit sie den Überzeugungen der Menschen<br />
entsprechen. An Ordnungspolitik sollten sich vielmehr die Politiker bei ihrer Gesetzesarbeit<br />
gebunden fühlen. Ordnungspolitik orientiert politisches Handeln am<br />
christlichen Bild vom Menschen und entspricht den Überzeugungen der Menschen<br />
in Deutschland; auch heute noch. Ohne die abendländisch christliche Kultur, wie<br />
sie sich auf dem europäischen Festland entwickelt hat und wie sie zur Rahmenbedingung<br />
der Politik und der Wirtschaft wurde, wäre es kaum mö glich gewesen, in<br />
Deutschland jenen Wirtschaftsstil auszuformen, den wir mit dem Begriff der<br />
Sozialen Marktwirtschaft bezeichnen.<br />
Leider ist die deutsche Wirtschaftswirklichkeit heute immer weniger ordnungspolitisch<br />
geprägt, sondern zunehmend von einer unerträglich gewordenen Spirale staatlicher<br />
Interventionen und immer engerer und somit kurzlebiger Regulierungen. Die<br />
zur Korrektur notwendigen Konzepte zu erarbeiten wird noch viel Mühe kosten.<br />
Daran zu denken wird zunehmend erschwert durch den globalen Druck.<br />
Denn die sogenannte Globalisierung bringt den deutschen Wirtschaftsstil in Konkurrenz<br />
zu anderen Wirtschaften, besonders zum wirtschaftlichen Liberalismus,<br />
der auf der Grundlage von anderen politischen und kulturellen „Selbstverständlichkeiten“<br />
entstanden ist. Ausländische Kapitalanleger haben ihre wirtschaftspolitischen<br />
Erfahrungen nicht mit der Ordnungspolitik der deutschen Nachkriegsjahrzehnte<br />
gemacht, vielmehr belächeln sie den ihnen fremden Wirtschaftsstil als<br />
„Rheinischen Kapitalismus“. Angloamerikanischem Wirtschaftsdenken ist Ordnungspolitik<br />
fremd. Da es aber nun mal unmittelbar und über den Einfluß auf die<br />
Weltbank und den Internationalen Währungsfond erhebliche Wirkung auf die<br />
Wirtschaften in der Welt hat, meinen weltweit und auch in Deutschland immer<br />
mehr Menschen, angloamerikanisches Wirtschaftsdenken entspräche globalem<br />
Sachzwang, und Deutschland müßte sich dem anpassen. Man darf aber bezweifeln,<br />
daß die Tatsache der Globalisierung gleichbedeutend sei mit einem weltweiten<br />
Sachzwang zur Nachahmung eines angloamerikanisch geprägten Wirtschaftsstils.<br />
331
Vor der Übernahme anderer Marktvorstellungen täte man gut daran, nachzudenken,<br />
wie es um die Akzeptanz und die möglichen Folgen aussieht. Es lohnt, sich<br />
einige Wertvorstellungen in Erinnerung zu rufen, die zur Entstehung unseres Wirtschaftsstiles<br />
beigetragen haben; dann fällt es etwas leichter, darüber nachzudenken,<br />
in welchem Ausmaß ein vom angloamerikanischen Kulturkreis geprägter Wirtschaftsstil<br />
vor dem kulturellen Hintergrund Deutschlands funktionieren würde.<br />
Dabei is t der Blick vor allem auf England naheliegend und aufschlußreich. Denn,<br />
obwohl England selbstverständlich zum „Abendland“ zählt, gibt es gerade in Bezug<br />
auf die für das Wirtschaften so wesentliche Rolle des Staates und in Bezug auf<br />
wirtschaftlich besonders wichtige Begriffe wie Eigentum, Freiheit, Vertrag und<br />
Selbstverantwortung wesentliche Unterschiede zum Festland, die auf das USamerikanische<br />
Wirtschaftsdenken ausstrahlen und sich dort zu einer wirtschaftsliberalen<br />
Theorie verfestigen konnten.<br />
332<br />
I. Rolle des Staates<br />
Wir Deutsche sehen den Staat traditionell als Obrigkeitsstaat mit Hoheitsrechten<br />
und wollen Vertrauen haben in eine jederzeit handlungsbereite und fachkompetente<br />
Gemeinwohlorientierung des Staates. Dieses historische Erbe verträgt sich mit<br />
der repräsentativen Demokratie, solange staatliche Macht in den Händen repräsentativer<br />
Parlamente liegt und alle Bürger gleiche Chancen haben, deren Zusammensetzung<br />
in freien, gleichen und geheimen Wahlen zu bestimmen.<br />
Dem entspricht ein Parlamentarismus, von dem die Gesellschaft die Einbindung<br />
unterschiedlicher Meinungen und Interessen in einen tragfähigen Konsens erwartet.<br />
Bereitschaft und Fähigkeit zum parteiübergreifenden Konsens wird auf der<br />
Gemeindeebene für besonders wichtig gehalten, gilt aber auch auf Landes- und<br />
Bundesebene viel. Übrigens bringt auch die für Parlamente übliche kreisförmige<br />
Architektur dies zum Ausdruck, die sich bemüht, das Parlament schon durch die<br />
Anordnung der Sessel als Einheit erscheinen zu lassen, der die Regierung bewußt<br />
gegenübergesetzt wurde; wobei dann zusätzlich die Regierung von der Architektur<br />
ebenfalls noch ein wenig in das Gebiet der Parlamentarier eingebunden wird.<br />
Im angelsächsischen Raum werden der Staat und seine Wechselbeziehungen zur<br />
Kultur und zum Markt ganz anders gesehen. Für die britische Gesellschaft scheint<br />
es den Staat im Sinne einer über der Gesellschaft stehenden gemeinwohlorientierten<br />
und mit Hoheitsrechten ausgestatteten Obrigkeit gar nicht zu geben:<br />
Die „Civil Society“ fühlt sich vielmehr vom Monarchen emanzipiert und regelt<br />
„ihre“ Angelegenheiten selbst. So wie sich der freie Bürger auf dem freien Markt<br />
betätigt und alles, was es zu regeln gibt, grundsätzlich selbst mehr oder weniger<br />
strittig aushandelt, so sieht er auch die Politik als dauerndes strittiges Aushandeln<br />
von Interessengegensätzen. Die Streitkultur prägt auch das Parlament: viel stärker<br />
als das deutsche arbeitet es die Streitpunkte heraus und streitet öffentlich. Sogar die<br />
Architektur des englischen Parlamentes unterstreicht die Konfrontation.<br />
Wahlanalysen zufolge schätzt es der deutsche Wähler dagegen wenig, wenn Fraktionen<br />
den Streit mehr pflegen als die gemeinsame, zwar strittige, aber doch gemeinwohlorientierte<br />
Suche nach Problemlösungen.
II. Eigentum<br />
Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll zugleich dem Gemeinwohl dienen. So<br />
sagt es die deutsche Verfassung und formuliert damit eine Überzeugung, die mehrere<br />
Jahrhunderte in die deutsche Geschichte zurückreicht und die traditionell auch<br />
auf das Eigentum an Unternehmen angewendet wird: Den Bürgern in deutschen<br />
Gemeinden erscheint es „richtig“, wenn ein ansässiges Unternehmen über Generationen<br />
dauerhaften Bestand hat und durch gute Produkte, verläßliche Arbeitsplätze<br />
und pünktliche Steuerzahlung auch zum Gemeinwohl beiträgt. Traditionell beurteilen<br />
sie die Größe eines Unternehmens vor allem nach dem Jahresumsatz und der<br />
Zahl der Beschäftigten. Der Beitrag eines Unternehmens zum Gemeinwohl spielt<br />
nach wie vor auch eine Rolle für das Prestige eines Unternehmers in seiner Gemeinde.<br />
Wenn ein Unternehmen sein Image verbessern möchte, sind dies bis heute<br />
die Punkte, auf die im Hochglanzprospekt vor allem hingewiesen wird, besonders<br />
von mittelständischen Unternehmen. Auch das Wunschbild von der „Betriebsfamilie“<br />
verklärt zwar die Wirklichkeit, illustriert aber doch, woran sich die Wünsche<br />
von Unternehmern und Belegschaften orientieren.<br />
Das sieht in England anders aus. Da ist zunächst einmal von einer Gemeinwohlbindung<br />
des Eigentums keine Rede, weder in der Verfassung noch im Rechtsbewußtsein.<br />
Und ein Unternehmen wird nicht als Institution empfunden, sondern als<br />
Ware. Das Unternehmensziel ist dementsprechend, für die Ware Unternehmen<br />
einen höchstmöglichen Preis zu erzielen: Die „Größe“ des Unternehmens wird<br />
gemessen an seinem Warenwert, in der Regel der Börsenwert, der seinerseits von<br />
vielen Faktoren abhängt, zum Beispiel auch von den (Über)Reaktionen der Börse<br />
auf Produktionsschwankungen, Dividenden, Wechselkurse, Gerüchte und „Analysen“.<br />
Der Unternehmer ist Anteilseigner des Börsenwertes und der Börsengewinne,<br />
also „shareholder“. Für ihn als shareholder kann Arbeitsplatzabbau zugunsten<br />
höherer Dividenden, wenn dadurch ein Kursgewinn an der Börse erzielt wird,<br />
interessanter sein als die Stabilisierung des Unternehmens.<br />
Diese Auffassung vom Unternehmen als Ware dringt zunehmend auch in das deutsche<br />
Wirtschaftsleben ein, und sie wirkt sich in den Unternehmen aus. Die Orientierung<br />
am Börsenwert verändert das Ziel des Wirtschaftens und damit die in deutschen<br />
Unternehmen bisher übliche tradierte Hierarchie der Prioritäten. Familienbetriebe<br />
spüren das besonders schmerzlich, aber auch viele Manager, die einmal in<br />
deutschen Unternehmenstraditionen groß geworden sind, geraten durch die Veränderung<br />
der Prioritäten durchaus auch in Konflikt mit ihrem eigenen Selbstverständnis.<br />
Konflikte zwischen dem eigenen professionellen Selbstverständnis und<br />
der veränderten Aufgabenstellung können buchstäblich zu Herzen gehen: Koronarerkrankungen<br />
von Wirtschaftsmanagern nehmen tatsächlich besorgniserregend zu.<br />
III. Freiheit und die weiteren Grundrechte<br />
In der englischen Kultur hat die Freiheit als solche einen sehr hohen und nahezu<br />
absoluten Stellenwert. Historisch wurde die Freiheit in England Jahrhunderte früher<br />
erkämpft, als auf dem Festland. Man kann das sogar hören, wenn man ver-<br />
333
gleicht, wie anders etwa Italiener, Franzosen und Spanier ihr aus dem lateinischen<br />
libertas stammende Wort für Freiheit betonen, als die Engländer. Jedoch war die<br />
auf der Insel so früh erkämpfte Freiheit die Freiheit des Adels vom Monarchen;<br />
Leibeigenschaft und Untertanenpflichten blieben davon zunächst unberührt. Als<br />
auch Leibeigene Freiheit erhielten, stand der Begriff inhaltlich schon fest, hatte<br />
man sich längst daran gewöhnt, daß etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit<br />
weniger Bedeutung hatte als die Freiheit. Noch heute hat die Freiheit Vorrang vor<br />
allen anderen Grundrechten. Insofern hat die französische Revolution bis heute<br />
weder in England noch in den Vereinigten Staaten stattgefunden. Ein der Freiheitsstatue<br />
vergleichbares Monument der Brüderlichkeit oder gar der Verantwortung ist<br />
in den USA nicht zu erwarten. Insbesondere: Die Freiheit gilt dort als Abwehrrecht<br />
gegenüber dem Staat, und viele amerikanische Juristen meinen, die ganze amerikanische<br />
Verfassung binde nur den Staat, nicht die Bürger in ihrem Verhältnis<br />
zueinander.<br />
Ganz so selbstverständlich gilt dies auf dem europäischen Festland nicht. Hier gilt<br />
die Würde des Menschen als unantastbar; sie umfaßt alle Grundrechte, wie sie<br />
nicht nur in der deutschen Verfassung niedergelegt sind, sondern auch in der Allgemeinen<br />
Erklärung der Menschenrechte und in den beiden Pakten, durch die die<br />
Allgemeine Erklärung völkerrechtlich verbindlich wurde. Die Menschenrechte<br />
werden in der deutschen Kultur als unveräußerlich angesehen. Diese Überzeugungen<br />
sind älter als das Grundgesetz, sie entstanden in Jahrhunderten und reichen<br />
zum Teil bis in das Alte Testament zurück. Das deutsche Recht spiegelt sie wider<br />
und bewertet Grundrechte ebenfalls als „unveräußerlich“, mit Konsequenzen besonders<br />
im Ve rtragsrecht.<br />
334<br />
IV. Vertrag<br />
In der deutschen Sprache erinnert das Wort „Vertrag“ nicht zufällig an „vertragen“:<br />
Der Vertrag regelt auf freiwilliger Basis eine Beziehung zum beiderseitigen<br />
Wohl und sichert Frieden unmittelbar zwischen den Vertragspartnern, mittelbar<br />
auch in der Gesellschaft, weil ja Streit zwischen Zweien die anderen stets einbeziehen<br />
würde.<br />
Nun wird jede Regelung, auch eine vertragliche, wenn sie gegen Grundrechte<br />
verstößt, nach jahrtausendealter Erfahrung früher oder später Grund für Streit sein:<br />
Die Weisheit des deutschen Rechtes erklärt eine solche Regelung für nichtig. Diese<br />
nicht nur theoretische, sondern durchaus praktische Beschränkung der Vertragsfreiheit<br />
wird verstärkt durch den Staat, von dem offensives Einschreiten erwartet<br />
wird, wenn Menschenrechte verletzt werden. Somit ist die Vertragsfreiheit bei uns<br />
eingeschränkt durch ethische Prioritäten. Das gilt auch für Verträge, die auf dem<br />
Markt geschlossen werden, deshalb kann der Markt in diesem Kulturkreis nicht<br />
machen, was er will. Mag er sich andere Regeln wünschen, weder Kultur noch<br />
Staat lassen es zu.<br />
Im angelsächsischen Kulturkreis entspricht dem höheren Rang der Freiheit vor<br />
anderen Grundrechten konsequent der Vorrang der Vertragsfreiheit. Das Grundrecht<br />
der Vertragsfreiheit umfaßt das Recht zum Verzicht auf andere Grundrechte,
diese sind also veräußerlich, Vertragsfreiheit geht vor. Der Internationale Pakt über<br />
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – einer der beiden Pakte von 1966,<br />
durch welche die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formulierten<br />
Rechte völkerrechtlich verbindlich wurden – verbietet es, die Vertragsfreiheit zur<br />
Schmälerung anderer Grundrechte zu nutzen. Diese Festlegung steht im Widerspruch<br />
zum US-amerikanischen Wirtschaftsstil und dürfte einer der Gründe dafür<br />
sein, weshalb die USA diesen Pakt als einzige Industrienation neben Südafrika bis<br />
heute nicht unterschrieben haben.<br />
Besonders relevant und aus deutscher Sicht problematisch werden die unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Bewertungen von Staat, Eigentum, Freiheit und Vertragsfreiheit<br />
im Arbeitsvertrag.<br />
V. Arbeitsvertrag<br />
Nach den tradierten und noch lebendigen deutschen Vorstellungen stellt der Arbeitnehmer<br />
dem Unternehmen seine Arbeitskraft zur Verfügung, gibt dem Unternehmen<br />
also ein Verfügungsrecht über seine Arbeitskraft. Dafür erhält der Arbeitnehmer<br />
als Gegenleistung für Ganztagsarbeit einen Lohn, der nach traditioneller<br />
Vorstellung dazu bestimmt ist, den Lebensunterhalt des Arbeitnehmers und seiner<br />
Familie zu sichern.<br />
Nach angelsächsischer Vorstellung dagegen verkauft der Mensch nicht seine Arbeitskraft,<br />
sondern verspricht eine bestimmte Leistung.<br />
Der scheinbar nur geringfügige Unterschied im Denken hat ernste Konsequenzen<br />
bei der Lohnfindung, denn der Lohn wird als Preis für die angebotene Ware Leistung<br />
angesehen. Als Preis für eine Ware aber wird er im Grundsatz so ausgehandelt,<br />
wie jeder andere Warenpreis auch: Bestimmungsgründe des Marktpreises sind<br />
Angebot und Nachfrage, Informationsstand, Koalitionsstärke, Verhandlungsgeschick,<br />
auch Marktmacht etc., nicht aber die Funktion des Lohnes, den Lebensunterhalt<br />
zu sichern. Während diese Funktion in Deutschland sowohl bei Tarifverhandlungen<br />
wie beim Abschluß eines einzelnen Arbeitsvertrages meist sogar im<br />
Vordergrund steht, kann es dort, wo angelsächsischer Wirtschaftsstil vorherrscht,<br />
nicht nur in der Theorie zu Lohnabschlüssen unterhalb des Existenzminimums<br />
kommen, sondern auch in der Praxis. In nach angelsächsischem Muster strukturangepaßten<br />
Entwicklungsländern sind freiwillige Lohnabschlüsse unterhalb des Existenzminimum<br />
nicht selten, sie wurden teilweise sogar von der Weltbank gefordert,<br />
die offenbar keinen Widerspruch zu irgendwelchen Menschenrechten oder internationalen<br />
Übereinkünften zu erkennen vermochte.<br />
Man muß nicht einmal in Entwicklungsländer gehen: Die angelsächsischen Staaten<br />
selbst haben die Beschäftigungsverluste in der Industrie zwar weitgehend ausgeglichen<br />
durch entsprechenden Zuwachs in den privaten Dienstleistungen, aber mit der<br />
in ihren Augen marktgerechten Konsequenz der weiteren Verarmung der „working<br />
poor“, die bei marktgerechten Löhnen auf einem Vollzeitarbeitsplatz nicht in der<br />
Lage sind, das Existenzminimum zu verdienen. Vor diesem geistigen Hintergrund<br />
kann der sogenannte Utilitarismus (das größte Glück der größten Zahl) das Leiden<br />
von Menschen in weit größerem Umfang moralisch in Kauf nehmen, als uns das in<br />
335
Deutschland vor dem Hintergrund der Grundrechte und christlicher Verpflichtung<br />
zur Solidarität vertretbar erscheint. Die „working poor“ hungern im Einklang mit<br />
der Tradition. Dementsprechend blieb übrigens auf der Insel das Klassendenken<br />
lebendig, während der Klassenbegriff in Deutschland seit Bestehen der Sozialen<br />
Marktwirtschaft als Anachronismus empfunden wird.<br />
In Deutschland dürfte sich die Einführung eines Tageslohns für Tagesleistung, der<br />
unter dem Existenzminimum liegt, als Brandstiftung erweisen.<br />
Des weiteren ist im Rahmen eines freien Vertrages zwischen freien Bürgern über<br />
den Verkauf von Leistung mehr Raum, als wir in unserer Rechtskultur gewohnt<br />
sind: Im Rahmen des freien Arbeitsvertrages kann sogar der Verzicht auf die Ge ltendmachung<br />
eines Grundrechtes als Leistung vereinbart werden, falls dafür eine<br />
Nachfrage besteht: Die Grundrechtsverletzung kann zur Alltäglichkeit werden.<br />
Wer sein wirtschaftliches Denken in einer angloamerikanischen Kultur erlernt hat,<br />
hält es zum Beispiel für in Ordnung, Verträge über Kinderarbeit als gültig anzuerkennen<br />
und die moralische Entscheidung dem Markt zu überlassen: Wer gegen<br />
Kinderarbeit ist, soll Waren nicht kaufen, die mit Kinderarbeit hergestellt wurden.<br />
Der Unternehmer, der Verträge mit Kindern, deren Eltern oder wem auch immer<br />
abschließt, möge sich dem Ziel der Gewinnmaximierung widmen, ohne seine<br />
marktwirtschaftlich „gesunde“ Entschlossenheit mit marktfremden Skrupeln zu<br />
behindern. Da nun allerdings der Markt keine moralische Anstalt ist und auch nicht<br />
sein kann, wird sich gesellschaftliche Ächtung nicht über den Markt durchsetzen<br />
können.<br />
Im Gegenteil kann ein versuchter Boykott durch Vertuschung, Korruption und<br />
Markttäuschung verhindert werden und so indirekt und unbeabsichtigt die Situation<br />
der Kinder noch verschlechtern. Unserer Auffassung von wirtschaftlichem<br />
Fortschritt widerstrebt das Ergebnis, und es ist sicherlich kein Zufall, daß gerade<br />
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in dem Bestreben, die politischen<br />
Rahmenbedingungen der Entwicklung und besonders der Selbsthilfe zu verbessern,<br />
im Zusammenwirken mit Nichtregierungsorganisationen und Kirchen wirksamere<br />
Wege gefunden hat, aus extremer Armut und aus Kinderarbeit herauszuhelfen.<br />
Im Umfeld der abendländischen Festlandskulturen ist der Mißbrauch der Vertragsfreiheit<br />
zur Schmälerung anderer Grundrechte jedenfalls nicht statthaft. Konsequent<br />
wird der Arbeitnehmer, nachdem er mit seiner Arbeitskraft beinahe sich<br />
selbst dem Unternehmen hingegeben hat, in seinen Grundrechten geschützt. Besonders<br />
im deutschen Arbeitsrecht wurde der Schutz des Arbeitnehmers sehr gut<br />
ausgebaut. Grundlage dafür war in Deutschland keineswegs der Klassenkampf. Im<br />
Gegenteil haben Wirtschaftsrat, Mittelstand, Sozialausschüsse, chris tlich geprägte<br />
Sozialdemokraten, Unternehmerverbände und Gewerkschaften nach dem zweiten<br />
Weltkrieg die 1933 von den Nationalsozialisten abgebrochene Suche nach Lösungen<br />
für die Konfliktregelung in Arbeitsbeziehungen wieder aufgegriffen: Es ging<br />
darum, den für das Funktionieren einer Marktwirtschaft unerläßlichen Grundgedanken,<br />
strittige Fragen nicht mit dem Dschungelrecht der Gewalt, sondern durch<br />
Vertrag zwischen freien Bürgern zu regeln, zu kombinieren mit dem im neunzehnten<br />
Jahrhundert als notwendig erkannten Schutz der Arbeitnehmer, die ja als Indi-<br />
336
viduen zu schwach sind, um mit ihrem Arbeitgeber gewissermaßen auf gleicher<br />
Augenhöhe verhandeln zu können. Mit der Sozialpartnerschaft entstand die weltweit<br />
beste Erfindung zur Regelung der industriellen Beziehungen. Die Verfahren<br />
zum Abschluß von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen haben den „Klassenkampf“<br />
überwunden.<br />
Pragmatisch gesehen hat sich der Unterschied auch für Markt, Wirtschaft und<br />
Wohlstand sehr gut ausgezahlt: Die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in<br />
Deutschland waren vergleichsweise friedlich, und die Wirtschaft ist mit dem Arbeitsrecht<br />
einschließlich der Tarifverträge und der Mitbestimmung recht gut gefahren.<br />
Diesen Standortvorteil sollte eine deutsche Regierung nicht aufs Spiel setzen.<br />
Angloamerikanische Wirtschaftsexperten haben Tarifautonomie und Mitbestimmung<br />
lange abgelehnt. Doch kann man einen Wandel der Einstellung beobachten:<br />
Manager großer Pensionsfonds fragen heute, nachdem sie in der Vergangenheit<br />
hohe Verluste hinnehmen mußten, vor größeren Kapitalanlagen bei der Internationalen<br />
Arbeitsorganisation (ILO), in welchen Ländern mit einer längeren Periode<br />
sozialen Friedens zu rechnen ist! Offenbar wurde bemerkt, daß sozialer Friede ein<br />
Wirtschaftsfaktor ist. Auch die oft wiederholte Behauptung, Soziale Marktwirtschaft<br />
und besonders die Sozialpartnerschaft würde ausländische Investoren abschrecken,<br />
stimmt heute nicht mehr: Deutschland liegt als Investitionsland weltweit<br />
fast an der Spitze.<br />
VI. Eigenverantwortung<br />
Eigenverantwortung ist im gesamten christlich geprägten Kulturkreis eingebettet in<br />
die subsidiäre Solidarität der Mitmenschen. Die Würde des Menschen umfaßt<br />
Freiheit und Verantwortung in gleicher Weise – und die Verantwortung schließt<br />
Eigenverantwortung mit ein. Das bedeutet, daß Hilfe erst gegeben werden soll,<br />
wenn die Selbsthilfe nicht ausreicht, (Subsidiarität), dann aber in angemessenem<br />
Umfang gegeben werden muß (Solidarität und Gerechtigkeit). Aus dem Gedanken<br />
der Subsidiarität folgt, daß die solidarische Hilfe vor allem darauf abzielen sollte,<br />
den Betroffenen zur Selbsthilfe zu befähigen.<br />
Die deutsche Auffassung vom Staat und die ordnungspolitische Bindung sowie<br />
Orientierung der Politiker verpflichtet darüber hinaus aber auch den Staat zu subsidiärer<br />
Solidarität. So greift der Staat mit dem Willen der Bürger in viele Bereiche<br />
ein, aus denen er sich nach angelsächsischen Vorstellungen heraushalten sollte.<br />
Zwei Beispiele mögen genügen, um dies schlaglichtartig zu illustrieren: Die duale<br />
Berufsausbildung und die Altersvorsorge.<br />
VII. Duale Berufsausbildung<br />
Im Interesse des Gemeinwohls beteiligt sich der deutsche Staat an der Ausbildung<br />
und bemüht sich, die betriebliche Ausbildung so sinnvoll wie möglich zu ergänzen.<br />
In das Bild der wechsels eitig aufeinander bezogenen Systeme Kultur, Staat und<br />
Wirtschaft fügt sich die duale Ausbildung harmonisch ein. Besonders kleine und<br />
mittlere Unternehmen werden dadurch entlastet. Zugleich wirken die Berufsschu-<br />
337
len auch am Technologietransfer mit und haben in Deutschland viel beigetragen<br />
zur Einführung neuer Technologien. Der Staat kontrolliert zudem die Qualität der<br />
betrieblichen Ausbildung und trägt alles in allem zur Qualität des Ausbildungsniveaus<br />
in Deutschland bei. Trotz einiger Spielräume für Verbesserungen hat sich<br />
die staatliche Unterstützung der Ausbildung bewährt: Das relativ hohe, breitere<br />
und insbesondere fast über ganze Branchen vergleichbare Qualifikationsniveau der<br />
Arbeitnehmer gibt der deutschen Wirtschaft hohe Flexibilität in Bezug auf Produkte,<br />
Verfahrensweisen und Einführung neuer Technologien, aber auch bei der Umstrukturierung<br />
von Unternehmen.<br />
In England dagegen mit seiner ganz anderen Staatsauffassung hat sich der Staat<br />
aus dem grundsätzlich freien Markt weitestgehend herauszuhalten: Ein duales<br />
Ausbildungssystem gibt es dort nicht, es wäre undenkbar. Ausbildung geschieht<br />
durch „training on the job“. Unbestreitbare Vorteile für die Unternehmen sind<br />
insbesondere: intensivere Bindung der Arbeiter an das Unternehmen, engere Spezialisierung<br />
auf bestimmte Arbeiten und Arbeitsverfahren, größere Abhängigkeit<br />
der Arbeiter von ihrem Unternehmen und damit die Chance des Unternehmens, die<br />
Arbeitsleistung zu einem geringeren Preis zu erhalten. Vor der globalen Öffnung<br />
der Weltmärkte und im Schutze der nationalen Politik, ohne den globalen Zwang<br />
zu schnellerem technologischen Wandel, zu Betriebsschließungen und Umstrukturierungen<br />
funktionierte das früher gut.<br />
In den vergangenen Jahren haben sich aber auch Nachteile für einzelne Unternehmen<br />
und Branchen gezeigt. Die Fixierung der Mitarbeiter auf bestimmte Arbeitsverfahren<br />
zum Beispiel verringert die Fortbildungsfähigkeit und impliziert faktischen<br />
Widerstand gegen technologischen Wandel, auch gegen einschneidende<br />
organisatorische Änderungen. Das allein sind schon Nachteile, die ein Unternehmen,<br />
das auf dem Weltmarkt konkurrieren muß, im Zuge der weltweiten Öffnung<br />
der Märkte vom Markt verschwinden lassen können.<br />
Auch auf diesem Gebiet scheint Deutschland einen Standortvorteil zu haben, den<br />
es zu nutzen und auszubauen gilt. Verbesserungen wären sinnvoll bei Höherqualifizierung<br />
und Umschulung: Wer auf den Arbeitsmarkt schaut, sieht dort Handlungsbedarf.<br />
Es wäre zu prüfen, ob Schulungen für Arbeitslose oder auch schon bei<br />
bevorstehenden Entlassungen aus betrieblichen Gründen auf duale Weise möglich<br />
sind: also in Kooperation von öffentlicher Hand und potentiellen neuen Arbeitgebern.<br />
338<br />
VIII. Altersvorsorge<br />
Vor dem Hintergrund, daß in einer entwickelten Industriegesellschaft Familien-<br />
und Nachbarschaftshilfe auch in Verbindung mit eigenverantwortlicher Vorsorge<br />
(Häuschen, Garten, Kapitalbildung) keine ausreichende und zugleich gerechte<br />
Alterssicherung gewährleisten können, erschien nach dem Krieg die zusätzliche<br />
vom Staat angeordnete und durchgesetzte Alterssicherung in Gestalt des Generationenvertrages<br />
als „richtig“. Bis heute dürfte diese Kombination – die übrigens ein<br />
konkretes Beispiel für geglücktes Zusammenwirken von Kultur, Wirtschaft und<br />
Politik darstellt – der stabilste Weg zur Lösung des Problems der Alterssicherung
sein. Zur Zeit seiner politischen Verwirklichung war der Generationenvertrag als<br />
notwendige Ergänzung gedacht, aber durchaus nicht als Ersatz für<br />
Eigenverantwortung und zwischenmenschliche Hilfe. Innerfamiliäre und nachbarschaftliche<br />
Hilfe waren noch Tradition, und das Häuschen mit Garten sowie das<br />
Sparen wurden ausdrücklich als Eigenvorsorge empfohlen und gefördert.<br />
Der Generationenvertrag würde in den englischen Wirtschaftsstil nicht hineinpassen.<br />
Da im angelsächsischen Denken der Staat der Gesellschaft nicht obrigkeitlich<br />
übergeordnet ist, hat er sich folgerichtig auch in die Frage der Altersvorsorge nicht<br />
einzumischen: Ein Generationenvertrag hätte in der englischen Vo rstellungswelt<br />
keinen Platz, er erscheint Engländern als geradezu absurd. Altersvorsorge ordnet<br />
der angelsächsische Wirtschaftsstil der Eigenverantwortung allein zu. Sie kann<br />
vertraglich, auch in Kollektivverträgen, geregelt werden; das heißt praktisch: durch<br />
Kapitaldeckungsverfahren und grundsätzlich in Pensionsfonds, die ihrerseits meist<br />
unternehmensbezogen sind, wobei die Einzahler als deren Miteigner gelten. Das<br />
System ist in Deutschland bekannt, interessant und nachahmenswert. Es hatte<br />
einmal im Mutterland eines Kolonialimperiums und in den Grenzen einer staatlich<br />
behüteten nationalen Wirtschaft die Altersvorsorge der „working poor“ gewährleistet.<br />
Nach weltweiter Öffnung der Märkte und den damit verbundenen Umstrukturierungen<br />
der Unternehmenslandschaft aber garantiert es die Sicherheit keineswegs<br />
und belastet obendrein die britis che Wirtschaft.<br />
Der Generationenvertrag ist die bessere Lösung und bleibt unverzichtbar. Er ist an<br />
der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt. Vor dem Hintergrund des christlichen<br />
Menschenbildes muß deshalb dringend auch darüber nachgedacht werden,<br />
wie die Rahmenbedingungen der eigenverantwortlichen Selbsthilfe und der zwischenmenschlichen<br />
Solidarität verbessert werden können.<br />
IX. Schlußfolgerung für die christliche Demokratie<br />
Die Globalisierung bewirkt, daß alle wirtschaftlich relevanten Faktoren sich weltweit<br />
wechselseitig beeinflussen; auch kulturelle und politische Veränderungen in<br />
einer Weltregion können wirtschaftliche Auswirkungen in anderen Ländern haben.<br />
Nun hat die besonders von Walter Eucken häufig wiederholte Erkenntnis der Interdependenz<br />
von Kultur, Staat und Wirtschaft bei der Geburt der Sozialen Marktwirtschaft<br />
Pate gestanden. Die Soziale Marktwirtschaft Deutschlands ist deshalb<br />
auf die Globalisierung besser vorbereitet als die Wirtschaften manch anderer Industrieländer.<br />
Notwendig wäre es, die der Ordnungspolitik entgegengesetzte hochgeschraubte<br />
Dynamik von Einflußnahmen des Staates auf die Wirtschaft kritisch zu überprüfen<br />
und staatliche Solidarität auf der einen und Eigenverantwortung kleinerer Einheiten<br />
auf der anderen Seite hier und da wieder in Balance zu bringen. Deutsche Politik<br />
muß aus dem dirigistischen Irrgarten wieder herausfinden. Das bedeutet aber<br />
nicht, daß sich der Staat deshalb gleich aus der Verantwortung für die soziale Sicherheit<br />
zurückzuziehen hätte. Im Gegenteil: Soziale Sicherung ist die der Globalisierung<br />
angemessene Alternative zum heute nicht mehr möglichen Protektionis-<br />
339
mus. In einer globalisierten Welt können offene Gesellschaften nicht umhin, ihre<br />
Bevölkerung sozial zu sichern, denn nur so können ihr Arbeitsmarkt und ihre Wirtschaft<br />
flexibel sein.<br />
Dagegen könnte die Nachahmung jener staatlichen Zurückhaltung, wie sie sich in<br />
Staaten mit einem am Leitbild der freien Marktwirtschaft orientierten Wirtschaftsstil<br />
entwickelt hat, besonders die CDU und CSU in eine sehr unbequeme Lage<br />
bringen, weil sie nun einmal die Parteien der Sozialen Marktwirtschaft sind und in<br />
den Augen ihrer – zum Teil schon jetzt ehemaligen – Wähler von ihrer Legitimation<br />
verlieren würden. Schließlich hat die wirtschaftspolitische Programmatik der<br />
CDU seit den Düsseldorfer Leitsätzen Überzeugungen formuliert, die mit der Ordnungspolitik<br />
eine Einheit bilden und in Deutschland fest verwurzelt sind. Die dauernde<br />
Wechselwirkung von Kultur, Wirtschaft und Politik ist eine fest in der Kultur<br />
selbst und in der Programmatik der christlichen demokratischen Parteien verankerte<br />
Überzeugung, darin liegt ihre Kraft. Nur wenn die christlichen Demokraten<br />
sich dazu bekennen, können sie Mehrheiten zurückgewinnen. Sie müssen auch<br />
daran mitwirken, daß diese Überzeugungen im Bewußtsein lebendig bleiben. Geschichte<br />
und globaler Vergleich belegen zudem, daß die Überzeugung pragmatisch<br />
betrachtet offenbar auch für das Wohl der Wirtschaft richtig ist.<br />
Die für das Wirtschaften relevanten moralischen Überzeugungen, die in komprimierter<br />
Form in der christlichen Soziallehre vorliegen, haben erstaunliche Entsprechungen<br />
in den anderen großen Weltreligionen. Wer global für die Soziale Marktwirtschaft<br />
wirbt, wird nicht nur in Deutschland verstanden, sondern auch in jenen<br />
Ländern, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ebenfalls als universell<br />
gültig anerkennen und die beiden Internationalen Pakte – über politische und<br />
über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – respektieren. Die meisten<br />
dieser Länder wollen auch ihre mit der internationalen Arbeitsorganisation (ILO)<br />
eingegangenen Verpflichtungen erfüllen: Gerade dabei kann, darf und sollte<br />
Deutschland ihnen mit Rat und Tat helfen. Das Eintreten für Ordnungspolitik und<br />
Soziale Marktwirtschaft wird in vielen Ländern, mit denen Deutschland politische<br />
und außenwirtschaftliche Beziehungen pflegt, auf fruchtbaren Boden fallen.<br />
Deshalb lautet die Antwort auf Globalisierung: Rückbesinnung auf Ordnungspolitik,<br />
weitere Verbesserung der sozialen Sicherung als moderne Alternative zum<br />
heute nicht mehr möglichen Protektionismus sowie globale Verantwortung und<br />
Solidarität.<br />
Dr. Bernhard Niemann ist Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt<br />
Augustin und arbeitet dort im „Team Soziale Marktwirtschaft“.<br />
340
Karl Schwarz<br />
Die kinderlose Gesellschaft und ihre Folgen<br />
Vor 50 Jahren war Deutschland gezwungen, die gesetzliche Rentenversicherung<br />
wegen der verlorenen Vermögen auf eine neue Grundlage zu stellen. Es wurde das<br />
Umlageverfahren, wie in anderen Sozialversicherungszweigen, eingeführt. In das<br />
System sollte, entsprechend den Vorstellungen im sog. Schreiberplan, die Finanzierung<br />
der Nachwuchssicherung einbezogen werden, bei der auch an einen Beitrag der<br />
Kinderlosen gedacht war. Die Überlegung war sehr einfach: Die mittlere Generation<br />
der Arbeitenden muß nicht nur für die Alten, sondern auch für eine ausreichende<br />
Zahl von Jungen sorgen, damit später genug Verdiener da sind, um die alt gewordene<br />
mittlere Generation und deren Enkel zu ernähren. Es entstand so das Bild von einem<br />
„Drei-Generationenvertrag“, dessen Logik nicht bestritten werden kann, der aber aus<br />
vielen Gründen schon damals schwer zu realisieren war. Konrad Adenauer, damals<br />
Bundeskanzler, hat das rasch eingesehen, und aus dem Drei- einen Zwei-Generationenvertrag<br />
zwischen Verdienern und Rentenempfängern gemacht. Die Kinder<br />
blieben Elternsache mit der angeblichen Bemerkung Adenauers: „Kinder bekommen<br />
die Menschen immer.“ Ein weiteres Zitat stammt von Thomas Mann. Auf seine<br />
große Familie angesprochen, soll er zu einem seiner Söhne gesagt haben: „Kinder hat<br />
man zu haben.“ 1 Den Familienlasten- oder gar -leistungsausgleich könne man bei<br />
solchen Überlegungen als erledigt betrachten. Vergessen wir aber auch nicht, daß um<br />
1960 jährlich 1,3 Millionen Kinder in Gesamtdeutschland geboren wurden, während<br />
es heute nur noch 770.000 sind. Aus dem Geburtenüberschuß von jährlich über<br />
400.000 in der damaligen Zeit ist seit 1972 ein Überschuß der Sterbefälle geworden,<br />
der im Jahr 2000 über 70.000 und ohne die in Deutschland lebenden Ausländer sogar<br />
mehr als 150.000 betrug.<br />
Davon hat vor fast 30 Jahren auch die Politik Notiz genommen, zumal diese Entwicklung<br />
Gesprächsstoff für die Weltbevölkerungskonferenz 1976 in Bukarest lieferte.<br />
Der Verfasser erinnert sich an eine Unterredung im kleinsten Kreis mit dem damaligen<br />
Bundesinnenminister bis Mitternacht. Er hatte unsere Vorlage sorgfältig<br />
studiert und kommentierte sie etwa wie folgt: „Meine Vorfahren kommen vom Bauernhof.<br />
Ohne Kinder hätten sie im Alter verhungern müssen; denn wer hätte sie sonst<br />
ernährt und gepflegt?“ Ein anderer Teilnehmer erzählte die Geschichte von dem<br />
Bauern im Schwarzwald, der sagte: „Zu einem Drittel arbeite ich für meine Kinder,<br />
zu einem weiteren Drittel für meine Frau und mich, und schließlich zu einem letzten<br />
Drittel für meine alten Eltern.“<br />
Das Thema „Bevölkerung“ sorgte damals nicht für Aufregung, aber immerhin zu<br />
zwei Berichten der Bundesregierung zur demographischen Lage. Sie wurden auch<br />
im Bundestag behandelt. Die Aussprache erschöpfte sich jedoch in gegenseitigen<br />
Vorwürfen von Regierung und Opposition über Versäumnisse in der Familienpolitik.<br />
Von Besorgnis war kaum etwas zu spüren. Das kann man eher von dem Parallelbericht<br />
der Bundesländer unter der Federführung Bayerns sagen, der aber ebenfalls<br />
341
folgenlos blieb. Als Erfolg kann aber immerhin angesehen werden, daß sich in damaliger<br />
Zeit vielleicht 1.000 Ministerialbeamte, die meisten wohl zum ersten Mal, ernsthaft<br />
mit Bevölkerungsfragen beschäftigen mußten.<br />
Doch schlief das Thema nicht ein; denn nunmehr beschäftigte sich damit der Deutsche<br />
Bundestag in der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“. Er brachte<br />
dazu am Ende der 12. und 13. Wahlperiode zwei dickleibige Bundestagsdrucksachen<br />
heraus. 2 Dabei handelt es sich um wahre Fundgruben des zeitgenössischen demographischen<br />
Wissens im weitesten Sinn. Wer aus dieser Aktivität wegweisende politische<br />
Impulse erwartet hatte, sah sich allerdings enttäuscht. Ob viele Politiker und<br />
andere Entscheidungsträger, außer den Mitgliedern der Kommission, die vielen<br />
Seiten überhaupt gelesen haben, erscheint zweifelhaft. „Es gibt doch so viele andere<br />
Dinge, die noch heute zu erledigen sind, als Probleme, die wir schon bisher vor uns<br />
herschieben konnten.“<br />
Es gibt allerdings auch Ausnahmen. Dazu muß man die Initiative von H.-U. Klose<br />
mit seinem „Forum Demographie und Politik“ rechnen, dessen verdienstvolle Aktivitäten<br />
in Form einer Schriftenreihe allerdings eingeschlafen sind. Ob er in seiner Partei<br />
nicht überall auf Beifall mit der Bemerkung im Editorial zu Band 1 gestoßen ist,<br />
daß diejenige politische Kraft im Jahr 2000 auf der Höhe der Zeit sein wird, die sich<br />
früh und nachdrücklich genug mit der gesellschaftspolitischen Bewältigung des<br />
demographischen Wandels auseinandergesetzt hat? Offenbar ist es schwer, Bevölkerungsfragen<br />
einem breiten Publikum nahezubringen. Der Autor möchte das mit einigen<br />
Beispielen aber trotzdem versuchen.<br />
342<br />
I. Der Geburtenrückgang<br />
Geht man davon aus, daß über 40-jährige Frauen keine Kinder mehr bekommen, was<br />
zu fast 99% zutrifft, so sind von den 40-jährigen Frauen heute, mit wachsender Tendenz,<br />
über ein Viertel kinderlos geblieben. In den großen Städten von 500.000 und<br />
mehr Einwohnern sind es sogar 40%. Die durchschnittliche Kinderzahl der Frauen<br />
beträgt – je 100 – 140 bzw. 110.<br />
So ist die Lage in Westdeutschland schon seit etwa 25 Jahren, und es sind seitdem<br />
und heute auch keine Anzeichen für eine Zunahme erkennbar. Eher ist eine Abnahme<br />
wahrscheinlich, weil die Heiratsneigung immer noch abnimmt. Bisher hatten bis<br />
zum Alter von 40 Jahren 95% der Frauen geheiratet, und es bestehen starke Anzeichen<br />
dafür, daß von den heute 25-Jährigen 30% zeitlebens unverheiratet bleiben<br />
werden. In den großen Städten ist das schon jetzt der Fall und sind zwischen 35 und<br />
39 Jahren nur noch wenig über 50% verheiratet, weil dort jede zweite Ehe geschieden<br />
wird und wenig Wiederverheiratungen stattfinden.<br />
Eine Folge davon ist die o.g. sehr hohe Kinderlosigkeit und eine durchschnittliche<br />
Kinderzahl, die hier ohne Zuwanderung zu einer raschen Entvölkerung führen mü ßte.<br />
Die derzeitige durchschnittliche Kinderzahl von 140 je 100 Frauen (bzw. Männer)<br />
sorgt dafür, daß von einer Generation auf die nächste, also im Verlauf von rund 30<br />
Jahren, von den Eltern auf die Kinder und von diesen auf die Enkel, die Zahl der<br />
Personen um jeweils ein Drittel kleiner wird. Ein gutes Beispiel sind die 1.142.000
Lebendgeborenen des Jahres 1969 auf die im Jahr 1999 nur noch 771.000 folgten.<br />
Manche Leser wird das Beispiel der Akademiker interessieren. Von den 40-jährigen<br />
Akademikerinnen in Westdeutschland im Jahr 1997 waren 36% ledig und fast 40%<br />
kinderlos geblieben. Im Durchschnitt beträgt die Kinderzahl dieser Gruppe nach<br />
abgeschlossener Familienbildung 110 je 100 Akademikerinnen. Von einer Nachwuchssicherung<br />
der Akademiker über die Familien kann also – anders als früher –<br />
nicht die Rede sein. Ob das vielleicht bei den Ehen zwischen Akademikern und<br />
Akademikerinnen der Fall ist? Für sie ergaben sich 1997 167 Kinder bei 19% kinderlos<br />
Gebliebenen. In den vergangenen 30 Jahren hat eine Abnahme um ein Drittel<br />
stattgefunden. Mehr als 200 Kinder je 100 Ehen mit abgeschlossener Familienbildung<br />
ergaben sich 1997 in Westdeutschland nur noch für die Selbständigen in der<br />
Land- und Forstwirtschaft und für die Ehen, in denen Mann und Frau keinen Berufsbildungsabschluß<br />
nachweis en konnten, unter ihnen sehr viele Ausländer.<br />
II. Die zwangsläufige weitere Bevölkerungsentwicklung<br />
Damit der durch den Geburtenrückgang vorprogrammierte Bevölkerungsrückgang<br />
eines Tages aufgehalten werden kann, müßten die in Deutschland lebenden Männer<br />
und Frauen sich weitgehend zu wenigstens einem Kind entschließen wollen und<br />
viele zu mehr als zwei, um auszugleichen, daß es immer Kinderlose und Paare mit<br />
nur einem Kind geben wird. Daß der Anteil der kinderlos Bleibenden so groß geworden<br />
ist, hängt sicher damit zusammen, daß die Erfüllung des Kinderwunschs heute<br />
vielfach in einen Lebensabschnitt verschoben wird, der zu spät liegt. Zweifellos wird<br />
die Elternrolle heute vielfach aber auch nicht mehr als die Selbstverständlichkeit und<br />
das Glück empfunden, die es einmal waren.<br />
Heute weiß jeder: Kinder kosten Geld und auch Zeit, oder besser Zuwendung. Beides<br />
kann auch anderweitig und über Berufstätigkeit von Frau und Mann zur Vermehrung<br />
des materiellen Wohlstandes verwendet werden. Ohne Nachwuchs kann jedoch<br />
keine Gesellschaft dauerhaft überleben. Die Kinderlosen und Kinderarmen werden<br />
daher früher oder später dazu verpflichtet werden müssen, sich an den Kosten der<br />
Nachwuchssicherung, d. h. weit über den gegenwärtigen Umfang hinaus zu beteiligen.<br />
Daß Familien mit mehreren Kindern und alleinerziehende Mütter zu den wichtigsten<br />
Gruppen der Sozialhilfeempfänger gehören, ist eine Schande für eine sonst<br />
reiche Gesellschaft. Es bestehen allerdings Zweifel, ob eine materielle Besserstellung<br />
der Familien das Geburtendefizit entscheidend vermindern könnte. Wie oben gezeigt<br />
wurde, haben Wohlhabende ja nicht mehr Kinder als andere soziale Schichten. Kinder<br />
kann man offensichtlich nicht „kaufen“. Bevor wir daran weitere Überlegungen<br />
anschließen, müssen wir uns aber noch mit wichtigen Aspekten der zu erwartenden<br />
Bevölkerungsstruktur beschäftigen.<br />
III. Die älter werdende Gesellschaft<br />
Als Folge des Geburtenrückgangs muß sich statt einer Bevölkerungspyramide ein<br />
Altersaufbau ergeben, der unten nicht breit, sondern schmal ist. Er bewegt sich auf<br />
folgende Gliederung in % zu:<br />
343
Alter in Jahren heute in Zukunft<br />
unter 20 21 16<br />
20 bis 59 56 50<br />
60 und älter 23 34<br />
Zusammen 100 100<br />
Zuwanderung ist dabei nicht berücksichtigt; ebenso wenig die erwartete Zunahme<br />
der Lebenserwartung. Geht man auch davon aus, kommt man bei einem jährlichen<br />
Zuwanderungsüberschuß von 200.000 und einer Zunahme der Lebenserwartung bis<br />
2030 um vier Jahre zu 36 und ohne Zuwanderung zu 38% über 60-Jährige im Jahr<br />
2050 und auch schon 34 bzw. 35% im Jahr 2030. 3 Entgegen mancherlei Erwartungen<br />
spielt also auch eine hohe Zunahme der Zahl der Ausländer durch eine hohe Nettozuwanderung<br />
von immerhin zwei Millionen in 10 Jahren für die Altersstruktur kaum<br />
eine Rolle. Zugleich ist mit einer Abnahme der Zahl der Personen im Erwerbsalter<br />
und damit zugleich des Erwerbspersonenpotentials zu rechnen.<br />
In absoluten Zahlen würde sich die Bevölkerung ohne Zuwanderung von 82 Millionen<br />
bis 2030 auf 72 und bis zum Jahr 2050 auf 58 Millionen vermindern, mit einer<br />
Jahresnettozuwanderung von 200.000 von 82 auf 75 bzw. 65 Millionen, mit nur 30<br />
Millionen im Erwerbsalter von 20 bis 60 Jahren. Heute stehen 46 Millionen in diesem<br />
Alter, mit einem nicht mehr viele Jahre andauernden Übergewicht der jüngeren<br />
über die älteren Arbeitskräfte.<br />
344<br />
IV. Zu den Folgen für Politik und Gesellschaft<br />
Ist von den Folgen der älter werdenden Bevölkerung die Rede, wird fast immer zuerst<br />
an Einbußen des materiellen Wohlstandes und an die finanziellen Probleme der<br />
Sozialversicherungssysteme gedacht. Das soll hier nicht ausgelassen werden. Kaum<br />
weniger wichtig sind jedoch die gesellschaftspolitischen, kulturellen und staatspolitischen<br />
Aspekte. Einige sollen wenigstens gestreift werden.<br />
Heute setzt sich die Bevölkerung zu etwa gleichen Teilen aus einem Fünftel Kinder<br />
und Jugendlichen und einem Fünftel über 60-Jährigen zusammen. Doch wird die<br />
Zahl der Älteren schon in wenigen Jahren die der Jungen übersteigen. Bereits in 30<br />
Jahren werden es doppelt soviele sein, in 50 Jahren 2½ Mal soviele. Es wird doch<br />
niemand glauben, unsere Stadtviertel, unsere Alltagsentscheidungen, das gesellschaftliche<br />
Klima, ja alle Facetten des öffentlichen Lebens könnten davon unberührt<br />
bleiben, wenn die Kinder und Jugendlichen demnächst nur noch 15%, die Älteren<br />
aber fast 40% ausmachen. In den Parlamenten hätten demnächst fast nur noch die<br />
von Älteren gewählten noch Älteren zu entscheiden. Schon heute sind von den<br />
Wahlberechtigten fast ein Drittel über 60 und in 30 Jahren über 40%. Geht man<br />
davon aus, daß die meisten Menschen heute schon mit 50 an ihre Rente denken, so<br />
könnte die seltsame Lage eintreten, daß diejenigen, welche in Kürze im Ruhestand<br />
leben werden, allein in der Lage wären, über ihre Altersbezüge zu entscheiden.
Vielleicht wäre es auch wichtig, darüber zu philosophieren, wie eine Gesellschaft<br />
aussehen und funktionieren könnte, in der durch den medizinischen Fortschritt, etwa<br />
auf dem Gebiet der Gen-Therapie, alle bald 100 Jahre alt werden. Dann hätten wir<br />
die Natur gewaltig übertrumpft, aber eine Welt geschaffen, auf die uns die Natur<br />
bisher nicht vorbereitet hat und für die wir wahrscheinlich auch keine Lösungen<br />
anzubieten hätten. Es könnte daraus eine Katastrophe entstehen.<br />
V. Einige Arbeitsmarktprobleme<br />
Alles, was wir im privaten Haushalt oder über öffentliche Haushalte ausgeben, muß<br />
erwirtschaftet werden. Das gilt für das Transfereinkommen eines Rentners oder<br />
Sozialhilfeempfängers, wie für die Einkommen aus Vermögen. Wer sein Geld in<br />
Mietshäusern angelegt hat, und dafür keine Mieter mehr findet, weil seine Stadt<br />
ständig Menschen verliert, kann „verhungern“. Die zu erwartende Entwicklung des<br />
Erwerbspotentials, der Erwerbstätigkeit und der Erwerbslosigkeit (hier Personen<br />
ohne Arbeitsplatz, die sich um eine Stelle bemühen) ist infolgedessen für unsere<br />
Zukunftsüberlegungen von größter Bedeutung.<br />
Wir gehen von den Zahlen der Erwerbstätigkeitsstatistik des Statistischen Bundesamtes<br />
vom Mai 1999 mit 51,4 Millionen 20- bis unter 65-Jährigen aus, von denen 35,1<br />
Millionen oder 68% erwerbstätig und 3,9 Millionen oder 7,6% erwerbslos waren. 4<br />
Mißt man die Erwerbslosigkeit – wie üblich – an den Erwerbstätigen plus Erwerbslosen<br />
(Erwerbspersonen = 39,0 Millionen) kommt man auf rund 10%. Bezeichnet man<br />
die Erwerbstätigen als Verdiener, mußten danach 100 Verdiener für 134 Nichtverdiener<br />
aufkommen, davon 50 noch nicht 20-jährige Kinder und Schüler, 47 nichtverdienende<br />
20- bis 64-Jährige (darunter auch Nur-Hausfrauen, Erwerbslose und Frührentner)<br />
sowie 37 65-Jährige und Ältere (vor allem Ruheständler). Bei Vollbeschäftigung<br />
hätte sich der Quotient 134 auf 110 reduziert.<br />
Geht man auch für die Zukunft von einer Erwerbstätigenquote der 20- bis 65-<br />
Jährigen von 68% aus, würde sich die Zahl der Erwerbstätigen bis 2030 von 35,1 auf<br />
27,6 und bis 2050 auf 21,4 Millionen vermindern und bei der jährlichen Nettozuwanderung<br />
der Ausländer von 200.000 auf 30,7 und 26,6 Millionen. Sollte es darüber<br />
hinaus gelingen, die Erwerbslosigkeit auf eine Quote von 4 bis 5% zu verringern,<br />
so kommt man für 2030 auf 32,2 statt 30,7 und für 2050 auf 27,9 statt 26,6<br />
Millionen, verglichen mit 35,1 Millionen heute. Was das wirtschaftlich bedeutet, ist<br />
kaum zu übersehen, weil es dazu aus neuerer Zeit keine Beispiele gibt.<br />
Es bleibt nur der Trost, daß es sich um keine Entwicklung von heute auf morgen<br />
handelt. Gewiß wird die deutsche Wirtschaft aber einem gewaltigen Anpassungsdruck<br />
ausgesetzt werden. Dabei ist auch zu bedenken, daß die gesamte Infrastruktur<br />
allmählich an eine Lage anzupassen ist, die nicht nur von Veränderungen des Arbeitsmarktes,<br />
sondern von Veränderungen in allen Teilen der Bevölkerung geprägt<br />
sein wird.<br />
Im Hinblick auf die zu erwartenden gewaltigen Einbußen beim Arbeitskräftepotential<br />
sind die Arbeitszeiten zu bedenken. Schon heute spiegeln z. B. die 38,8 Millionen<br />
Erwerbstätigen in Deutschland Mitte des Jahres 2001 und die Zunahme um 1,2 seit<br />
1998 keine Zunahme des Arbeitsvolumens wider, weil die Zunahme geringfügiger<br />
345
Tätigkeiten, vor allem durch Frauen, so groß war. Schätzungsweise sind so etwa 4<br />
Millionen Frauen beschäftigt und verdienen damit nur ein Zubrot. Mit Teilzeitarbeit,<br />
die etwa 40% der Frauenerwerbstätigkeit ausmacht, wird der dramatische Rückgang<br />
des Arbeitskräftepotentials nicht auszugleichen sein.<br />
346<br />
VI. Die Gefahren für die sozialen Sicherungssysteme<br />
Als einzige große Altersgruppe ist mit einer Zunahme der Zahl der über 60-Jährigen<br />
von 19 auf 26 Millionen bis gegen 2040 mit Schwergewicht bei den Ältesten zu<br />
rechnen. Ab 2040 sind die starken Geburtsjahrgänge aus den Jahren 1960 bis 1970<br />
über 80 Jahre alt. Es sind das die Altersgruppen der Rentner und Versorgungsempfänger<br />
unter den Beamten, mit den höchsten Krankheitskosten und mit dem Alter<br />
rasch steigendem hohen Anteil Pflegebedürftiger. Das alles muß von einem sinkenden<br />
Anteil erwerbstätiger Beitrags- und Steuerzahler bezahlt werden. Es soll hier<br />
nicht der Versuch gemacht werden, die voraussichtlichen Beitragssätze der Rentenversicherung,<br />
der gesetzlichen Krankenkassen und der Pflegeversicherung vorauszuschätzen,<br />
weil zu viel von gesetzlichen Regelungen über Höhe der Leistungen und<br />
die Art der Finanzierung abhängt. Stattdessen begnügen wir uns mit einer Angabe<br />
über das Verhältnis über 64-Jährige zu Erwerbstätigen unter der Annahme einer<br />
Nettozuwanderung der Ausländer von jährlich 200.000, den Erwerbsquoten von<br />
1999 und einer Arbeitslosenquote von 4,5%.<br />
Mit diesen Annahmen kommen auf 100 Erwerbstätige im Jahr:<br />
1999: 35<br />
2010: 46<br />
2030: 64<br />
2050: 74<br />
65-Jährige und Ältere. Selbst bei starker Einschränkung der Leistungen entstehen<br />
also starke Belastungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das durch Beiträge oder<br />
Steuern geschieht, deren Ertrag den Älteren zugute kommt.<br />
VII. Was wäre zu tun?<br />
Vordringlich und Voraussetzung für alles andere ist es, die demographischen Probleme<br />
breiten Schichten der Bevölkerung bewußt zu machen. 5 Es reicht nicht, gelegentlich<br />
unverbindlich über Familienpolitik und Zuwanderung zu reden. Es sollte<br />
außerdem überlegt werden, wie es gelingen könnte, die bevölkerungsrelevanten<br />
politischen Aktivitäten zu bündeln und sie zur Chefsache zu machen.<br />
Die Akteure auf diesem Gebiet brauchen einen langen Atem und können nicht mit<br />
raschen Erfolgen rechnen. Das hängt mit der „Trägheit“ der demographischen Prozesse<br />
zusammen. Es wird ein Denken in Generationen und Lebensabläufen gefordert.<br />
Es müssen die Konsequenzen aus der Gewißheit gezogen werden, daß Kindererziehung<br />
als Humanvermögensbildung mindestens die gleiche Bedeutung wie Erwerbstätigkeit<br />
hat. Durch die Bereitschaft, sich an den Kosten der Nachwuchssicherung<br />
angemessen zu beteiligen, müssen dazu auch diejenigen ihren Beitrag leisten,
welche kinderlos geblieben sind, aber von den Erziehungsleistungen von Eltern profitieren.<br />
Auf diese Weise könnte erreicht werden, daß mehr Frauen und Männer als<br />
heute gerne Eltern werden.<br />
Auch wenn durch einen solchen Familienlasten- und -leistungsausgleich eine Wende<br />
im generativen Verhalten erreicht werden könnte, würde es allerdings mehr als 20<br />
Jahre dauern, bis es das Erwerbspotential tangiert. Auch wäre die bis dahin eingetretene<br />
Bevölkerungsabnahme damit noch nicht rückgängig gemacht.<br />
Es sollte aber vermieden werden können, daß in 50 Jahren ein Viertel oder mehr der<br />
Bevölkerung durch weitere Zuwanderung aus Ausländern oder Abkömmlingen von<br />
Ausländern, in den Ballungsgebieten wohl die Hälfte, besteht. Die ohnehin zu erwartende<br />
große Zunahme wird schon genug Integrations- und Assimilationskräfte erfordern<br />
und eine der wichtigsten Herausforderungen der Gesellschaft mit hohem finanziellen<br />
Aufwand bedeuten.<br />
Sollen die Beitragssätze und Steuerverpflichtungen der Verdiener nicht unerträglich<br />
steigen und (oder) die Versorgungsleistungen für die Älteren nicht unvertretbar sinken,<br />
ergibt sich im Hinblick auf das nach 2010 mit Gewißheit sinkende Erwerbspotential<br />
die Notwendigkeit, die Lebensarbeitszeit auszudehnen. Durch Ausbau der<br />
außerschulischen Kinderbetreuung müßte außerdem erreicht werden, für mehr Frauen<br />
Einkommensmöglichkeiten zu schaffen, die über wenige Wochenstunden, wie<br />
heute, hinausgehen.<br />
Wichtigstes Nahziel müßte Vollbeschäftigung sein mit Rücknahme der meisten<br />
Vorruhestandsregelungen. Zuwanderung macht nur dann Sinn, wenn sie nicht zu<br />
neuer und damit noch größerer Arbeitslosigkeit führt. Ein höherer Beschäftigungsstand<br />
wird allerdings nur zu erreichen sein, wenn mehr Leistung geboten wird und<br />
bei Jung und Alt mehr Bescheidenheit Platz greift. Im Ganzen wird es bei der bevorstehenden<br />
Bewährungsprobe sehr auf mehr Solidarität ankommen; Solidarität zwischen<br />
Jung und Alt, Solidarität mit den Familien und Solidarität zwischen Einheimischen<br />
und Zuwanderern.<br />
Anmerkungen<br />
1) Nach Max Wingen in dem Beitrag „Elternschaft“. In: Werte – Leitbilder – Tugenden (zur<br />
Erneuerung politischer Kultur). Studien zur politischen Bildung, Band 8 (hrsg. von K. Weigelt),<br />
Mainz 1985: 403.<br />
2) Siehe insbesondere Bundestagsdrucksache 13/11460 vom 05.10.1998 mit 455 Seiten.<br />
3) Hierzu und zum Folgenden siehe insbesondere: Statistisches Bundesamt. Bevölkerungsentwicklung<br />
Deutschlands bis zum Jahr 2050, Wiesbaden 2000.<br />
4) Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland<br />
2000: 99f.<br />
5) Darauf hat immer wieder M. Wingen hingewiesen. Immer noch aktuell ist sein Beitrag<br />
„Population education als bevölkerungspolitische Aufgabe“. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft<br />
3-4/1980: 273f.<br />
Prof. Dr. Karl Schwarz war Abteilungsleiter im Statistischen Bundesamt und<br />
Direktor im Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.<br />
347
348<br />
Frank Loges / Lothar Susok<br />
Basel II und die Kirchen<br />
Die neuen Baseler Eigenkapitalkriterien („Basel II“), die ab Ende 2006 für den<br />
europäischen Raum gelten sollen, sorgen seit einiger Zeit für Unruhe, zunächst<br />
im Mittelstand, inzwischen aber auch in der Freien Wohlfahrtspflege und in den<br />
Kirchen. Mit den neuen Kriterien wird die Unterlegung von Krediten mit Eigenkapital<br />
bei den kreditausreichenden Banken stärker als bisher von der individuellen<br />
Bonität der Kreditnehmer abhängig gemacht. Die Bonität wird im Rahmen<br />
eines so genannten „Ratings“, also einem Verfahren zur Bewertung des Unternehmens<br />
durch eine Bank oder Ratingagentur, festgestellt. Angestrebt wird eine<br />
ganzheitliche und stärker zukunftsorientierte Unternehmensbeurteilung, „hard<br />
facts“ sollen durch „soft facts“ ergänzt werden. Die Bonitätsprüfung soll so<br />
gleichzeitig von personellen bzw. willkürlichen Einflüssen befreit und objektiviert<br />
werden. Folge ist eine deutliche Steigerung der Informationsanforderungen<br />
an Kreditgeber und Kreditnehmer in kurzen zeitlichen Abständen. Die Banken<br />
müssen verfeinerte Meß- und Steuerungsverfahren entwickeln. Sie werden ihre<br />
Risikodifferenzierung und Risikoselektion bei den Kunden verschärfen.<br />
In der Konsequenz bedeutet dies, daß Kredite - unbeschadet anderer bestimmender<br />
Faktoren auf den Kapitalmärkten - teurer oder billiger werden, je nachdem<br />
wie günstig oder ungünstig das Rating, das selbstverständlich auch mit Kosten<br />
verbunden ist, für den Kreditnehmer ausfällt. Pauschalisierungen sind also unangebracht.<br />
Allerdings gewinnt die Frage nach dem Rating einen hohen Stellenwert.<br />
Für die Kirchen stellt sich die Frage, ob die zulässigen und angewandten<br />
Ratingverfahren dem besonderen Charakter kirchlicher Einrichtungen und Dienste<br />
gerecht werden. Zu fragen ist ferner, welche Gruppen von Kreditnehmern<br />
von welchen Auswirkungen betroffen sein werden und welche Auswirkungen<br />
auf die Kirchen zukommen.<br />
Rating wird in Zukunft die Basis für Verhandlungen mit Kapitalgebern bilden.<br />
Die Kirchen, zumindest aber ein Teil der kirchlichen Träger, stehen daher vor<br />
der Aufgabe, im Hinblick auf die neuen Kapitalmarktbedingungen optimale<br />
Ratingvorbereitungen zu treffen. So fremd der Gedanke zunächst sein mag: Kirchen<br />
treten auf dem Kapitalmarkt als Kreditnehmer auf und sehen sich in dieser<br />
Eigenschaft intensiver als bisher einer Sichtweise ausgesetzt, die sie wie andere<br />
Kreditnehmer, also z. B. Wirtschaftsunternehmen, behandelt und insofern ihre<br />
besondere Bedeutung als Glaubensgemeinschaft mit hoher gesellschaftlicher<br />
Bedeutung schlicht vernachlässigt. Sie werden daher wie andere Kreditnehmer<br />
darauf bedacht sein mü ssen, das Vertrauen in ihre Bonität zu sichern und zu<br />
steigern. Mit den neuen Spielregeln auf dem Kapitalmarkt ist eine deutliche<br />
Steigerung der Transparenzanforderungen verbunden - für Wirtschaftsunternehmen,<br />
aber eben auch für die Kirchen. Was früher als selbstverständlich galt -<br />
eben Vertrauen in kirchliche Bonität -, gilt heute unter veränderten Bedingungen
keineswegs mehr. Die Kirchen werden vermutlich nicht umhinkommen, sich auf<br />
neue Sichtweisen und Bedingungen umzustellen.<br />
Ohne Vorbereitungen auf die neue Entwicklung ist zu befürchten, daß die Kirchen<br />
mit ihren Untergliederungen und Verbänden als Kreditnehmer vor erschwerten<br />
Bedingungen stehen, wenn es ihnen nicht gelingt, für ihre Aktivitäten,<br />
vor allem in Caritas und Kultur, günstige Kreditbedingungen zu erhalten. Gleiches<br />
gilt für die werteorientierte Sozialarbeit. Da aber insbesondere caritative<br />
bzw. diakonische Dienste und entsprechend genutzte kirchliche Immobilien in<br />
der Kreditwirtschaft generell als weniger gute Risiken gelten, ist nach Basel II<br />
eine Entwicklung zu befürchten, daß die Kirchen und mit ihnen die Freie Wohlfahrtspflege<br />
von erhöhten Kreditkosten ausgehen müssen. Daraus könnten sich<br />
schließlich Risiken für kirchliche und freigemeinnützige Aktivitäten und Investitionsentscheidungen<br />
ergeben.<br />
Von Basel I zu Basel II - Neue Spielregeln für den Kapitalmarkt<br />
1988 veröffentlichte der Baseler Ausschuß für Bankenaufsicht, ein Gremium der<br />
Zentralbanken und der Bankenaufsichtsinstanzen der wichtigsten Industrieländer<br />
(„G-10-Länder“), die seither geltenden Eigenkapitalvereinbarungen für Banken<br />
(„Basel I-Accord“). Die von ihm erlassenen Richtlinien dienen in der Regel als<br />
Grundlage für die Gesetzgebung der Europäischen Union und gehen in die nationale<br />
Gesetzgebung ein. In über 100 Ländern wurde dieser Accord in nationales<br />
Recht umgesetzt. Der Ausschuß ist also von unübersehbarer nationaler, supranationaler<br />
und internationaler Bedeutung. Ziel von Basel I war die Harmonisierung<br />
der rechtlichen Grundlagen für die Bankenaufsicht und die Festlegung international<br />
anerkannter Regelungen für die Eigenkapitalvorschriften für Banken. Dadurch<br />
entstanden gleiche internationale Wettbewerbstandards für die Kreditwirtschaft.<br />
Im Januar 2001 stellte er einen Vorschlag zur Änderung der internationalen<br />
Eigenkapitalregelung vor. Der Entwurf wurde unter der Bezeichnung „Basel II“<br />
bekannt. Der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages führte hierzu 2002<br />
eine Anhörung durch. Nach dem derzeitigen Zeitplan soll der neue Accord -<br />
nach diversen Ve rschiebungen - voraussichtlich Ende 2003 verabschiedet und<br />
publiziert werden und seine Bestimmungen ab Ende 2006 – nach kurzer paralleler<br />
Gültigkeit von Basel I und II - in mehr als 100 Ländern in nationales Recht<br />
umgesetzt werden. Aber große, zentral organisierte Banken verfügen über Informations-<br />
und Technikvorsprünge gegenüber kleinen, dezentralen Banken (z.<br />
B. Volks- und Raiffeisenbanken, Sparkassen), die wohl ihre dezentralen Strukturen<br />
im Hinblick auf Basel II reformieren werden. Sollten nicht alle Banken bis<br />
2006 Ratings durchführen können, wäre eine weitere Terminverschiebung die<br />
Folge.<br />
Seit dem Basel-I-Accord im Jahr 1988 müssen Kreditinstitute für jeden Kredit<br />
pauschal 8 v. H. der Kreditsumme als Eigenkapital hinterlegen, und zwar unabhängig<br />
vom tatsächlichen Risiko. Mit dem Basel-II-Accord soll sich die Höhe<br />
des Eigenkapitals der Kreditinstitute stärker an den individuellen Kreditrisiken<br />
349
sowie den operationellen Risiken der Bank orientieren. Neben diesen weitreichenden<br />
Konsequenzen für die Mindestkapitalanforderungen werden auch höhere<br />
Anforderungen an das Risikomanagement und die Offenlegungsvorschriften<br />
gerichtet. Banken mit niedrigen Kreditrisiken bzw. operationellen Risiken werden<br />
zukünftig auch eine niedrigere Eigenkapital-Unterlegung vorhalten müssen<br />
und umgekehrt. Das Eigenkapitalproblem der Banken und das Fremdkapitalproblem<br />
der Kreditnehmer werden durch Basel II noch stärker miteinander verknüpft.<br />
Die Zielsetzung der Basel-II-Kriterien, im Zeichen der Mega-Trends Globalisierung,<br />
Liberalisierung und Deregulierung zeitgemäße, einheitliche Spielregeln für<br />
einen fairen Wettbewerb, angemessene Kontrollmechanismen für den Markt der<br />
Finanzdienstleistungen zu schaffen und die Sicherheit auf den Kapitalmärkten zu<br />
erhöhen, ist positiv zu bewerten. Jedoch müssen die Auswirkungen bedacht<br />
werden, insbesondere die zahlreichen, primär indirekten Risiken einer möglichen<br />
Verteuerung von Krediten bis hin zur denkbaren Kündigung der Zusammenarbeit<br />
mit einem Betrieb bei kontinuierlich schlechtem Rating. Nicht wünschenswert<br />
wären ordnungspolitische Auswirkungen, weil z. B. junge Unternehmen mit<br />
dünner Eigenkapitaldecke und vergleichsweise hohem Fremdkapitalbedarf, also<br />
typisch mittelständische Existenzgründungen, generell als riskant eingestuft<br />
werden, dadurch möglicherweise Innovationen - dazu noch unter den Bedingungen<br />
einer demographisch stark alternden Bevölkerung in einem Land mit geringen<br />
Rohstoffreserven - entfallen und Beschäftigungschancen durch Existenzneugründungen<br />
in Zeiten stagnierenden Arbeitsvolumens, hoher Arbeitslosigkeit<br />
und niedriger Wachstumsraten ungenutzt bleiben.<br />
Ebenso wenig wünschenswert wären negative gesellschaftspolitische Effekte, z.<br />
B. weil dringend erforderliche Finanzierungen von Sozialimmobilien, z. B. im<br />
Gesundheits- und Pflegebereich, wegen verschlechterter Kapitalmarktbedingungen<br />
unterblieben.<br />
Derartige Effekte werden nach dem neuesten Stand der Basel-II-Kriterien keineswegs<br />
zwangsläufig eintreten. Schließlich wurden im Juli 2002 auf Initiative<br />
der deutschen Delegation Sonderregelungen für die Eigenkapitalunterlegung bei<br />
der Kreditvergabe an kleine Unternehmen beschlossen, die vermutlich die Probleme<br />
reduzieren werden. Letztlich muß abgewartet werden, ob die denkbaren<br />
negativen Effekte für Kirchen, Sozialwirtschaft und Mittelstand wirklich verhindert<br />
wurden. Das gemeinsame Interesse muß darauf gerichtet bleiben, daß Basel<br />
II über Politik und Kreditwirtschaft hinaus zu einem größtmöglichen Nutzen für<br />
alle Beteiligten führt.<br />
350<br />
Kirchen als Kreditnehmer<br />
Der Verkündigungsauftrag der Kirchen reicht von pastoralen Aufgaben über<br />
kulturelle und pädagogische Aktivitäten sowie missionarische und entwicklungspolitische<br />
Aktivitäten bis hin zu caritativem bzw. diakonischem Engagement<br />
und ist weltumspannend. Wenn die katholische Kirche von einem dreifachen<br />
Glaubensvollzug - Liturgie, Caritas und Mission - spricht, benötigt sie hier-
für nicht nur Personal mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen, sondern auch<br />
Gebäude mit sehr unterschiedlicher Funktion. Baumaßnahmen, vom Neubau<br />
über Renovierungen bis hin zu Änderungen der Funktionalität, müssen finanziert<br />
werden. Mit anderen Worten: Die Kirchen benötigen zur Wahrnehmung ihrer<br />
Aufgaben und zu deren Finanzierung dringend Kapital, auch Fremdkapital. Aus<br />
dem Bau und Unterhalt solcher Bauten erwachsen den Kirchen erhebliche finanzielle<br />
Lasten, u. a. für den Kapitaldienst.<br />
Kirchen treten als Kreditnehmer juristisch gesehen in unterschiedlicher Eigenschaft<br />
auf, teils handelt es sich um Körperschaften öffentlichen Rechts, teils um<br />
Körperschaften privaten Rechts. Ob die Schuldnersystematik nach Basel II den<br />
verschiedenartigen Rechtstatus kirchlicher Träger bei der Ermittlung der Risikogewichtung<br />
adäquat erfaßt, bleibt abzuwarten.<br />
In der Diskussion um diese Fragen weisen die Kirchen - keineswegs zu Unrecht -<br />
auf nachfolgende Sachverhalte hin. Kirchliche Körperschaften öffentlichen<br />
Rechts verfügen, soweit sie ein verfassungsrechtlich garantiertes Steuererhebungsrecht<br />
haben, über stete Einnahmen. Sie sind insofern insolvenzunfähig.<br />
Faktisch stellt sich das Bonitätsproblem bei derartigen kirchlichen Trägern nicht.<br />
Kredite an diese Körperschaften wurden vor Inkrafttreten des Europarechts wie<br />
Kredite an staatliche Körperschaften behandelt (Risikogewichtungssatz 0 v.H.).<br />
Die derzeitige, durch europäisches Bankenrecht veranlaßte Gewichtung von 20<br />
v.H. würdigt grundsätzlich die besondere Bonität der Kirchen in Deutschland.<br />
Aus ihrer Sicht würde der mit einem Rating verbundene Aufwand zu wenig<br />
neuen Erkenntnissen über die Risikogewichtung, aber zu großen finanziellen und<br />
organisatorischen Belastungen führen.<br />
Kirchliche Körperschaften privaten Rechts haben ebenfalls im Vergleich zu den<br />
Baseler Schuldnerkategorien eine geringere Ausfallwahrscheinlichkeit. Sie sehen<br />
sich mit der gegebenen und vorgesehenen Risikogewichtung von 100 v. H. nicht<br />
risikogerecht eingeordnet. Mit Hilfe des bankinternen Ratings könnten sie ihre<br />
Gewichtung individuell verbessern unter der Voraussetzung, daß das Rating ihre<br />
Besonderheiten berücksichtigt. Auf gewerbliche Betriebe ausgerichtete<br />
Ratingverfahren leisten dies jedenfalls nicht.<br />
Gemeinnützige kirchlich-soziale Dienste als Kreditnehmer<br />
Wenn es speziell um den caritativen bzw. diakonis chen Auftrag der Kirchen<br />
geht, so stellt sich in diesem Kontext die Frage nach den spezifischen Kreditbedingungen<br />
für caritative bzw. diakonische Träger, wie z. B. Trägern von Krankenhäusern<br />
oder Trägergesellschaften.<br />
Dabei ist die volkswirtschaftliche Bedeutung der freien Wohlfahrtspflege, deren<br />
Schwerpunkt die kirchlichen sozialen Dienste sind, zu würdigen, wie sie die<br />
nachfolgenden Zahlen eindrucksvoll belegt. Zu ihnen gehören 93.566 Einrichtungen<br />
und Dienste, davon 1.227 Krankenhäuser, 6.440 stationäre Altenwohn-<br />
und Pflegeeinrichtungen, 5.263 Einrichtungen für Behinderte (Wohnen, Ausbildung<br />
und Beschäftigung) und 3.827 stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe. In<br />
diesen Diensten sind fast 1,2 Mio. Menschen beschäftigt. Die Bruttowertschöp-<br />
351
fung dieser Dienste beträgt ca. 46 Mrd. €. Dies entspricht einem Anteil von 1,9<br />
v. H. des Bruttoinlandproduktes.<br />
Mit der Ökonomisierung sozialer Dienste, also Caritas und Diakonie, wurde in<br />
den letzten Jahrzehnten die Landschaft sozialer Dienste völlig verändert. Auch<br />
die kirchlichen Sozialdienste gerieten unter erheblichen Druck. Möglicherweise<br />
sind die kirchlichen Krankenhäuser in einer als dramatisch zu bezeichnenden<br />
Änderung der Krankenhauslandschaft das eindrucksvollste Beispiel dafür. Innerhalb<br />
eines Jahrzehnts zeigen sich Angebotsstruktur, Trägerstruktur, Management,<br />
Personal etc. völlig verändert. Kirchliche Krankenhäuser dokumentieren<br />
damit ein bemerkenswertes Maß an Flexibilität. Sie wollen durch gezieltes Ve ränderungsmanagement<br />
auch in Zukunft ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten.<br />
Caritas und Diakonie müssen seit geraumer Zeit als Organisationen verstärkt wie<br />
Wirtschaftsunternehmen operieren. Der einst oligopolistisch strukturierte Wettbewerb<br />
ist in weiten Bereichen sozialer Dienste einem intensiven, weit gefächerten<br />
Wettbewerb gewichen. Verstärkt ist von „Sozialwirtschaft“ die Rede, während<br />
früher ausschließlich vom „Non-profit-Bereich“ gesprochen wurde. Die<br />
auch heute noch als „intermediärer Sektor“ und als „5. Säule des Sozialstaats“<br />
bezeichneten (gemeinnützigen) Verbände der freien Wohlfahrtspflege gelten als<br />
zunehmend wettbewerbsorientiert. Einst als „Nicht-Markt-Ökonomie“ eher eine<br />
Gegenstruktur zur gewerblichen Wirtschaft bildend, hat ein Prozeß der Konvergenz<br />
zwischen gewerblichen und gemeinnützigen Trägern eingesetzt. Gerade die<br />
kirchlichen Dienste sind durch die Anpassung an den Markt und Anerkennung<br />
von Markt und Konkurrenz als zentrale Leitbilder in Gefahr geraten, ihre ethischen<br />
Grundlagen zu verlieren. Ob die Leitbildprozesse diese Entwicklung wirklich<br />
korrigieren können, muß abgewartet werden. Die Konsequenzen aus Basel II<br />
dürften den Trend zur Ökonomisierung verstärken.<br />
Im Gegensatz zum Ausland jedoch, wo etwa in Frankreich von „economie sociale“<br />
die Rede ist und insofern von einer in die Marktwirtschaft integrierten Sozialwirtschaft<br />
ausgegangen wird, bestehen in Deutschland immer noch, wenn auch<br />
mit abnehmender Tendenz, deutliche Unterschiede zwischen gewerblichen und<br />
gemeinnützigen Sozialbetrieben, sowohl betreffend Angebotsstruktur, Finanzierung,<br />
Management und Organisation, aber auch in unternehmensrechtlicher,<br />
steuer- und arbeitsrechtlicher Sicht.<br />
Es ist richtig, daß viele junge gewerbliche Wettbewerber - oft mangels ausreichenden<br />
Eigenkapitals - schnell von Insolvenzen (z. B. bei den Pflegediensten)<br />
getroffen sind. Aber auch das bisherige flächendeckende Netz kirchlicher sozialer<br />
Dienste und deren Werte stehen zunehmend zur Disposition. Flexibilisierung<br />
und Deregulierung als Perspektive werden erörtert. Die Frage der Schließung<br />
von kirchlichen Einrichtungen steht ebenso auf der Tagesordnung wie der Abbau<br />
von Personal (z. B. Schließung kirchlicher Krankenhäuser und Einrichtungen).<br />
Die tarifrechtliche Orientierung am BAT wird wohl nicht auf Dauer bestehen<br />
bleiben können. Die Doerfert-Affäre im Bistum Trier wie auch die Finanzlage<br />
des angeschlagenen Deutschen Ordens haben offengelegt, daß auch kirchliche<br />
Träger Vorgänge, wie sie in dieser Form bestenfalls bei gewerblichen Wettbe-<br />
352
werbern vorstellbar schienen, nicht gänzlich ausschließen können und Vertrauen<br />
in kirchliche Träger Schaden nehmen kann.<br />
Die Sicherung eines unterscheidbaren Profils gemeinnütziger und speziell kirchlicher<br />
Träger gegenüber gewerblichen Betrieben wird zur dringenden Aufgabe,<br />
steht aber in offensichtlicher Spannung zu den Ökonomisierungstendenzen, zur<br />
abnehmenden Bedeutung des Solidaritätsgedankens (und damit des Gebotes der<br />
Nächstenliebe) in der zunehmend individualisierten Gesellschaft sowie zum<br />
Niedergang des Sozialstaates. Besonders die Kirchen werden eher als andere mit<br />
den Spannungen und Widersprüchen konfrontiert, etwa wenn es um die Spannung<br />
zwischen kirchlichem Anspruch und (betriebs-)wirtschaftlichen Entscheidungen<br />
geht. Gerade das von kirchlichen Arbeitgebern angeführte Argument<br />
eines „Leistungsplus“ im Sinne eines besonderen kirchlich-sozialen Engagements<br />
des Personals wird als Ressource in Frage gestellt, wenn<br />
betriebswirtschaftliche Argumente die eigentliche Entscheidungsgrundlage<br />
bilden (z. B. bei Outsourcing, Kündigungen) und nicht-marktfähige Aufgaben,<br />
möglicherweise kirchlich sehr gewichtige, aufgegeben werden oder in den<br />
Hintergrund treten.<br />
Auf diesem Hintergrund müssen die Sorgen der Kirchen und der Verbände der<br />
Freien Wohlfahrtspflege im Hinblick auf die geplanten Veränderungen des Kapitalmarktes<br />
durch Basel II sehr ernst genommen werden, auch weil viele Menschen<br />
auf diese Dienste angewiesen sind. Die beschäftigungs- und versorgungspolitischen<br />
Konsequenzen eventuell verschlechterter Kapitalmarktbedingungen<br />
für die Kirchen und Verbände der Freien Wohlfahrtspflege liegen auf der Hand.<br />
Zu berücksichtigen ist u. a., daß die gemeinnützigen sozialen Dienste besonderen<br />
gesetzlichen Vorschriften unterliegen, die ihre Bonität beeinträchtigen und in der<br />
Konsequenz ihr Rating verschlechtern. Sie dürfen laut Abgabenordnung (AO) z.<br />
B. nur eingeschränkt Gewinne erwirtschaften und diese auch nur gemeinnützig<br />
verwenden, sie dürfen nur eingeschränkt Eigenkapital bilden und leiden daher<br />
unter einer chronisch dünnen Eigenkapitaldecke. Die Forderungen der sozialen<br />
Dienste gegenüber Staat und übrigen Sozialleistungsträgern (einschließlich Sozialversicherungen)<br />
für erbrachte Leistungen werden als Sicherheiten von den<br />
Basel II-Kriterien nicht berücksichtigt.<br />
Sollte Basel II den besonderen Bedingungen der freien Wohlfahrtspflege nicht<br />
Rechnung tragen, könnte dies ernste sozialpolitische Konsequenzen haben. Zusätzliche<br />
finanzielle Belastungen kämen auf die gemeinnützigen Anbieter zu,<br />
eine marktverzerrende Benachteiligung der gemeinnützigen Träger, die in hohem<br />
Maß auf Kreditfinanzierungen angewiesen sind, würde eintreten, die erforderliche<br />
Modernisierung und der absehbar notwendige Ausbau der Sozial-, Gesundheits-<br />
und Bildungsinfrastruktur in Deutschland käme ins Stocken. Das Wachstumspotential<br />
des Sozial- und Gesundheitssektors von ca. 1,5 bis 2,5 v. H. ließe<br />
sich nicht voll realisieren.<br />
Die besondere Bedeutung sog. „Sozialimmobilien“<br />
Wenn es um die Besicherung von Fremdkapital geht, rücken die sog. „Sozialimmobilien“<br />
(z. B. Krankenhäuser, Altenheime, Kindergärten, Schulgebäude) in<br />
353
den Mittelpunkt des Interesses. Gerade die Kirchen mit ihrem besonderen caritativen<br />
und kulturellen Engagement und die gemeinnützigen Sozialverbände verfügen<br />
über einen großen Immobilienbestand, der insofern eine besondere Relevanz<br />
als Sicherheit für Kredite erhält. Grundsätzlich ist festzustellen, daß Kredite,<br />
die vielfach mit Grundpfandrechten auf Immobilien innerhalb eines vorgegebenen<br />
Beleihungsrahmens besichert sind, nach dem in Deutschland geltenden<br />
Grundsatz I als „Realkredite“ ausgewiesen werden. Mit diesem Realkreditausweis<br />
ist eine verminderte Eigenkapitalanrechnung verbunden. Dies hat geringere<br />
Kreditkosten für die Banken und einen niedrigeren Kreditzins für die Kreditnehmer<br />
zur Folge.<br />
Im Rahmen von Basel II wurde zwar diese deutsche Realkreditregelung übernommen,<br />
jedoch mit erheblichen Einschränkungen. Spezielle Arten gewerblicher<br />
Immobiliendarlehen, zu denen auch die Finanzierung von Sozialimmobilien<br />
gerechnet wird, kommen für die bevorzugte Behandlung nicht in Frage. So wurde<br />
nach I (b) 4 der Baseler Kriterien bestimmte Finanzierungsarten als „spekulativ<br />
oder stark risikobehaftet betrachtet und sind deshalb auf jeden Fall von der<br />
Möglichkeit einer bevorzugten Behandlung ausgeschlossen“. Dazu gehören<br />
Darlehen, die durch Spezialimmobilien besichert sind (z. B. religiöse Zentren,<br />
Produktionsgebäude, Hotels), Immobilien mit dem Erfordernis einer Konzession<br />
(z. B. Alten- und Pflegeheime, Privatkliniken und Sanatorien) oder Immobilien,<br />
bei denen der Darlehensnehmer oder ein mit ihm verbundener Dritter ein wichtiger<br />
Mieter ist. Sollten diese Kriterien Anwendung finden, wäre in Zukunft die<br />
Berücksichtigung von Sozialimmobilien bei Realkreditausweisen, im Gegensatz<br />
etwa zu Büro- und Ve rwaltungsgebäuden, ausgeschlossen. Das wäre weder von<br />
der Sache her einsichtig noch von den gesellschaftspolitischen Konsequenzen<br />
her akzeptabel.<br />
Nun hat sich die FAZ (v. 19.10.2001) in ihrem Wirtschaftsteil mit der besonderen<br />
Problematik von Sozialimmobilien im Rahmen der Pflege und Betreuung<br />
Hilfebedürftiger, insbesondere Senioren, beschäftigt, die vordergründig die Notwendigkeit<br />
der oben genannten Regelung bestätigen könnten. Der Markt werde<br />
von Insolvenzen und Konkursen heimgesucht. „Kleeblatt“ habe die Mieten nicht<br />
mehr erwirtschaften, „Rentaco“ die hochpreisigen Einrichtungen nicht auslasten<br />
können, „KBN“ habe unter zu hohen Mieten gelitten und „Refugium“ an zu<br />
hohen Immobilienpreisen und einer konzeptionslosen Expansionsstrategie. Folge<br />
seien hohe Wertberichtigungen für die Kapitalgeber gewesen.<br />
Unübersehbar ist: Hier handelt es sich um gewerbliche Investoren im Sozialmarkt,<br />
aber nicht um kirchliche Träger öffentlichen oder privaten Rechts. Gleichzeitig<br />
geht es um spezifische Marktprobleme, betriebswirtschaftliche Fehleinschätzungen<br />
oder Managementfehler, wie sie auch in anderen Sektoren vorkommen.<br />
Hieraus aber generelle Probleme von Sozialimmobilien oder gar ein erhöhtes<br />
Kreditrisiko für soziale Dienste und kirchliche Einrichtungen ableiten zu<br />
wollen, stellt eine dramatische Überzeichnung der tatsächlichen Sachlage dar.<br />
Gewerbliche Altenwohnheime von Investoren sind auch als Kreditrisiken anders<br />
zu bewerten als kirchliche Krankenhäuser oder Werkstätten für Behinderte. Der<br />
Wohlfahrtsbereich stellt kein „Klumpenrisiko“ dar, sondern muß so differenziert<br />
354
etrachtet und bewertet werden, wie er sich in der Realität darstellt. Die genannten<br />
Einschränkungen bei der Vorzugsbehandlung von Realkrediten im Hinblick<br />
auf Sozialimmobilien sind - so pauschal, wie sie zuletzt vorgenommen wurden -<br />
ungerechtfertigt.<br />
Die Sorge vor eingeschränkten Vermietungs- und Verwertungsmöglichkeiten im<br />
Fall der zwangsweisen Verwertung (sog. eingeschränkte Drittverwertungsmö glichkeit)<br />
im Fall kirchlicher bzw. gemeinnütziger Träger ist also nicht belegt. Im<br />
Gegenteil konnten Sozialimmobilien, teilweise selbst Kirchen, für neue Zwecke<br />
umgebaut bzw. umgewidmet werden. Z. B. können Altenheime in Studentenwohnheime,<br />
kleinere Krankenhäuser, wie sie für die Kirchen typisch sind, in<br />
Altenwohnheime umgewandelt oder selbst für gewerbliche Zwecke genutzt werden.<br />
Daß die Verwertung von Sozialimmobilien höhere Ausfallrisiken in sich<br />
birgt, kann jedenfalls von den im Bereich der Sozialwirtschaft tätigen Banken<br />
nicht bestätigt werden, im Gegenteil weisen sie geringere Ausfallrisiken aus.<br />
Bei näherem Hinsehen stellt sich die skizzierte Entwicklung als mögliches versorgungspolitisches<br />
Problem der Zukunft dar. Nach Berechnungen der FAZ<br />
werden bis 2030 allein im Pflegebereich zusätzlich ca. 700.000 Betten benötigt,<br />
ca. 7.400 Pflegeeinrichtungen müssen neu gebaut werden. Hinzu kommt die<br />
Ersatzbeschaffung für ca. 100.000 bis 150.000 Betten, die wegen unzumutbarer<br />
Verhältnisse schon heute ersetzt werden müßten. Die Kosten werden auf ca. 3,3<br />
Mrd. DM bzw. 1,69 Mrd. € geschätzt. Bis 2010 wird mit einem zusätzlichen<br />
Bedarf von 10.000 Plätzen in Werkstätten für Behinderte und 20.000 Wohnheimplätzen<br />
für Behinderte gerechnet. Die Kosten hierfür werden auf 3 Mrd. €<br />
geschätzt. Weit höher liegen die Schätzungen für den Investitionsstau im Krankenhausbereich,<br />
teilweise gehen diese Schätzungen bis 50 Mrd. €.<br />
Die hier skizzierten Folgen einer Verteuerung von Sozialimmobilien infolge<br />
veränderter Kapitalmarktbedingungen durch Basel II verdeutlichen die Gefahr<br />
von Wettbewerbsnachteilen und Beeinträchtigungen für Einrichtungen und Dienste<br />
der Kirchen und freien Wohlfahrtspflege, wie z. B. Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen,<br />
Seniorenwohn- und -pflegeeinrichtungen, Werkstätten und<br />
Wohneinrichtungen für Behinderte, Einrichtungen der Erziehungshilfe, Kindertageseinrichtungen<br />
sowie Bildungseinrichtungen. Das Rating nach Basel II wird<br />
darüber entscheiden, ob ein Kredit vergeben wird, welches Kreditlimit gezogen<br />
wird und wie teuer der Kredit wird. Die Sorge, daß die Finanzierungskosten für<br />
sozialwirtschaftliche Unternehmen und Kirchen, die nicht nur im Krankenhaussektor<br />
verstärkt auf Kapitalmarktmittel angewiesen sind, in Zukunft steigen werden,<br />
ist berechtigt. Besonders brisant sind die Auswirkungen für das Investitionskostenvolumen<br />
für vollstationäre Pflegeeinrichtungen. Dies gilt sowohl für<br />
Neuinvestitionen wie auch für die Modernisierung und den Ersatzneubau.<br />
Nach derzeitigem Stand ist es denkbar, daß die Umsetzung der Baseler Eigenkapitalübereinkunft<br />
zu einer Belastung für die öffentlichen Haushalte führen kann.<br />
Z. B. werden für die Ausgaben nach §39 BSHG (Eingliederungshilfe für Behinderte)<br />
und nach §72 BSHG (Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer<br />
Schwierigkeiten) pro Jahr ca. 1 Mrd. € aufgewendet. Für den Fall des unveränderten<br />
Inkrafttretens der geplanten Regelungen ist mit Mehraufwendungen in<br />
355
diesen Leistungsbereichen in Höhe von 2,5 Mrd € beim überörtlichen Sozialhilfeträger<br />
zu rechnen.<br />
Bund und Länder haben jedoch in ihrer Finanzplanung die Reduzierung der<br />
staatlichen Förderung hierfür vorgesehen. Die Konsequenz könnte sein, daß die<br />
benötigten Sozialimmobilien entweder von nicht-staatlichen Trägern, gewerblich<br />
oder gemeinnützig, unter erschwerten Kreditmarktbedingungen finanziert werden<br />
mü ssen. Dann würde eine verringerte staatliche Förderung vermutlich einen<br />
erhöhten Bedarf an Fremdkapital nach sich ziehen oder Träger zwingen, auf<br />
öffentliche Mittel zu verzichten. Die Alternative wäre ein dramatisches Defizit<br />
an Pflegebetten. Bisher schon bietet das Engagement von Banken bei der Finanzierung<br />
gewerblicher Sozialunternehmen eher ein uneinheitliches Bild. Die<br />
Hoffnung auf gewerbliche Investoren bei der Problemlösung scheint nicht allzu<br />
begründet. Sollten noch verschlechterte Kapitalmarktbedingungen hinzukommen,<br />
werden auch gemeinnützige Träger kaum einspringen können. Eine Fehlsteuerung<br />
wäre gegeben, wenn Mittel, die doch eigentlich in größtmöglichem<br />
Umfang sozialen Anliegen zugute kommen sollten, infolge der veränderten Kreditbedingungen<br />
verstärkt bei den Banken und ihren Aktionären ankommen sollten.<br />
Dem Staat, der seine Tätigkeit im sozialen Sektor beschränken will oder<br />
muß, kann die Frage nach den Kapitalmarktbedingungen für Sozialbetriebe,<br />
gleich ob gewerblich oder gemeinnützig, sowie deren Auswirkungen nicht egal<br />
sein.<br />
356<br />
Basel II als Gestaltungsaufgabe für die Kirchen<br />
Was können die Kirchen unternehmen, um unerwünschte Risiken infolge von<br />
Basel II abzuwenden? Die vorangegangene Analyse verdeutlicht, daß einige<br />
vorgesehene Regelungen Kirchen und gemeinnützige Sozialverbände benachteiligen<br />
sowie zu unerwünschten ordnungs- und gesellschaftspolitischen Konsequenzen<br />
führen könnten. Primär ist also eine Änderung der relevanten Regelungen<br />
anzustreben. Die Forderungen gegenüber der öffentlichen Hand und den<br />
sozialpolitischen Parafisci müssen als Sicherheiten im Sinne von Basel II anerkannt<br />
werden können. Sozialimmobilien dürfen nicht schlechter gestellt sein als<br />
Büro- und Ve rwaltungsgebäude. Ratingverfahren zur Beurteilung gewerblicher<br />
Kreditnehmer dürfen nicht auf Kirchen und gemeinnützige Sozialverbände angewandt<br />
werden. Branchenspezifische Ratings, wie sie z. B. die Bank für Sozialwirtschaft<br />
für die sozialen Dienste entwickelt, müssen zulässig sein. Schließlich<br />
dürfen längere Kreditlaufzeiten, wie sie gerade bei den Kirchen und der<br />
Sozialwirtschaft üblich sind, nicht zu Aufschlägen führen.<br />
Doch die Annahme, daß die Kirchen bei Erfüllung dieser Forderungen von Veränderungen<br />
verschont blieben und alles beim alten bleiben könnte, ist Illusion.<br />
Viele kirchliche Träger werden um ein Rating und damit um die Prüfung ihrer<br />
Kreditwürdigkeit nicht umhinkommen. Längerfristig dürfte es dabei im sozialwirtschaftlichen<br />
Wettbewerb um eine sichere Positionierung kirchlicher Träger,<br />
in Einzelfällen um das Überleben von Einrichtungen gehen. Die neuen Kapitalmarktbedingungen<br />
sind ein Wettbewerbsfaktor, um den auch die Kirchen und die
Sozialwirtschaft nicht herumkommen werden, wenn sie Fremdkapital aufnehmen<br />
wollen. Weite Bereiche, wie z. B. der Krankenhaussektor, werden einen weiteren<br />
Professionalisierungsschub erfahren, der vom Aufbau eines ausgeprägten Finanzmanagements<br />
mit Informationen über alternative Finanzierungsformen und<br />
dem Aufbau eines Netzwerkes kompetenter, betriebswirtschaftlich bzw. kaufmännisch<br />
geprägter Gesprächs- und Kooperationspartner (Bankenvertreter, Leasinggesellschaften,<br />
Investoren) geprägt sein wird.<br />
Die weitere notwendige Professionalisierung kirchlichen Managements wird sich<br />
nicht auf das hauptamtliche Personal beschränken können. Auch das Ehrenamt<br />
ist einzubeziehen. Beispielsweise werden sich die Anforderungen an kirchliche<br />
Vorstände überall dort, wo es um Finanzierungen mit Fremdkapital geht, weiter<br />
erhöhen, aber vermutlich auch in anderen Bereichen. Das Ehrenamt ändert insofern<br />
zumindest in Teilen seinen Charakter: Gefragt sind nicht allein besondere<br />
Motivationen (Nächstenliebe, Freiwilligkeit etc.), sondern auch zunehmende<br />
Professionalität bei Ehrenamtlichen. Gegenseitiges Vertrauen zwischen Haupt-<br />
und Ehrenamtlichen, aber auch die Sicherung der Entscheidungsfähigkeit in<br />
einem zunehmend schwierigen Sozialmarkt bei den beteiligten Haupt- und Ehrenamtlichen<br />
hängen auch von der gemeinsamen Professionalisierung ab. Wenn<br />
dieser koordinierte Prozeß nicht gewollt und gesteuert würde, könnten Spannungen<br />
zwischen ehrenamtlichen Entscheidungsträgern und professionellem Management<br />
eintreten.<br />
Managementaufgaben werden im kirchlichen Dienst nicht nur von Laien, sondern<br />
vielfach auch von Geistlichen wahrgenommen. Steigende Anforderungen<br />
an das kirchliche Finanzmanagement erhöht somit auch Management- bzw.<br />
Kompetenzanforderungen an Geistliche überall dort, wo sie mit entsprechenden<br />
Entscheidungen über Finanzierungen, mit kaufmännischen Steuerungsinstrumenten<br />
und entsprechenden Strategien befaßt sind. In der Regel wurden sie in ihrem<br />
Theologiestudium nicht oder nur bedingt auf derartige Aufgaben vorbereitet und<br />
müssen sich als Praktiker in diese Aufgaben einarbeiten und auf entsprechenden<br />
Positionen bewähren. Die Personalknappheit infolge des Priestermangels wird<br />
hier weitere Diskussionen und neue Lösungen erzwingen.<br />
Rating erfordert eine größere Transparenz kirchlicher Einrichtungen über ihr<br />
Finanzgebaren, ihre Management etc. Die Kirchen werden gut daran tun, diese<br />
Transparenz offensiv unter Beweis zu stellen. Gleichzeitig erfordert Rating eine<br />
intensive Vorbereitung, auch strategisch, weil ein ungünstiges Ergebnis des Ratings<br />
keinem Kreditnehmer egal sein kann. Die Kirchen werden für die Zukunft<br />
wohl nicht umhin kommen, verstärkt Dienstleistungen von Unternehmensberatungen<br />
zusätzlich zur Kompetenz des eigenen Managements in Anspruch zu<br />
nehmen.<br />
Basel II ist nicht die Ursache für diese Entwicklungen, aber beschleunigt sie wie<br />
ein Katalysator und fokussiert den Blick auf vorhandene sowie zukünftige Probleme,<br />
Spannungen und Herausforderungen. Dies sollte nicht als Gefahr, sondern<br />
als Chance verstanden werden. Die Kirchen werden diese Prozesse erfolgreich<br />
bewältigen können, wenn sie sie konsequent als Gestaltungsaufgabe begreifen<br />
und die erforderlichen Steuerungsprozesse beherzt einleiten.<br />
357
Literaturhinweise<br />
Bank für Sozialwirtschaft: Stellungnahme der Bank für Sozialwirtschaft AG zur öffentlichen<br />
Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages zu Basel II, Berlin 20.<br />
März 2002<br />
Basel II. Neue Vorschriften zur Kreditvergabe, in: Pax-Bank-Note. Informationsdienst der<br />
Pax-Bank 3/2002<br />
Gabot-Spezial: Basel II und Rating, in: http://www.gabot.de/dehne/themen/basel2/ Zugriff<br />
am 14.05.2002<br />
Rödl & Partner (Hrsg.): Fitneß-Programm für den Mittelstand. Wie Sie Ihr Unternehmen<br />
auf ein Rating vorbereiten können, (ohne Ort) 2001<br />
Wambach, Martin/ Wunderlich, Dieter: Rating für den Mittelstand - Über die Zukunft der<br />
Finanzierung mittelständischer Unternehmen. Ein Informationsleitfaden, Nürnberg/Köln<br />
2001<br />
Wambach, Martin/Kirchner, Thomas: Unternehmensrating: Weit reichende Konsequenzen<br />
für mittelständische Unternehmen und für Wirtschaftsprüfer, in: Betriebsberater,<br />
Zeitschrift für Recht und Wirtschaft 57(2002)400 - 405<br />
Sozialimmobilien: Ein Wachstumsmarkt mit vielen Gefahren, FAZ v. 19.10.2001<br />
Dr. Frank Loges ist nach Leitungsfunktionen in der freien Wohlfahrtspflege<br />
Leiter des Kompetenzcenters Sozialwirtschaft der Unternehmensberatung Rödl<br />
& Partner, Köln.<br />
Diplom-Sozialwissenschaftler Lothar Susok war von 1982 bis 1998 Leiter des<br />
Referates Wirtschaft und Gesellschaft des Zentralkomitees der deutschen Katholiken<br />
und lebt als Dozent und Publizist in Meckenheim bei Bonn<br />
358
Jörg Splett<br />
„Selbstverwirklichung“ – christlich?<br />
„Lebenskunst“ ist heute gefragt und Lebenskunstanleitungen werden gesucht.<br />
Mit Wilhelm Schmid, dessen Philosophie der Lebenskunst „seit mehr als vier<br />
Jahren ein Long- und Bestseller auf dem deutschsprachigen Buchmarkt“ ist,<br />
führte die Herderkorrespondenz kürzlich ein Gespräch zum (post)modernen<br />
Dilemma der Freiheit. 1 Dabei kam auch der Vorwurf zur Sprache, hier werde die<br />
Ethik durch einen Privatutilitarismus ersetzt. Den parierte der Philosoph mit dem<br />
Hinweis auf die „gute alte philosophische Tradition“ der Klugheit, die im modernen<br />
Ethik-Diskurs „zu Unrecht vollständig gemieden“ werde. Die Grundlage<br />
rechten Lebens sei „die Sorge um sich und Stärkung des Selbst – strikt nach dem<br />
christlichen Grundsatz des ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’.“<br />
Mit dieser Berufung auf die goldene Regel als „das eigentliche Weltethos“<br />
schließt das Gespräch. Was auch wäre noch weiter zu sagen?, werden Christen<br />
bemerken, Laien wie Theologen, und nicht bloß Pastoraltheologen. – Wieso sieht<br />
ein Philosoph hier Probleme?<br />
Ihm mag zunächst eine Fußnote Kants zur goldenen Regel eingefallen sein. Im<br />
zweiten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erläutert Kant den<br />
„kategorischen Imperativ“, also die unbedingte Verpflichtung, Menschen niemals<br />
bloß als Mittel zu gebrauchen. Und dazu merkt er nun an (ich darf ungekürzt<br />
zitieren) 2 : „Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri<br />
etc (Was du nicht willst, daß man dir tu...) zur Richtschnur oder Prinzip dienen<br />
könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem<br />
(Sollen) abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht<br />
den Grund (!) der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen<br />
andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohltun<br />
sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen), endlich<br />
nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus<br />
diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentieren, u.s.w.“<br />
Anders gesagt, Humanität bestimmt sich nicht einfach durch das, was einer tut;<br />
sondern entscheidend auch dadurch, warum und wozu jemand tut, was er tut. -<br />
Aber setzen wir grundsätzlich: anthropologisch an. Philosophische Vernunft wie<br />
der christliche Glaube sehen in der Tat den Menschen als ein Wesen auf dem<br />
Weg von Möglichkeiten zu deren Verwirklichung.<br />
I. Der Mensch ist Möglichkeit, die wirklich werden will und soll<br />
1. Auf die Frage „Was ist der Mensch?“ scheint mir nach wie vor die prägnanteste,<br />
das heißt dichteste und fruchtbarste Antwort in der Frage selbst gegeben: Der<br />
Mensch ist (sich) eine Frage. Er weiß noch nicht, wer er ist, weil er sich erst zu<br />
dem zu machen hat, der er sein soll. Er ist noch unbestimmt, weil einzig durch<br />
359
sich selbst bestimmbar. In diesem Sinn nennt Thomas von Aquin den freien Menschen<br />
„sui causa“. Natürlich meint er damit nicht völlige Selbstursächlichkeit.<br />
(Nach solchem Ve rständnis ist für die klassische Philosophie nicht einmal Gott<br />
„Ursache seiner selbst“, wie die Neuzeit sagen wird, sondern „ratio sui“, sein<br />
eigener Grund; denn nichts und niemand bringt sich selbst hervor, wohl aber<br />
kann eine Urwirklichkeit in eigener Wesensnotwendigkeit gründen.) Ursprünglich<br />
ist „causa“ sogar als Ablativ zu lesen: der (soziologisch) Freie ist, nach Aristoteles,<br />
„um seiner selbst willen“ da, nicht wie der Sklave um eines anderen<br />
willen. Doch wiederholt spricht Thomas mit dieser Formel auch die konkrete<br />
„Selbstverwirklichung“ des Menschen an und versteht ihn in diesem präzisierten<br />
(eingeschränkten) Sinn durchaus als Ursache seiner selbst. 3<br />
2. Diese Selbstbestimmung könnte man sich in der Weise denken, daß hier ein<br />
Vorbild nachgestaltet werden solle. So sieht es der vielzitierte Vers Friedrich<br />
Rückerts: „Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll / Solang er das nicht<br />
ist, ist nicht sein Friede voll.“ Doch scheint mir dies dem Ernst der menschlichen<br />
Freiheitssituation nicht wirklich zu entsprechen. Es liegt kein Muster vor – weder<br />
des Menschen überhaupt noch etwa eines Christen schlechthin (auch hier hat<br />
es höchstens christliche Menschenbilder gegeben – des Mönchs, des christlichen<br />
Kaufmanns, des christlichen Ritters... –, niemals das christliche Menschenbild);<br />
und mögen „Rollen“-Muster bestehen, ein Musterbild des jeweils Einzelnen gibt<br />
es nicht. Romano Guardini hat das einmal so formuliert, und damit anschaulich<br />
Last wie Chance dieses Sachverhalts angesprochen: Des Menschen Lebensweg<br />
unter dem Willen Gottes sei „nicht Weg, der vorgezeichnet läge, und wenn man<br />
ihn verließe, wäre Weg-Losigkeit. Es ist ein Weg, der sich von Gott her dem<br />
Menschen unter den Füßen erzeugt, aus jedem seiner Schritte heraus neu.“ 4<br />
3. Menschsein ist gerade darum bleibende Frage, weil es hierbei weder um einen<br />
abstrakten Begriff geht noch um eine Sammlung humanwissenschaftlicher Fakten.<br />
Nach dem Menschsein fragen heißt, nach Menschlichkeit fragen. Und diese<br />
ist kein theoretis ch-objektives Datum, sondern eine Zielwirklichkeit – nicht als<br />
bestimmtes, schon gegebenes Ziel, das es bloß zu erreichen, sondern als eine<br />
Wirklichkeit, die es erst zu verwirklichen gilt. Ja, gemäßer hätte man wohl von<br />
Er-wirklichung zu sprechen. Natürlich herrscht hier nicht totale Unbestimmtheit.<br />
Es geht um den Menschen, also weder um Götter oder himmlische Geister noch<br />
um Tiere (oder Maschinen). Und es geht darum, die in uns selbst sich meldende<br />
Un-Menschlichkeit zu überwinden. Aber was innerhalb dieser „dead-lines“ konkret<br />
geschehen soll, liegt nicht fest.<br />
360<br />
II. Verwirklichung des Selbst gelingt nur in Gemeinschaft<br />
1. Auf dem Weg dieser Realisierung braucht der Mensch Hilfe. Wie aber kann es<br />
die geben? Hat nicht der Einzelne auf je besonderem Weg zu sich selber zu finden?<br />
Helfen zu leben muß heißen, die Freiheit des anderen mehren. Mindert man<br />
sie aber nicht eben dadurch, daß man (ge)leitend zur Autorität wird (dem Wortsinn<br />
zuwider, der – augére – mehren, wachsen machen bedeutet)?
Auf diese Frage ist doppelt zu antworten. Zunächst einmal grundsätzlich, daß die<br />
Rede von „totaler“ Freiheit („Allmöglichkeit“) sinnlos würde; denn dann dürfte<br />
es auch den nicht geben, für den sie bestünde. Obendrein mißt Freiheit sich an<br />
Positiv-Vorgaben („kopf-frei“ und „kopflos“ sind nicht dasselbe; fieberfrei ist<br />
kein Toter, sondern jemand mit normaler Temperatur).<br />
Doch auch wenn, immer noch bei diesem ersten grundsätzlichen Schritt, Freiheit<br />
nicht logisch-abstrakt: Max Scheler hat in seiner Phänomenologie des Personseins<br />
gezeigt, „daß Gemeinschaft von Personen überhaupt zur evidenten Wesenheit<br />
einer möglichen Person gehört“. Denn sie vollzieht sich wesentlich in Akten,<br />
in denen sie sich auf andere Personen bezieht – in „Liebe, Achtung, Versprechen,<br />
Befehlen usw., die Gegenachtung, Gegenliebe, Annehmen, Gehorchen<br />
usw. als ideale Seinskorrelate fordern...“ 5<br />
2. Diese Grundsatz-Antwort ist darum wichtig, weil die Gegen-Vorstellung, in<br />
sich unmöglich, nicht einmal als „regulative Idee“, „Realutopie“ oder ähnlich<br />
einen ernsthaften Maßstab zur Kritik an den „Verhältnissen“ abgibt, „die (noch)<br />
nicht so sind“.<br />
Daß sie der Kritik bedürfen, ist die zweite, nicht minder wichtige Antwort. Denn<br />
ist man auf Menschen angewiesen, dann ist man ihnen auch immer ausgeliefert.<br />
Und dies bei ständig drohender Unmenschlichkeit des Menschen. Was korrumpiert<br />
ihn mehr als jede Form von Machtbefugnis?<br />
Wenn Menschsein eine Frage aufgibt, dann wird Menschlichkeit fraglich. Was<br />
aber fraglich und bedroht scheint, erweckt Angst. Angst um es, doch zugleich<br />
auch, weil Angst selber ängstigt und es deren Anlaß bietet, Angst vor ihm. Denn<br />
die Angst ängstigt den Menschen vielleicht noch mehr als die Gefährdung dessen,<br />
worum er Angst hat. Dann wären nicht nur Risiko und Gefährdung des<br />
Menschseins Anlaß zur Angst, sondern umgekehrt zeigt die Angst sich als eine<br />
ernste Bedrohung des Menschseins.<br />
3. Was wunder, daß das Individuum sich lieber auf sich selbst zurückzieht? –<br />
Oder in der Gegenrichtung darauf setzt, daß Gruppen (die darum auch „alles von<br />
ihm fordern“ dürfen – politisch wie religiös) ihm sich selbst und seine Selbstbestimmung<br />
als „Groß-Ich“ abzunehmen bereit sind.<br />
Damit wird deutlich, daß der einzige Ausweg in Richtung dessen liegt, was Karol<br />
Wojtya in seinem frühen Hauptwerk Person und Tat unter dem klassischen<br />
Begriff der participatio anspricht. 6 Sie macht „die Eigentümlichkeit der Person<br />
selbst aus, ihre innere und homogene Eigentümlichkeit, die bestimmend ist dafür,<br />
daß die Person, die ‚gemeinsam mit anderen’ existiert und handelt, als Person<br />
existiert und handelt.“<br />
Im Deutschen wird participatio meist mit „Teilhabe“ wiedergegeben. Doch<br />
bringt ‚Habe’ den Geschehens- und Beziehungs-Charakter des Gemeinten kaum<br />
zum Ausdruck. Statt um ein Haben (zumal, wenn nur als Besitzen verstanden)<br />
geht es um Geben und Nehmen. Gelebt wird solches Teilgeben und -nehmen in<br />
gegenseitigem Austausch.<br />
Damit aber stellt sich in neuer Schärfe die Frage nach dem Selbst und seinem<br />
Selbstand. – Der Mensch hat durch eigenes Handeln wirklich zu werden. Ernst<br />
361
und Gewagtheit dieser Situation waren ihm wohl – in unterschiedlicher Weise –<br />
immer bewußt. Aber heute drängen sie sich dem Bewußtsein besonders notvoll<br />
und ängstigend auf. Darin liegt die Chance höherer Wachheit, doch auch die<br />
Gefahr einer spezifischen Beirrung: überwacher Selbst-Befangenheit.<br />
So unumgänglich das Bisherige war: gehen wir – endlich – die Thematik<br />
„Selbstverwirklichung“ direkt an, mit der Eingangsfrage: Ist Wirklich-werdendurch-sich<br />
dasselbe wie Sich-Verwirklichen? „Macht“ der Mensch sich, oder<br />
wird er nicht so (durch sich selbst), daß er anderes macht?<br />
362<br />
III. Statt Selbstverwirklichung: Realisierung des eigenen Auftrags<br />
1. Zuerst ein psychologischer Wink. Jede Verwirklichung – als die von Möglichkeiten<br />
– bedeutet zugleich die „Verunmöglichung“ von solchen. Möglich ist ja<br />
immer etwas und (zumindest) dessen Gegenteil; verwirklicht werden aber kann<br />
konkret nur dieses oder jenes, und zwar so, daß eben dadurch das Entfallene<br />
zugleich unmöglich wird. Wer den „Kuchen ißt“, kann ihn nicht aufbewahren.<br />
Dies nun führt in der Perspektive der Selbstverwirklichung dazu, daß eben dem<br />
Selbst unauskömmlich der Schatten der Selbst-Verunmöglichung folgt. Anders<br />
gesagt, wird hiermit – zwar ohne Absicht, doch nicht weniger wirksam – „unglückliches<br />
Bewußtsein“ vorprogrammiert; mag dies dann – eher larmoyant –<br />
davon sprechen, daß, der ich bin, traurig den grüße, der ich hätte werden können,<br />
7 oder mag es – eher heroisch – eine Theorie „tragischer Existenz“ entwerfen.<br />
2. Sodann – auch dies psychologisch – handelt es sich beim Modell der „Selbstverwirklichung“<br />
um eine „zweistellige“ Relation: um eine Beziehung nur zwischen<br />
„Ich“ und „mich“. Das übrigens auch dann, wenn man – aufgrund der<br />
ersten Überlegung – „Selbstverwirklichung“ durch „Selbstfindung“ ersetzt. Noch<br />
vor einem Blick auf das Verhältnis der sozialen Dimension zu diesem Selbst<br />
erhebt sich die Frage, ob das Selbst an und für sich denn die Mühe seiner Ve rwirklichung<br />
(salopp gesagt: schon die des Sich-Bückens nach sich) wert sei.<br />
Nur blindeste Naivität dürfte von solchem Zweifel unbetroffen bleiben. Natürlich<br />
kann man von veröffentlichter Meinung hören, die Verwirklichung als solche<br />
wiege alle Kosten (vor allem anderer?) auf – unabhängig von dem, wer oder<br />
was da verwirklicht werde. Vielleicht braucht es umgekehrt nur ein Stück bewahrter<br />
– oder besser: wiedergewonnener? – Naivität (der des Kindes in Andersens<br />
Märchen), um solchen Normenzwang seinerseits zu durchschauen.<br />
Dreistellig wird die Selbst-Relation, wenn man dieses Verhältnis als den Aufruf<br />
zur Selbst-Annahme auffaßt. „Die Annahme seiner selbst“ 8 hat nämlich auch und<br />
sogar vor allem die Instanz im Blick, von der her ich mir – nicht gleich aufgegeben,<br />
sondern erst einmal – gegeben bin: mir und den anderen.<br />
Eine Gabe hat zu und vor ihrem Selbstwert ihren bestimmenden Wert in ihrem<br />
Gabe- und Gegebensein. So ist die quälende Dialektik von Selbstwert- und Unwertbilanzen<br />
(von Selbstüberschätzung und „Minderwertigkeitskomplex“) durch<br />
den Blick über sich selbst hinaus überwunden: ohne daß solches „Absehen von
sich“ in funktionalistischen Selbst-Verlust entartet. Denn was der Mensch hier<br />
annimmt, ist ja eben er selbst.<br />
Er wird sich gegeben; und er darf von dorther „annehmen“ – im Doppelsinn des<br />
Wortes –, daß er annehmbar ist. So aber nicht bloß für sich, sondern auch für die<br />
anderen. Denn der Mensch wird niemals bloß sich, sondern darin zugleich anderen<br />
gegeben. Hier tut sich die Möglichkeit auf, daran nicht verschämt als einer<br />
Zumutung für die andern zu leiden – und dies mit dem Leiden an einer angeblichen<br />
Zumutung für sich selbst zu kaschieren; sondern es wird möglich, diese<br />
„condition humaine“ gelassen hinzunehmen, ja sie aktiv mitzuvollziehen: sie<br />
mitzuverwirklichen.<br />
3. Damit aber verwirklicht der Einzelne nicht so sehr sich – obwohl er selbstverständlich<br />
darin seine Wirklichkeit erwirkt – , als vielmehr sein Gegeben-Werden,<br />
sein Da-Sein für die anderen. Er „realisiert“, d. h. er erfaßt, und er „realisiert“, d.<br />
h. er erfüllt seinen Auftrag. Früher hat man dies „Sendung“ genannt; Martin<br />
Luther hat es als Theologie des „Berufs“ entfaltet; Heidegger spricht – in Aufnahme<br />
des Wort-Sinns – von Geschick. Heute scheinen diese Wörter vielen zu<br />
groß und vor allem durch Mißbrauch unverwendbar geworden.<br />
Nun sollte man dem Mißbrauch nie das letzte Wort belassen. Sonst würde im<br />
Endeffekt mit den Wörtern auch die Menschlichkeit verunmöglicht, die sich in<br />
ihnen ausspricht – gilt für ein Wesen der Sprache wie den Menschen doch in<br />
erheblichem Maß die Einsicht Stefan Georges, daß „kein ding sei wo das wort<br />
gebricht“.<br />
Was aber die „Größe“ der Wörter betrifft, so kann – und soll der Christ sowohl<br />
den Individualisten, welcher mit Protagoras den (Einzel-)Menschen zum „Maß<br />
aller Dinge“ erklärt, wie den Kollektivisten, demzufolge „der (gesellschaftliche)<br />
Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ ist, 9 nach der Rechtfertigung<br />
solcher Einschätzung fragen. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um die<br />
Logik jener Enttäuschung nachzuvollziehen, die gleichermaßen elitäres<br />
Selbstbewußtsein in Selbstekel umschlagen läßt wie egalitäre Beglückungsprogramme<br />
in Menschenverachtung.<br />
Gleichwohl sei für die gewichtigen Wörter „Sendung“, „Auftrag“, „Geschick“<br />
oder ähnlich ein unauffälligeres vorgeschlagen (auch es ist freilich bereits ins<br />
Gerede gekommen): das Wort „Sinn“. Was fachlich „Sinnfrage“ heißt, wird<br />
umgangssprachlich oft mit „Warum?“ ausgedrückt. Gemeint ist aber nicht wirklich<br />
„Warum?“, die Frage nach den (Wirk-)Ursachen, der Herkunft und dem<br />
Zustandekommen von etwas, sondern „Wozu?“: nach Ziel und Zukunft. Im Wozu<br />
fragt der Mensch – jeder einzelne – nach seinem Wozu, also nach sich. Aber<br />
er fragt zugleich auch über sich hinaus: nach seinem Wozu.<br />
„Wozu“ bedeutet hier nicht Zweck, was die Person zum Mittel herabsetzen würde.<br />
(Mittel ist, was seinen Sinn durch sein Verbrauchtwerden erfüllt.) Das heißt<br />
konkret: Ein Mensch ist weder da, um Kinder aufzuziehen noch um der Gesellschaft<br />
zu dienen – oder auch der Zukunft der Menschheit als solcher –, noch<br />
wird er geboren, um die Rente der älteren Generation zu verdienen. Er ist seinetwegen<br />
da, als „Selbstzweck“; aber das heißt anderseits mitnichten: bloß für<br />
363
sich. Erfülltes Leben findet nur, wer seinen Sinn erfüllt. Und welchen Dienst<br />
leistet hierbei Jesu Grundformel „... wie dich selbst“?<br />
364<br />
IV. Basis aller Liebe die Liebe zu sich?<br />
1. Wäre zuerst an die Fußnote Kants zu erinnern? Ähnlich wie dort schreibt der<br />
Rabbiner H. I. Grünewald, die gebotene Liebe müsse „von dem Umfang der<br />
Eigenliebe, die ich mir selbst zugestehe“, überhaupt „von meiner Person unabhängig“<br />
werden, um der göttlichen Forderung zu entsprechen.. 10 Darum scheint<br />
mir in der Tat die bekannte jüdische Wiedergabe des Urtextes (Lev 19, 18: kamôka)<br />
treffender als die uns durch Septuaginta, Vulgata und Luther überkommene:<br />
„den Nächsten – dir gleich (= er ist wie du)“. 11<br />
2. Doch ist dem zuvor noch eine andere Beobachtung am Urtext bedeutsam,<br />
insbesondere wenn wir das Levitikus-Wort mit jenem anderen Gebot zusammenlesen,<br />
mit dem Jesus es verbunden hat (und diese Verbindung ist offenbar seine<br />
ureigene Leistung): dem Schema Israel (Dtn 6, 4ff) „Höre Israel,... Liebe den<br />
Herrn, deinen Gott...“ An beiden Stellen begegnet das selbe Verb ahab (= lieben);<br />
in seiner Folge aber steht ‚Gott’ im Akkusativ, der Nächste im Dativ: „Sei<br />
dem Nächsten gut wie dir (du).“<br />
Geboten wird hier also Freundschaftlichkeit und Wohlwollen, nicht bloßes Tun,<br />
sondern auch ein Gesinntsein, ja Affekt – um es ausgerechnet mit I. Kant zu<br />
sagen: „Den Nächsten lieben heißt: alle Pflichten gegen ihn gerne ausüben“<br />
(wobei die Betonung von ihm stammt). 12 – Aber ist das schon Liebe? Oder genauer<br />
– denn warum soll es dies nicht sein? –: liegt hier die Spitzenbestimmung<br />
von „Liebe“?<br />
Die sehe ich in einem doppelten: ästhetisch in Fest und Feier selbstvergessenen<br />
Entzückens, ethisch in Leben und Sterben für jemand. Wie nun steht es bei diesen<br />
Spitzenbestimmungen für den Bezug auf sich selbst? So sehr ein Mensch –<br />
aus der „Annahme seiner selbst“ – mit sich befreundet sein sollte, so fände man<br />
ein Entzücktsein von sich doch wohl mit Recht komisch. 13 Wo aber jemand<br />
ernstlich (nur) für sich leben und sterben wollte, wäre m. E. die Komik verlassen;<br />
das wäre tragisch. Selbstliebe in diesem Sinn wäre demnach tragi-komisch.<br />
Die „goldene Regel“ gibt uns also eine Maßangabe, 14 keinen, wie schon Kant<br />
erklärte, Grund. Darum begründet sie keinen Vorrang der Liebe zum Selbst.<br />
Vielmehr wäre sie nüchterner einfach als Forderung zur Unparteilichkeit zu<br />
lesen: Ziehe dich nicht vor, bloß weil es um dich geht! 15<br />
3. Nun aber - nicht zuerst, sondern diesmal zuletzt – die Psychologie: Müßte man<br />
trotz allem nicht erst einmal mit sich selbst im reinen sein, um anderen wohl zu<br />
wollen?<br />
Dazu setze ich gerade bei der Schwierigkeit an, auf die sich die Rückfrage stützt.<br />
Droht nämlich nicht gerade „jenseits von Eden“, aufgrund der Probleme mit der<br />
Annahme seiner selbst, die Gefahr, daß der Mensch sein Leben lang in „Beziehungsarbeit“<br />
mit sich selbst verstrickt bleibt – um dann auf dem Sterbebett zu<br />
erkennen, daß er spätestens jetzt mit der Nächstenliebe anfangen sollte?
Oben wurde bereits erwogen, daß ein rechtes Verhältnis zu sich nicht „zweistellig“<br />
erreichbar ist, sondern einzig („dreistellig“) aus Selbst-Entgegennahme<br />
wachsen könnte. Was aber – dies jetzt der springende Punkt der Argumentation –<br />
macht diese Selbstannahme möglich? 16<br />
Tatsächlich kann bei seinen Grenzen und Mängeln ein Mensch sich nur akzeptieren,<br />
wenn er sich akzeptiert finden durfte. Er braucht die Annahme seiner vom<br />
anderen her. Die jedoch ist ihrerseits zu akzeptieren, und das verlangt, dem Gegenüber<br />
zu trauen.<br />
Einzig derart vermag man dem andern sich selbst zu glauben, d. h., ihm zu glauben,<br />
man sei wirklich so annehmbar, wie er sagt. Man setzt bei ihm also 1. Urteilskraft<br />
voraus, und 2., wichtiger, guten Willen mit Aufrichtigkeit. Wie aber<br />
irgendwen für ehrlich und liebevoll halten, wenn man ihn nicht liebt?<br />
Darum zuerst das Liebesgebot des Schema. Immer wieder hört man, es sei widersinnig.<br />
Dabei steht es so, daß Liebe einzig von Liebe erkannt und anerkannt<br />
werden kann. Sonst erscheint sie zwangsläufig als Aufdringlichkeit, Bemächtigungswille,<br />
neurotische Schwäche... Darum verlangt einfach Gerechtigkeit, der<br />
sich schenkenden Liebe mit dem Blick der Liebe zu begegnen. (Was selbstverständlich<br />
nicht heißt, auf eine Liebeserklärung gebe es nur ein „Ja“.)<br />
Es reicht also nicht, daß jemand uns liebt; wir müssen ihn wieder-lieben. Statt<br />
ihn nur als „gut für uns“ zu nehmen, müssen wir „ihm gut“ sein. – Das Wohlwollen-für-sich-selbst<br />
weist zurück auf das für andere.<br />
Vielleicht etwas umwegig, dieser Schluß? Dafür aber, meine ich, zwingend. Ein<br />
unverbildeter Sinn allerdings braucht ihn nicht. Dem nämlich ist es klar, was<br />
soeben über die Spitze von Liebe – „ästhetisch“ und „ethisch“ bedacht worden<br />
ist.<br />
V. Leben ist Lieben – und deren Geist Freigebigkeit<br />
1. Die Überschrift ist natürlich ein wenig Goethe entliehen, 17 doch schöpfungsphilosophisch<br />
vertieft. So zu lieben ist nämlich stets Antwort. Vertrauen „schenken“<br />
wir nur jemandem, der es uns „einflößt“. – Biblisch: „Nicht darin besteht<br />
die Liebe, daß wir (sehnend?) Gott geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt...“<br />
(1 Joh 4, 10). Das ist – statt „erbaulich“ – schlicht wahr: Wir konnten Ihn nicht<br />
lieben, weil es uns nicht gab. Aus nichts heraus hat uns Gott ins Leben gerufen.<br />
Und zwar – gegen jede mythologische Verkleinerung des Wunders (auch von<br />
Theologenseite) – gänzlich ungenötigt.<br />
Gott brauchte uns nicht, und er wäre um nichts weniger göttlich und liebend,<br />
hätte er uns nicht geschaffen. Hingabe und Austausch nämlich spielen seit je in<br />
Gott selbst zwischen Vater, Sohn und Geist. 18<br />
Unser Ursprung liegt nicht in Mangel und Sehnsucht, sondern in reiner Freigebigkeit,<br />
purem Gönnen. In göttlicher Großmut, die „Mit-Liebende will“ (J. Duns<br />
Scotus).<br />
365
Auf solche Großherzigkeit – das ist jetzt nicht mehr Philosophie – hat das Geschöpf<br />
statt mit Dank und Vertrauen mit Mißtrauen reagiert. Weil es sich – unvermeidlich<br />
– begrenzt fand, gab es dem Argwohn Raum, zu kurz zu kommen,<br />
und stahl die Frucht, die es sich hätte schenken lassen sollen. Gott aber widerruft<br />
seine Zuwendung nicht. Das Wort aus dem Johannesbrief wurde nicht ganz zitiert;<br />
er fährt fort: „... daß Er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat“. Das<br />
Schöpfungs-Ja besiegelt Gott durch die Neuzusage seiner selbst. Sie lebt unser<br />
Bruder und Herr Jesus Christus in Wort und Tat getreu bis zum Tod, den ihm die<br />
mörderische Angst des Kleinglaubens antut. So ist das Siegel der Schöpfung ihre<br />
Erlösung, und wir haben doppelt Grund, zu lieben.<br />
2. Doch nun wieder philosophisch: Jemanden lieben besagt, seine „Schwächen“<br />
teilen. Gottes Schwäche ist unbegreiflicherweise der Mensch. Darum folgt aus<br />
der Liebe zu Gott die zu uns selbst wie zum Nächsten. Beides eingebettet in das<br />
Antwort-Ja zu Gott – und bleibend Ihm verdankt. 19<br />
Wenn (Pastoral-)Theologen, welche „die Menschen dort abholen wollen, wo sie<br />
stehen,“ immer häufiger den Begriff der Selbstverwirklichung übernehmen,<br />
unterschätzen sie vielleicht nicht bloß die bekannten aktuellen Konnotationen,<br />
von denen man sich ja absetzen kann, sondern auch die Eigendynamik des Wortes<br />
selbst, also die Bestimmungskraft der (egozentrischen) Perspektive, in der es<br />
spricht. Knapp und deutlich lesen wir bei Gottfried Benn: „Vollende nicht deine<br />
Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke.“ 20<br />
Werk ist Antwort – auf die Namenssehnsucht der Geschöpfe, die gesehen und<br />
benannt werden wollen – nicht zu ihrer besseren Verfügbarkeit für das Selbst,<br />
sondern in selbstvergessenem Lob ihres Da- und So-seins. 21 Derart aber zeigt das<br />
Werk nur überdeutlich, was humane Weltbegegnung überhaupt ist. Statt die<br />
Sinne als „Fühler“ unserer Lebensbedürfnisse zu verstehen, als Instrumente des<br />
Ausgriffs und der Aneignung, hätten wir sie als Organe der Offenheit für die<br />
Dinge, der Anrührbarkeit durch sie und des Betroffenwerdens von ihnen zu sehen:<br />
als Stellen und Weisen der Aufnahme dessen, was ist. Darum ist vollends im<br />
Geist nicht Behauptung, Konstitution oder Konstruktion das Grundlegende; auch<br />
nicht die Frage, welche man dem – tiefer lotend – entgegengesetzt hat, sondern<br />
die Antwort angerufener Freiheit (und so noch die Frage als Antwort – siehe<br />
Parzival in der Gralsburg). 22<br />
3. Ist so aber Antwort, wie nun wiederholt erinnert, Annahme des Aufgenommenen:<br />
der Weltdinge, des anderen, ja des eigenen Selbst, dann ist schließlich zu<br />
sehen, daß sie nicht bloß dem Empfangenen gilt. – Hier liegt der Hauptgrund für<br />
meinen Vorbehalt gegenüber der Parole „Selbstverwirklichung“. Der Ich-Zirkel<br />
dieses Worts (wie jenes älteren Programmworts christlicher Erziehung, gegen<br />
das es sich vor allem wendet: „Selbstverleugnung“) wird aufgebrochen im Dank,<br />
der etwas (jemanden, das Selbst) von jemandem annimmt – und darin den Geber<br />
selbst.<br />
„Der Begriff des Dankens oder der Erkenntlichkeit fällt mit jenem der Anerkennung<br />
der Gegenwart des Gebers in der Gabe zusammen... Der Geber ist nicht die<br />
Gabe, und diese nicht jener, und doch gibt der Geber in der Gabe sich selber,<br />
366
insofern er liebt, und der Empfänger empfängt den Geber in der Gabe, insofern<br />
er ihn liebt.“ 23<br />
Machen solche Sätze nicht aufs schlichteste klar, um welche Dimensionen man<br />
Menschen bringt, die man – sei's auch nur vorläufig – in der Lust- und/oder<br />
Leistungsperspektive von „Selbstverwirklichung“ aufhält, statt ihnen sogleich<br />
das Fenster dieses Ausblicks in die Weite aufzutun?<br />
Um Abstinenz und Selbstverleugnung geht es tatsächlich nicht: Denn ein Geschenk<br />
wird gegeben, um angenommen zu werden, und es ist – einfach als solches<br />
– kostbar. So soll ihm das Leuchten auf dem Antlitz des Empfangenden<br />
erwidern. – Gleichwohl vergißt im „Wohlverhalten als Beschenkter“ der Empfänger<br />
sich wie das Erhaltene im Aufblick zum Geber: denn der Dank ist selber<br />
Gabe; gelebtes Leben sagt Austausch. 24<br />
Anmerkungen<br />
1) W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt/M. 8 2001; Schönes Leben? Einführung<br />
in die Lebenskunst, Frankfurt/M. 4 2001. – „Das Dilemma der Freiheit anerkennen.“<br />
Ein Gespräch mit dem Philosophen Wilhelm Schmid über Lebenskunst in der Moderne,<br />
in: HK 56 (2002) 342-346.<br />
2) A/B 68: Werke in sechs Bänden (W. Weischedel), Darmstadt 1963, VI 62.<br />
3) Sth I-II 108, 1 ad 2; II-II19, 4; ScG II 48; IV 22.<br />
4) Vom lebendigen Gott, Mainz ; o. J., 54.<br />
5) Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, München 5 1966, 524.<br />
6) Person und Tat, Freiburg 1981, 312. Vgl. ders, Person: Subjekt und Gemeinschaft, in:<br />
K. Wojtyla / A. Szostek / T. Styczen, Der Streit um den Menschen, Kevelaer 1979, 11-68,<br />
56ff.<br />
7) Da fühl' ich denn mich schaudernd, wie niemals noch, allein. Und der ich bin, grüßt<br />
trauernd, den, der ich könnte seyn! F. Hebbel, SW, Berlin 1901-07, VII 301 (später zurückgezogene<br />
Strophen).<br />
8) R. Guardini, Die Annahme seiner selbst, Würzburg 1960. Vgl. S. Kierkegaard, Die<br />
Krankheit zum Tode (SV XI 128): „Indem er sich zu sich selbst verhält, und indem es es<br />
selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat.“<br />
9) K. Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Werke, Darmstadt<br />
51972, I 497 (zum Klammerzusatz: I, 595f, 605-607).<br />
10) Die Lehre Israels, München-Wien 1970, 148-152, 149.<br />
11) So umginge man die Fatalität, daß wir uns selbst nicht leiden können – um dann den<br />
Nächsten zu lieben wie uns. Der modisch exzessiven Berufung auf Sir 14, 5 indes („Wer<br />
sich selbst nichts gönnt, wem kann der Gutes tun?“) wäre schlicht mit der Rückfrage zu<br />
begegnen, ob nicht auch einiges für die Umkehrung spreche: Wer andere schlecht behandelt,<br />
kann der sich selber wohltun?<br />
12) Kritik der prakt. Vernunft: Werke (Anm. 2) IV 205.<br />
13) Übrigens ist nicht Narziß dessen Muster; denn sich zu erkennen hätte ihn gerettet.<br />
14) Und schon die verlangt Diskretion. Es ist mehr als ein Scherz, wenn G. B. Shaw die<br />
Gegen-Regel aufgestellt hat: „Die goldene Regel: Was du willst, daß man dir tu, das füge<br />
367
keinem andern zu: der Geschmack ist verschieden.“ Aphorismen für Umstürzler: Vorreden<br />
zu den Stücken, Zürich 1947, I 231.<br />
15) B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, Düsseldorf 5 1980, 79-88 (Nächstenliebe<br />
und Selbstliebe); Goldene Regel: 89-106.<br />
16) Ich nehme dafür Gedanken auf aus: Gott-ergriffen. Grundkapitel einer Religionsanthropologie,<br />
Köln 2001, Kap. 4, III (Lieben).<br />
17) Buch Suleika, Artemis-Ausg. 3, 356: „Denn das Leben ist die Liebe / Und des Lebens<br />
Leben Geist.“<br />
18) „Wenn später die Neuscholastik lehrte, die ‚natürliche Vernunft’ könne es zum Gedanken<br />
eines einpersönlichen Gottes bringen, so ist diese Lehre unvereinbar mit dem Gedanken<br />
einer freien Schöpfung. Ein einpersönlicher Gott hätte nämlich endliche Personen<br />
zu seinem notwendigen Korrelat.“ R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied<br />
zwischen ‚etwas’ und ‚jemand’, Stuttgart 1996, 36. Ebd. 49: „Der philosophische<br />
Monotheismus ist daher immer ambivalent. Wenn er nicht trinitarisch wird, dann tendiert<br />
er notwendigerweise zum Pantheismus.“<br />
19) Das Folgende greift Darlegungen auf aus: Zur Antwort berufen. Zeugnis aus christlichem<br />
Stand, Köln 2002, Kap. 1, IV (Selbstsein in Antwort).<br />
20) Ges. Werke in zwei Bänden, Wiesbaden 1968, II 1404 (Der Ptolemäer). – Das hier<br />
„produktions-ästhetisch“ Gesagte gilt ebenso rezeptions-ästhetisch. Ein wenig spitz gefragt:<br />
Muß man nicht Pädagoge, Psycho- oder Pastoraltheologe sein, um jemandem einen<br />
Film, eine Ausstellung, ein Buch oder eine Gebetsübung zur Selbstverwirklichung zu<br />
empfehlen, statt weil sie den „Einsatz lohnen“, die „Mühe wert“ sind – es einfach „verdienen“,<br />
zur Kenntnis genommen zu werden (und weil man es dem anderen gönnt und<br />
wünscht, eben diese Erfahrung zu machen)? Pflichtlektüre wäre hier C. S. Lewis, Über<br />
das Lesen von Büchern, Freiburg 1966, mit seiner fundamentalen Unterscheidung zwischen<br />
„Gebrauchen von Kunst“ (ob zur Erholung oder zur „Selbstbildung“) und der<br />
„Aufnahme“ ihrer.<br />
21) Sie „zu sagen, verstehs, / oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals / innig meinten<br />
zu sein... Und diese, von Hingang / lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich<br />
/ traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.“ R. M. Rilke, Neunte der<br />
Duineser Elegien, SW I 718f. – Siehe in weiterem (als so privatmythischem und mythopoietischem)<br />
Ausgriff: H. Kuhn, Dichten heißt Rühmen, in: ders., Schriften zur Ästhetik,<br />
München 1966, 236-264.<br />
22) H. Rombach, Über Ursprung und Wesen der Frage, in: Symposion. Jhb. f. Philos. III,<br />
Freiburg-München 1952, 135-236; E. Coreth, Metaphysik. Eine methodisch-system.<br />
Grundlegung, Innsbruck (1961) ;1980. Siehe dazu M. Heideggers Weg vom herrischen<br />
Zugriff in Sein und Zeit über das Fragen als „Frömmigkeit des Denkens“ (Vorträge u.<br />
Aufsätze, Pfullingen 1954, 44) zu jenem ins Hören gerufenen Nachsagen (Unterwegs zur<br />
Sprache, Pfullingen ;1965, 254, vgl. 70), wie es etwa in seiner Trakl-Auslegung Wort<br />
wird (ebd. 175f).<br />
23) F. v. Baader, SW, Aalen 1963, IV 302 (Verband des intelligenten und des nichtintelligenten<br />
Seins und Wirkens),189 (Sätze aus der erotischen Philosophie).<br />
24) „Wohlverhalten...“: J. Betz, Eucharistie, in SM I 1214-1233, 1214.<br />
Prof. Dr. Jörg Splett lehrt Philosophie an der Philosophisch-Theologischen<br />
Hochschule St. Georgen in Frankfurt a.M. und ist Gastdozent an der Hochschule<br />
für Philosophie in München.<br />
368
Bericht und Gespräch<br />
Ambrosius Esser<br />
Ein neuer Heiliger:<br />
Josemaría Escrivá de Balaguer<br />
I.<br />
Das XX. Jahrhundert hat viele wirkungsvolle Versuche gesehen, das Christentum,<br />
insbesondere die katholische Kirche endgültig auszurotten. Eines der umfassendsten<br />
Experimente dieser Art fand in Spanien statt. Die spanischen Bischöfe<br />
haben in ihrem Brief vom 1. Juli 1937 an die Bischöfe der Welt begründet,<br />
warum sich die Kirche Spaniens auf die Seite des Movimiento gestellt hatte. Es<br />
handelt sich um eines der bedeutendsten Dokumente der spanischen Kirchengeschichte<br />
im 20. Jahrhundert. 1<br />
Aber Spanien ist auch das, was man als einen religiösen Vulkan bezeichnen<br />
könnte. Dies beweisen nicht nur die Scharen seiner Märtyrer, sondern auch viele<br />
andere religiöse Persönlichkeiten, die eine enorme Faszination ausüben, wie z.<br />
B. die Madre Maria Maravillas O.C.D., deren Wunder im Hinblick auf die Heiligsprechung<br />
kürzlich anerkannt wurden. Der Unterschied zu den Vulkanen der<br />
irdischen Wirklichkeit ist, daß die Lavablöcke, die der spanische Vulkan auswirft,<br />
nicht erkalten, sondern ihre Glut fortdauernd ausstrahlen. Josemaría Escrivá<br />
ist einer von diesen Blöcken, deren Ausstrahlung nicht abnimmt. Dennoch ist<br />
es nicht einfach, ihn zu beschreiben.<br />
Ein religiöses Genie hat viele Seiten, aber Josemaría war auch im natürlichen<br />
Sinne ein Genie, das eine Botschaft in diese Welt trug. Deswegen wird es notwendig<br />
sein, wenigstens einige Perioden seines Lebens, denen fundamentale<br />
Bedeutung eignet, zu schildern. Josemaría erblickte das Licht der Welt in Barbastro,<br />
einer aragonesischen Stadt von 7000 Einwohnern und wurde am 13. Januar<br />
1902 getauft. Seine Eltern waren Don José Escrivá y Corzan und Doña<br />
Dolores Albas y Blanc. Der Vater betrieb ein Textilgeschäft, und die Familie<br />
lebte in einem gewissen Wohlstand. Von Josemarías Geschwistern überlebten<br />
die Kindheit nur seine ältere Schwester María del Carmen und der 1919 geborene<br />
Santiago. 2 Durch die Betrügerei eines Geschäftspartners ging die Firma Don<br />
Josés 1914 in Konkurs, und die Familie mußte nach Logroño in der Rioja ziehen,<br />
wo der Vater sich eine neue Existenz aufbaute, allerdings in einem bescheideneren<br />
Rahmen als bisher. Der kleine Josemaría erwies sich als sehr begabt, beson-<br />
369
ders in Arithmetik, Geometrie, Ethik und Recht. Zeitweise trug der Junge sich<br />
mit dem Gedanken, Architekt zu werden. Am 28. Mai 1918 beendigte er seine<br />
Abiturprüfungen. 3 Inzwischen hatte er seine Berufspläne geändert. Die Familie<br />
Escrivá lebte eine traditionelle Frömmigkeit, die aber äußerst intensiv und lebendig<br />
war. Die Schicksalsschläge, die über sie hereinbrachen, der Tod zweier<br />
kleiner Schwestern Josemarías, der Zusammenbruch des väterlichen Geschäfts<br />
vertieften diese Frömmigkeit noch.<br />
Kurz nach dem 9. Januar 1918 sah der junge Mann im Schnee die Abdrücke der<br />
nackten Füße eines Karmeliten, den er später aufsuchte. Er fragte sich unwillkürlich:<br />
„Wenn andere solche Opfer für Gott und den Nächsten bringen, werde ich<br />
etwa nicht fähig sein, ihm irgendetwas zu opfern?“ 4 Josemaría bat P. José Miguel<br />
um seine geistliche Führung. Diese Begegnung entschied über seine Zukunft.<br />
Während er sich nicht entschließen konnte, Unbeschuhter Karmelit zu werden,<br />
stand seine Entscheidung für das Weltpriestertum bereits fest.<br />
370<br />
II.<br />
1. Josemaría studierte Philosophie und Theologie im Priesterseminar von Logroño<br />
und im Seminar San Carlo zu Saragossa. Aus verschiedenen Gründen war<br />
dies eine schwierige Zeit. Darüberhinaus starb am 24. November der Vater Don<br />
José. Am 28. März 1925 erhielt Josemaría die Priesterweihe in der Kirche San<br />
Carlos.<br />
2. Nach einigen Monaten Pfarrdienst in dem Dörfchen Perdiguera bekam Josemaría<br />
eine Seelsorgestelle an der Kirche San Pedro Nolasco in Saragossa, wohin<br />
die Mutter inzwischen gezogen war. Er studierte jetzt Jura an der Universität.<br />
Am 10. März 1927 schloß Josemaría seine Studien vorläufig mit dem Lizentiat<br />
im Zivilrecht ab. 5 Das Doktorat sollte 1939, nach dem Ende des Bürgerkriegs,<br />
folgen. Inzwischen unterrichtete er Recht an einer privaten Akademie, dem Instituto<br />
Amado. Er mußte für seine Mutter und das Brüderchen sorgen. Aber in<br />
kirchlichen Kreisen der aragonesischen Hauptstadt stieß Josemaría auf Widerstand,<br />
insbesondere seitens seines Onkels, des Erzdechanten Carlos Albás. Anläßlich<br />
einer Reise nach Madrid, wo er eines Tages sein Doktoratsexamen würde<br />
ablegen müssen – damals fanden alle Doktoratsexamina an der Zentraluniversität<br />
statt – richtete er seine Blicke auf die Hauptstadt und fand durch die Vermittlung<br />
eines Claretiners eine Meßfeierstelle an der Kirche der Apostolischen Nuntiatur,<br />
San Miguel. Am 19. April, Osterdienstag 1927, traf Josemaría in Madrid ein.<br />
Um Mutter und Bruder, die ihm im November 1927 nach Madrid folgten, ernähren<br />
zu können, gab er wieder Privatunterricht und dozierte an der Akademie<br />
Cicuéndiz Römisches Recht und Kirchenrecht. Die Akademie bereitete auf den<br />
Studiengang Rechtsanwälte vor. Als akademischer Lehrer erfreute er sich großer<br />
Beliebtheit. Gleichzeitig wirkte er als Kaplan in einem Krankenstift, das eine Art<br />
religiös-soziales Zentrum war. 6<br />
Die Grunderfahrung, die Josemaría während seiner enorm vielfältigen Tätigkeit<br />
machte, war die einer ausrinnenden, absterbenden Religion, die in keiner Beziehung<br />
mehr zum täglichen Leben stand. Er kämpfte dagegen an, aber der Prozeß
des Erlöschens des göttlichen Funkens in den Seelen schien unumkehrbar zu<br />
sein. Aber, wie es bei Lk 19,49 heißt, war Christus gekommen, um ein Feuer<br />
anzuzünden auf Erden. Gleichzeitig empfand er das Geschenk vieler Gnaden, die<br />
eine gewisse Auserwählung bedeuten konnten. Er machte darüber Aufzeichnungen,<br />
die er später vernichtete. 7 Er suchte nach einer klaren Sicht der göttlichen<br />
Bestimmung für ihn: „Domine ut videam! Domine ut sit! Herr, laß mich sehen!<br />
Herr, es geschehe!“ „Ich spürte, daß der Herr etwas von mir wollte, ich wußte<br />
nur noch nicht, was es war, und so wiederholte ich, manchmal rufend oder sogar<br />
singend, wie ich es eben vermochte, jene Worte, die ihr sicherlich selbst schon<br />
gesprochen oder zumindest im Herzen erwogen habt: Ignem veni mittere in terram<br />
et quid volo nisi ut accendatur?“<br />
3. Vor Beginn des Studienjahres 1928/1929 wollte Josemaría im Zentralhaus der<br />
Lazaristen (an der García de Paredes-Straße gelegen) an der hl. Messe teilnehmen.<br />
Als er am 2. Oktober 1928 nach der hl. Messe in seinem Zimmer einige<br />
Notizen las, hatte er plötzlich eine innere Erleuchtung. In dem Augenblick läuteten<br />
die Glocken der nahen Pfarrkirche „U. L. Frau von den Engeln“. Wie Josemaría<br />
später schrieb, sah er in diesem Moment die Gesamtgestalt des künftigen<br />
Werkes Gottes-Opus Dei. Gleichzeitig spürte er die Gegenwart Gottes, der von<br />
seiner Person Besitz ergriff. 8 Seine Antwort auf diese Erfahrung war „Serviam!<br />
Ich will dienen!“ 9<br />
Kurze Zeit danach begann Josemaría, synoptische Schemata niederzuschreiben,<br />
in denen er die Grundzüge des Opus niederlegte, die bisher in seinen Notizen<br />
zerstreut waren: Wir wollen, daß Christus regiert, Gott sei jegliche Ehre, alle mit<br />
Petrus zu Jesus durch Maria, Gebet, Sühne, Aktion, Ziele; daß Christus regiere,<br />
mit einem wirklichen Königtum in der Gesellschaft. Wir wollen, daß Christus<br />
regiere... Gott sei jegliche Ehre. Sich selbst heiligen und die Seelen retten...<br />
Geist, Gebet, Sühne, Aktion; Gott und Wagemut. Drei Arten der Liebe: Christus,<br />
Maria, Papst. Ich will dienen! Alles durch die Liebe!“ 10<br />
Die Frage des Namens der neuen Totalbewegung blieb zunächst ungelöst. Aber<br />
eines Tages fragte Josemarías Beichtvater, der Jesuit P. Sánchez diesen: „Und<br />
wie steht es mit diesem Werk Gottes?“ 11 Anfänglich wollte der Vater weder eine<br />
Priester- noch eine Frauenbewegung gründen, sondern eine Bewegung männlicher<br />
Laien. Aber allmählich stießen Priester zu ihm, die bereit waren, ihm auf<br />
seinem Weg der Totalhingabe an das Werk Gottes zu folgen. 12 Der weibliche<br />
Zweig entstand als Folge seines Beicht-Apostolats unter jungen Frauen, ungeachtet<br />
des Abstands, den er stets in einer sehr betonten Weise zu wahren wußte. 13<br />
Von Anbeginn war das Opus Dei eine Gruppe von Menschen, die total entschlossen<br />
waren, sich selbst durch die Heiligung der Welt zu heiligen. Dies ist in<br />
der Tat die Antwort auf die von den Menschen der Moderne zur Zeit der Französischen<br />
Revolution getroffene Entscheidung, die Welt von Gott zu befreien.<br />
III.<br />
Bisher sind wir dem Lebensweg des Vaters in bestimmten Einzelheiten gefolgt.<br />
Natürlich können wir das aus Raummangel nicht durchhalten. Das entscheidende<br />
371
Ereignis im Leben Josemarías war die Vision des Opus Dei mit ihrem erneuerten<br />
Bewußtsein des Auserwähltseins zur Sohnschaft und dem Ideal der totalen<br />
Heiligkeit ohne bürgerliche Kompromisse und schizophrene Teilung zwischen<br />
Religion und Leben in der Welt. Die Grundlagen waren da, obwohl der weibliche<br />
Zweig des Opus Dei und die Priestergemeinschaft noch nicht einen Zustand<br />
der Reife erreicht hatten, durch den sie mit heraufziehendem Sturm hätten widerstehen<br />
können. Josemaría war Kaplan der Schwestern von S. Isabel, Reformierten<br />
Augstinerinnen. Seit dem Josefsfest 1935 bildete die Akademie DYA (Dios y<br />
Audacia oder Derecho y Arquitectura), ein Studentenheim in der Ferraz-Straße,<br />
das Zentrum. 14 Es war eine chaotische Zeit mit oft schweren Gefahren für das<br />
Leben des Vaters und seiner geistlichen Söhne. Seine wichtigsten Waffen bestanden<br />
in Gebet und Bußübungen, mit denen er seine mangelnde Vollkommenheit<br />
oder Heiligkeit zu strafen und auszurotten suchte.<br />
372<br />
IV.<br />
Im spanischen Bürgerkrieg wurden 4184 Weltpriester, 2365 Ordensmänner und<br />
283 Ordensfrauen ermordet. Die Zahl der ermordeten Bischöfe belief sich auf<br />
13. Der Vater stand mit vielen Mitgliedern des Opus auf der Liste und mußte von<br />
einem Versteck zum anderen fliehen. Z. B. lebte er von Oktober 1936 bis März<br />
1937 in der psychiatrischen Klinik des Dr. Suils. 15 Als die Lage dort für ihn<br />
unhaltbar wurde, floh er ins Konsulat von Honduras und begann eine verborgene<br />
Seelsorgstätigkeit. 16 Weil er aber in ständiger Todesgefahr schwebte, beschlossen<br />
seine geistlichen Söhne, ihn in die nationale Zone zu bringen. Josemaría<br />
verschaffte sich falsche Papiere, darunter eine Mitgliedskarte des anarchistischen<br />
Gewerkschaftsbundes Confederación Nacional del Trabajo, der ihm auch einen<br />
Passierschein für eine Reise nach Valencia ausstellte, wo er am 8. Oktober 1937<br />
eintraf. Zwei Tage später befand er sich in Barcelona, wo ihn Pascual Gelbe, ein<br />
ehemaliger Studienkollege, der jetzt Richter der Republik war, unterstützte. 17<br />
Am 19. November begann die abenteuerliche und gefahrvolle Flucht über Seo de<br />
Urgel nach Andorra, das Josemaría und seine Gefährten am 2. Dezember erreichten.<br />
18 Von Januar 1938 bis März 1939 lebte der Vater hauptsächlich in Burgos<br />
und widmete sich dem Wiederaufbau des Werkes.<br />
Die weiteren Stationen seines Lebensweges waren, abgesehen von den zahlreichen<br />
und weiten apostolischen Reisen, Madrid (1939-1946), wo er das Werk<br />
gegen kirchliche, akademische und staatliche Anklagen verteidigen mußte, und<br />
Rom (1946-1975). Die Jahrzehnte brachten die kirchliche Anerkennung des<br />
Werkes und der Priesterlichen Gesells chaft des Hl. Kreuzes, aber auch enorme<br />
Widerstände und Schwierigkeiten. Hinzu kam seit Beginn der 40er Jahre eine<br />
schwere Zuckerkrankheit, die beinahe zur Erblindung des Vaters führte. 19 Sie<br />
verschwand am 27. April 1954 in Folge eines anaphilatischen Schocks 20 , aber<br />
andere Krankheiten blieben.<br />
1. Zweifellos wäre noch unendlich viel zu sagen über Josemaría, seine enorme<br />
Korrespondenz, seine offiziellen Schreiben, Predigten und Veröffentlichungen,<br />
insbesondere „Der Weg“, „Im Feuer der Schmiede“ und „Die Spur des Sä-
manns“, die ihn zu einem der größten Aphoristiker der katholischen Kirchengeschichte<br />
und der kastilianischen Sprache machten.<br />
2. Man wird sich fragen, was eigentlich das Element in der religiösen Lehre des<br />
sel. Josemaría gewesen ist, das ihm und dem Werk den entscheidenden Durchbruch<br />
sicherte. Natürlich nahm er die gesamte Lehre der Kirche an, verteidigte<br />
sie und lehrte sie. Das dürfte jedoch nicht genügen, um die Menschen zu faszinieren.<br />
3.1 Wie für die Menschen der alten Christenheit, so sind auch für den sel. Josemaría<br />
die Dogmen und die Sittenlehre der Kirche sichere Zeichen am Weg, den<br />
der Mensch unter dem Einfluß der Gnade eingeschlagen hat und der in der Seligkeit<br />
des Himmels endet. Es geht um die Wahrheit des Glaubens, ohne den die<br />
Hilfe der Gnade versiegt. Leo Kardinal Scheffczyk hat aufgezeigt, wie die Gnade<br />
die Hauptrolle im geistlichen Leben Josemarías einnimmt, da sie „das aus der<br />
Einheit mit Gott in Jesus Christus strömende Leben erfährt“ und „einen neuerlichen<br />
Antrieb durch den Heiligen Geist und seine Gaben“ erhält. 21 Aber es geht<br />
nicht nur um Selbstheiligung, sondern um die Heiligung der Welt: „Bei der inneren<br />
Verschränkung von Selbst- und Weltheiligung im Konzept der Spiritualität<br />
Escrivás muß die Berufung der Laien zur Heiligkeit, zur Nachfolge Christi und<br />
zum Dienst an Christus, die schon den Getauften den allgemeinen priesterlichen<br />
Charakter verleiht, sogleich auch in eine Form des Apostolats übergehen“. 22 Die<br />
Gnade führt den Menschen zur Herrlichkeit des Himmels: „So ist das Himmlische<br />
die endgültige, nicht mehr steigerungsfähige Vollendung des Gnadenhaften,<br />
die Einigung mit den göttlichen Personen in Liebe, Freude, Friede, Heiligkeit<br />
und Herrlichkeit“. 23<br />
3.2 Kardinal Scheffczyk spricht ausführlich über die Bekehrung und Berufung<br />
des Christen, die beide untrennbar miteinander verbunden sind. 24<br />
4. Aus diesen kurzen Erwägungen wird deutlich, daß der Gnade und mithin ihrem<br />
Schöpfer eine absolut zentrale und fundamentale Rolle zukommt. Der sel.<br />
Josemaría hat das in seiner Lehre von der Filiatio oder Erwählung zur Sohnschaft<br />
oder Kindschaft zum Ausdruck gebracht.<br />
„So wissen wir, daß denen, die Gott lieben, alles zum Guten zusammenwirkt,<br />
denen, die berufen sind, wie er es vorausbestimmt hat. Denn denen, die er vorher<br />
erkannte, hat er auch vorherbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleich zu werden,<br />
der dadurch der Erstgeborene unter vielen Brüdern wird. Die er vorherbestimmt<br />
hat, die hat er auch berufen; die er berufen hat, die hat er gerecht gemacht,<br />
und die, die er gerecht gemacht hat, die hat er verklärt“. 25<br />
Die paulinische Lehre der Auserwählung und Vorherbestimmung hat der sel.<br />
Josemaría erneuert und belebt. Der Gegensatz zur heute noch modischen anthropozentrischen<br />
Theologie ist evident. Ende des Sommers 1931 hatte Josemaría in<br />
der Straßenbahn eine übernatürliche Anrede (locutio), die sich ihm unauslöschlich<br />
einprägte: „in einem ganz bestimmten Augenblick, z. B. flößte der Herr mir<br />
ein tiefes Empfinden der göttlichen Sohnwerdung ein. In menschlich gesprochen<br />
schwierigen Augenblicken, in denen ich außerdem die Sicherheit der Unmö glichkeit<br />
hatte – dessen, was ihr heute als Wirklichkeit Gewordenes betrachtet –<br />
373
spürte ich die Aktion des Herrn, der in meinem Herzen und auf meinen Lippen,<br />
mit der Gewalt einer gebieterischen Notwendigkeit, diese zärtliche Anrufung<br />
sprießen ließ: Abba, Pater“. 26<br />
Am 4. April 1972 sagte der Vater in einem Vo rtrag: „Ich weiß nicht, wohin ich<br />
uns im Gebet führen möchte. Das, was ich sagen will, daß der Herr uns geführt<br />
hat und führt entlang dem Weg der Hingabe an Seinen Willen ... Wie Söhne<br />
klammern wir uns an den Willen Gottes; und wir bewahren und verteidigen den<br />
Frieden und die Freude, um sie den anderen mitzuteilen“. 27 Noch am 27. März<br />
1975, drei Monate vor seinem Tod, am Vorabend seines Goldenen Priesterjubiläums<br />
bekannte Josemaría: „Nach 50 Jahren fühle ich mich wie ein stammelnder<br />
Säugling, ich beginne und beginne immer wieder... Ein Blick zurück ... ein immenses<br />
Panorama ... so viele Schmerzen, so viele Freuden. Und jetzt alles Freude,<br />
weil wir die Erfahrung haben, daß der Schmerz das Hämmern des Künstlers<br />
ist, der aus jedem von uns, aus der formlosen Masse, die wir sind, einen Gekreuzigten<br />
machen will, einen Christus, den alter Christus, der wir sein müssen“. 28<br />
Der Weg der geistlichen Kindheit oder Sohnschaft bedeutet kein frommes, aber<br />
kindisches Gehabe. „Frömmigkeit von Kindern, aber nicht von Ignoranten, denn<br />
ein jeder muß sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemühen, den Glauben<br />
ernst und wissenschaftlich zu erforschen. Genau das ist Theologie.“ Verhält sich<br />
jemand wie ein gutes Kind Gottes, „gelangt er – ohne zu wissen wie noch, auf<br />
welchem Wege – zu einer wunderbaren Vergöttlichung, die es uns gestattet, die<br />
Ereignisse im richtigen Rahmen zu sehen, mit dem übernatürlichen Maßstab des<br />
Glaubens; man bringt es fertig, alle Menschen zu lieben, wie sie der himmlische<br />
Vater liebt und – noch wichtiger – man erlangt neuen Schwung, sich in unserer<br />
täglichen Bemühung dem Herrn zu nähern“. 29<br />
5. Das Bewußtsein in der gnadenhaften Erwähltheit bildet den eigentlichen<br />
Schlüssel zum Verständnis des Vaters und des Opus Dei. Hier handelt es sich<br />
nicht um einen fatalistischen Fanatismus, sondern um eine absolute Sicherheit,<br />
die keine Gewalt benötigt, weil sie auf dem Wirken der göttlichen Liebe beruht:<br />
„L’amor che muove il sole e l’altre stelle“. 30<br />
Anmerkungen<br />
1) Ausführlich erwähnt mit Literaturangaben bei Quintín Aldea Vaquero, Die Kirche in<br />
Spanien und Portugal, in: Hubert Jedin und Konrad Repgen (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte,<br />
Bd. VII, Die Weltkirche im 20. Jahrhundert, Freiburg, Basel, Wien 1979,<br />
S. 616-617.<br />
2) Andrés Vásquez de Prada. Der Gründer des Opus Dei, Josemaría Escrivá. Bd. 1, Die<br />
frühen Jahre, Köln 2001, S. 27, 105.<br />
3) Ebd., S. 100.<br />
4) Romana et Matriten. Beatificationis et Canonizationis Servi Dei Josephmariae Escrivá<br />
de Balaguer Sacerdotis et Fundatoris Societatis S. Crucis et Operis Dei. Positio super vita<br />
et virtutibus. Biographia documentata, Roma(e) 1988, S. 67.<br />
5) Romana etc., S. 192: Doc. 4b.<br />
6) Vásquez, a. a. O., S. 262ff..<br />
374
7) Ebd., S. 279-280.<br />
8) Romana et Matriten, etc., a. a. O., S. 22-223.<br />
9) Ebd.., S. 224.<br />
10) Romana etc., a. a. O., S. 225 n.204.<br />
11) Vásquez, a. a. O., S. 318.<br />
12) Ebd.., S. 422f., 434ff., 532-535.<br />
13) Ebd.., S. 532.<br />
14) Vásquez, a. a. O., S. 515-519.<br />
15) Romana et Matriten etc., S. 441.<br />
16) Ebd.., S. 462-468.<br />
17) Ebd., S. 487-488.<br />
18) Ebd., S. 511.<br />
19) Ebd., S. 681-683: Doc.9.<br />
20) Ebd., S. 1382.<br />
21) Leo Kardinal Scheffczyk, Die Gnade in der Spiritualität von Josemaría Escrivá, in:<br />
César Ortiz (Hrsg.), Josemaría Escrivá. Profile einer Gründergestalt, Köln 2002, S. 57-80;<br />
S. 75.<br />
22) Ebd., S. 70.<br />
23) Ebd., S. 78.<br />
24) Ebd., S. 66-69.<br />
25) Röm. 8,28-30 (Rießler-Storr).<br />
26) Romana et Matriten. Beatificationis etc.. Studium criticum super virtutum heroicitate,<br />
Roma(e) 1988, S. 259.<br />
27) Ebd., S. 259.<br />
28) Ebd., S. 261.<br />
29) Romana et Matriten, etc. Informatio, Roma(e) 1988, S. 64-65 (Voto del 2 Teologo<br />
Censore); vgl. ebd. S. 100-102 und 119 (Voto del 1 Teologo Censore sugli scritti inediti).<br />
30) „Die Liebe, die die Sonne rollt und Sterne“ (Dante, Div. Com., Paradiso, C.XXXIII,<br />
145).<br />
Pater Professor Dr. Ambrosius Esser O.P. ist Generalrelator der römischen<br />
Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen und war zuständiger Relator<br />
im Kanonisationsverfahren von Josemaría Escrivá.<br />
375
376<br />
Hans Thomas<br />
Was ist das Opus Dei?<br />
Moskau, Frühjahr 1980: Der orthodoxe Priester Alexandr Men, in dessen Gemeinde<br />
sich die Intelligentzia sammelt, trifft sich wie oft mit einem Kreis seiner<br />
Getreuen. Vater Alexandrs Ausführungen werden auf Tonband mitgeschnitten:<br />
„Seit einigen Jahrzehnten gibt es im Westen eine Bewegung namens Opus Dei,<br />
Werk Gottes. Es wurde von einem Portugiesen gegründet. Er heißt Josemaria<br />
Escriva. Die Bewegung ist in der Welt weit verbreitet. Escriva hat ein kleines<br />
Buch geschrieben, Der Weg: eine Sammlung von Aphorismen. Ich hoffe, daß<br />
wir es eines Tages übersetzen, damit Sie es lesen können. Escriva sagt, daß<br />
Christsein nicht heißt, ein gut-bürgerliches Leben zu führen wie ein Heide, um<br />
dann Sonntags vielleicht zwei Stunden der geistlichen Erhebung zu widmen.<br />
Christsein bedeute, es immer zu sein, jeden Tag, in den gewöhnlichsten Situationen<br />
und Dingen.“ Vater Aleksandr Men wurde zwei Jahre später ermordet. Seine<br />
eigenen geistlichen Schriften erreichen inzwischen allein in Russisch eine Gesamtauflage<br />
von 6 Millionen.<br />
„Portugiese“: Unter sowjetischen Verhältnissen waren nähere Informationen wie<br />
die, daß Escrivá Spanier war, schwer zu erlangen. Mit einem der damals Anwesenden<br />
traf ich im Januar 2001 in Rom zusammen. Den Moskauer Dichter und<br />
Schriftsteller Aleksandr Zorin hatte Vater Aleksandr Men zum orthodoxen Christentum<br />
bekehrt und 1975 getauft. Alik Zorin hat mir das damalige Geschehen<br />
geschildert. In nachfolgenden öffentlichen Auftritten habe Vater Alexandr Men<br />
offen über Escrivá und die laikale Spiritualität des Opus Dei gesprochen.<br />
Aus Anlaß des 100. Geburtstags des Seligen Josemaría Escrivá richtete im Januar<br />
2002 die Päpstliche Universität vom Heiligen Kreuz in Rom den Internationalen<br />
Kongreß „The Grandeur of Ordinary Life“ aus, bei dem ich einen workshop<br />
zu leiten hatte. Ergänzend zu den philosophisch-theologischen Kongreß-Vorträgen<br />
sollten die workshops den Einfluß der Botschaft des Seligen Josemaría im<br />
praktischen Leben und der beruflichen Arbeit konkreter Menschen sichtbar werden<br />
lassen: von Menschen unterschiedlichster Länder, Lebensbereiche und Berufe,<br />
in unserem Fall: von Künstlern. Titel: „Artistic Creativity“. 1 Der workshop<br />
versammelte Künstler von Moskau bis Vancouver. Zorin trug seine Geschichte<br />
bei.<br />
I. Begegnung mit dem Opus Dei<br />
Alik Zorin konnte bald eine Samizdat-Ausgabe einer russischen Übersetzung von<br />
Der Weg erwerben. Genauer: die Durchschlagpapier-Kopie Nr. 5 einer Schreibmaschinen-Fassung,<br />
noch gerade lesbar, wenn er ein weißes Papier hinterlegte.<br />
Zuerst faszinierte ihn die literarische Dichte der Aphorismen, dann die unkonventionelle<br />
Verbindung von geistlicher Betrachtung und lebenspraktischer Her-
ausforderung. Allerdings, so Zorin, sei ihm ein merkwürdiger Kontrast aufgefallen<br />
zwischen der modernen Direktheit persönlicher Ansprache und den im kirchlichen<br />
Altslavisch zitierten Bibel- und Liturgietexten. Dies habe er aber zunächst<br />
für einen Trick des Verfassers gehalten, um den KGB abzulenken. Mit der alten<br />
Kirchensprache vertraut, würde der KGB den Text gewiß unter „das Übliche“<br />
ablegen.<br />
Zorin hat der Text 20 Jahre begleitet. Er habe, sagt er, Entdeckung um Entdekkung<br />
gemacht. Das Buch habe seine Weltsicht verändert und sein Verhältnis zur<br />
eigenen Poesie revolutioniert. Mit Einführung der Marktwirtschaft sei beispielsweise<br />
Lyrik in Rußland kaum noch verkäuflich gewesen, wurde folglich auch<br />
kaum noch gedruckt. Ein Dichter brauche aber ein Gegenüber, mit dem er im<br />
Dialog stehe, ein Publikum, das ihn legitimiere. Er habe damals begriffen, daß<br />
er, um seine Arbeit zu legitimieren, nicht mehr irgendeines Publikums draußen<br />
bedurfte. Vielmehr sei seitdem sein erstes Publikum und seine Jury jene höchste<br />
Autorität, der er auch sein Talent verdanke, Gott. Dabei erinnert er an die Erzählung<br />
des seligen Escrivá, der in Burgos gern mit den jungen Leuten auf einen<br />
Turm der Kathedrale stieg und sie auf die Filigranarbeit des gotischen Maßwerks<br />
aufmerksam machte, wahre Wunderwerke, die von unten gar nicht zu sehen<br />
waren. 2<br />
„Für mich“ sagt Zorin, „ist Der Weg mehr als Literatur. Er leitet zum Handeln<br />
an, er ist eine Blaupause für die Umsetzung des Evangeliums ins Leben – von<br />
zeitloser Relevanz. (...) Was für Inhalte – so reich, so intim, so vertraut! Ich habe<br />
das Buch zu einem Stück von mir gemacht, zu meinem Ausgangspunkt! Mich<br />
fasziniert sein stenographischer Stil – eine Stenographie des Geistes. Die wollte<br />
ich in meine poetischen Fassungen hineinholen.“<br />
Zorin übertrug Teile von Der Weg in Verse. Der Komponist Yuri Pasternak hat<br />
sie in Ton gesetzt. Vermutlich ist die orthodoxe Gemeinde, der Zorin angehört,<br />
heute der einzige Ort, wo Texte aus Der Weg gesungen werden.<br />
Anfang der 1990er Jahre konnte man mitunter in der Presse von angeblich aufregenden<br />
strategischen Konzepten des Opus Dei in Osteuropa lesen. Der Wirklichkeit<br />
näher ist der Fall Alik Zorins, exemplarisch auch sein Wunsch nach näheren,<br />
auch persönlichen Kontakten. Er ist nicht der einzige. Nicht wenige Bischöfe in<br />
Ländern Osteuropas tragen den Wunsch vor, das Opus Dei möge in ihren Diözesen<br />
tätig werden. Es gibt bislang keine Niederlassung der Prälatur in Rußland,<br />
aber mehr oder minder regelmäßige Reisen eines Laien und öfter auch eines<br />
Priesters von Helsinki nach Moskau und St. Petersburg. An einem Pontifikalamt<br />
von Erzbischof Kondrusiewicz zu Ehren des Seligen Josemaría in der St. Ludwigs-Kirche<br />
in Moskau im Januar 2002 nahmen 400 Personen teil. Alik Zorin<br />
war so überrascht wie erfreut.<br />
Also: Was ist das Opus Dei? Ich nehme mir einfach heraus, hier gar nicht zu<br />
erklären, was eine Personalprälatur ist. Es ist zwar interessant und wichtig, weil<br />
in dieser vom II. Vatikanischen Konzil angestoßenen rechtlichen Neuschöpfung<br />
das Opus Dei eine seinem Wesen gemäße Einordnung in die Struktur der Katholischen<br />
Weltkirche gefunden hat. Es hat aber z. B. bei meiner Begegnung mit<br />
377
dem „Werk“ keine Rolle gespielt. Sollte jemand Zweifel haben, wie denn die<br />
katholische Kirche als solche nun eigentlich zum Opus Dei steht, mag der Hinweis<br />
darauf genügen, daß Papst Johannes Paul II. den Gründer am 6. Oktober<br />
heiliggeprochen hat. Es sei denn, der Zweifel bezieht sich mehr als auf das Opus<br />
Dei auf die Kirche selbst.<br />
Bei mir selbst war es anders als bei Alik Zorin. Ich habe nicht zuerst Schriften<br />
des Gründers noch etwas über das Opus Dei gelesen. Ich bin, wenn ich ehrlich<br />
bin, auch gar nicht dem Opus Dei begegnet. Ich habe nur einige Personen kennengelernt.<br />
Wir wurden Freunde. Natürlich haben sie mir vom Opus Dei, von<br />
„Berufung“, von Hingabe mitten in der Welt erzählt. Das fand ich gut, aber eher<br />
etwas für meinen Bruder Rolf, der für solche Dinge schon immer mehr „Antenne“<br />
gehabt hatte. Katholisch war ich allerdings auch, und der Glaube war mir<br />
auch keineswegs gleichgültig.<br />
Diese Freunde haben mich beeindruckt, vor allem einer. Und zwar mit meist<br />
ganz einfachen Dingen. Zum Beispiel steht der mitten in einer Unterhaltung oder<br />
während der Arbeit im Labor plötzlich auf und sagt: Es ist zwölf, beten wir den<br />
Engel des Herrn? Vielleicht hätte es gar keinen besonderen, sogar einen absonderlichen<br />
Eindruck auf mich gemacht, wenn ich ihn nicht als ein regelrechtes<br />
„Arbeitstier“ gekannt hätte und dennoch oft für mich soviel Zeit hatte, als hätte<br />
er kaum etwas zu tun. Fast immer gut gelaunt, steckte er mit seinem Optimismus<br />
an, ja feuerte an. Dinge, die mich bedrückt hätten, schien er einfach wegzustekken.<br />
Religiöse Gespräche waren häufig - und immer sehr persönlich. Er war<br />
hartnäckig. Ich auch. Lange Zeit. Irgendwann fing die Sache an, mich „zu kratzen“.<br />
Dem Kontakt lieber aus dem Weg gehen? Feigheit! Denn das war mir klar:<br />
Nicht er, der Georg, war es, der mich „kratzte“. Derjenige, der „kratzte“, kratzte<br />
jedenfalls schließlich mit Erfolg. Dafür bin ich aber auch dem Georg noch heute<br />
dankbar.<br />
Offenbar bin ich kein Sonderfall: In North-Vancouver, Canada, lebt Arnold Shives.<br />
Er ist Maler. Seit er 1972 katholisch wurde, sagt er, habe er zwar gebetet,<br />
aber seine Malerei habe damit und mit seinem Glauben irgendwie nichts zu tun<br />
gehabt. Das sei ihm selbst aufgefallen und habe ihn gestört. Im katholischen<br />
Milieu habe er dann den Eindruck gewonnen, eigentlich sollte er vielleicht auf<br />
religiöse Malerei umschalten. Dagegen habe er andererseits instinktiv eine Abneigung<br />
entwickelt. Irgendwie habe er gespürt, daß dies weder der Kunst noch<br />
dem Glauben gerecht werde. Von den Leuten vom Opus Dei, die er dann kennenlernte,<br />
hätte tatsächlich niemand ihm je gesagt, es sei besser, sich an religiösen<br />
Themen zu versuchen, geschweige denn einen Rat in die Richtung gegeben.<br />
Vielmehr habe er durch sie begriffen, daß es darum gehe, in seiner gewohnten<br />
Atelierarbeit wie im sonstigen Alltagsleben Gott näher zu kommen und Umgang<br />
mit ihm zu pflegen.<br />
378<br />
II. Im Alltäglichen das Göttliche entdecken<br />
Als Neubekehrter habe er an mancher Unordnung nicht nur in der Gesellschaft<br />
allgemein, sondern auch unter Katholiken Anstoß genommen. Das habe eine
Sympathie für Traditionalisten heraufbeschworen. Dank der Freunde vom Opus<br />
Dei sei er auch aus diesem ungesunden Dunst bald herausgewesen. Zwei Entdekkungen<br />
hätten ihm dabei geholfen: Daß seine Arbeit nach den Worten des Heiligen<br />
Josemaría „der Angelhaken unserer Heiligung“ ist, und daß er bei allem<br />
persönlichen Ungenügen dennoch Kind Gottes sei. Das sei wie klares, sonniges<br />
Wetter. Aber lassen wir ihn selbst sprechen: „Besonders ermutigend fand ich die<br />
Lehre des Seligen Josemaría, was die Arbeit und die Freiheit anlangt. Er schob<br />
beiseite, was er treffend ‚mystisches Wunschdenken’ nannte und half mir, Praxis<br />
und Theorie zusammenzubringen. (...) Der Kampf mit dem Endziel der theologischen<br />
Tugenden wird so menschlich: er beginnt und endet mit Sportsgeist. Ich<br />
lernte, oft Stoßgebete einzustreuen, z. B. das dem Seligen Josemaría so beliebte<br />
‚nunc coepi’: Jetzt fange ich an.“<br />
Darauf angesprochen, ob er Veränderungen in seinem Arbeitsrhythmus oder<br />
Tagesablauf festgestellt habe, erzählt Arnold als erstes, daß ihn die Warnung des<br />
Seligen Josemaría vor einer „bourgeoisen Mentalität“, vor jeglicher Verspießerung,<br />
gleich begeistert habe. Als Künstler sei ihm natürlich ein Hang zur Bohème<br />
und zum Chaotischen vertraut. Der Schlachtruf der modernen Künstler<br />
„épater la bourgeoisie“ stecke auch ihm in den Knochen. Das Bemühen darum,<br />
bei aller Arbeit Zeit für das Gebet und ein Leben mit den Sakramenten zu finden<br />
und auch die Familie nicht zu vernachlässigen, habe aber seinen Arbeitsstil – oft<br />
bis spät in die Nacht – revolutioniert. Er habe einfach Ordnung in seinen Tagesablauf<br />
bringen müssen. Erste Frucht: ein Stunde mehr Schlaf. Laut Urteil seiner<br />
Frau sei er seitdem gar nicht mehr so grantig, sondern viel erträglicher geworden.<br />
Richtig dankbar sei er dem Seligen Josemaría dafür, sein Verständnis von beruflichem<br />
Prestige korrigiert zu haben. Richtig verstanden, „kommt das berufliche<br />
Prestige“, so Arnold, „endlich aus dem ätzenden Klima bloßer Eitelkeit heraus<br />
und findet seinen Platz als Anlaß, Gott zu loben – und als Werkzeug des Apostolates.<br />
Durch den Seligen Josemaría habe ich berufliche Enttäuschungen und<br />
Niederlagen, ob nun selbstverschuldet oder nicht, richtig einordnen gelernt: zum<br />
einen als Herausforderung, besser zu werden. Vor allem aber lernte ich, auch in<br />
Niederlagen noch einen Beweis der Nähe und Zuneigung Jesu zu sehen, während<br />
ich früher nur Versagen und Widerspruch beklagte.“<br />
Zu der so wichtigen Frage, wie mit eigenen Erfolgen – und eben auch Mißerfolgen<br />
– umgehen, berichtet ganz ähnlich die junge Mailänder Pianistin Stefania<br />
Cafaro: „Der Geist des Opus Dei hat mich gelehrt, die Leidenschaft für den<br />
Beruf und gesunden Ehrgeiz damit zu vereinbaren, Gott in meinem Leben an die<br />
erste Stelle zu setzen.“ Die Nagelprobe sei der für den Solisten magische Augenblick,<br />
das Konzert. „Und da erlaubt mir der Applaus, dem Herrn zu sagen: ‚Dieser<br />
Applaus ist für dich, zu deiner Ehre: Danke, Herr!’ Vom Seligen Josemaría<br />
habe ich gelernt, daß Demut nicht darin besteht zu sagen, ich spiele schlecht,<br />
vielmehr darin zu sagen: Danke, Herr, denn wenn ich gut spiele, dann deshalb,<br />
weil du mir dieses Talent gegeben und mir geholfen hast, es zu entfalten.“<br />
Man nimmt es Stefania einfach ab, wenn sie sagt, daß ihr das auch eine vorher<br />
nicht gekannte Gelassenheit gibt. Sie arbeite einfach mit mehr Frieden und Freu-<br />
379
de. Und es habe ihre Musik für die anderen offener gemacht, sprich: ihre<br />
Sensibilität teile sich besser mit und es entstehe so etwas wie ein Dialog mit den<br />
Zuhörern. „Und ich habe gelernt“, fügt sie noch hinzu, „zu lächeln. Der<br />
Augenblick des Konzerts ist ein besonderer Augenblick. Da ist die Freude zu<br />
spielen und zugleich die Angst, und beide sind nicht zu trennen. An der Hand<br />
des Seligen Josemaría habe ich gelernt, auch inmitten der Angst das Spielen zu<br />
genießen. Ich denke einfach, daß Jesus bei mir ist und mit mir spielt. Er bringt<br />
mich beim Spielen zum Lächeln, denn ich will mein Genießen ja zu den Hörern<br />
herüberbringen.“<br />
380<br />
III. Berufung zur Heiligkeit<br />
Man stelle sich vor, hierzulande machten Tausende und Abertausende von gläubigen<br />
Christen, in gleich welchen Situationen und Berufen, plötzlich in dem<br />
Sinne ernst mit ihrem Glauben, daß sie – zu Hause, in der Werkstatt, im Geschäft,<br />
in der Schule, im Theater, in der Wissenschaft, in der Politik – bei allem,<br />
was sie tun, ob sie das nun gerade für wichtig halten oder für unwichtig, vor<br />
allem bestrebt sind, es aus Liebe zu Christus zu tun.<br />
Wer würde nicht, wenn er stets Christus vor Augen hätte, erstens, fast alles besser<br />
tun? Und wäre nicht, zweitens, endlich auch die Trennung überwunden zwischen<br />
unserem Alltag und unserem Verhältnis zu Gott – und zwischen den verschiedenen<br />
„Rollen“, die wir auf der Bühne der Gesellschaft jeweils zu spielen<br />
haben? Der Schreinermeister Meyer, der Familienvater Meyer, der Kirchgänger<br />
Meyer und der Kommunalpolitiker Meyer wären endlich ein und derselbe Herr<br />
Meyer: Leben aus einem Guß. Das ist, etwas kurz und vereinfacht, die Kernbotschaft<br />
des Heiligen Josemaría Escrivá und die raison d’ètre des Opus Dei.<br />
In dieser verkürzten Antwort auf unsere Titelfrage „Was ist das Opus Dei?“ liegt<br />
allenfalls die Gefahr, die Berechtigung des Opus Dei vorschnell an Breitenwirkungen<br />
zu messen. Entscheidend ist, daß es mir hilft, meinen Alltag zu heiligen<br />
(wozu auch gehört, andere im Herzen mit der Liebe Christi anzurühren). Mir<br />
wurde häufiger die Frage gestellt, ob man dazu des Opus Dei bedürfe. Meine<br />
Antwort: Um als Weltchrist – ob als Laie oder als Weltpriester – den Alltag zu<br />
heiligen, muß man nicht im Opus Dei sein. Mir hat das Opus Dei aber entscheidend<br />
geholfen, die Herausforderung zu verstehen und anzupacken. Allerdings:<br />
Nun bietet uns Laien und den Weltpriestern Gott diese Hilfe in der Kirche an. Ob<br />
man sie annimmt oder ausschlägt, ist also auch keine ganz unerhebliche Frage.<br />
Während seiner durchaus erfolgreichen Karriere liebäugelte der Burgschauspieler<br />
Michael König vor seiner Wiener Zeit mit den Ideologien der 1968er Bewegung:<br />
Materialismus, Klassenhaß, radikale Emanzipation. Dann wachte er eines<br />
Tages auf vor den Ruinen eines totalitären Relativismus und der sinnlosen Beliebigkeit.<br />
Er fühlte sich erneut aufgerufen, sich „dem dreifaltigen Gott und der<br />
katholischen Kirche“ zuzuwenden.<br />
„Zu dieser Entscheidung“, schreibt er, „fand ich gemeinsam mit meiner Frau.<br />
Die Umkehr wurde schon bald auf harte Proben gestellt durch das Verhalten von<br />
Zeitgenossen, für die ein papsttreuer Katholik ein gefährlicher Geisteskranker zu
sein scheint. Ich wollte ernstmachen mit meiner Taufberufung. Nach einigen<br />
Fehlversuchen stieß ich auf das Büchlein Der Weg von Josefmaria Escrivá. Ich<br />
hatte schon vorher über das ‚Opus Dei’ gelesen, angeregt durch das Magazin<br />
‚Der Spiegel’. Dessen üppiger Haß brachte mich zu der Vermutung, es müsse<br />
sich hier um ein bemerkenswertes Phänomen handeln.“ König zitiert einige Stellen<br />
aus Der Weg, die ihn damals blitzartig berührt haben, und fährt fort: „Ich<br />
fühlte mich ‚ertappt’. Aber nicht im Sinne peinlicher Entlarvung, sondern im<br />
Sinne inständiger Aufforderung zur Umkehr zu christlicherem Leben. Tatsächlich:<br />
hier war eine klare, aus genauer Kenntnis der Möglichkeiten und Schwächen<br />
des Menschen fordernde, begeisternde Ansprache, die in die verborgensten<br />
Kavernen der Seele reichte mit ihrer unbändigen Liebe zu Gott und seinen Geschöpfen.<br />
Hier war ein Weg, die Einheit von Leben und Glauben mitten im Betrieb<br />
der Welt zu verwirklichen. ‚Alle anständigen Berufe’, schreibt der Selige<br />
Josefmaria, ‚können und sollen geheiligt werden’.“<br />
Josemaría Escrivá warnte die Laienchristen vor einer Art Bewußtseinsspaltung<br />
oder Doppelleben – hier die ganz säkularisierte Welt des Berufs und der Gesellschaft,<br />
dort die Religion, begrenzt auf den Kirchenraum, und forderte sie auf,<br />
„das geistliche Leben zu materialisieren“. Hierauf Bezug nehmend, erinnert<br />
Nikolaus Lobkowicz, ehem. Präsident zuerst der Universität in München, dann in<br />
Eichstätt – selbst nicht Mitglied des Opus Dei –, daran, daß es nach den Texten<br />
des Neuen Testaments „auf dieser Welt nichts gibt, was durch die Menschwerdung<br />
des Logos und die Auferstehung Jesu nicht radikal verändert worden wäre.“<br />
Escrivá denke vor allem an die Laien, so Lobkowicz weiter, und habe „die<br />
(von der Kirche freilich nie ausdrücklich bejahte) Tradition vor Augen, nach der<br />
man, wenn man Heiligkeit anstrebt, Priester wird oder in einen Orden eintritt.<br />
Danach könne der Laie, eben weil er ‚in der Welt’ bleibt, nicht mehr erreichen,<br />
als ein ‚anständiger’ Christ zu sein.“ Mit seiner Betonung, jeder Beruf, jede Tätigkeit,<br />
und in ihnen auch die unbedeutendste Kleinigkeit, seien Situationen, in<br />
denen Gott auf den Menschen wartet, wolle Escrivá die christlichen Laien mobilisieren<br />
mit dem Zuruf, auch sie seien zur Heiligkeit berufen. Das II. Vatikanische<br />
Konzil habe wohl kaum beabsichtigt, pointiert Lobkowicz, „die Laien dazu<br />
einzuladen, ständig um den Altar herumzuspringen und sich zudem in die Aufgaben<br />
der Bischöfe und der Priester einzumischen“. Die Bitte der Konzilsväter<br />
laute vielmehr. „Seid dort, wo ihr gerade steht, und zwar nicht nur am Sonntag,<br />
Christen im Vollsinn des Wortes – nehmt euren Beruf, euer Familienleben, alles,<br />
was ihr tut, als Aufgabe wahr, die der Herr euch aufgetragen hat. Und seid zugleich<br />
– in unaufdringlicher Weise – Apostel.“ 3<br />
Wie man in aller Unaufdringlichkeit den sich bietenden Gelegenheiten apostolische<br />
Chancen ablauschen kann, hat mich an den eher beiläufigen Erzählungen<br />
der jungen Pianistin Stefania Cafaro beeindruckt. Da hockt sie nach vier Ausleseproben<br />
mit zwei weiteren italienischen und zwei japanischen Pianistinnen vor<br />
dem entscheidenden Konzert in der Theaterrequisite zusammen. Fünf Rivalinnen.<br />
Keine sagt ein Wort. Da fällt ihr ein, daß sie einen Riegel Schokolade in der<br />
Tasche hat. Sie teilt auf und bietet an. Es folgt eine sympathische Unterhaltung –<br />
mit Humor und Lachen. Das Klima der Rivalität ist wie weggeblasen. Eine ande-<br />
381
e tüchtige junge Pianistin – aus Mailand wie sie – war schon vorher ausgeschieden.<br />
Stefania rief sie an, als sie auch wieder in Mailand zurück war. Einfach so.<br />
Die Kollegin war völlig überrascht. Die beiden trafen sich nun öfter und freundeten<br />
sich an. Sie sprachen über Musik – und dann auch über Gott. Hiermit habe<br />
die Freundin zunächst weniger anfangen können, aber nach und nach sei sie<br />
neugieriger geworden.<br />
Noch eine Begegnung – in Siena. Für das Schlußkonzert einer Meisterklasse war<br />
die Auswahl auf sie gefallen war – gemeinsam mit einer armenischen Kollegin.<br />
Wenige Tage vor dem Konzert üben beide an zwei Klavieren. Die Armenierin<br />
hat den schlechteren Flügel erwischt. Sie spielen stundenlang. Irgendwann sagt<br />
Stefania: Komm, wir wechseln mal das Klavier. Nachher sagt ihr die orthodoxe<br />
Kollegin: Ich glaube, daß ich verstanden habe, was Katholischsein heißt.<br />
382<br />
IV. Freie Bürger; Handeln im eigenen Namen<br />
Lobkowicz reibt sich übrigens an dem Ruf, das Opus Dei sei konservativ. „Sollte<br />
damit gemeint sein“, schreibt er, „Mitglieder des Werkes würden sich zu einer<br />
bedingungslosen Treue zur Kirche bekennen, so trifft diese Charakterisierung<br />
zwar zu. Es ist freilich schwer zu verstehen, warum diese Verhaltensweise als<br />
konservativ bezeichnet werden sollte. Die Treue eines Christen zum Glauben<br />
und der Lehre der Kirche ist ja weder konservativ noch progressiv, weder links-<br />
noch rechtslastig, sie ist zunächst einmal eine Treue zum menschgewordenen<br />
Logos, zu Jesus Christus. Dies als konservativ bezeichnen könnte im Grunde nur<br />
jemand, der Treue für ein rückständiges Verhalten hält.“ 4<br />
Dann wendet Lobkowicz den Begriff politisch und widerspricht seiner Anwendung<br />
auf das Opus Dei ebenso. Denn besonders nachdrücklich habe Escrivá<br />
bestanden auf der völligen Freiheit der Mitglieder des „Werkes“ wie überhaupt<br />
der Laien in allen beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Fragen. Hierzu<br />
führt Lobkowicz eindeutige Aussagen des Gründers an, die bis in die Anfangszeit<br />
des Opus Dei zurückreichen. 1932: „Wir sind Bürger gleich den anderen: die<br />
gleichen Pflichten, die gleichen Rechte. – Politische Freiheit der Mitglieder,<br />
Männer wie Frauen. Deshalb Meinungsvielfalt im Menschlichen.“ 5 1967: „Wir<br />
dürfen nie vergessen, daß – auch unter Katholiken – ein gesunder Pluralismus<br />
der Meinungen in allen Angelegenheiten, die Gott der freien Diskussion der<br />
Menschen überlassen hat, nicht nur mit der hierarchischen Ordnung und der<br />
notwendigen Einheit des Volkes Gottes völlig im Einklang steht, sondern sie<br />
sogar stärkt und vor Verfälschungen bewahrt.“ 6 Jede fundamentalistische Versuchung<br />
sei damit abgewehrt. Noch zugespitzter, auch gegen klerikalistische Bevormundung<br />
der Laien gewandt, 1968: „Eine der größten Gefahren, die die Kirche<br />
heute bedrohen, könnte darin bestehen, (die) göttliche Forderung der christlichen<br />
Freiheit nicht anzuerkennen und aus Gründen einer vermeintlich größeren<br />
Wirksamkeit den Christen eine weitgehende Gleichgestaltung aufzwingen zu<br />
wollen.“ 7<br />
Als freier Bürger des weltlichen Gemeinwesens soll sich der schon erwähnte<br />
Herr Meyer also die persönliche Verantwortung zumuten, die seine Freiheit nun
einmal mit sich bringt – und sich, wo es für Religion oder Kirche einzustehen<br />
gilt, sich nicht hinter vermeintlichen „Profis“ verschanzen, sei es nun hinter<br />
seinem Pfarrer, den Bischöfen, dem Papst oder kirchlichen Institutionen, sondern<br />
sein Leben aus dem Glauben zuerst einmal – in Verantwortung vor Gott und der<br />
Kirche – als seine eigene Sache ansehen und in seinem eigenen Namen vertreten.<br />
In diesem Zusammenhang ist es geradezu amüsant, wenn manche Kreise – auch<br />
katholische – der kirchlichen Personalprälatur Opus Dei vorhalten, sie verschanze<br />
oder verstecke sich hinter ihren Mitgliedern, tarne sich sozusagen mit deren<br />
Initiativen, die sie als Bürger ergreifen, weil diese gesellschaftlich im eigenen<br />
Namen auftreten und nicht als kirchliche Funktionäre. Aber mit der Zeit wird die<br />
Botschaft des II. Vatikanischen Konzils von der Berufung und Sendung der<br />
Laien doch noch durchsickern.<br />
Bekanntlich wurde aber das Opus Dei öffentlich nicht nur mit dem Vorwurf des<br />
Geheimen konfrontiert, sondern auch noch mit einer ganzen Reihe anderer Ve rdächtigungen,<br />
auf die ich hier im einzelnen nicht eingehen kann. Als 1984 in<br />
einigen deutschen Medien, besonders im WDR, schon ein Jahr lang ein regelrechter<br />
Sturm der Kritik am Opus Dei tobte, sprach Kardinal Höffner öffentlich<br />
von „Kölner Opus-Dei-Hetze“ und erklärte: „Wenn ein neu in der Kirche entstandenes<br />
Werk nicht angegriffen wird, liegt die Vermutung nahe, daß dieses<br />
Werk nicht von Gott ist“ und fügte hinzu: „Durch seine parteiischen und gehässigen<br />
Sendungen gegen Opus Dei hat der Westdeutsche Rundfunk den Seligsprechungsprozeß<br />
des Gründers ungewollt gefördert.“ 8<br />
V. Was heißt Heiligkeit?<br />
Seligsprechung, Heiligsprechung, Heiligung, Heiligkeit: Was heißt das alles<br />
überhaupt?<br />
Der heilige Paulus begrüßte noch alle Mitglieder der christlichen Gemeinden als<br />
„die Heiligen“. Der Begriff ist dann irgendwann aus dem Alltagsgebrauch verschwunden<br />
und in die Schauvitrine der guten Stube gestellt worden, neben andere<br />
seltene und außergewöhnliche Erinnerungsstücke. Kardinal Meisner sagte am<br />
19. Januar im Kölner Dom, wir hätten Josemaría Escrivá die Wiederentdeckung<br />
zu verdanken, „daß Heiligkeit kein Privileg für besondere Gruppen in der Kirche<br />
ist, sondern die schlichte und selbstverständliche Berufung jedes Christen, ob im<br />
Kloster oder in der Welt.“ Sonst läge in der Kirche eine unerträgliche Diskriminierung<br />
vor. Es gebe aber in der Kirche keine Zweiklassengesellschaft.<br />
Heiligsprechung: Natürlich wird da nicht jemand zum Heiligen „gemacht“. Es<br />
gibt sehr viel mehr Heilige als von der Kirche „heiliggesprochen“ werden. Die<br />
Heiligsprechung ist, genau genommen, die kirchliche Erlaubnis, daß ein Ve rstorbener,<br />
der von vielen Menschen bereits als Heiliger angesehen und verehrt<br />
wird, nun auch in der Kirche öffentlich als Heiliger verehrt werden darf. Heilige<br />
sind Vorbilder. Insofern ist es für eine Heiligsprechung nicht unerheblich, ob der<br />
Betreffende mit seinem Leben den heutigen und zukünftigen Zeitgenossen etwas<br />
aktuell Wichtiges zu sagen hat. Um beim Gründer des Opus zu bleiben: daß<br />
Escrivá nicht etwa nur den Angehörigen des Opus Dei, sondern allen Gläubigen<br />
383
der Kirche Wesentliches zu sagen hat. Beim Festgottesdienst zum 100. Geburtstag<br />
Escrivás im Kölner Dom am 19. Januar 2002 drückte es Kardinal Meisner<br />
so aus: „Der selige Josefmaria ist und bleibt der Gründer des Opus Dei, aber<br />
er gehört uns allen in der Kirche.“<br />
Seligsprechung: Die Seligsprechung ist eine Etappe im langwierigen Verfahren<br />
bis zur Heiligsprechung. Einer Seligsprechung geht, sofern es sich nicht eindeutig<br />
um einen Märtyrer (Blutzeugen) handelt, ein strenges Prüfungsverfahren, der<br />
sogenannte Seligsprechnungsprozeß, voraus. Dieser ist ein ins einzelne des ganzen<br />
Lebens des Verstorbenen gehendes Prüfungsverfahren in der Form eines –<br />
stets jahrelangen – Gerichtsverfahrens. Zur Heiligsprechung eines Seligen ist<br />
dann noch Bedingung, daß seit der Seligsprechung mindestens ein Wunder geschieht<br />
(wissenschaftliche Prüfungskommission!), welches eindeutig der Fürsprache<br />
des Seligen zu verdanken ist (theologische Prüfungskommission!), und<br />
daß eine Kardinalskommission beide Ergebnisse billigt.<br />
Apropos Prüfungsverfahren: Über einen Mangel an Prüfungen können wir uns in<br />
unserer Leistungsgesellschaft wahrhaftig nicht beklagen. Die Vorbilder der Leistungsgesellschaft<br />
sind Nobelpreisträger und Stars. Sie haben es – je auf ihrem<br />
Spezialgebiet – zu etwas gebracht. Sie heißen Einstein oder Kofi Anan, Steffi<br />
Graf oder Jan Ullrich, Gerhard Schröder oder Edmund Stoiber, Madonna oder<br />
Michael Jackson. Nichts gegen Leistungsprüfungen, bis hin zu politischen Wahlen.<br />
Aber es gibt keine Prüfungen auf richtiges Leben mehr in unserer Leistungsgesellschaft.<br />
Selbst in Schulzeugnissen wurden die sogenannten „Kopfnoten“ (z.<br />
B. für gutes Betragen) abgeschafft. Hingegen sind die Vorbilder der Christen die<br />
Heiligen. Nur sie werden noch – und nur – darauf geprüft, ob ihnen das Leben<br />
als solches gelungen ist. Das stetige Bemühen um ein objektiv – also vor Gott –<br />
gelingendes Leben, das ist mit Heiligkeit – und Heiligung des Alltags – gemeint.<br />
384<br />
VI. Und was heißt Heiligkeit praktisch?<br />
Auf die Frage, was nun „Heiligung der (beruflichen) Arbeit“ oder „Heiligkeit im<br />
Alltag“ praktisch bedeutet, hat die Kirchenhistorikerin Elisabeth Reinhardt eine<br />
persönliche Antwort des Heiligen Josemaría ausfindig gemacht: „Heiligkeit ist“,<br />
sagt Escrivá, „fortwährend gegen die eigenen Fehler zu kämpfen. Heiligkeit ist,<br />
die Pflicht jeden Augenblicks zu erfüllen, ohne sich Ausreden zu suchen. Heiligkeit<br />
ist, den anderen zu dienen, ohne irgendwelche Gegenleistungen zu erwarten.<br />
Heiligkeit ist, die Gegenwart Gottes zu suchen – den dauernden Umgang mit ihm<br />
– durch Gebet und Arbeit, die in einem beharrlichen Dialog mit dem Herrn verschmelzen.<br />
Heiligkeit ist die Sorge um die Seelen, die uns uns selbst vergessen<br />
läßt. Heiligkeit ist die positive Antwort jeden Augenblicks in unserer persönlichen<br />
Begegnung mit Gott.“ 9 Und das hat der heilige Josemaría Escrivá nicht nur<br />
gesagt. Er hat, wie sein Heiligsprechungsprozeß bestätigt hat, auch so gelebt.<br />
Und das ist, wie sich versteht, die unschätzbare gelebte Botschaft, der das Opus<br />
Dei verpflichtet ist.<br />
Papst Pius XII. nannte Escrivá schon zu Lebzeiten „einen wahren Heiligen, einen<br />
Mann, von Gott gesandt für unsere Zeit“ 10 und bahnte dem Opus Dei den Weg in
die Weltkirche. Johannes XXIII. sah in seinem Werk „ganz unerwartete apostolische<br />
Perspektiven“ 11 für die Kirche. Nicht zuletzt war er beeindruckt von Escrivás<br />
ökumenischer Praxis, ins katholische Opus Dei als Mitarbeiter auch Nichtkatholiken<br />
und Nichtchristen aufzunehmen. Paul VI. bezeichnete Escrivás Botschaft,<br />
daß nicht nur einige wenige (etwa Priester und Ordensleute), sondern alle<br />
Menschen von Gott zur Heiligkeit berufen sind, als „den eigentlich spezifischen<br />
Teil der gesamten Lehraussage des Konzils und sozusagen dessen tiefstes Anliegen.“<br />
12 Auch Papst Johannes Paul I. würdigte schon, bevor er sein kurzes Pontifikat<br />
antrat, Escrivás Spiritualität als besonders den gläubigen Laien auf den<br />
Leib geschnitten. 13<br />
Papst Johannes Paul II. erhob Ende 1982 das Opus Dei – woraufhin in Deutschland<br />
1983 jenes Medienspektakel losbrach – zur weltweiten „Personalprälatur“<br />
(eine gänzlich neue Rechtsgestalt in der Struktur der katholischen Weltkirche,<br />
die erst durch das II. Vatikanische Konzil ermöglicht wurde). 1991 weihte er<br />
Alvaro del Portillo, den Nachfolger des Gründers in der Leitung des Opus Dei –<br />
und ersten Prälaten der Prälatur –, zum Bischof.<br />
Der Wiener Kardinal König brachte zum Ausdruck, daß Escrivá mit dem Opus<br />
Dei, schon als er es im Jahre 1928 gründete, „vieles vorwegnahm, was mit dem<br />
II. Vatikanischen Konzil Allgemeingut der Kirche geworden ist.“ 14 Und in Köln<br />
erklärte Kardinal Höffner, Escrivás Werk sei „kirchengeschichtlich providentiell<br />
und von einer heilenden Kraft, deren Wert kaum überschätzt werden kann.“ 15<br />
Eine Erfolgsgarantie gibt es im Bemühen um die Heiligung des Alltags nicht.<br />
Das ist aber kein Anlaß zur Entmutigung. Wir sollen Gottes Gnade wirken lassen.<br />
Täglich neu. Unsere Aufgabe beschränkt sich darauf, Hindernisse auszuräumen,<br />
vor allem die unserer kleinen Eitelkeiten. Der Selige Josemaría vergleicht<br />
unseren Alltag mit einer Bootsfahrt: „Dein Boot: deine Fähigkeiten, deine<br />
Pläne, deine Erfolge – all das ist nichts nütze, es sei denn, du stellst es Christus<br />
zur Verfügung, du läßt ihn ungehindert einsteigen, du verzichtest darauf, aus<br />
deinem Nachen einen Götzen zu machen. Nur wenn du die Nähe des Herrn<br />
suchst und ihm das Steuer überläßt, wirst du die Stürme des Lebens heil überstehen.“<br />
Sich einlassen auf den kleinen Heroismus in der Arbeit etwa, der unter anderem<br />
darin besteht, jede Aufgabe wirklich zu Ende zu bringen, wie es in Der Weg<br />
heißt: „Du willst wirklich heilig werden? – Erfülle die kleine Pflicht jeden Augenblicks!<br />
Tu das, was du sollst, und sei ganz in dem, was du tust“ (815). Den<br />
geistlichen Impulsen des Opus Dei verdankt Stefania Cafaro nach ihren eigenen<br />
Worten Entscheidendes ihrer Karriere. Als sie vor vielen Jahren schon morgens<br />
beim Üben, so erzählte sie bei unserem workshop in Rom, mit einem schwierigen<br />
Stück ihre Probleme gehabt habe und, wie schon oft, dieses beiseite legen<br />
wollte, um es später aufzugreifen, sei ihr diese Stelle eingefallen. Und dann habe<br />
sie gedacht, sie könne doch jetzt dem Herrn hier und jetzt das kleine Opfer bringen,<br />
sich gleich morgens an diesem vertrackten Stück abzurackern. Und das habe<br />
sie dann getan – hartnäckig. Die Folge: Die Preisjury habe ihre Interpretation als<br />
die beste bewertet und vorgeschlagen, das Stück aufzunehmen.<br />
385
Aber auch musikalisch verdanke sie den geistlichen Anregungen viel, nicht nur<br />
die Sorge um Ordnung, Harmonie, Form und Gleichgewicht, sondern auch, was<br />
die Tiefe der Interpretation angehe, beispielsweise den gestalterischen Einsatz<br />
der Pausen. „Das Schweigen ist wie die Wache am Tor des inneren Lebens“,<br />
heißt es in Der Weg (281). Daß diese Bedeutung des Schweigens auch für die<br />
Musik gelte, hätten ihr Zuhörer immer wieder bestätigt. Nach einer Schubert-<br />
Interpretation sei besonders von den „sprechenden Pausen“ und ihrer Steigerung<br />
der Spannung und Tiefe die Rede gewesen. Und im Oktober 2000 habe es im<br />
Kommentar eines bekannten Klavier-Professors geheißen: „In dieser Pianistin<br />
findet sich ein spiritueller Reichtum, der unmöglich allein aus stundenlangem<br />
Üben herrührt.“<br />
Schließlich berührt Stefania noch einen delikaten Punkt, der für erfolgsverwöhnte<br />
Künstler – und nicht nur Künstler – zur ständigen Versuchung werden kann.<br />
Lassen wir sie selbst berichten: „Meine Arbeit bedeutet auch viele Reisen, Aufenthalte<br />
in Hotels, Galadiners, Begegnungen mit hochgestellten Persönlichkeiten,<br />
usw. ... Aus der Lehre des Seligen Josemaría habe ich entnommen, daß es<br />
möglich ist, all dies auf eine christliche Art und Weise zu leben. Es ist möglich,<br />
im Hotelzimmer immer Ordnung zu halten; bei einem Gala-Diner nüchtern zu<br />
bleiben; die Armut zu leben, indem man den günstigsten Flugtarif wählt, auch<br />
wenn eine Agentur den Flug zahlt, zu Fuß zu gehen, wenn ein Taxi nicht unbedingt<br />
nötig ist.“<br />
„Schließlich habe ich gelernt“, fügt Stefania noch hinzu, „der jeweiligen Gelegenheit<br />
angemessen auf Eleganz in der Kleidung und im Auftreten zu achten“.<br />
Gern wies der Selige Josemaría daraufhin, daß unser Herr auch Wert legte auf<br />
den angemessen feinfühligen, eleganten Umgang miteinander. So im Hause des<br />
Simon, dem er Versäumnisse der Gastfreundschaft vorhält (Lk 7, 44 ff.). Und um<br />
seinen Leibrock würfeln sogar die römischen Soldaten, weil sie ihn für zu gut<br />
hielten, um ihn zu teilen (Joh. 23 f.). „Es hat mich stets beeindruckt“, so Stefania,<br />
„wenn der Gründer des Opus Dei die Eleganz unseres Herrn zur Sprache<br />
brachte und den Christen ans Herz legte, Jesus auch darin zu folgen.“<br />
Anmerkungen<br />
1) Artistic Creativity, Preparatory Papers of the Workshop, hsrg. v. Lindenthal-Institut<br />
Köln u. Fundación Promoción de la Cultura Madrid, Pontificia Universidad della Santa<br />
Croce, Piazza di Sant’Apollinare 43, 00186 Roma, 2002 (Im weiteren Text referierte Beiträge<br />
der Künstler A.Zorin, A.Shives und St.Cafaro sind hier veröffentlicht).<br />
2) J. Escrivá, Freunde Gottes, 2. Aufl. Köln 1980 (Adamas), RdNr. 65.<br />
3) N. Lobkowicz, Kultur – Christentum – Pluralismus: die Mobilisierung der Laien, in:<br />
Cesar Ortiz (Hrsg), Josemaría Escrivá – Profile einer Gründergestalt, Köln 2002 (Adamas),<br />
347-363, hier: 354 f.<br />
4) Ebd., 350.<br />
5) Ebd., 350: aus den Persönlichen Aufzeichnungen Escrivás, Nr. 158, zit. nach A. de<br />
Fuenmayor / V. Gómez-Iglesias / J.L.Illanes, Die Prälatur Opus Dei. Zur Rechtsgeschichte<br />
eines Charismas, Essen 1994, 34. In einem Brief von 1932 heißt es: „Das Werk steht<br />
386
für überhaupt keine Politik: dazu ist es nicht da. Unser Ziel ist ausschließlich spirituell<br />
und apostolisch... Uns eint nur ein geistiges Band“.<br />
6) Ebd. 351: zit. aus Gespräche mit Msgr. Escrivá, 4. Aufl. Köln 1992 (Adamas), RdNr.<br />
12.<br />
7) Ebd. 352: zit. aus Gespräche..., RdNr. 15.<br />
8) Joseph Kardinal Höffner, Interview mit KNA v. 24.08. u. Nachtrag v. 30.08.1984.<br />
9) E. Reinhardt, Wo Himmel und Erde sich vereinen, in: Cesar Ortiz (Hrsg), Josemaría<br />
Escrivá – Profile einer Gründergestalt, Köln 2002 (Adamas), 141-157, hier: 142 f.; zit.<br />
nach Salvador Bernal, Memoria del Beato Josemaría Escrivá de Balaguer, Madrid 1999,<br />
16.<br />
10) Alvaro del Portillo, Über den Gründer des Opus Dei, Köln 1996 (Adamas), 13.<br />
11) Ebd., 15.<br />
12) Paul VI., Motu proprio Sanctitatis Clarior, 09.03.1969, AAS 61 (1969), 149-150.<br />
13) Albino Luciani, Cercando Dio nel lavoro quotidiano, in: Gezettino di Venezia v.<br />
25.07.1978.<br />
14) Kardinal Franz König, Über das Opus Dei, Schriftenreihe der Karlskirche Heft 2,<br />
Wien 1989, 4.<br />
15) Ambosius Eßer OP, Wenn alles zur Freude wird, in: Notizen, Zeitung zur Seligsprechung<br />
des Opus-Dei-Gründers Josemaría Escrivá, Mai 1992, S. 8 (Pater A. Eßer OP ist<br />
Generalrelator der römischen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen und war<br />
zuständiger Relator im Kanonisationsverfahren von Josemaría Escrivá).<br />
Dr. Hans Thomas leitet das Lindenthal-Institut in Köln.<br />
387
388<br />
Paul Johannes Fietz<br />
Subsidiarität in der Kirche?<br />
Zum 37. Essener Gespräch<br />
Es war das letzte „Essener Gespräch“, zu dem er als Bischof eingeladen hatte.<br />
Nach zehn Jahren und elf Tagungen in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“<br />
verabschiedete sich Hubert Luthe von den Teilnehmern der „Essener Gespräche“,<br />
die er von seinem Vorgänger Franz Hengsbach übernommen hatte.<br />
Langer und dankbarer Applaus war ihm, der im Mai 75 Jahre alt wurde und<br />
dann, wie er es selbst ausdrückte, „seinen Platz frei“ machte, sicher.<br />
Das Thema dieses Jahres klang eher spröde: „Universalität und Partikularität in<br />
der Kirche“ war das 37. „Essener Gespräch“ überschrieben. Allerdings verbergen<br />
sich hinter dieser Überschrift Fragen von enormer praktischer Relevanz. So<br />
treffen immer wieder römische Bemühungen um die Erhaltung der Einheit der<br />
Kirche auf eigenständige Entwicklungen in den Ortskirchen. Dabei ist das Ve rhältnis<br />
zwischen Gesamtkirche und Ortskirchen nicht erst heute spannungsreich.<br />
Der Bamberger Kirchenrechtler Alfred Hierold betonte vielmehr, das Ringen<br />
dieser Gemeinschaften durchziehe wie ein roter Faden die Geschichte der Kirche,<br />
„seit sich immer stärker eine zentrale Autorität in der Gestalt des Bischofs<br />
von Rom etabliert und ihren Anspruch in Schreiben, bei Streitigkeiten und auf<br />
Synoden gegenüber anderen Ortskirchen und deren Vereinigungen geltend<br />
macht“. Aber, darauf wies der Bonner Privatdozent Matthias Jestaedt hin: „Ohne<br />
weltkirchliche Einbettung der Ortskirchen, ohne Rom keine Katholische Kirche.“<br />
Dem Spannungsverhältnis näherte man sich in der „Wolfsburg“ mit der Frage,<br />
ob und gegebenenfalls auf welche Weise das aus der Katholischen Soziallehre<br />
stammende Subsidiaritätsprinzip auch auf das Verhältnis von Ortskirche und<br />
Universalkirche zueinander anzuwenden sei. Nach dem Subsidiaritätsprinzip<br />
erkennt die jeweils übergeordnete Gemeinschaft die Wirkungsmöglichkeiten der<br />
untergeordneten an und zieht nur die Aufgaben an sich, die von dieser nicht<br />
erfüllt werden können. Als Beispiel diente dabei das Ringen um den Verbleib der<br />
Katholischen Kirche im System der staatlich anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatung.<br />
Auf Weisung des Papstes darf nun auch Limburg als letztes der 27<br />
deutschen Bistümer in seinen Schwangerenberatungsstellen nicht mehr die<br />
Scheine ausstellen, die für eine straffreie Abtreibung erforderlich sind.<br />
Die Diskussion über das Für und Wider wurde über Jahre geführt und in der<br />
„Wolfsburg“ nicht wieder aufgegriffen. Seinerzeit waren die Forschung an embryonalen<br />
Stammzellen, die Präimplantationsdiagnostik, das Klonen und andere<br />
Manipulationen am Beginn des menschlichen Lebens noch wenig beachtet worden<br />
– Herausforderungen einer neuen Dimension. Die Kirche aber, so meint der
Papst, kann nur überzeugen, wenn ihre Botschaft für das Leben unmißverständlich<br />
ist.<br />
Beim „Essener Gespräch“ ging es jedoch um das Prozedere. Der Konflikt würde<br />
mißverstanden, wenn man ihn als Machtkampf in einem rechtsfreien Raum<br />
wahrnähme, bei dem am Ende der Ortsbischof klein beigeben mußte. Robert<br />
Spaemann hat das Ergebnis in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung so formuliert (FAZ vom 19. März 2002): „Der Papst ist kein Frühstücksdirektor.<br />
Wer mit einem Dienst beauftragt ist, muß auch über die<br />
Vollmachten verfügen, die diesen Dienst ermöglichen.“<br />
In der „Wolfsburg“ verwies der Kirchenrechtler Klaus Lüdicke auf die Canones<br />
331 und 381 des kirchlichen Gesetzbuches, des Codex Iuris Canonici von 1983,<br />
in denen der Papst und der Diözesanbischof als Teil der hierarchischen Verfassung<br />
der Kirche behandelt werden. In Canon 331 heißt es: „Der Bischof der<br />
Kirche von Rom (...) verfügt kraft seines Amtes in der Kirche über höchste,<br />
volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben<br />
kann.“ Und Canon 381 bestimmt: „Dem Diözesanbischof kommt in der ihm<br />
anvertrauten Diözese die ganze, ordentliche, eigenberechtigte und unmittelbare<br />
Gewalt zu, die zur Ausübung seines Hirtendienstes erforderlich ist.“ Der entscheidende<br />
Zusatz lautet jedoch: „Ausgenommen ist, was von Rechts wegen<br />
oder aufgrund einer Anordnung des Papstes der höchsten oder einer anderen<br />
kirchlichen Autorität vorbehalten ist.“<br />
Und so stellt auch das Subsidiaritätsprinzip nicht in Frage, daß im Konfliktfall<br />
die höhere Ebene entscheidet. Denn, darauf wies der Bonner Staatsrechtslehrer<br />
Josef Isensee hin, Hierarchie steht zum Subsidiaritätsprinzip nicht im Gegensatz,<br />
ist vielmehr eine Voraussetzung desselben. Wenn es um die Glaubwürdigkeit der<br />
Kirche insgesamt gehe, könne sich, so Isensee, eine „nationalkirchliche Tendenz“<br />
nicht auf das Subsidiaritätsprinzip berufen. In der Frage der Schwangerenkonfliktberatung<br />
habe sich die Kirche in einem Dilemma befunden. Dessen Wesen<br />
sei es aber, daß man so oder so nicht unbeschädigt herauskomme. Eine Erlaubnis<br />
für das Bistum Limburg, den von Bischof Kamphaus eingeschlagenen<br />
Weg weiterzugehen, hätte die negativen Seiten beider Entscheidungen – der für<br />
einen Verbleib ebenso wie der für einen Ausstieg – andauern lassen und so das<br />
Dilemma verstärkt. Deshalb sei eine einheitliche Praxis für die Kirche unerläßlich<br />
gewesen.<br />
Dieses Ergebnis wurde aus kirchenrechtlicher Sicht in der „Wolfsburg“ nicht<br />
bestritten. Die Frage, ob die Verfügung des Papstes nicht nur vom Ersten, sondern<br />
auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil gedeckt sei, wurde nicht gestellt –<br />
aus gutem Grund. Denn die versammelten Fachleute wußten, daß das Zweite<br />
Vatikanum nicht verkündet hat, daß man unter allen Umständen Streit und<br />
Zwistigkeiten zu vermeiden habe. Es bekräftigte vielmehr die Einheit des Episkopats<br />
mit dem Papst: „Das Kollegium oder die Körperschaft der Bischöfe hat<br />
aber nur Autorität, wenn das Kollegium verstanden wird in der Gemeinschaft mit<br />
dem Bischof von Rom“ (Lumen gentium 22). Die Bischöfe sind nicht Vorsteher<br />
unabhängiger Landeskirchen, einen dauerhaften Konflikt mit dem Papst kann es<br />
nicht geben, wenn die Einheit der Kirche nicht gefährdet sein soll. Nirgendwo<br />
389
lehrte das Konzil, daß ein Bischof, wenn eine Streitfrage einmal entschieden ist,<br />
in dieser Angelegenheit allein weiter anders verfahren kann.<br />
Andererseits ist offensichtlich, daß Papst-Dekrete zumal in Deutschland häufig<br />
wie Eingriffe einer auswärtigen Macht gesehen und interpretiert werden und, wie<br />
Josef Isensee formulierte, sich des Beifalls sicher sein kann, „wer den antirömischen<br />
Affekt kitzelt“. Der Münchner Theologe Gerhard Ludwig Müller, Schüler<br />
von Kardinal Karl Lehmann, betonte, daß sich die „Spannungen, Mißstimmu ngen<br />
und inneren Entfremdungen, die sich in den letzten Jahrzehnten zwischen<br />
‚Rom’ und den Ortskirchen in Deutschland und im mitteleuropäischen Raum<br />
ergeben haben“, mit den Mitteln „einer soziopolitischen Ekklesiologie“ kaum<br />
erfassen ließen. Bei all den emotional aufgeladenen Themen – angefangen bei<br />
‚Humanae vitae’, der Laienpredigt in der Meßfeier, dem Kommunionempfang<br />
von wiederverheirateten Geschiedenen und der Möglichkeit des Weihesakraments<br />
für die Frau, der Erteilung des Nihil obstat bis zur Schwangerenkonfliktberatung<br />
–, die sich zu einem antirömischen Affekt aufgeladen hätten, gehe es<br />
nur an der Oberfläche um die Austarierung weltkirchlicher und ortskirchlicher<br />
Zuständigkeiten oder gar nur um ein triviales Kompetenzgerangel oder allzumenschliches<br />
Machtgebaren.<br />
„Die Medien sind gewiss nicht an der Frage interessiert, mit welchen Maßnahmen<br />
man am besten das gemeinsame Ziel des Lebensschutzes erreichen kann,<br />
sondern daran, wie man genüßlich einen Keil zwischen die deutschen Bischöfe<br />
und den Papst treiben kann als Vorspiel einer romfreien deutschen Kirche unter<br />
nationalistischen Vorzeichen“, so Müller. In dieser Analyse bestanden zwischen<br />
den Referenten des „Essener Gesprächs“, die in diesem Jahr nicht nur interdisziplinär<br />
und interkonfessionell, sondern in besonderem Maße auch generationsübergreifend<br />
zusammengesetzt waren – von Matthias Jestaedt bis zum emeritierten<br />
Münchner Staats- und Kirchenrechtler Dietrich Pirson – keine Meinungsverschiedenheiten.<br />
Letzterer hatte in seinem Vortrag über „die protestantischen Kirchen im universalkirchlichen<br />
Zusammenhang“ noch einmal darauf hingewiesen, daß der Teil<br />
der Christenheit, der der Reformation verpflichtet ist, sich als ein Nebeneinander<br />
von Einzelkirchen darstellt, die nicht Teil eines übergreifenden kirchlichen Organismus<br />
sind. „Jede einzelne Kirche ist gegenüber den übrigen Kirchen in der<br />
Welt originär selbständig.“ Nach protestantischer Auffassung machen nicht Ämter<br />
und ihre Inhaber die Kirche aus, sondern „Handlungsweisen oder Lebensäußerungen“.<br />
Hier zeigt sich nach Pirson „eine gewisse antihierarchische Tendenz“.<br />
„Die Einheit der evangelischen Kirche ist vor allem eine Einheit im Bekenntnis“,<br />
so der Kirchenrechtler Heinrich de Wall aus Erlangen. Die katholische<br />
Lehre, wonach die von Christus gestiftete und mit bestimmten Verfassungselementen<br />
ausgestattete Kirche in der römisch-katholischen Kirche ihre geschichtlich<br />
wahrnehmbare Realisierung gefunden hat, läßt dagegen die Vorstellung<br />
einer Pluralität nebeneinanderstehender, in jeder Hinsicht gleichgearteter<br />
Kirchen nicht zu.<br />
Dennoch sei es, so Pirson, weithin als unbefriedigend, ja als unfreundlicher Akt<br />
empfunden worden, „als im Kontext der in der Erklärung ‚Dominus Iesus’ be-<br />
390
handelten Thematik in Erinnerung gebracht wurde, daß der Begriff Kirche, wie<br />
ihn die römisch-katholische Kirche versteht, auf Kirchen im Sinne protestantischer<br />
Kirchenverfassung keine vorbehaltlose Anwendung finden könne“. Pirson<br />
war damit einer der wenigen, die das Thema am Rande erwähnten. Ganz überwiegend<br />
schien eine unausgesprochene Übereinkunft die konfessionell gemischten<br />
Teilnehmer davon abzuhalten, näher auf die Erklärung der Glaubenskongregation<br />
vom August 2000 einzugehen. Allein der Osnabrücker Sozialwissenschaftler<br />
Manfred Spieker hatte – ohne Resonanz – angeregt, bevor man über<br />
Teil-Kirchen spreche, zunächst die Frage zu klären, „was Kirche ist“. Zu einer<br />
einvernehmlichen Antwort wäre man aber auch in der „Wolfsburg“ vermutlich<br />
nicht gekommen – anders als bei der Frage, die Gerhard Ludwig Müller, den<br />
französischen Philosophen André Glucksmann zitierend, an den Beginn seiner<br />
Ausführungen gestellt hatte: „Ist es nicht der Irr-Sinn aller Irr-Sinnigkeiten,<br />
wenn Millionen Getaufter, denen sich Gott als der unvergängliche Sinn ihres<br />
Daseins und damit als Grund und Quelle aller Humanität geoffenbart hat, so<br />
leben, als ob es Gott gar nicht gäbe?“<br />
Paul Johannes Fietz ist Ministerialrat im Bundesministerium des Innern.<br />
391
392<br />
Clemens Breuer<br />
Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft<br />
Zum siebten Deutsch-Amerikanischen Kolloquium<br />
Zum siebten Mal fand unter der Federführung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen<br />
Zentralstelle, Mönchengladbach, und The Catholic University of<br />
America – School of Philosophy, Washington DC, ein Kolloquium zu gesellschaftspolitischen<br />
Fragen statt, bei dem sich die Teilnehmer dem Geist der chris tlich-abendländischen<br />
Überlieferung verpflichtet wußten. Die Kolloquien finden in<br />
einem zweijährigen Turnus statt, wobei als Tagungsstätte abwechselnd ein Ort in<br />
Amerika bzw. Deutschland dient. In diesem Jahre (11. bis 16. Juli) stellte die<br />
Hanns-Seidel-Stiftung die idyllisch gelegene Tagungsstätte in Wildbad Kreuth zur<br />
Verfügung, wobei sie sich dankenswerterweise auch maßgeblich an der Durchführung<br />
und somit auch an dem Gelingen des Kolloquiums beteiligt und verdient<br />
gemacht hat. Bereits bei der Eröffnung des Kolloquiums wiesen die beiden „Initiatoren“,<br />
die Professoren Anton Rauscher und Jude P. Dougherty, darauf hin, daß<br />
eine Reflexion über die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft und eine Ve rhältnisbestimmung<br />
der Beziehung von Kirche und Staat für die zukünftige Entwicklung<br />
der Industriestaaten einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert besitzen.<br />
Weihbischof Anton Losinger ging in seinem Beitrag auf die Problematik der Begründung<br />
unveräußerlicher Menschenrechte im Kontext neuzeitlicher kultureller<br />
Differenzen ein. Eine naturrechtlich begründete Anerkennung der menschlichen<br />
Person auf der einen Seite als auch die Akzeptanz einer Schöpfungsordnung auf<br />
der anderen machte Losinger zur Voraussetzung einer soliden Begründung der<br />
Menschenrechte. Ohne eine transzendente Begründung der Menschenrechte bleiben<br />
die großen Erklärungen – die Menschenrechtserklärung der UNO von 1948,<br />
die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Französische<br />
Erklärung zu den Menschenrechten von 1789 – in einem „Schwebezustand“, der<br />
innerweltlich nicht auszugleichen ist.<br />
In einer für europäische Verhältnisse ungewöhnlich positiven Art und Weise referierte<br />
Professor Michael Novak vom American Enterprise Institute, Washington<br />
DC, zu dem Thema „Religion at the Time of the American Founding“. Kein geringerer<br />
als Alexis de Tocqueville hat die besondere Bedeutung der (jüdischchristlichen)<br />
Religion für die moderne Demokratie hervorgehoben. Tocqueville ist<br />
in den Wirren der Franzöischen Revolution geboren worden und kam nach Amerika<br />
als krasser Außenseiter, da er Franzose, Aristokrat und dazu noch Katholik war.<br />
Wie kein anderer hat er darauf hingewiesen, daß das Vordringlichste aller Organisationen<br />
für die Amerikaner die Religion sei. Heute zeigt sich, so Novak, daß dieser<br />
Ausspruch Tocquevilles keineswegs seine Gültigkeit eingebüßt hat, da heute
wesentlich mehr Amerikaner in die Kirche gehen und sich regelmäßig in religiöser<br />
Hinsicht engagieren als zur Zeit der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.<br />
Tocqueville beschrieb in unmißverständlicher Klarheit die hervorragende Rolle der<br />
Katholischen Kirche, die sie bei der Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte<br />
einnehmen kann. Novak machte keinen Hehl daraus, daß er bereits in<br />
jungen Jahren von Tocquevilles Gedanken der Harmonie zwischen dem „Geist der<br />
Religion“ und dem „Geist der Freiheit“ (The spirit of religion and the spirit of<br />
freedom) fasziniert gewesen sei. Für den katholischen Glauben ergeben sich – so<br />
Novak – drei wesentliche Vorbedingungen für die Demokratie: Wahrheit, Freiheit<br />
und Würde. Hierbei handelt es sich um drei Glaubensgüter (background beliefs),<br />
die es uns ermöglichen, das Konzept der Menschenrechte und den geistigen Vo rrang<br />
der Freiheit miteinander in Einklang zu bringen. Dies ist der Weg des frühen<br />
Amerika gewesen. Aber diese Ideen, so referiert Novak abschließend aus Tocquevilles<br />
Schriften, sind nicht spefizisch amerikanische, sondern universelle und damit<br />
katholische, allumfassende.<br />
Anknüpfend an Michael Novak schilderte Professor Anton Rauscher in seinem<br />
Vortrag „Die Maxime ‚Religion ist Privatsache’“ zunächst den religiösen<br />
Schrumpfungsprozeß in Europa im Gegensatz zu der gestiegenen Bedeutung der<br />
katholischen Kirche in den USA, die mit 65 Millionen zur größten religiösen Gemeinschaft<br />
in den USA geworden ist. Während in den USA die Anerkennung der<br />
Religionsfreiheit zu einem religiösen Aufschwung geführt hat, sind in Europa die<br />
Religionsfreiheit und die Maxime „Religion ist Privatsache“ in einer antikirchlichen<br />
Stoßrichtung gedeutet worden, die eine Verdrängung aller religiösen Elemente<br />
aus dem öffentlichen Leben zur Folge haben sollte. Umstrittene Urteile des<br />
Bundesverfassungsgerichts („Kruzifix-Urteil“, „Kind als Schaden“) aus den 90er<br />
Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben hierzu ihr übriges beigetragen.<br />
Auf staatskirchenrechtliche Grundüberlegungen ging Professor Martin Heckel von<br />
der Universität Tübingen ein, wobei er feststellte, daß das Staatskirchenrecht längst<br />
zu einem säkularen Rahmenrecht geworden ist. „Jedweder Glaube, Irrglaube,<br />
Aberglaube, Unglaube ist gleichermaßen ohne staatliche Wertung seiner religiösen<br />
Dignität und Seriösität geschützt.“ Indem somit einerseits klart erkannt worden ist,<br />
daß der Sinn der Religion nicht vom Staat zu definieren ist, besitzt der Staat jedoch<br />
andererseits unzweifelhaft einen Kulturauftrag, der sich auf die religiös geprägte<br />
Kultur stützt und diese beispielsweise in der Erziehung auch deutlich werden läßt.<br />
„Kultur- und Bildungsfaktor“ auf der einen und „Glaubenswahrheit“ auf der anderen<br />
Seite sind zwar zu unterscheiden, doch bilden sie keinen Gegensatz, sondern<br />
ergänzen sich wechselseitig und verweisen aufeinander. Bezogen auf die Einführung<br />
des Schulfaches „LER“ führt Heckel aus, daß sich dahinter ein Religionsverständnis<br />
der „Gottlosigkeit“ verbirgt, das einen Agnostizismus bzw. Atheismus<br />
vermitteln will.<br />
Das Spannungsverhältnis von religiöser Erziehung und Säkularisierungstendenzen,<br />
wie es sich in Schule und Bildung in den neuen Bundesländern abzeichnet, stand<br />
im Mittelpunkt des Vortrags von Jürgen Aretz, Staatssekretär im Thüringer Ministerium<br />
für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Aretz wies darauf hin, daß der<br />
hohe Anteil Konfessionsloser auf dem Gebiet der ehemaligen DDR langfristige<br />
393
Ursachen habe: Er sei nicht allein durch die antikirchliche und antichristliche Politik<br />
und Propaganda der Kommunisten zu erklären, schon die Nationalsozialisten<br />
zwischen 1933 und 1945 hätten eine kirchenfeindliche Politik betrieben; hinzu<br />
kämen die ökonomischen und geistigen Prozesse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts,<br />
die die religiösen Bindungen in diesem Teil Deutschlands nachhaltig beeinträchtigt<br />
hätten. Wie sehr die weltanschaulich-säkulare Mentalität der früheren<br />
DDR-Gesellschaft nachwirkt, machte Aretz am Fortleben der Jugendweihe deutlich.<br />
Die Kirche suche darauf pastoral zu reagieren, so etwa in Form der „Lebenswendefeiern“,<br />
die für die meisten der daran teilnehmenden Jugendlichen der erste<br />
Kontakt mit der Kirche überhaupt sei. Da trotz vielfältiger kirchlicher Initiativen<br />
und bei allem Engagement der Christen im einzelnen eine Neuchristianisierung<br />
nach 1990 ausgeblieben ist, komme, wie Aretz betonte, den christlichen Schulen<br />
und dem Religionsunterricht an den allgemeinen Schulen für die Zukunft eine um<br />
so größere Bedeutung zu.<br />
In seinem Beitrag „Religion und Gewalt“ wies der Trierer Professor für Christliche<br />
Sozialwissenschaft, Wolfgang Ockenfels, auf die mangelnde Bereitschaft zum<br />
Gewaltverzicht in nicht wenigen islamischen Staaten hin: „In den ‚islamisch’ dominierten<br />
Staaten ist die Religionsfreiheit stark eingeschränkt, in den ‚islamistisch’<br />
beherrschten ist sie – wie die übrigen Menschenrechte – so gut wie aufgehoben.“<br />
Aufgrund der Erkenntnis, daß der Islam keine verbindliche Instanz besitzt, die<br />
„islamistische“ Verfälschungen abwehren und „Häretiker“ entlarven könnte, fordert<br />
Ockenfels eine Aufklärung, wie sie das Christentum bereits im Mittelalter<br />
durch Thomas von Aquin erfahren hat. Das aristotelisch-thomasische Naturrechtsdenken<br />
hat im Christentum für eine grundlegende Unterscheidung zwischen Glauben<br />
und Politik, Kirche und Staat, Moral und Recht gesorgt. Insofern lassen sich –<br />
so der Sozialwissenschaftler – Fundamentalismus und Despotie nicht als „Rückfall“<br />
ins Mittelalter deuten, sondern stellen eher einen „Unfall“ oder „Abfall“ der<br />
Moderne dar.<br />
Alberto Piedra (The Catholic University of America, Washington, DC) ging in<br />
seinem Beitrag „Islam und Christianity“ ebenfalls auf die militante Tradition („jihad“<br />
etc.) des Islam ein, wobei er jedoch als die größte Gefahr für die chris tliche<br />
Kultur nicht externe Effekte verantwortlich macht, sondern interne: den Verlust<br />
von grundlegenden Werten und Prinzipien, die Europa im Laufe der Jahrhunderte<br />
errungen und beibehalten hat. Ein materalistisch und ausschließlich ökonomisch<br />
orientierter Westen hat einer tief religiösen islamischen Welt kaum etwas entgegen<br />
zu setzen. Von Wertverlusten in der westlichen Welt zeugte ebenfalls der Vortrag<br />
von H. Reed Armstrong (Sculptor, Front Royal, VA) zu dem Thema „The Human<br />
Person in the Visual Arts from the Classical Period to the Present“. Nicht wenige<br />
künstlerische Darstellungen lassen jegliche Achtung vor der Würde der menschlichen<br />
Person vermissen.<br />
Wenngleich die Umfrageergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach der<br />
vergangenen Jahre zum Themenkreis „Zur Situation der katholischen Kirche in<br />
Deutschland“ deutlich negative Werte für die Bedeutung und den Stellenwert der<br />
Kirche ergaben, so ließ der Referent des dortigen Instituts, Rüdiger Schulz, dennoch<br />
einen möglichen Ausweg erkennen: „Der 11. September 2001, der die Kir-<br />
394
chen zunächst bei Gedenkgottesdiensten füllte, hatte offensichtlich keine nachhaltigen<br />
Wirkungen. Der Trend zu hedonistischem Lebensgenuß erscheint in Deutschland<br />
ungebrochen. Aber parallel entwickeln sich auch Anzeichen für wieder mehr<br />
Reflexion, Zweifel am eingeschlagenen Weg und Bereitschaft zu mehr Verantwortung.<br />
Hier könnten sich der katholischen Kirche – allerdings nur bei größerer Lebensnähe<br />
und höherer Glaubwürdigkeit – wieder mehr Einflußchancen eröffnen.“<br />
Der neuzeitlichen Thematik „Glaube in der Zivilgesellschaft“ stellte sich der Bonner<br />
Professor für Christliche Gesellschafslehre, Lothar Roos, indem er die Entwicklungslinie<br />
einer Trennung des religiösen Glaubens von der staatlichen Autorität<br />
nachzeichnete. Neben Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham, die den<br />
Glauben als eine unabhängige Variable hervorgehoben haben, wird mit Thomas<br />
Hobbes und Jean-Jacques Rousseau der Glaube in die Abhängigkeit vom Staat<br />
gebracht (Begründung einer absoluten Staatssouveränität). Unmißverständlich<br />
weist Roos darauf hin, daß der demokratische Verfassungsstaat auf die transpositiven<br />
Wurzeln angewiesen ist. Nur diese vermögen die Menschenrechte ausreichend<br />
zu begründen. „Die Aufgabe der Begründung der Menschenrechte und der so<br />
verstandenen Demokratie leistet nicht ‚irgendeine’ Religion, sondern die biblischchristliche<br />
Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen.“<br />
Neben den insgesamt zwanzig Vorträgen in Wildbad Kreuth, die ein ausführliches<br />
Erkunden der herrlichen Umgebung der Tagungsstätte nicht zuließen, war am<br />
Sonntag der Besuch der hl. Messe im Münchener Liebfrauendom vorgesehen. Ein<br />
„Höhepunkt“ war dabei die Möglichkeit der Besteigung eines Turms der Bischofskirche,<br />
der den Blick bis an die Ränder der bayerischen Metropole ermöglichte.<br />
Ein Besuch im Ratskeller am Marienplatz gehörte ebenso zum Programm wie eine<br />
Besichtigung der Alten Pinakothek. Den Abschluß bildete ein „Expertengespräch“<br />
(mit den Professoren Michael Zöller, Hans Maier, Stefan Muckel, sowie Wolfgang<br />
G. Lerch von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem Islamwissenschaftler<br />
Rainer Glagow) zu dem Thema „Christen und Muslime: Religiöse, gesellschaftliche<br />
und kulturelle Probleme des Zusammenlebens“ in den neu errichteten Tagungsstätten<br />
der Hanns-Seidel-Stiftung in München.<br />
Die Tagung kann als gelungene Fortsetzung der bisherigen Deutsch-Amerikanischen<br />
Kolloquien gewertet werden. Die schrecklichen Ereignisse vom 11. September<br />
2001 haben einmal mehr deutlich gemacht, daß sich die westliche Welt<br />
ihrer freiheitlichen Werte immer wieder neu bewußt zu werden hat, die maßgeblich<br />
vom christlichem Glauben geprägt worden sind und beibehalten werden müssen.<br />
Bei aller Unterschiedlichkeit in der Entwicklung der amerikanischen und der europäischen<br />
Kultur bleibt die Besinnung auf die Bedeutung der Religion und ein klares<br />
Bekenntnis zum Christentum eine unverzichtbare Aufgabe der gegenwärtigen<br />
und der zukünftigen Generationen.<br />
Dr. habil. Clemens Breuer ist Oberassistent am Lehrstuhl für Moraltheologie an<br />
der Universität Augsburg und Privatdozent für Christliche Sozialwissenschaft an<br />
der Theologischen Fakultät Trier.<br />
395
Besprechungen<br />
Betriebswirtschaftslehre<br />
Wenn die Konjunktur boomt, werden<br />
außertarifliche Gehaltszuschläge selbstverständlich<br />
hingenommen. Da nun aber<br />
gegenwärtig Sand ins Wachstumsgetriebe<br />
kommt, lösen die z. B. von Hewlett-<br />
Packard erwünschten Verlustabwälzungen<br />
auf die Mitarbeiter eine emotionale<br />
und wohl kaum ideologiefreie Diskussion<br />
aus. Dabei führt ein aufmerksamer<br />
Blick in die historischen Wurzeln betriebswirtschaftlicherFührungskonzeptionen<br />
zu schon längst angedachten Modellen<br />
einer wirtschaftlich angemessenen<br />
wie humanen betrieblichen Beteiligung<br />
und Kooperation.<br />
Eduard Gaugler, Hundert Jahre Betriebswirtschaftslehre.FBS-Studienreihe,<br />
Bd. 53. Forschungsstelle für<br />
Betriebswirtschaft und Sozialpraxis,<br />
Mannheim/Weinheim 1998, 120 S.<br />
Der kleine Sammelband mit sechs thematisch<br />
passend sortierten Beiträgen<br />
unterschiedlichen Ursprungs (Vorträge,<br />
Artikel des inzwischen emeritierten<br />
Mannheimer Professors) bringt – verständlich<br />
wie gewinnend präsentiert –<br />
betriebswirtschaftliche Grundsatzfragen<br />
und aktuelle Führungskonzepte auf den<br />
Punkt. Einer historisch unterlegten Bestimmung<br />
der „neuen BWL“ folgt über<br />
die Beleuchtung von erprobten und erdachten<br />
Managementkonzepten der Anriß<br />
eines eigenen zukunftsweisenden<br />
Ausblicks. Unterlaufene Druckfehler<br />
trüben nicht die übersichtliche Präsentation,<br />
die sich durch passende Tabellen,<br />
Grafiken und gezielt ausgewählte Literaturverweise<br />
auszeichnet.<br />
1. Nach statistischen Übersichten zur<br />
wachsenden Bedeutung der BWL stellt<br />
der erste Beitrag inhaltliche Entwicklungslinien<br />
dieses Faches vor. Die nach<br />
396<br />
Gründung der ersten Handelshochschulen<br />
in Deutschland im Jahr 1898 zu<br />
lokalisierende „neue BWL“ schwankt<br />
danach zwischen Wertfreiheit und Normativität,<br />
zwischen allgemeiner und<br />
angewandter Theorie. Die Aussicht auf<br />
eine zunehmende Ausdifferenzierung<br />
des Faches wegen fehlender allgemeiner<br />
Paradigmen und verstärkter Praxisorientierung<br />
wirkt überzeugend.<br />
2. Sechs einschlägige Thesen zur BWL<br />
als Management- und Führungslehre<br />
betonen die notwendige Anwendungsorientierung<br />
sowie die Ergänzungsbedürftigkeit<br />
von allgemeinen Führungsmodellen<br />
durch Entgelt- und Mitbestimmungsaspekte<br />
in den Betrieben.<br />
3. Mit Verweis auf Thomas Kuhn will<br />
Gaugler die Schnittmenge zwischen<br />
ökonomischer und lebenspraktischer<br />
Vernunft weiten, indem Mitarbeiter zu<br />
Mitunternehmern werden. Im Gegensatz<br />
zu den Vorläufern aus dem 19. Jh. wird<br />
der Erfolg deutscher Modelle (Gert P.<br />
Spindler) aus der Nachkriegszeit in einer<br />
Kombination von materieller und intentionaler<br />
Beteiligung ausgemacht.<br />
4./5. Der Überbewertung des Shareholder-values<br />
auf Unternehmensführung<br />
bzw. Personalmanagement wird das differenzierte<br />
Geflecht der Unternehmensziele<br />
und insbesondere der Stakeholdervalue<br />
entgegengehalten. Gaugler fordert<br />
deshalb angemessene Gewinnerzielung<br />
statt kurzfristiger Maximierung.<br />
6. Dieser Umsetzung wird das übersichtlich<br />
von alternativen Modellen geschiedene<br />
Human-Resource-Management-<br />
Konzept nach R.E. Miles zugrundegelegt.<br />
Auf der Basis eines optimistischen<br />
Menschenbildes handelt es sich dabei<br />
um eine langfristige humanistischnormative<br />
Strategie, die vor allem von<br />
der Harvard-Universität weitergedacht<br />
wird.<br />
Die Sammlung bietet neben einer angebotenen<br />
Positionierung den übersichtli-
chen Anriß von Fragen des Personalmanagements<br />
und lädt mit seiner anthropologischen<br />
Fundierung wie ethischer Relevanz<br />
weiterführend zum unternehmensethischen<br />
Diskurs ein. Wer mit betriebswirtschaftlichem<br />
Hintergrund hier<br />
einsteigen möchte, dem sei dieser Band<br />
mit Nachdruck empfohlen.<br />
Elmar Nass<br />
Unternehmensethik<br />
Jede ernstzunehmende sozialethische<br />
Abhandlung muß vor der ersten normativen<br />
Schlußfolgerung Rechenschaft<br />
über ihre Kenntnis sozialer Gesetzmäßigkeiten<br />
und Interdependenzen ablegen<br />
können. Ebenso kann eine relevante<br />
Fortentwicklung der Unternehmensethik<br />
nur dann gelingen, wenn dafür systematische<br />
Ansätze zu betriebswirtschaftlichen<br />
Prozessen der Motivation und<br />
Zielerreichung zugrundegelegt werden.<br />
In einer von Uwe-Andreas Michelsen<br />
begleiteten Dissertation wird diese<br />
Grundlagenforschung vorangetrieben.<br />
Michael Müller-Vorbrüggen, Handlungsfähigkeit<br />
durch gelungene Kompetenz-Performanz-Beziehungen<br />
als<br />
Gegenstand moderner Personal- und<br />
Organisationsentwicklung. Entwurf<br />
eines theoretischen Rahmenkonzepts.<br />
Reihe: Berichte aus der Betriebswirtschaft.<br />
Shaker Verlag, Aachen, 2001<br />
164 S.<br />
Titel und Einführung verweisen auf ein<br />
ebenso komplexes wie notwendiges<br />
Unterfangen zur theoretischen Grundlegung<br />
zielgerichteter Handlungsprozesse<br />
in Unternehmen, das mit psychologischem<br />
und pädagogischem Sachverstand<br />
die betriebswirtschaftlich notwendige<br />
Effizienz zu operationalisieren sucht.<br />
Begriffliche Schärfe und ein nicht unkritisches<br />
Bekenntnis zu den eigenen theoretischen<br />
Wurzeln führen zu einem<br />
systemischen Modell der<br />
Motivationsoptimierung, das anschließend<br />
noch einmal hinterfragt und<br />
durch einen Ausblick auf erhoffte Anknüpfungen<br />
ergänzt wird. Es gewinnt<br />
sein Profil durch eine immer wieder<br />
einfließende Abgrenzung von „traditionellen“<br />
Alternativen, die als Gegenpart<br />
hätten systematisiert werden können.<br />
Zusammenfassende Gedanken zu den<br />
Kapiteln finden sich nur am Schluß. Die<br />
wegen des terminologischen<br />
Schwerpunktes hilfreiche Zusammenstellung<br />
der Schlüsselbegriffe könnte für<br />
den fachfremden Leser noch erweitert<br />
werden. Zahlreiche Abbildungen und<br />
Tabellen Der gewählte erleichtern systemische den Zugang. Ansatz dient<br />
der Relativierung, nicht aber der Ersetzung<br />
langfristiger Zielvorgaben. Dem<br />
einseitigen Glauben an den Aufbau und<br />
die Ausrichtung an einer Unternehmenskultur<br />
wird die Symb iose von<br />
Kompetenz (als Disposition) und Performanz<br />
entgegengesetzt, die langfristige<br />
und kurzfristige Zielaspekte vereint.<br />
Diese Dynamik interdependenter Organisations-<br />
und Personalentwicklung wird<br />
über die Handlungsfähigkeit begründet,<br />
die als theoretisches Konstrukt früh<br />
eingeführt und im Laufe der Abhandlung<br />
nach und nach als solche erklärt ist.<br />
Eine Absetzung zum Konstruktivismus<br />
etwa bei Niklas Luhmann schimmert<br />
durch, wird jedoch nicht explizit vorgenommen.<br />
Müller-Vorbrüggen gelingt für<br />
den eigenen Ansatz eine überzeugende<br />
Verknüpfung des Handlungsphasenmodells<br />
von Peter M. Gollwitzer et altri<br />
und der durch Moderation wie Feedback-Strukturen<br />
zu operationalisierenden<br />
Goal-Setting-Theorie von Edwin A.<br />
Locke et altri und stellt die Modelle<br />
dann ausführlicher in der abschließenden<br />
Diskussion gegeneinander.<br />
Im Zeitalter ständig veränderter Rahmenbedingungen<br />
wird die Dynamik der<br />
Zielsetzung an die Modifizierung von<br />
397
Moderation und Mediation verknüpft.<br />
Es ist dabei ein optimistisches<br />
Menschenbild unterstellt, das ebenso<br />
wie die dezentrierte Vernunft nach<br />
Hans-Joachim Höhn Platz läßt für<br />
emotionale Momente der Rationalität.<br />
Der umgrenzte Anspruch theoretischer<br />
Grundlagenbildung wird über den<br />
Grenzgang zwischen unterschiedlichen<br />
Disziplinen erfolgreich in einer heuristisch-innovativen<br />
Systematisierung eingelöst.<br />
Die offen gelassene Frage nach<br />
den Zielinhalten fordert nun zu einer<br />
unternehmensethischen Fortführung auf<br />
der Basis dieser fächerübergreifend angelegten<br />
Managementkompetenz heraus.<br />
398<br />
Elmar Nass<br />
Familienpolitik<br />
Um das umfassende wissenschaftliche<br />
Werk von Max Wingen zu würdigen,<br />
bedarf es eigentlich keiner weiteren<br />
Rezension. Seine zahlreichen Schriften<br />
zur Familienethik und -politik gehören<br />
zu den Meilensteinen der nachkriegsdeutschen<br />
Debatte. Dennoch bietet sein<br />
jüngster Sammelband auch Anlaß zur<br />
kritischen Rückfrage:<br />
Wingen, Max: Familienpolitische<br />
Denkanstöße. Sieben Abhandlungen<br />
(Connex – gesellschaftspolitische Studien,<br />
Band 1), Vektor-Verlag, Grafschaft<br />
2001, 291 S.<br />
In sieben Abhandlungen, bescheiden als<br />
Denkanstöße benannt, legt Max Wingen<br />
Fundament und Schattierungen seiner<br />
familienpolitischen Perspektive dar. Das<br />
Zentrum der Überlegungen ist dabei klar<br />
und wertvoll: Familienpolitik gilt ihm<br />
als gesellschaftliche Ordnungspolitik<br />
und „Querschnittsaufgabe“.<br />
Hierzu bedarf es laut Wingen einer integrativen<br />
Sichtweise von Wirtschafts-<br />
und Sozialpolitik: eine Unterordnung<br />
von sozial- und damit auch familienpolitischen<br />
Zielen unter den Primat der<br />
ökonomischen Sphäre ist folglich unzulässig.<br />
Dieser ambitionierten Forderung<br />
ist vollends zuzustimmen – wieso also<br />
durchkreuzt Wingen an anderen Stellen<br />
seine eigene Agenda? Wenn Wingen<br />
„Anreizdenken“ (80) fordert und detailliert<br />
begründet, rückt er in die Nähe<br />
einer wirtschaftsethischen Logik, die<br />
einer Sozialpolitik für den Markt das<br />
Wort redet: Ist auch für Wingen – um<br />
eine Formulierung von Karl Homann<br />
aufzugreifen – die Ökonomik die Fortsetzung<br />
der Ethik mit anderen Mitteln?<br />
Gleiches gilt zu befürchten, wenn Wingen<br />
das Konzept der Generationenbilanzierung<br />
vorstellt. Diese Methodik, die<br />
mittels der Gegenüberstellung von Nettotransferzahlungen<br />
von heute Lebenden<br />
im Vergleich zu zukünftigen Generationen<br />
intergenerative Umverteilung sichtbar<br />
machen will, beschränkt sich auf<br />
eine rein finanzierungstechnische Erfassung<br />
des Gerechtigkeitsproblems und<br />
zielt lediglich auf einen monetären Ausgleich<br />
zwischen den Generationen. Doch<br />
statt – wie Wingen fordert – die Ansätze<br />
zu verfeinern, wäre auf ihre bestenfalls<br />
für eine neoklassische Ökonomik begrenzte<br />
Gültigkeit und auf die weitergehende<br />
Bedeutung nicht-monetärer Solidarität<br />
hinzuweisen. Hierbei ist auch die<br />
von Wingen gegebene Definition von<br />
Generationengerechtigkeit zu überdenken,<br />
in der er vom Grundsatz ausgeht,<br />
„daß jede Generation der nächsten mindestens<br />
so viele Chancen und Handlungsspielräume<br />
hinterlassen sollte, wie<br />
sie selbst vorgefunden hat“ (154). Denn<br />
versteht man dies rein quantitativ, fehlt<br />
die konkrete Ausgestaltung, ist es hingegen<br />
qualitativ gemeint, bleibt die<br />
Bestimmung recht unscharf: jedwedes<br />
Handeln einer lebenden Generation<br />
beschränkt und erweitert zugleich den<br />
Handlungsspielraum der kommenden<br />
Generation.
Eine grundlegendere Diskussion wäre<br />
auch in bezug auf ein weiteres Thema<br />
wünschenswert gewesen: So betont Wingen,<br />
daß die Soziale Marktwirtschaft auf<br />
Institutionen „wie die Familie“ (12)<br />
angewiesen sei, um die vorgängige<br />
Wertebasis zu sichern. Zugleich charakterisiert<br />
er die Familie als „gesellschaftliche(s)<br />
Teilsystem“, das „an seine ihm<br />
gesetzten Grenzen stößt“ (14). Doch wie<br />
ist diese Differenz zwischen einer Moral,<br />
gebildet in und beschränkt auf die<br />
„kleinen Gemeinschaften des täglichen<br />
Lebens“ (Günter Dux) und einer gesamtgesellschaftlichen<br />
Wertebasis aufzuheben?<br />
Bei aller Kritik im Detail leistet der<br />
Band eine zentrale Aufgabe: Er ist eine<br />
Zusammenschau nicht nur der überaus<br />
fundierten Position von Max Wingen, er<br />
kann zugleich – insbesondere mit einem<br />
Verständnis von Familienpolitik als<br />
gesellschaftlicher Ordnungspolitik – als<br />
„state of the art“ gelten. Darüber hinaus<br />
hat der Band seine besonderen Stärken<br />
in den historischen Darstellungen. Das<br />
Kapitel zur Geschichte und zum Stand<br />
der Diskussion um das Familienwahlrecht<br />
sowie die abschließenden und zum<br />
Teil recht persönlichen Anmerkungen zu<br />
50 Jahren Familienpolitik sind faszinierend<br />
und informativ zugleich. Hätte man<br />
in der Edition des Bandes sorgfältiger<br />
darauf geachtet, inhaltliche Redundanzen<br />
zu vermeiden (die ersten vier Beiträge<br />
sind doch weitestgehend kongruent),<br />
wäre sowohl den Positionen von<br />
Wingen als auch dem programmatischen<br />
Charakter dieses ersten Bandes der<br />
wissenschaftlichen Reihe des Zentralinstituts<br />
für Ehe und Familie in der Gesellschaft<br />
eher gedient gewesen. Um es<br />
zusammenzufassen: Das Buch ist zu<br />
empfehlen, wenn man es in Etappen<br />
liest – daß es die Diskussion bereichert,<br />
steht außer Frage.<br />
Nils Goldschmidt<br />
Religion<br />
Fazit: Unbedingt lesen, gerade auch wer<br />
noch nie etwas über ‚so etwas‘ gelesen<br />
hat! Zupackend, geistreich und anregend<br />
läßt Zander die ach so menschliche<br />
Geschichte einer scheinbar gänzlich<br />
verstaubten Epoche wiederauferstehen.<br />
Zander, der bei den Dominikanern am<br />
eigenen Leib Ordenserfahrungen gesammelt<br />
hat, erweist sich mit seinen<br />
Essays über die frühen ägyptischen und<br />
syrischen Wüstenväter als meisterlicher<br />
Historienerzähler, der möglicherweise<br />
für manche zu journalistisch, dafür aber<br />
um so erfrischender seine Pointen setzt.<br />
Hans Conrad Zander, Als die Religion<br />
noch nicht langweilig war. Die Geschichte<br />
der Wüstenväter, Kiepenheuer<br />
& Witsch-Verlag, Köln 2001, 296 S.<br />
Seine Einblicke und Erkenntnisse gruppiert<br />
Zander dreifach: um den Wüstenvater<br />
Antonius, der als erster das Exp eriment<br />
der Einsamkeit einging; um<br />
Pachomius, der in seinen wirtschaftlich<br />
potenten Mönchskolonien gewis sermassen<br />
Einsamkeit für alle organisierte; um<br />
den Extremasketen Simeon, den älteren<br />
Säulensteher. In die höchst anschauliche<br />
Milieuschilderung fließen politische,<br />
wirtschaftliche, religiöse und spirituelle<br />
Aspekte ein. Durch präzise Beobachtungen<br />
gelingt es Zander immer wieder,<br />
unsere klischeehaften Vorstellungen<br />
anhand der harten Tatsachen des spätantiken<br />
Lebensalltags zu korrigieren.<br />
Herausgegriffen seien nur die Ausführungen<br />
über Antonius und seine Wohnverhältnisse<br />
in seinem Heimatdorf Koma.<br />
Von Antonius heißt es, er habe seine<br />
bewegliche Habe an die Armen verteilt,<br />
das ererbte Land aber den Dorfnachbarn<br />
geschenkt. Weshalb diese Aufteilung?<br />
Weil das ökonomisch sinnvoll und gemeinnützig<br />
war! Seit der diokletianischen<br />
Steuerreform mußte jedes Dorf<br />
kollektiv einen bestimmten Steuerwert<br />
399
aufbringen, wofür die reichsten Familien<br />
mit ihrem Besitz hafteten. Unter diesen<br />
Familien war vermutlich die des Antonius.<br />
Hätte Antonius seine Landgüter aufgeteilt,<br />
wäre auf alle Dorfbewohner eine<br />
enorme Steuerlast zugekommen; so aber<br />
ist es dem mutmaßlich ebenfalls wohlhabenden<br />
Nachbarn möglich, durch die<br />
Erträge seines erweiterten Besitzes für<br />
die Solidargemeinschaft des Dorfes<br />
steuerlich einzustehen. In diesen Zusammenhang<br />
gehört dann auch die Steuerfreiheit<br />
der Besitz- und Landlosen, die<br />
das Leben der Wüstenmönche überraschend<br />
attraktiv machte: „Für ihren<br />
Exodus aus Ägypten hatten sie ein<br />
mächtiges finanzielles Motiv: die Flucht<br />
vor der römischen Steuer. Aber genauso<br />
mächtig war ihr religiöses Motiv: die<br />
Nachfolge Chris ti ... So ist das in der<br />
Religion: Wo ein starkes finanzielles<br />
Motiv und ein starkes spirituelles Motiv<br />
sich verbinden, in dieser Kernfusion<br />
wird die Religion geschichtsmächtig und<br />
schöpferisch“ (S. 72-80: „Karl Marx in<br />
der Wüste“).<br />
400<br />
Mag Zander zuweilen auch kernig gegen<br />
heutige Trendschwadroneure und<br />
intellektuelle Irrläufer polemisieren und<br />
gewagte Vergleiche anstellen, nie verläßt<br />
er mutwillig den historischen Boden;<br />
dazu liebt er seine Wüstenväter zu<br />
sehr (Wüstenmütter gibt es nicht: S.<br />
115-131). Fachlich ist das Werk durchaus<br />
solide; es beruht auf echtem Quellenstudium<br />
und persönlicher Landeskunde.<br />
Im Einzelnen sind freilich Korrekturen<br />
möglich. Das griechische<br />
„Psalmodieren“ bedeutet nicht, daß die<br />
Mönche nach unserer heutigen Vorstellung<br />
die Psalmen „gesungen“ haben (S.<br />
104f); Psalmensingen galt den Asketen<br />
als Dekadenzerscheinung der überladenen<br />
Liturgie der Kathedralkirchen. Mit<br />
dem Edikt von Mailand i.J. 313 wurde<br />
die Kirche noch lange nicht „Staatskirche“<br />
(S. 133); davon kann erst unter<br />
Theodosius die Rede sein.<br />
Stefan Heid
401