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DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi

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<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />

<strong>ORDNUNG</strong><br />

begründet von Laurentius Siemer OP<br />

und Eberhard Welty OP<br />

Nr. 5/2002 Oktober 56. Jahrgang<br />

Sozial gerechte Marktwirtschaft<br />

Editorial<br />

Wolfgang Ockenfels, Wahlen, Wahrheit und<br />

politische Kampfspiele<br />

Gisela Meister-Scheufelen, „Gerechtigkeit“<br />

in der Sozialen Marktwirtschaft<br />

Bernhard Niemann, Kulturelle Rahmenbedingungen<br />

der Sozialen Marktwirtschaft<br />

Karl Schwarz, Die kinderlose Gesellschaft<br />

und ihre Folgen<br />

Frank Loges / Lothar Susok, Basel II und die<br />

Kirchen<br />

Jörg Splett, „Selbstverwirklichung“ – chris tlich?<br />

Bericht und Gespräch<br />

Ambrosius Esser, Ein neuer Heiliger:<br />

Josemaría Escrivá de Balaguer<br />

Hans Thomas, Was ist das Opus Dei?<br />

Paul Johannes Fietz, Subsidiarität in der<br />

Kirche?<br />

Clemens Breuer, Die Bedeutung der<br />

Religion für die Gesellschaft<br />

Besprechungen<br />

322<br />

324<br />

330<br />

341<br />

348<br />

359<br />

369<br />

376<br />

388<br />

392<br />

396<br />

Herausgeber:<br />

Institut für<br />

Gesellschaftswissenschaften<br />

Walberberg e.V.<br />

Redaktion:<br />

Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />

Heinrich Basilius Streithofen OP<br />

Bernd Kettern<br />

Redaktionsbeirat:<br />

Stefan Heid<br />

Martin Lohmann<br />

Edgar Nawroth OP<br />

Herbert B. Schmidt<br />

Günter Triesch<br />

Rüdiger von Voss<br />

Redaktionsassistenz:<br />

Andrea und Hildegard Schramm<br />

Druck und Vertrieb:<br />

Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />

53708 Siegburg<br />

Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />

Die Neue Ordnung erscheint alle<br />

2 Monate<br />

Bezug direkt vom Institut<br />

oder durch alle Buchhandlungen<br />

Jahresabonnement: 25,- €<br />

Einzelheft 5,- €<br />

zzgl. Versandkosten<br />

ISSN 09 32 – 76 65<br />

Bankverbindungen:<br />

Sparkasse Bonn<br />

Konto-Nr.: 11704533<br />

(BLZ 380 500 00)<br />

Postbank Köln<br />

Konto-Nr.: 13104 505<br />

(BLZ 370 100 50)<br />

Anschrift der<br />

Redaktion und des Instituts:<br />

Simrockstr. 19<br />

53113 Bonn<br />

Tel. + Fax Redaktion: 0228/222323<br />

Tel. Institut: 0228/21 68 52<br />

Fax Institut: 0228/22 02 44<br />

Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />

Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />

Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />

Haftung<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />

geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />

Vervielfältigung nur mit<br />

Genehmigung der Redaktion<br />

http://www.die-neue-ordnung.de<br />

321


Editorial<br />

322<br />

Wahlen, Wahrheit und politische Kampfspiele<br />

Nach Wahlen fühlt man sich wohler, auch wenn „die Falschen“ gewonnen haben<br />

sollten. Hauptsache, dieser gräßliche Wahlkampf ist vorbei. Die beleidigend<br />

dummen Phrasen verhallen, die Plakate mit den grinsenden Visagen verwehen<br />

im Herbstwind - und das Fernsehen verlagert seine spannenden Spielchen und<br />

Duelle auf andere Felder. Was bleibt ist ein Rest von Ekel und Müdigkeit, vor<br />

allem ein dringendes Reinigungsbedürfnis. Doch die heißen Bäder, die Thomas<br />

von Aquin empfahl, halten nicht lange vor. Schon droht man dem unbescholtenen<br />

Bürger mit einer neuen Phrase: „Nach der Wahl ist vor der Wahl!“ Sie rührt aus<br />

der Sprache des Fußballs und an die Emotionen der Fans. Aber was hat der Fußball<br />

mit dem politischen Wahlkampf zu tun?<br />

Was beide verbindet ist der Kampf zwischen Freund und Feind (Carl Schmitt).<br />

Aber während es beim Fußball, wenigstens bei Weltmeisterschaften, um die „nationale<br />

Ehre“ geht, haben unsere Parteipolitiker nicht das Wohl des Landes,<br />

sondern das ihrer Wählerklientel vor Augen. Und während es im Fußball um die<br />

Befolgung von Spielregeln geht, fehlen diese im Wahlkampf. Dort gewinnen<br />

gerade jene politischen Vabanque-Spielernaturen, denen die Regeln des moralischen<br />

Anstands schnuppe sind. Auf dem Felde des politischen Kampfes fehlen<br />

überdies die unparteiischen Schieds- und Linienrichter, die auf Chancengleichheit<br />

und Fairneß achten. Die Fouls und Abseitspositionen in der Politik verbindlich<br />

zu markieren und zu bestrafen, dazu sind die Medien weder berufen noch in<br />

der Lage. Vor allem ist das Fernsehen nur an der äußeren Darstellung, an der<br />

Dramaturgie der Spannung und an der Zuschauerquote interessiert. Den Ausgang<br />

des Spiels bestimmen allein die Zuschauer, also die Wähler, „der Souverän“.<br />

Wie souverän die Bürger bei der Betrachtung der Bilder, bei Bier und Salzgebäck<br />

und mit Blick auf ihre private Gewinnerwartung entscheiden, ist ihre höchst<br />

persönliche Sache.<br />

Äußerst knapp war diesmal das Ergebnis. Rot-Grün muß nun zur Strafe weiterregieren<br />

und nachsitzen. Das Regierungsbündnis hat jetzt das schlechte Verhältnis<br />

zu den USA, die miserable Wirtschaftslage, die gravierende Arbeitslosigkeit,<br />

den desolaten Zustand der sozialen Sicherungssysteme etc., also alles das, was es<br />

mitverschuldet hat, wieder in Ordnung zu bringen. In eine „neue Ordnung“, wie<br />

der regierungsamtliche Terminus heißt, hinter dem kein ordnungspolitischer<br />

Begriff erkennbar ist. Vielmehr droht jetzt die Fortsetzung rotierender Regierungspolitik,<br />

in der sich nichts rührt, außer an der Werbetrommel.<br />

Was sich „der Wähler“ dabei gedacht hat? Offensichtlich nicht viel. Das Kollektivwesen<br />

ist launisch und leicht erregbar, von vielen Stimmungen hin- und hergeschüttelt.<br />

An der Weisheit des Wählers sind Zweifel geboten. Volkes Stimme<br />

mit der Stimme Gottes gleichzusetzen, gehört zu den sonderbaren Mythen der<br />

Demokratie. Sie laufen darauf hinaus, Mehrheit mit Wahrheit, Macht mit Recht


zu vertauschen, also zu täuschen. Aber „Mehrheit ist Mehrheit“, meinte Adenauer.<br />

Mehr ist aus dieser tautologischen Banalität nicht herauszulesen.<br />

Zwischen realen und imaginären Problemen, zwischen Elbe und Flut, zwischen<br />

Krieg und Frieden wurden die Themen, auf die es langfristig ankommt, zerrieben.<br />

Die Zwischenräume boten viel Platz für allerlei künstliche Erzeugungen von<br />

Angst, Betroffenheit und Verheißung. Der neue maoistische Personenkult, der<br />

ausgerechnet bei SPD und Grünen ausgebrochen ist, überdeckt die Sachprobleme<br />

durch austauschbare Attrappen. Die von Werbeagenturen hochstilisierten und<br />

für den Fernsehgebrauch zurechtgestutzten Führer-Persönlichkeiten wollen und<br />

können keine Entscheidungen mehr treffen, sondern treten ihre Verantwortung<br />

an Kommissionen ab. Politiker spielen den starken Mann und hauen theatralis ch<br />

auf den Tisch, übernehmen aber keine Verantwortung mehr, auf die man sie<br />

festnageln könnte. Kaum sind die Wahlkabinen geschlossen, werden schon die<br />

ersten Wahlversprechen gebrochen. Man hatte sich nur versprochen.<br />

Der spielerische Umgang mit der Politik raubt ihr jeden ernsten Realitäts- und<br />

Wahrheitsgehalt und ruft alle möglichen Filous, Dandys und Bohemiens auf den<br />

Plan. Von denen würde man zwar keinen Gebrauchtwagen kaufen, aber als politische<br />

Spaßmacher und Designer sind sie willkommen. Deren Lügen haben zwar<br />

kurze Beine, aber noch kürzer ist das Gedächtnis der Leute.<br />

Die Wahlkriterien der katholischen Kirche haben wohl einige ethische Forderungen<br />

und uneingelöste Ansprüche in Erinnerung gerufen. Da sie jedoch auf allgemeines<br />

Wohlwollen bzw. Desinteresse fast aller Parteien stießen, spielten sie -<br />

wie überhaupt der „C“-Faktor - im Wahlkampf keine Rolle. Ernster zu nehmen<br />

waren die gewohnheitsmäßigen Drohungen der DGB-Gewerkschaften mit „Massenprotesten“,<br />

falls eine neue Regierung die rechtlichen Bedingungen des Arbeitsmarktes<br />

zugunsten der Arbeitslosen verändern sollte.<br />

Gründliche Reformen sind in diesem Land nicht möglich, solange der Mut zur<br />

Wahrheit fehlt. Die Allensbacherin Elisabeth Noelle teilte kürzlich mit, daß das<br />

Vertrauen der Bevölkerung in die öffentlichen Institutionen weiter zurückgegangen<br />

sei. Auf die Frage: „Bei welchen Berufsgruppen würden Sie alles in allem<br />

darauf vertrauen, daß sie die Wahrheit sagen?“ liegen die Ärzte mit 50 Prozent<br />

an der Spitze, gefolgt von Pfarrern, Richtern, Durchschnittsbürgern, Lehrern und<br />

Nachrichtensprechern. Von den Politikern erwarten nur noch vier Prozent, daß<br />

sie die Wahrheit sagen. Haben hier wenigstens die befragten „Durchschnittsbürger“<br />

die Wahrheit gesagt? Wollen sie nicht betrogen werden?<br />

Vielleicht brauchen wir mehr Ärzte in der Politik, die uns reinen Wein einschenken,<br />

und auch Pfarrer, die nicht das Jammertal als Paradies umdeuten - oder<br />

„Visionen“ als reale Reformen ausgeben. Die ungeschminkte Wahrnehmung der<br />

Wirklichkeit wird hierzulande meist als Miesmacherei und Nörgelei schlechtgeredet.<br />

Wahrscheinlich müssen die schlimmen Ereignisse, die Politik rechtzeitig<br />

abwenden soll, erst einmal eintreten. Damit dem Publikum unmittelbar einleuchtet,<br />

daß Politik mehr zu sein hat als Spiel, Illusion und Stimmu ngsmache. Die<br />

erlittene Wirklichkeit ist immer noch der beste Lehrmeister.<br />

Wolfgang Ockenfels<br />

323


324<br />

Gisela Meister-Scheufelen<br />

„Gerechtigkeit“ in der Sozialen Marktwirtschaft<br />

Zunehmend wird die politische Diskussion von Vorwürfen beherrscht, wie: „Die<br />

Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer“, oder „wir entwikkeln<br />

uns zur Zwei-Drittel-Gesellschaft“, d. h. ein Drittel geht es gut, zwei Drittel<br />

geht es schlecht. Parteien wird vorgeworfen, sie planten den Sozialabbau. Viele<br />

fürchten, die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft zu verlieren. Gemeint<br />

ist das gut funktionierende soziale Sicherungssystem. 54% der Bevölkerung<br />

rechnen damit, daß die Arbeitslosigkeit durch die Globalisierung zunimmt<br />

(Bundesverband deutscher Banken, Januar 1999 ). „Die Globalisierung verschärft<br />

die sozialen Unterschiede“ (PDS, Haushaltsdebatte November 2001).<br />

Nicht nur die Angst vor dem Verlust sozialer Sicherheit, auch die Unzufriedenheit<br />

mit den bestehenden Verhältnissen nimmt zu. Auf die Frage von Allensbach:<br />

„Halten Sie die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland, d. h. was die<br />

Menschen besitzen und was sie verdienen, für gerecht oder nicht für gerecht?“<br />

antworteten im Februar 2000 47% der Befragten: „nicht gerecht“ und 35% „gerecht“.<br />

47% würden sich, wenn sie sich zwischen persönlicher Freiheit und mö glichst<br />

großer Gleichheit entscheiden müßten, für persönliche Freiheit entscheiden,<br />

37 % wäre eine möglichst große Gleichheit wichtiger. (Allensbach Februar<br />

2000).<br />

Dies erinnert an den Ausspruch von Bismarck: „Der Deutsche opfert eher die<br />

Freiheit als die Ordnung.“ Unsere Gesellschaft tut sich mit dem Begriff der sozialen<br />

Gerechtigkeit schwer. Wir interpretieren ihn höchst unterschiedlich, sind<br />

anfällig für politische Manipulationen, ändern unser Werteverständnis in wichtigen,<br />

die Gesellschaft betreffenden Grundfragen und lassen uns von Stimmungen<br />

leiten, die immer wieder von tagespolitischen Einflüssen bestimmt werden. Wie<br />

ist der Gerechtigkeitsbegriff in der sozialen Marktwirtschaft zu definieren? Nach<br />

welchem Maßstab ist er auszurichten?<br />

I. Gerechtigkeitsbegriff<br />

Aristoteles (384–322 v. Chr.) unterteilte die Gerechtigkeit in eine Tauschgerechtigkeit<br />

(kommutative), d. h. die direkten sozialen Beziehungen zwischen Menschen<br />

betreffend, in eine verteilende (distributive), d. h. die Verpflichtung des<br />

Gemeinwesens (heute: des Staates) gegenüber dem einzelnen zur gerechten Ve rteilung<br />

von Lasten und Nutzen sowie in eine legale, d. h. daß der einzelne seinen<br />

Beitrag zum Gemeinwesen zu leisten hat.<br />

Nach wie vor brauchbar ist der Gerechtigkeitsbegriff des römischen Juristen<br />

Ulpian (170-228 n. Chr.): „Gerechtigkeit ist der feste und dauernde Wille, jedem<br />

sein Recht zuzuteilen.“ Geregelt wird die Beziehung von Menschen zu anderen<br />

Menschen. Zentrale Frage ist, wie das „ius suum“, das „sein Recht“ bestimmt


wird. Bis in das 19. Jahrhundert war Gerechtigkeit als Tugend aufgefaßt worden.<br />

Gemeint war eine individuelle Haltung, eine Einstellung, nach der der Akteur die<br />

einzelnen Handlungen ausführt.<br />

Erst seit dem 19. Jahrhundert, d. h. seit dem Beginn der Nationalstaaten und der<br />

Industrialisierung, gibt es den Begriff der sozialen Gerechtigkeit. Der Gerechtigkeitsmaßstab<br />

wird jetzt nicht mehr allein an das Handeln einzelner oder einzelnen<br />

gegenüber angelegt, sondern an das Regelsystem, nach denen die Handlungen<br />

erfolgen. Damit wird der schwierige Versuch unternommen, eine Handlungskategorie<br />

auf eine Systemkategorie umzuformulieren.<br />

Bis heute fehlt jedoch eine allgemein anerkannte Begriffsdefinition von sozialer<br />

Gerechtigkeit, die auch nur annähernd die Präzision erreichen würde, die wir<br />

Aristoteles oder Ulpian verdanken. Dies ist um so problematischer, als das Thema<br />

der sozialen Gerechtigkeit seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine<br />

zentrale Bedeutung in der politischen Auseinandersetzung erlangt hat. Ist es<br />

sozial ungerecht, wenn die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erst am zweiten<br />

oder dritten Tag einsetzt? Ist es sozial ungerecht, wenn ein Kleinbetrieb mit<br />

sechs Beschäftigten im Fall betriebsbedingter Kündigungen die Auswahl der zu<br />

Kündigenden im wesentlichen nach betrieblichen Interessen vornimmt? Ist es<br />

sozial gerecht, daß ein Handwerker in Deutschland mehr als 4 Stunden arbeiten<br />

muß, bevor er sich „auf Rechnung“ eine Arbeitsstunde von einem Kollegen<br />

leisten kann? Unsere Gesellschaft hat diese Fragen nicht ausdiskutiert. Das Ve rständnis<br />

von sozialer Gerechtigkeit umfaßt die Spannbreite von Verteilungsgerechtigkeit<br />

versus Leistungsgerechtigkeit sowie Wirtschaftlichkeitsbetrachtung<br />

versus Chancen- und Beteiligungsgerechtigkeit.<br />

II. Verteilungsgerechtigkeit<br />

Die Verteilungsgerechtigkeit bzw. Ergebnisgerechtigkeit macht die Gerechtigkeit<br />

an bestimmten gesamtwirtschaftlichen Verteilungsergebnissen fest. Maßstab<br />

ist dabei praktisch immer die Gleichverteilung. Die Verteilungsgerechtigkeit ist<br />

das Grundprinzip des Wohlfahrtsstaats. Er räumt der staatlichen Verantwortung<br />

für die Gewährleistung der Daseinsvorsorge seiner Einwohner Vorrang gegenüber<br />

der Eigenverantwortung und der individuellen Eigenvorsorge ein.<br />

Der Maßstab der Gleichheit läßt sich insbesondere am Beispiel der Einkommensverteilung<br />

veranschaulichen. So war z. B. das Einkommensgefälle in der<br />

DDR sehr gering. Das höchste Gehaltsniveau – mit Ausnahme desjenigen von<br />

SED-Spitzenpolitikern – hatten Angehörige medizinischer Berufe. Das Netto-<br />

Monatsgehalt lag für Chefärzte wie für Apotheker bei ca. 2.000 DDR-Mark.<br />

Folge der Staats- und Wirtschaftssysteme, die das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit<br />

als Gleichheitsprimat durchsetzen, ist eine vergleichsweise geringe Leistungsbereitschaft<br />

der Bevölkerung sowie eine sehr geringe Effektivität sowie<br />

Effizienz der Wirtschaftsabläufe und damit ein geringes Wirtschaftswachstum<br />

und ein geringer Lebensstandard.<br />

Während die Wirtschaftsleistung je Einwohner in der Bundesrepublik von 1950<br />

bis 1989 von 8.215 DM auf 35.856 DM stieg (+ 336 %), stieg sie in der DDR im<br />

325


gleichen Zeitraum von 4.285 DM auf 11.829 DM (+ 176%), also praktisch nur<br />

um die Hälfte.<br />

Inzwischen hat sich bei vielen die Erkenntnis durchgesetzt, daß das Gleichheitsprinzip<br />

ein Irrweg ist, weil es auf wichtige Leistungsanreize verzichtet, wenn es<br />

keine Möglichkeiten von Einkommensgestaltung und Eigentum sowie Vermögensbildung<br />

einräumt.<br />

Angesichts der erheblichen Schlechterstellung gegenüber Wettbewerbsgesellschaften<br />

werden die Menschen unzufrieden und revoltieren. Die friedliche Revolution<br />

der DDR-Bevölkerung von 1989 und der Zusammenbruch des kommunistischen<br />

Wirtschaftssystems der Ostblockstaaten sowie der Sowjetunion war ein<br />

eindrucksvoller Beleg.<br />

326<br />

III. Verfahrensgerechtigkeit<br />

Überwiegend wird soziale Gerechtigkeit als Verfahrens- und Leistungsgerechtigkeit<br />

verstanden. Das heißt, ob ein Zustand oder eine Maßnahme als sozial<br />

gerecht einzustufen sind, bemißt sich danach, ob es die zugrundeliegenden Regeln<br />

sind. Die am Maßstab der sozialen Gerechtigkeit ausgerichteten Regeln<br />

formulieren die „berechtigten Erwartungen“ der Akteure (Brennan/Buchanan).<br />

Die Regeln sind dann gerecht, wenn sie höheren Regeln entsprechen.<br />

Ein Regelsystem ist sozial gerecht, wenn es gelungen ist, es so auszugestalten,<br />

daß die „berechtigten Erwartungen“ der Mitglieder einer Gesellschaft im Einvernehmen<br />

mit diesen festgelegt wurden. Die Bewertung, wie das Regelsystem<br />

auzurichten ist, um soziale Gerechtigkeit zu erzielen, bestimmt sich wesentlich<br />

nach der Geschichte und der Kultur der betreffenden Gesellschaft. So erklärt<br />

sich, daß eine Gesellschaft Regelinhalte als sozial gerecht betrachtet, die von<br />

einer anderen Gesellschaft als höchst ungerecht empfunden werden können.<br />

Schwachpunkt dieses Gerechtigkeitsverständnisses ist, daß sich die Bewertung,<br />

ob das Regelsystem als gerecht einzustufen ist, auch danach richtet, was für den<br />

einzelnen letztlich dabei herauskommt. Es kann also nicht unabhängig von seiner<br />

konkreten Lebenssituation beurteilt werden. Damit kommt der Maßstab der Ergebnisgerechtigkeit<br />

wieder zum Tragen.<br />

IV. Leistungsgerechtigkeit<br />

Der eigentliche Gegensatz zum Verteilungsprinzip ist der Maßstab der Leistungsgerechtigkeit.<br />

Er stellt darauf ab, ob Leistung und Gegenleistung, ob Arbeit<br />

und Lohn, ob Beitrag und Versicherungsleistung, ob Anwartschaft und Leistungshöhe<br />

in einem entsprechenden Verhältnis stehen.<br />

Dies erinnert an die Begriffe der kommutativen, distributiven und legalen Gerechtigkeit<br />

von Aristoteles. Die Antike kannte den Wohlfahrtsstaat nicht.<br />

Schwachpunkt der Leistungsgerechtigkeit ist der Mangel an sozialen Aspekten<br />

und damit ein Mangel an Gerechtigkeit gegenüber Leistungsschwachen. Um dies<br />

zu erfassen, spricht die katholische Soziallehre vom „Prinzip der Billigkeit“<br />

(Joachim Giers).


V. Beteiligungsgerechtigkeit<br />

Der entscheidende Gegensatz unterschiedlichen Gerechtigkeitsverständnisses ist<br />

inzwischen weniger die Frage, ob stärker der Aspekt der Ergebnisgleichheit oder<br />

der Leistungsgerechtigkeit betont wird. Entscheidend ist, ob soziale Gerechtigkeit<br />

ausschließlich nach ökonomischen oder eher nach Teilhabeaspekten definiert<br />

wird. Ein Großteil der Gesellschaft wird die Definition: „Soziale Gerechtigkeit<br />

herrscht, wenn die ökonomischen Verhältnisse der Staatsbürger zu einem<br />

gerechten Ausgleich gekommen sind“ für richtig halten. Zunehmend setzt sich<br />

aber auch die Erkenntnis durch, daß nicht der Staat allein, sondern auch die Gesellschaft,<br />

d. h. die Summe aller Individuen, für die Herstellung von sozialer<br />

Gerechtigkeit verantwortlich ist. Wenn dies so ist, kommt es nicht allein auf die<br />

„verteilende Gerechtigkeit“ des Staates an, sondern auf Chancengleichheit und<br />

das Recht eines jeden einzelnen, am gesellschaftlichen Fortschritt teilzuhaben.<br />

Dies setzt voraus, daß alle diejenigen, die von bestimmten Entscheidungen betroffen<br />

sind, an diesen Entscheidungen beteiligt werden.<br />

VI. Gerechtigkeitsbegriff der modernen Bürgergesellschaft<br />

Nach dem amerikanischen Wirtschaftshirtenbrief von 1986 beinhaltet soziale<br />

Gerechtigkeit, „daß die Menschen die Pflicht zu aktiver und produktiver Teilnahme<br />

am Gesellschaftsleben haben und daß die Gesellschaft die Verpflichtung<br />

hat, dem einzelnen diese Teilnahme zu ermöglichen“. Entsprechend dem chris tlichen<br />

Menschenbild beinhaltet dieses Gerechtigkeitsverständnis nicht nur Rechte,<br />

sondern angesichts des eigenverantwortlich handelnden und in seiner<br />

personalen Würde zu respektierenden Individuums auch Pflichten.<br />

John Rawls und viele andere Sozialtheoretiker stellen demgegenüber lediglich<br />

auf das „Recht auf Teilhabe“ ab. Die Ve rbindung zu den ökonomischen Verhältnissen,<br />

die gegeben sein müssen, damit der einzelne an den Entscheidungen zum<br />

gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt überhaupt teilhaben kann, hat am<br />

besten Ludwig Erhard dargelegt:<br />

1. Wohlstand für alle<br />

Die Vision von Ludwig Erhard im ausgebombten Nachkriegsdeutschland war für<br />

niemand so zu verstehen, daß der Staat durch eine geschicktere Umverteilung<br />

Wohlstand für alle organisieren könnte. Sein Credo war: „Das mir vorschwebende<br />

Ideal beruht auf der Stärke, daß der einzelne sagen kann: Ich will mich aus<br />

eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für<br />

mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du Staat dafür, daß ich dazu in<br />

der Lage bin.“<br />

Beteiligungsgerechtigkeit als modernes Verständnis von sozialer Gerechtigkeit<br />

setzt die Freiheit und die Eigenverantwortung des einzelnen, also insbesondere<br />

den Rechtsstaat und die Demokratie voraus. Das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft,<br />

so wie Erhard sie einführte, beruht auf der Überzeugung, daß das Individuum<br />

und gerade nicht das Kollektiv, d. h. die anonyme Gesellschaft, im Mittelpunkt<br />

des Systems stehen darf. Nicht der Staat sorgt für den sozialen, gesell-<br />

327


schaftlichen und kulturellen Fortschritt, sondern der einzelne. Der Staat schafft<br />

die Rahmenbedingungen, damit dem einzelnen dies möglich ist.<br />

Sie verlangt Subsidiarität, d. h. was der einzelne leisten kann, darf ihm nicht<br />

abgenommen werden. „So wenig Staat wie möglich, soviel Staat wie nötig“.<br />

Ludwig Erhard wollte den schlanken, aber starken Staat. Bei einer Staatsquote<br />

von 48,4% und einem Sozialbudget von über 33% des Bruttoinlandsprodukts<br />

sind wir dabei, das Gegenteil zu erreichen.<br />

Sie verlangt Solidarität und soziale Verantwortung gegenüber den Schwächeren<br />

und unter den Generationen. Die Dominanz des Staates, die ungelösten Finanzierungsprobleme<br />

der gesetzlichen Sozialversicherung und der Umfang der<br />

Schwarzarbeit stehen dieser Solidarität entgegen. Ein nach diesen Grundprinzipien<br />

ausgerichtetes und auch praktiziertes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem<br />

löst hohe Leistungsanreize aus, schafft die Voraussetzung für Effektivität und<br />

Effizienz der Wirtschaftsabläufe, hat die Chance hoher Wertschöpfung und damit<br />

die Chance auf Vollbeschäftigung und Wohlstand.<br />

2. Anspruchs-, Neid- und Angstgesellschaft<br />

Seit Jahren beklagen wir, daß die deutsche Gesellschaft nur noch aus Ansprüchen<br />

gegenüber dem Staat bestünde. So ist gerade das Verlangen nach noch<br />

mehr sozialer Sicherheit ein bestimmendes Moment. Andererseits ist der Neid<br />

ein beherrschendes Gefühl. Die Diskussion um sog. „Besserverdienende“, denen<br />

kein „Dienstmädchenprivileg“ eingeräumt werden darf, macht die aufgeladene<br />

Stimmung deutlich. Schließlich hat sich die New York Times schon Mitte der<br />

90er Jahre mit der Befindlichkeit der Deutschen auseinandergesetzt und das<br />

Phänomen „the German Angst“ beschrieben.<br />

Bei alledem wird übersehen, daß diese Schwächen keine tieferen wesensmäßigen<br />

Ursachen haben, sondern lediglich Ausfluß einer Reduzierung des Begriffs der<br />

sozialen Gerechtigkeit auf wirtschaftliche Verhältnisse, „insbesondere meine im<br />

Vergleich zu meinem Nachbarn“ sind. Wenn ein Schiff in Seenot gerät, ist es<br />

fatal, wenn sich die Besatzung um die vorderen Plätze streitet. Man muß dazu<br />

wissen, daß von der Titanic sämtliche Passagiere der 1. Klasse ertrunken sind,<br />

während es einigen der 2. Klasse gelang zu überleben. Wenn wir den „gerechten<br />

Ausgleich ökonomischer Verhältnisse“ zum zentralen politischen Anliegen machen,<br />

kommt die Frage, wie überhaupt Wertschöpfung erzielt wird, d. h. wie der<br />

Wohlstand insgesamt vermehrt werden kann, zu kurz. Einer der Hauptgründe,<br />

warum Deutschland beim Wirtschaftswachstum in der EU derzeit Schlußlicht ist.<br />

3. Recht auf Chancen und Teilhabe<br />

Wesentliches Moment des Gerechtigkeitsbegriffs einer Bürgergesellschaft ist die<br />

Chancengleichheit. Sie besteht darin, dem Zwerg die Leiter zu reichen, damit er<br />

sich den Apfel pflücken kann. Wohlbemerkt: Sie besteht nicht darin, daß ein<br />

Staatsdiener dafür bezahlt wird, ihm den Apfel zu reichen. Jeder ist verpflichtet,<br />

das nach seinen Kräften und Fähigkeiten Mögliche zu leisten, um die eigene<br />

Existenz zu sichern und am Fortschritt der Gesellschaft mitzuwirken. Es entspricht<br />

dem christlichen Menschenbild, dies auch von Schwachen und Behinderten<br />

zu erwarten. Nur auf diese Weise kann ihnen die Achtung entgegengebracht<br />

328


werden, die ihnen zukommt. Das Prinzip des Wohlfahrtsstaats, ihnen nichts<br />

zumuten zu wollen und in Wahrheit nichts zuzutrauen, mißachtet ihre Menschenwürde.<br />

Beteiligungsgerechtigkeit als Ausfluß eines Freiheitsverständnisses, des Prinzips<br />

der Eigenverantwortung und der Selbstvorsorge setzt voraus, daß dem einzelnen<br />

der Zugang zu Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten eingeräumt wird, die<br />

ein menschenwürdiges, mit der Bevölkerungsmehrheit vergleichbares Leben und<br />

eine effektive Mitarbeit am Gemeinwohl ermöglicht (Sozialwort der Kirchen<br />

1999). Dazu gehört in Deutschland vor allem der Abbau von Massenarbeitslosigkeit<br />

und struktureller Arbeitslosigkeit.<br />

Entscheidender Aspekt ist, daß nicht der Staat, sondern der einzelne und die<br />

Gesellschaft, d. h. die Summe der einzelnen Mitglieder, Garanten der sozialen<br />

Gerechtigkeit sind. Es ist also ein Anspruch, den wir zunächst an uns selbst stellen<br />

und ein Wert, von dem wir anerkennen, daß wir im wesentlichen selber für<br />

ihn verantwortlich sind.<br />

Dr. Gisela Meister-Scheufelen ist Präsidentin des Statistischen Landesamtes<br />

Baden-Württemberg in Stuttgart.<br />

329


330<br />

Bernhard Niemann<br />

Kulturelle Rahmenbedingungen<br />

der Sozialen Marktwirtschaft<br />

Marktwirtschaft ist zwar die effizienteste Wirtschaftsform, aber in Bezug auf kulturelle<br />

und politische Rahmenbedingungen recht empfindlich. Ihre Abhängigkeit<br />

von politischen Rahmenbedingungen erscheint unmittelbar einsichtig: In einem<br />

sozialistischen Umfeld etwa gedeiht Marktwirtschaft nicht, auch dann nicht, wenn<br />

Unternehmer meinen, sich mit Sozialisten arrangieren zu können. Ebenso schlugen<br />

aber auch die Versuche fehl, Marktwirtschaften mit Hilfe von Diktaturen durchzusetzen:<br />

So etwas bekommt weder dem Markt noch der Diktatur. Marktwirtschaft<br />

gedeiht offensichtlich nur in einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie,<br />

und sie ist zugleich die der Demokratie angemessene Wirtschaftsform.<br />

Neben den politischen haben aber auch kulturelle Rahmenbedingungen großen<br />

Einfluß auf den Wirtschaftsstil, der sich in einer Gesellschaft entwickelt. Tatsächlich<br />

gelang es noch nie, eine von allen kulturellen und politischen Bindungen freie<br />

Marktwirtschaft zu verwirklichen, obwohl es mehrfach und auch mit diktatorischen<br />

Mitteln versucht wurde. Das hat mindestens zwei Ursachenbündel: Zum<br />

einen trägt eine annähernd freie Marktwirtschaft Elemente in sich selbst, die den<br />

Markt wieder beseitigen; außerdem verursacht sie Schäden, die wachsenden kulturellen<br />

Widerstand provozieren:<br />

- Marktwirtschaft neigt dazu, Konkurrenz zwischen Unternehmen zu behindern,<br />

Wettbewerb nach und nach zu unterbinden und Monopole zu bilden: Dann ist da<br />

bald kein Markt mehr.<br />

- Außerdem kann der ökonomische Zwang, nicht nur besser zu produzieren und zu<br />

verkaufen als die Konkurrenz, sondern auch billiger, nicht von sich aus Halt machen<br />

vor den Arbeitsbedingungen: Er zwingt die Produzenten zur Ausbeutung der<br />

Menschen. In der Tat haben Strukturanpassungsprogramme, die auf ungehinderten<br />

freien Markt setzten, die traurige Erfahrung gebracht, daß Mittelstände verarmten<br />

und Arme in extreme Armut fielen.<br />

- Markt in Verbindung mit der Funktion des Unternehmers, schwarze Zahlen zu<br />

produzieren, kennt auch keine Verantwortung für das Leben künftiger Generationen.<br />

Konferenzen wie die von Rio oder Kyoto kamen nicht von ungefähr.<br />

Ein Wirtschaftsstil, der sich über kulturelle und politische Rahmenbedingungen<br />

hinwegsetzt, zerstört die ökonomischen Voraussetzungen, auf die Marktwirtschaft<br />

angewiesen ist. Und er provoziert nicht zu unterschätzenden Widerstand der Gesellschaft,<br />

wenn Marktteilnehmer sich über kulturell verankerte Überzeugungen,<br />

Werte und soziale Normen hinwegsetzen.<br />

Manche wenden ein, ein freier Markt sei durchaus fähig, von Katastrophe zu<br />

Katastrophe dazuzulernen, wenn man ihn nur lange genug seine Erfahrungen mit<br />

der Freiheit machen ließe. Das mag schon sein, aber weder mir noch anderen


Freiheit machen ließe. Das mag schon sein, aber weder mir noch anderen Betroffenen<br />

gefällt die Reihenfolge. Tatsächlich liegt es im Interesse der Marktwirtschaft<br />

selbst, daß sie von einem starken demokratischen Staat, also durch Politik, in<br />

Rahmenbedingungen eingebunden wird, die den Fortbestand der Marktwirtschaft<br />

sichern. Und auch dann wird sie nur gedeihen, wenn sie auch die jeweiligen kulturellen<br />

Rahmenbedingungen akzeptiert.<br />

In Deutschland bemüht sich die Ordnungspolitik als Bindeglied zwischen der<br />

abendländisch christlich geprägten Kultur und staatlicher Machtausübung darum,<br />

Marktwirtschaft, Kultur und Politik zum Wohl der Gesellschaft miteinander in<br />

Einklang zu halten. Ordnungspolitik kann sowohl im Sinne der Freiburger Schule<br />

als auch im Sinne der Programmatik der CDU/CSU als Begrenzung des Politischen<br />

durch normatives Ordnungsdenken verstanden werden. Die Grundlage für<br />

die Begrenzung des politischen Handelns durch Ordnungspolitik sind der verantwortungsvolle<br />

Umgang mit der Freiheit, die Wertbindung des Privatrechtes, der<br />

Gedanke der Subsidiarität und die allgemeinen Prinzipien von Solidarität und<br />

Gerechtigkeit.<br />

Ordnungspolitik ist also nicht etwa eine Sammlung von Gesetzen. Gesetze sind<br />

ohnehin nur wirksam, wenn und soweit sie den Überzeugungen der Menschen<br />

entsprechen. An Ordnungspolitik sollten sich vielmehr die Politiker bei ihrer Gesetzesarbeit<br />

gebunden fühlen. Ordnungspolitik orientiert politisches Handeln am<br />

christlichen Bild vom Menschen und entspricht den Überzeugungen der Menschen<br />

in Deutschland; auch heute noch. Ohne die abendländisch christliche Kultur, wie<br />

sie sich auf dem europäischen Festland entwickelt hat und wie sie zur Rahmenbedingung<br />

der Politik und der Wirtschaft wurde, wäre es kaum mö glich gewesen, in<br />

Deutschland jenen Wirtschaftsstil auszuformen, den wir mit dem Begriff der<br />

Sozialen Marktwirtschaft bezeichnen.<br />

Leider ist die deutsche Wirtschaftswirklichkeit heute immer weniger ordnungspolitisch<br />

geprägt, sondern zunehmend von einer unerträglich gewordenen Spirale staatlicher<br />

Interventionen und immer engerer und somit kurzlebiger Regulierungen. Die<br />

zur Korrektur notwendigen Konzepte zu erarbeiten wird noch viel Mühe kosten.<br />

Daran zu denken wird zunehmend erschwert durch den globalen Druck.<br />

Denn die sogenannte Globalisierung bringt den deutschen Wirtschaftsstil in Konkurrenz<br />

zu anderen Wirtschaften, besonders zum wirtschaftlichen Liberalismus,<br />

der auf der Grundlage von anderen politischen und kulturellen „Selbstverständlichkeiten“<br />

entstanden ist. Ausländische Kapitalanleger haben ihre wirtschaftspolitischen<br />

Erfahrungen nicht mit der Ordnungspolitik der deutschen Nachkriegsjahrzehnte<br />

gemacht, vielmehr belächeln sie den ihnen fremden Wirtschaftsstil als<br />

„Rheinischen Kapitalismus“. Angloamerikanischem Wirtschaftsdenken ist Ordnungspolitik<br />

fremd. Da es aber nun mal unmittelbar und über den Einfluß auf die<br />

Weltbank und den Internationalen Währungsfond erhebliche Wirkung auf die<br />

Wirtschaften in der Welt hat, meinen weltweit und auch in Deutschland immer<br />

mehr Menschen, angloamerikanisches Wirtschaftsdenken entspräche globalem<br />

Sachzwang, und Deutschland müßte sich dem anpassen. Man darf aber bezweifeln,<br />

daß die Tatsache der Globalisierung gleichbedeutend sei mit einem weltweiten<br />

Sachzwang zur Nachahmung eines angloamerikanisch geprägten Wirtschaftsstils.<br />

331


Vor der Übernahme anderer Marktvorstellungen täte man gut daran, nachzudenken,<br />

wie es um die Akzeptanz und die möglichen Folgen aussieht. Es lohnt, sich<br />

einige Wertvorstellungen in Erinnerung zu rufen, die zur Entstehung unseres Wirtschaftsstiles<br />

beigetragen haben; dann fällt es etwas leichter, darüber nachzudenken,<br />

in welchem Ausmaß ein vom angloamerikanischen Kulturkreis geprägter Wirtschaftsstil<br />

vor dem kulturellen Hintergrund Deutschlands funktionieren würde.<br />

Dabei is t der Blick vor allem auf England naheliegend und aufschlußreich. Denn,<br />

obwohl England selbstverständlich zum „Abendland“ zählt, gibt es gerade in Bezug<br />

auf die für das Wirtschaften so wesentliche Rolle des Staates und in Bezug auf<br />

wirtschaftlich besonders wichtige Begriffe wie Eigentum, Freiheit, Vertrag und<br />

Selbstverantwortung wesentliche Unterschiede zum Festland, die auf das USamerikanische<br />

Wirtschaftsdenken ausstrahlen und sich dort zu einer wirtschaftsliberalen<br />

Theorie verfestigen konnten.<br />

332<br />

I. Rolle des Staates<br />

Wir Deutsche sehen den Staat traditionell als Obrigkeitsstaat mit Hoheitsrechten<br />

und wollen Vertrauen haben in eine jederzeit handlungsbereite und fachkompetente<br />

Gemeinwohlorientierung des Staates. Dieses historische Erbe verträgt sich mit<br />

der repräsentativen Demokratie, solange staatliche Macht in den Händen repräsentativer<br />

Parlamente liegt und alle Bürger gleiche Chancen haben, deren Zusammensetzung<br />

in freien, gleichen und geheimen Wahlen zu bestimmen.<br />

Dem entspricht ein Parlamentarismus, von dem die Gesellschaft die Einbindung<br />

unterschiedlicher Meinungen und Interessen in einen tragfähigen Konsens erwartet.<br />

Bereitschaft und Fähigkeit zum parteiübergreifenden Konsens wird auf der<br />

Gemeindeebene für besonders wichtig gehalten, gilt aber auch auf Landes- und<br />

Bundesebene viel. Übrigens bringt auch die für Parlamente übliche kreisförmige<br />

Architektur dies zum Ausdruck, die sich bemüht, das Parlament schon durch die<br />

Anordnung der Sessel als Einheit erscheinen zu lassen, der die Regierung bewußt<br />

gegenübergesetzt wurde; wobei dann zusätzlich die Regierung von der Architektur<br />

ebenfalls noch ein wenig in das Gebiet der Parlamentarier eingebunden wird.<br />

Im angelsächsischen Raum werden der Staat und seine Wechselbeziehungen zur<br />

Kultur und zum Markt ganz anders gesehen. Für die britische Gesellschaft scheint<br />

es den Staat im Sinne einer über der Gesellschaft stehenden gemeinwohlorientierten<br />

und mit Hoheitsrechten ausgestatteten Obrigkeit gar nicht zu geben:<br />

Die „Civil Society“ fühlt sich vielmehr vom Monarchen emanzipiert und regelt<br />

„ihre“ Angelegenheiten selbst. So wie sich der freie Bürger auf dem freien Markt<br />

betätigt und alles, was es zu regeln gibt, grundsätzlich selbst mehr oder weniger<br />

strittig aushandelt, so sieht er auch die Politik als dauerndes strittiges Aushandeln<br />

von Interessengegensätzen. Die Streitkultur prägt auch das Parlament: viel stärker<br />

als das deutsche arbeitet es die Streitpunkte heraus und streitet öffentlich. Sogar die<br />

Architektur des englischen Parlamentes unterstreicht die Konfrontation.<br />

Wahlanalysen zufolge schätzt es der deutsche Wähler dagegen wenig, wenn Fraktionen<br />

den Streit mehr pflegen als die gemeinsame, zwar strittige, aber doch gemeinwohlorientierte<br />

Suche nach Problemlösungen.


II. Eigentum<br />

Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll zugleich dem Gemeinwohl dienen. So<br />

sagt es die deutsche Verfassung und formuliert damit eine Überzeugung, die mehrere<br />

Jahrhunderte in die deutsche Geschichte zurückreicht und die traditionell auch<br />

auf das Eigentum an Unternehmen angewendet wird: Den Bürgern in deutschen<br />

Gemeinden erscheint es „richtig“, wenn ein ansässiges Unternehmen über Generationen<br />

dauerhaften Bestand hat und durch gute Produkte, verläßliche Arbeitsplätze<br />

und pünktliche Steuerzahlung auch zum Gemeinwohl beiträgt. Traditionell beurteilen<br />

sie die Größe eines Unternehmens vor allem nach dem Jahresumsatz und der<br />

Zahl der Beschäftigten. Der Beitrag eines Unternehmens zum Gemeinwohl spielt<br />

nach wie vor auch eine Rolle für das Prestige eines Unternehmers in seiner Gemeinde.<br />

Wenn ein Unternehmen sein Image verbessern möchte, sind dies bis heute<br />

die Punkte, auf die im Hochglanzprospekt vor allem hingewiesen wird, besonders<br />

von mittelständischen Unternehmen. Auch das Wunschbild von der „Betriebsfamilie“<br />

verklärt zwar die Wirklichkeit, illustriert aber doch, woran sich die Wünsche<br />

von Unternehmern und Belegschaften orientieren.<br />

Das sieht in England anders aus. Da ist zunächst einmal von einer Gemeinwohlbindung<br />

des Eigentums keine Rede, weder in der Verfassung noch im Rechtsbewußtsein.<br />

Und ein Unternehmen wird nicht als Institution empfunden, sondern als<br />

Ware. Das Unternehmensziel ist dementsprechend, für die Ware Unternehmen<br />

einen höchstmöglichen Preis zu erzielen: Die „Größe“ des Unternehmens wird<br />

gemessen an seinem Warenwert, in der Regel der Börsenwert, der seinerseits von<br />

vielen Faktoren abhängt, zum Beispiel auch von den (Über)Reaktionen der Börse<br />

auf Produktionsschwankungen, Dividenden, Wechselkurse, Gerüchte und „Analysen“.<br />

Der Unternehmer ist Anteilseigner des Börsenwertes und der Börsengewinne,<br />

also „shareholder“. Für ihn als shareholder kann Arbeitsplatzabbau zugunsten<br />

höherer Dividenden, wenn dadurch ein Kursgewinn an der Börse erzielt wird,<br />

interessanter sein als die Stabilisierung des Unternehmens.<br />

Diese Auffassung vom Unternehmen als Ware dringt zunehmend auch in das deutsche<br />

Wirtschaftsleben ein, und sie wirkt sich in den Unternehmen aus. Die Orientierung<br />

am Börsenwert verändert das Ziel des Wirtschaftens und damit die in deutschen<br />

Unternehmen bisher übliche tradierte Hierarchie der Prioritäten. Familienbetriebe<br />

spüren das besonders schmerzlich, aber auch viele Manager, die einmal in<br />

deutschen Unternehmenstraditionen groß geworden sind, geraten durch die Veränderung<br />

der Prioritäten durchaus auch in Konflikt mit ihrem eigenen Selbstverständnis.<br />

Konflikte zwischen dem eigenen professionellen Selbstverständnis und<br />

der veränderten Aufgabenstellung können buchstäblich zu Herzen gehen: Koronarerkrankungen<br />

von Wirtschaftsmanagern nehmen tatsächlich besorgniserregend zu.<br />

III. Freiheit und die weiteren Grundrechte<br />

In der englischen Kultur hat die Freiheit als solche einen sehr hohen und nahezu<br />

absoluten Stellenwert. Historisch wurde die Freiheit in England Jahrhunderte früher<br />

erkämpft, als auf dem Festland. Man kann das sogar hören, wenn man ver-<br />

333


gleicht, wie anders etwa Italiener, Franzosen und Spanier ihr aus dem lateinischen<br />

libertas stammende Wort für Freiheit betonen, als die Engländer. Jedoch war die<br />

auf der Insel so früh erkämpfte Freiheit die Freiheit des Adels vom Monarchen;<br />

Leibeigenschaft und Untertanenpflichten blieben davon zunächst unberührt. Als<br />

auch Leibeigene Freiheit erhielten, stand der Begriff inhaltlich schon fest, hatte<br />

man sich längst daran gewöhnt, daß etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit<br />

weniger Bedeutung hatte als die Freiheit. Noch heute hat die Freiheit Vorrang vor<br />

allen anderen Grundrechten. Insofern hat die französische Revolution bis heute<br />

weder in England noch in den Vereinigten Staaten stattgefunden. Ein der Freiheitsstatue<br />

vergleichbares Monument der Brüderlichkeit oder gar der Verantwortung ist<br />

in den USA nicht zu erwarten. Insbesondere: Die Freiheit gilt dort als Abwehrrecht<br />

gegenüber dem Staat, und viele amerikanische Juristen meinen, die ganze amerikanische<br />

Verfassung binde nur den Staat, nicht die Bürger in ihrem Verhältnis<br />

zueinander.<br />

Ganz so selbstverständlich gilt dies auf dem europäischen Festland nicht. Hier gilt<br />

die Würde des Menschen als unantastbar; sie umfaßt alle Grundrechte, wie sie<br />

nicht nur in der deutschen Verfassung niedergelegt sind, sondern auch in der Allgemeinen<br />

Erklärung der Menschenrechte und in den beiden Pakten, durch die die<br />

Allgemeine Erklärung völkerrechtlich verbindlich wurde. Die Menschenrechte<br />

werden in der deutschen Kultur als unveräußerlich angesehen. Diese Überzeugungen<br />

sind älter als das Grundgesetz, sie entstanden in Jahrhunderten und reichen<br />

zum Teil bis in das Alte Testament zurück. Das deutsche Recht spiegelt sie wider<br />

und bewertet Grundrechte ebenfalls als „unveräußerlich“, mit Konsequenzen besonders<br />

im Ve rtragsrecht.<br />

334<br />

IV. Vertrag<br />

In der deutschen Sprache erinnert das Wort „Vertrag“ nicht zufällig an „vertragen“:<br />

Der Vertrag regelt auf freiwilliger Basis eine Beziehung zum beiderseitigen<br />

Wohl und sichert Frieden unmittelbar zwischen den Vertragspartnern, mittelbar<br />

auch in der Gesellschaft, weil ja Streit zwischen Zweien die anderen stets einbeziehen<br />

würde.<br />

Nun wird jede Regelung, auch eine vertragliche, wenn sie gegen Grundrechte<br />

verstößt, nach jahrtausendealter Erfahrung früher oder später Grund für Streit sein:<br />

Die Weisheit des deutschen Rechtes erklärt eine solche Regelung für nichtig. Diese<br />

nicht nur theoretische, sondern durchaus praktische Beschränkung der Vertragsfreiheit<br />

wird verstärkt durch den Staat, von dem offensives Einschreiten erwartet<br />

wird, wenn Menschenrechte verletzt werden. Somit ist die Vertragsfreiheit bei uns<br />

eingeschränkt durch ethische Prioritäten. Das gilt auch für Verträge, die auf dem<br />

Markt geschlossen werden, deshalb kann der Markt in diesem Kulturkreis nicht<br />

machen, was er will. Mag er sich andere Regeln wünschen, weder Kultur noch<br />

Staat lassen es zu.<br />

Im angelsächsischen Kulturkreis entspricht dem höheren Rang der Freiheit vor<br />

anderen Grundrechten konsequent der Vorrang der Vertragsfreiheit. Das Grundrecht<br />

der Vertragsfreiheit umfaßt das Recht zum Verzicht auf andere Grundrechte,


diese sind also veräußerlich, Vertragsfreiheit geht vor. Der Internationale Pakt über<br />

wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – einer der beiden Pakte von 1966,<br />

durch welche die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formulierten<br />

Rechte völkerrechtlich verbindlich wurden – verbietet es, die Vertragsfreiheit zur<br />

Schmälerung anderer Grundrechte zu nutzen. Diese Festlegung steht im Widerspruch<br />

zum US-amerikanischen Wirtschaftsstil und dürfte einer der Gründe dafür<br />

sein, weshalb die USA diesen Pakt als einzige Industrienation neben Südafrika bis<br />

heute nicht unterschrieben haben.<br />

Besonders relevant und aus deutscher Sicht problematisch werden die unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen Bewertungen von Staat, Eigentum, Freiheit und Vertragsfreiheit<br />

im Arbeitsvertrag.<br />

V. Arbeitsvertrag<br />

Nach den tradierten und noch lebendigen deutschen Vorstellungen stellt der Arbeitnehmer<br />

dem Unternehmen seine Arbeitskraft zur Verfügung, gibt dem Unternehmen<br />

also ein Verfügungsrecht über seine Arbeitskraft. Dafür erhält der Arbeitnehmer<br />

als Gegenleistung für Ganztagsarbeit einen Lohn, der nach traditioneller<br />

Vorstellung dazu bestimmt ist, den Lebensunterhalt des Arbeitnehmers und seiner<br />

Familie zu sichern.<br />

Nach angelsächsischer Vorstellung dagegen verkauft der Mensch nicht seine Arbeitskraft,<br />

sondern verspricht eine bestimmte Leistung.<br />

Der scheinbar nur geringfügige Unterschied im Denken hat ernste Konsequenzen<br />

bei der Lohnfindung, denn der Lohn wird als Preis für die angebotene Ware Leistung<br />

angesehen. Als Preis für eine Ware aber wird er im Grundsatz so ausgehandelt,<br />

wie jeder andere Warenpreis auch: Bestimmungsgründe des Marktpreises sind<br />

Angebot und Nachfrage, Informationsstand, Koalitionsstärke, Verhandlungsgeschick,<br />

auch Marktmacht etc., nicht aber die Funktion des Lohnes, den Lebensunterhalt<br />

zu sichern. Während diese Funktion in Deutschland sowohl bei Tarifverhandlungen<br />

wie beim Abschluß eines einzelnen Arbeitsvertrages meist sogar im<br />

Vordergrund steht, kann es dort, wo angelsächsischer Wirtschaftsstil vorherrscht,<br />

nicht nur in der Theorie zu Lohnabschlüssen unterhalb des Existenzminimums<br />

kommen, sondern auch in der Praxis. In nach angelsächsischem Muster strukturangepaßten<br />

Entwicklungsländern sind freiwillige Lohnabschlüsse unterhalb des Existenzminimum<br />

nicht selten, sie wurden teilweise sogar von der Weltbank gefordert,<br />

die offenbar keinen Widerspruch zu irgendwelchen Menschenrechten oder internationalen<br />

Übereinkünften zu erkennen vermochte.<br />

Man muß nicht einmal in Entwicklungsländer gehen: Die angelsächsischen Staaten<br />

selbst haben die Beschäftigungsverluste in der Industrie zwar weitgehend ausgeglichen<br />

durch entsprechenden Zuwachs in den privaten Dienstleistungen, aber mit der<br />

in ihren Augen marktgerechten Konsequenz der weiteren Verarmung der „working<br />

poor“, die bei marktgerechten Löhnen auf einem Vollzeitarbeitsplatz nicht in der<br />

Lage sind, das Existenzminimum zu verdienen. Vor diesem geistigen Hintergrund<br />

kann der sogenannte Utilitarismus (das größte Glück der größten Zahl) das Leiden<br />

von Menschen in weit größerem Umfang moralisch in Kauf nehmen, als uns das in<br />

335


Deutschland vor dem Hintergrund der Grundrechte und christlicher Verpflichtung<br />

zur Solidarität vertretbar erscheint. Die „working poor“ hungern im Einklang mit<br />

der Tradition. Dementsprechend blieb übrigens auf der Insel das Klassendenken<br />

lebendig, während der Klassenbegriff in Deutschland seit Bestehen der Sozialen<br />

Marktwirtschaft als Anachronismus empfunden wird.<br />

In Deutschland dürfte sich die Einführung eines Tageslohns für Tagesleistung, der<br />

unter dem Existenzminimum liegt, als Brandstiftung erweisen.<br />

Des weiteren ist im Rahmen eines freien Vertrages zwischen freien Bürgern über<br />

den Verkauf von Leistung mehr Raum, als wir in unserer Rechtskultur gewohnt<br />

sind: Im Rahmen des freien Arbeitsvertrages kann sogar der Verzicht auf die Ge ltendmachung<br />

eines Grundrechtes als Leistung vereinbart werden, falls dafür eine<br />

Nachfrage besteht: Die Grundrechtsverletzung kann zur Alltäglichkeit werden.<br />

Wer sein wirtschaftliches Denken in einer angloamerikanischen Kultur erlernt hat,<br />

hält es zum Beispiel für in Ordnung, Verträge über Kinderarbeit als gültig anzuerkennen<br />

und die moralische Entscheidung dem Markt zu überlassen: Wer gegen<br />

Kinderarbeit ist, soll Waren nicht kaufen, die mit Kinderarbeit hergestellt wurden.<br />

Der Unternehmer, der Verträge mit Kindern, deren Eltern oder wem auch immer<br />

abschließt, möge sich dem Ziel der Gewinnmaximierung widmen, ohne seine<br />

marktwirtschaftlich „gesunde“ Entschlossenheit mit marktfremden Skrupeln zu<br />

behindern. Da nun allerdings der Markt keine moralische Anstalt ist und auch nicht<br />

sein kann, wird sich gesellschaftliche Ächtung nicht über den Markt durchsetzen<br />

können.<br />

Im Gegenteil kann ein versuchter Boykott durch Vertuschung, Korruption und<br />

Markttäuschung verhindert werden und so indirekt und unbeabsichtigt die Situation<br />

der Kinder noch verschlechtern. Unserer Auffassung von wirtschaftlichem<br />

Fortschritt widerstrebt das Ergebnis, und es ist sicherlich kein Zufall, daß gerade<br />

die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in dem Bestreben, die politischen<br />

Rahmenbedingungen der Entwicklung und besonders der Selbsthilfe zu verbessern,<br />

im Zusammenwirken mit Nichtregierungsorganisationen und Kirchen wirksamere<br />

Wege gefunden hat, aus extremer Armut und aus Kinderarbeit herauszuhelfen.<br />

Im Umfeld der abendländischen Festlandskulturen ist der Mißbrauch der Vertragsfreiheit<br />

zur Schmälerung anderer Grundrechte jedenfalls nicht statthaft. Konsequent<br />

wird der Arbeitnehmer, nachdem er mit seiner Arbeitskraft beinahe sich<br />

selbst dem Unternehmen hingegeben hat, in seinen Grundrechten geschützt. Besonders<br />

im deutschen Arbeitsrecht wurde der Schutz des Arbeitnehmers sehr gut<br />

ausgebaut. Grundlage dafür war in Deutschland keineswegs der Klassenkampf. Im<br />

Gegenteil haben Wirtschaftsrat, Mittelstand, Sozialausschüsse, chris tlich geprägte<br />

Sozialdemokraten, Unternehmerverbände und Gewerkschaften nach dem zweiten<br />

Weltkrieg die 1933 von den Nationalsozialisten abgebrochene Suche nach Lösungen<br />

für die Konfliktregelung in Arbeitsbeziehungen wieder aufgegriffen: Es ging<br />

darum, den für das Funktionieren einer Marktwirtschaft unerläßlichen Grundgedanken,<br />

strittige Fragen nicht mit dem Dschungelrecht der Gewalt, sondern durch<br />

Vertrag zwischen freien Bürgern zu regeln, zu kombinieren mit dem im neunzehnten<br />

Jahrhundert als notwendig erkannten Schutz der Arbeitnehmer, die ja als Indi-<br />

336


viduen zu schwach sind, um mit ihrem Arbeitgeber gewissermaßen auf gleicher<br />

Augenhöhe verhandeln zu können. Mit der Sozialpartnerschaft entstand die weltweit<br />

beste Erfindung zur Regelung der industriellen Beziehungen. Die Verfahren<br />

zum Abschluß von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen haben den „Klassenkampf“<br />

überwunden.<br />

Pragmatisch gesehen hat sich der Unterschied auch für Markt, Wirtschaft und<br />

Wohlstand sehr gut ausgezahlt: Die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in<br />

Deutschland waren vergleichsweise friedlich, und die Wirtschaft ist mit dem Arbeitsrecht<br />

einschließlich der Tarifverträge und der Mitbestimmung recht gut gefahren.<br />

Diesen Standortvorteil sollte eine deutsche Regierung nicht aufs Spiel setzen.<br />

Angloamerikanische Wirtschaftsexperten haben Tarifautonomie und Mitbestimmung<br />

lange abgelehnt. Doch kann man einen Wandel der Einstellung beobachten:<br />

Manager großer Pensionsfonds fragen heute, nachdem sie in der Vergangenheit<br />

hohe Verluste hinnehmen mußten, vor größeren Kapitalanlagen bei der Internationalen<br />

Arbeitsorganisation (ILO), in welchen Ländern mit einer längeren Periode<br />

sozialen Friedens zu rechnen ist! Offenbar wurde bemerkt, daß sozialer Friede ein<br />

Wirtschaftsfaktor ist. Auch die oft wiederholte Behauptung, Soziale Marktwirtschaft<br />

und besonders die Sozialpartnerschaft würde ausländische Investoren abschrecken,<br />

stimmt heute nicht mehr: Deutschland liegt als Investitionsland weltweit<br />

fast an der Spitze.<br />

VI. Eigenverantwortung<br />

Eigenverantwortung ist im gesamten christlich geprägten Kulturkreis eingebettet in<br />

die subsidiäre Solidarität der Mitmenschen. Die Würde des Menschen umfaßt<br />

Freiheit und Verantwortung in gleicher Weise – und die Verantwortung schließt<br />

Eigenverantwortung mit ein. Das bedeutet, daß Hilfe erst gegeben werden soll,<br />

wenn die Selbsthilfe nicht ausreicht, (Subsidiarität), dann aber in angemessenem<br />

Umfang gegeben werden muß (Solidarität und Gerechtigkeit). Aus dem Gedanken<br />

der Subsidiarität folgt, daß die solidarische Hilfe vor allem darauf abzielen sollte,<br />

den Betroffenen zur Selbsthilfe zu befähigen.<br />

Die deutsche Auffassung vom Staat und die ordnungspolitische Bindung sowie<br />

Orientierung der Politiker verpflichtet darüber hinaus aber auch den Staat zu subsidiärer<br />

Solidarität. So greift der Staat mit dem Willen der Bürger in viele Bereiche<br />

ein, aus denen er sich nach angelsächsischen Vorstellungen heraushalten sollte.<br />

Zwei Beispiele mögen genügen, um dies schlaglichtartig zu illustrieren: Die duale<br />

Berufsausbildung und die Altersvorsorge.<br />

VII. Duale Berufsausbildung<br />

Im Interesse des Gemeinwohls beteiligt sich der deutsche Staat an der Ausbildung<br />

und bemüht sich, die betriebliche Ausbildung so sinnvoll wie möglich zu ergänzen.<br />

In das Bild der wechsels eitig aufeinander bezogenen Systeme Kultur, Staat und<br />

Wirtschaft fügt sich die duale Ausbildung harmonisch ein. Besonders kleine und<br />

mittlere Unternehmen werden dadurch entlastet. Zugleich wirken die Berufsschu-<br />

337


len auch am Technologietransfer mit und haben in Deutschland viel beigetragen<br />

zur Einführung neuer Technologien. Der Staat kontrolliert zudem die Qualität der<br />

betrieblichen Ausbildung und trägt alles in allem zur Qualität des Ausbildungsniveaus<br />

in Deutschland bei. Trotz einiger Spielräume für Verbesserungen hat sich<br />

die staatliche Unterstützung der Ausbildung bewährt: Das relativ hohe, breitere<br />

und insbesondere fast über ganze Branchen vergleichbare Qualifikationsniveau der<br />

Arbeitnehmer gibt der deutschen Wirtschaft hohe Flexibilität in Bezug auf Produkte,<br />

Verfahrensweisen und Einführung neuer Technologien, aber auch bei der Umstrukturierung<br />

von Unternehmen.<br />

In England dagegen mit seiner ganz anderen Staatsauffassung hat sich der Staat<br />

aus dem grundsätzlich freien Markt weitestgehend herauszuhalten: Ein duales<br />

Ausbildungssystem gibt es dort nicht, es wäre undenkbar. Ausbildung geschieht<br />

durch „training on the job“. Unbestreitbare Vorteile für die Unternehmen sind<br />

insbesondere: intensivere Bindung der Arbeiter an das Unternehmen, engere Spezialisierung<br />

auf bestimmte Arbeiten und Arbeitsverfahren, größere Abhängigkeit<br />

der Arbeiter von ihrem Unternehmen und damit die Chance des Unternehmens, die<br />

Arbeitsleistung zu einem geringeren Preis zu erhalten. Vor der globalen Öffnung<br />

der Weltmärkte und im Schutze der nationalen Politik, ohne den globalen Zwang<br />

zu schnellerem technologischen Wandel, zu Betriebsschließungen und Umstrukturierungen<br />

funktionierte das früher gut.<br />

In den vergangenen Jahren haben sich aber auch Nachteile für einzelne Unternehmen<br />

und Branchen gezeigt. Die Fixierung der Mitarbeiter auf bestimmte Arbeitsverfahren<br />

zum Beispiel verringert die Fortbildungsfähigkeit und impliziert faktischen<br />

Widerstand gegen technologischen Wandel, auch gegen einschneidende<br />

organisatorische Änderungen. Das allein sind schon Nachteile, die ein Unternehmen,<br />

das auf dem Weltmarkt konkurrieren muß, im Zuge der weltweiten Öffnung<br />

der Märkte vom Markt verschwinden lassen können.<br />

Auch auf diesem Gebiet scheint Deutschland einen Standortvorteil zu haben, den<br />

es zu nutzen und auszubauen gilt. Verbesserungen wären sinnvoll bei Höherqualifizierung<br />

und Umschulung: Wer auf den Arbeitsmarkt schaut, sieht dort Handlungsbedarf.<br />

Es wäre zu prüfen, ob Schulungen für Arbeitslose oder auch schon bei<br />

bevorstehenden Entlassungen aus betrieblichen Gründen auf duale Weise möglich<br />

sind: also in Kooperation von öffentlicher Hand und potentiellen neuen Arbeitgebern.<br />

338<br />

VIII. Altersvorsorge<br />

Vor dem Hintergrund, daß in einer entwickelten Industriegesellschaft Familien-<br />

und Nachbarschaftshilfe auch in Verbindung mit eigenverantwortlicher Vorsorge<br />

(Häuschen, Garten, Kapitalbildung) keine ausreichende und zugleich gerechte<br />

Alterssicherung gewährleisten können, erschien nach dem Krieg die zusätzliche<br />

vom Staat angeordnete und durchgesetzte Alterssicherung in Gestalt des Generationenvertrages<br />

als „richtig“. Bis heute dürfte diese Kombination – die übrigens ein<br />

konkretes Beispiel für geglücktes Zusammenwirken von Kultur, Wirtschaft und<br />

Politik darstellt – der stabilste Weg zur Lösung des Problems der Alterssicherung


sein. Zur Zeit seiner politischen Verwirklichung war der Generationenvertrag als<br />

notwendige Ergänzung gedacht, aber durchaus nicht als Ersatz für<br />

Eigenverantwortung und zwischenmenschliche Hilfe. Innerfamiliäre und nachbarschaftliche<br />

Hilfe waren noch Tradition, und das Häuschen mit Garten sowie das<br />

Sparen wurden ausdrücklich als Eigenvorsorge empfohlen und gefördert.<br />

Der Generationenvertrag würde in den englischen Wirtschaftsstil nicht hineinpassen.<br />

Da im angelsächsischen Denken der Staat der Gesellschaft nicht obrigkeitlich<br />

übergeordnet ist, hat er sich folgerichtig auch in die Frage der Altersvorsorge nicht<br />

einzumischen: Ein Generationenvertrag hätte in der englischen Vo rstellungswelt<br />

keinen Platz, er erscheint Engländern als geradezu absurd. Altersvorsorge ordnet<br />

der angelsächsische Wirtschaftsstil der Eigenverantwortung allein zu. Sie kann<br />

vertraglich, auch in Kollektivverträgen, geregelt werden; das heißt praktisch: durch<br />

Kapitaldeckungsverfahren und grundsätzlich in Pensionsfonds, die ihrerseits meist<br />

unternehmensbezogen sind, wobei die Einzahler als deren Miteigner gelten. Das<br />

System ist in Deutschland bekannt, interessant und nachahmenswert. Es hatte<br />

einmal im Mutterland eines Kolonialimperiums und in den Grenzen einer staatlich<br />

behüteten nationalen Wirtschaft die Altersvorsorge der „working poor“ gewährleistet.<br />

Nach weltweiter Öffnung der Märkte und den damit verbundenen Umstrukturierungen<br />

der Unternehmenslandschaft aber garantiert es die Sicherheit keineswegs<br />

und belastet obendrein die britis che Wirtschaft.<br />

Der Generationenvertrag ist die bessere Lösung und bleibt unverzichtbar. Er ist an<br />

der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt. Vor dem Hintergrund des christlichen<br />

Menschenbildes muß deshalb dringend auch darüber nachgedacht werden,<br />

wie die Rahmenbedingungen der eigenverantwortlichen Selbsthilfe und der zwischenmenschlichen<br />

Solidarität verbessert werden können.<br />

IX. Schlußfolgerung für die christliche Demokratie<br />

Die Globalisierung bewirkt, daß alle wirtschaftlich relevanten Faktoren sich weltweit<br />

wechselseitig beeinflussen; auch kulturelle und politische Veränderungen in<br />

einer Weltregion können wirtschaftliche Auswirkungen in anderen Ländern haben.<br />

Nun hat die besonders von Walter Eucken häufig wiederholte Erkenntnis der Interdependenz<br />

von Kultur, Staat und Wirtschaft bei der Geburt der Sozialen Marktwirtschaft<br />

Pate gestanden. Die Soziale Marktwirtschaft Deutschlands ist deshalb<br />

auf die Globalisierung besser vorbereitet als die Wirtschaften manch anderer Industrieländer.<br />

Notwendig wäre es, die der Ordnungspolitik entgegengesetzte hochgeschraubte<br />

Dynamik von Einflußnahmen des Staates auf die Wirtschaft kritisch zu überprüfen<br />

und staatliche Solidarität auf der einen und Eigenverantwortung kleinerer Einheiten<br />

auf der anderen Seite hier und da wieder in Balance zu bringen. Deutsche Politik<br />

muß aus dem dirigistischen Irrgarten wieder herausfinden. Das bedeutet aber<br />

nicht, daß sich der Staat deshalb gleich aus der Verantwortung für die soziale Sicherheit<br />

zurückzuziehen hätte. Im Gegenteil: Soziale Sicherung ist die der Globalisierung<br />

angemessene Alternative zum heute nicht mehr möglichen Protektionis-<br />

339


mus. In einer globalisierten Welt können offene Gesellschaften nicht umhin, ihre<br />

Bevölkerung sozial zu sichern, denn nur so können ihr Arbeitsmarkt und ihre Wirtschaft<br />

flexibel sein.<br />

Dagegen könnte die Nachahmung jener staatlichen Zurückhaltung, wie sie sich in<br />

Staaten mit einem am Leitbild der freien Marktwirtschaft orientierten Wirtschaftsstil<br />

entwickelt hat, besonders die CDU und CSU in eine sehr unbequeme Lage<br />

bringen, weil sie nun einmal die Parteien der Sozialen Marktwirtschaft sind und in<br />

den Augen ihrer – zum Teil schon jetzt ehemaligen – Wähler von ihrer Legitimation<br />

verlieren würden. Schließlich hat die wirtschaftspolitische Programmatik der<br />

CDU seit den Düsseldorfer Leitsätzen Überzeugungen formuliert, die mit der Ordnungspolitik<br />

eine Einheit bilden und in Deutschland fest verwurzelt sind. Die dauernde<br />

Wechselwirkung von Kultur, Wirtschaft und Politik ist eine fest in der Kultur<br />

selbst und in der Programmatik der christlichen demokratischen Parteien verankerte<br />

Überzeugung, darin liegt ihre Kraft. Nur wenn die christlichen Demokraten<br />

sich dazu bekennen, können sie Mehrheiten zurückgewinnen. Sie müssen auch<br />

daran mitwirken, daß diese Überzeugungen im Bewußtsein lebendig bleiben. Geschichte<br />

und globaler Vergleich belegen zudem, daß die Überzeugung pragmatisch<br />

betrachtet offenbar auch für das Wohl der Wirtschaft richtig ist.<br />

Die für das Wirtschaften relevanten moralischen Überzeugungen, die in komprimierter<br />

Form in der christlichen Soziallehre vorliegen, haben erstaunliche Entsprechungen<br />

in den anderen großen Weltreligionen. Wer global für die Soziale Marktwirtschaft<br />

wirbt, wird nicht nur in Deutschland verstanden, sondern auch in jenen<br />

Ländern, die die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ebenfalls als universell<br />

gültig anerkennen und die beiden Internationalen Pakte – über politische und<br />

über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – respektieren. Die meisten<br />

dieser Länder wollen auch ihre mit der internationalen Arbeitsorganisation (ILO)<br />

eingegangenen Verpflichtungen erfüllen: Gerade dabei kann, darf und sollte<br />

Deutschland ihnen mit Rat und Tat helfen. Das Eintreten für Ordnungspolitik und<br />

Soziale Marktwirtschaft wird in vielen Ländern, mit denen Deutschland politische<br />

und außenwirtschaftliche Beziehungen pflegt, auf fruchtbaren Boden fallen.<br />

Deshalb lautet die Antwort auf Globalisierung: Rückbesinnung auf Ordnungspolitik,<br />

weitere Verbesserung der sozialen Sicherung als moderne Alternative zum<br />

heute nicht mehr möglichen Protektionismus sowie globale Verantwortung und<br />

Solidarität.<br />

Dr. Bernhard Niemann ist Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt<br />

Augustin und arbeitet dort im „Team Soziale Marktwirtschaft“.<br />

340


Karl Schwarz<br />

Die kinderlose Gesellschaft und ihre Folgen<br />

Vor 50 Jahren war Deutschland gezwungen, die gesetzliche Rentenversicherung<br />

wegen der verlorenen Vermögen auf eine neue Grundlage zu stellen. Es wurde das<br />

Umlageverfahren, wie in anderen Sozialversicherungszweigen, eingeführt. In das<br />

System sollte, entsprechend den Vorstellungen im sog. Schreiberplan, die Finanzierung<br />

der Nachwuchssicherung einbezogen werden, bei der auch an einen Beitrag der<br />

Kinderlosen gedacht war. Die Überlegung war sehr einfach: Die mittlere Generation<br />

der Arbeitenden muß nicht nur für die Alten, sondern auch für eine ausreichende<br />

Zahl von Jungen sorgen, damit später genug Verdiener da sind, um die alt gewordene<br />

mittlere Generation und deren Enkel zu ernähren. Es entstand so das Bild von einem<br />

„Drei-Generationenvertrag“, dessen Logik nicht bestritten werden kann, der aber aus<br />

vielen Gründen schon damals schwer zu realisieren war. Konrad Adenauer, damals<br />

Bundeskanzler, hat das rasch eingesehen, und aus dem Drei- einen Zwei-Generationenvertrag<br />

zwischen Verdienern und Rentenempfängern gemacht. Die Kinder<br />

blieben Elternsache mit der angeblichen Bemerkung Adenauers: „Kinder bekommen<br />

die Menschen immer.“ Ein weiteres Zitat stammt von Thomas Mann. Auf seine<br />

große Familie angesprochen, soll er zu einem seiner Söhne gesagt haben: „Kinder hat<br />

man zu haben.“ 1 Den Familienlasten- oder gar -leistungsausgleich könne man bei<br />

solchen Überlegungen als erledigt betrachten. Vergessen wir aber auch nicht, daß um<br />

1960 jährlich 1,3 Millionen Kinder in Gesamtdeutschland geboren wurden, während<br />

es heute nur noch 770.000 sind. Aus dem Geburtenüberschuß von jährlich über<br />

400.000 in der damaligen Zeit ist seit 1972 ein Überschuß der Sterbefälle geworden,<br />

der im Jahr 2000 über 70.000 und ohne die in Deutschland lebenden Ausländer sogar<br />

mehr als 150.000 betrug.<br />

Davon hat vor fast 30 Jahren auch die Politik Notiz genommen, zumal diese Entwicklung<br />

Gesprächsstoff für die Weltbevölkerungskonferenz 1976 in Bukarest lieferte.<br />

Der Verfasser erinnert sich an eine Unterredung im kleinsten Kreis mit dem damaligen<br />

Bundesinnenminister bis Mitternacht. Er hatte unsere Vorlage sorgfältig<br />

studiert und kommentierte sie etwa wie folgt: „Meine Vorfahren kommen vom Bauernhof.<br />

Ohne Kinder hätten sie im Alter verhungern müssen; denn wer hätte sie sonst<br />

ernährt und gepflegt?“ Ein anderer Teilnehmer erzählte die Geschichte von dem<br />

Bauern im Schwarzwald, der sagte: „Zu einem Drittel arbeite ich für meine Kinder,<br />

zu einem weiteren Drittel für meine Frau und mich, und schließlich zu einem letzten<br />

Drittel für meine alten Eltern.“<br />

Das Thema „Bevölkerung“ sorgte damals nicht für Aufregung, aber immerhin zu<br />

zwei Berichten der Bundesregierung zur demographischen Lage. Sie wurden auch<br />

im Bundestag behandelt. Die Aussprache erschöpfte sich jedoch in gegenseitigen<br />

Vorwürfen von Regierung und Opposition über Versäumnisse in der Familienpolitik.<br />

Von Besorgnis war kaum etwas zu spüren. Das kann man eher von dem Parallelbericht<br />

der Bundesländer unter der Federführung Bayerns sagen, der aber ebenfalls<br />

341


folgenlos blieb. Als Erfolg kann aber immerhin angesehen werden, daß sich in damaliger<br />

Zeit vielleicht 1.000 Ministerialbeamte, die meisten wohl zum ersten Mal, ernsthaft<br />

mit Bevölkerungsfragen beschäftigen mußten.<br />

Doch schlief das Thema nicht ein; denn nunmehr beschäftigte sich damit der Deutsche<br />

Bundestag in der Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“. Er brachte<br />

dazu am Ende der 12. und 13. Wahlperiode zwei dickleibige Bundestagsdrucksachen<br />

heraus. 2 Dabei handelt es sich um wahre Fundgruben des zeitgenössischen demographischen<br />

Wissens im weitesten Sinn. Wer aus dieser Aktivität wegweisende politische<br />

Impulse erwartet hatte, sah sich allerdings enttäuscht. Ob viele Politiker und<br />

andere Entscheidungsträger, außer den Mitgliedern der Kommission, die vielen<br />

Seiten überhaupt gelesen haben, erscheint zweifelhaft. „Es gibt doch so viele andere<br />

Dinge, die noch heute zu erledigen sind, als Probleme, die wir schon bisher vor uns<br />

herschieben konnten.“<br />

Es gibt allerdings auch Ausnahmen. Dazu muß man die Initiative von H.-U. Klose<br />

mit seinem „Forum Demographie und Politik“ rechnen, dessen verdienstvolle Aktivitäten<br />

in Form einer Schriftenreihe allerdings eingeschlafen sind. Ob er in seiner Partei<br />

nicht überall auf Beifall mit der Bemerkung im Editorial zu Band 1 gestoßen ist,<br />

daß diejenige politische Kraft im Jahr 2000 auf der Höhe der Zeit sein wird, die sich<br />

früh und nachdrücklich genug mit der gesellschaftspolitischen Bewältigung des<br />

demographischen Wandels auseinandergesetzt hat? Offenbar ist es schwer, Bevölkerungsfragen<br />

einem breiten Publikum nahezubringen. Der Autor möchte das mit einigen<br />

Beispielen aber trotzdem versuchen.<br />

342<br />

I. Der Geburtenrückgang<br />

Geht man davon aus, daß über 40-jährige Frauen keine Kinder mehr bekommen, was<br />

zu fast 99% zutrifft, so sind von den 40-jährigen Frauen heute, mit wachsender Tendenz,<br />

über ein Viertel kinderlos geblieben. In den großen Städten von 500.000 und<br />

mehr Einwohnern sind es sogar 40%. Die durchschnittliche Kinderzahl der Frauen<br />

beträgt – je 100 – 140 bzw. 110.<br />

So ist die Lage in Westdeutschland schon seit etwa 25 Jahren, und es sind seitdem<br />

und heute auch keine Anzeichen für eine Zunahme erkennbar. Eher ist eine Abnahme<br />

wahrscheinlich, weil die Heiratsneigung immer noch abnimmt. Bisher hatten bis<br />

zum Alter von 40 Jahren 95% der Frauen geheiratet, und es bestehen starke Anzeichen<br />

dafür, daß von den heute 25-Jährigen 30% zeitlebens unverheiratet bleiben<br />

werden. In den großen Städten ist das schon jetzt der Fall und sind zwischen 35 und<br />

39 Jahren nur noch wenig über 50% verheiratet, weil dort jede zweite Ehe geschieden<br />

wird und wenig Wiederverheiratungen stattfinden.<br />

Eine Folge davon ist die o.g. sehr hohe Kinderlosigkeit und eine durchschnittliche<br />

Kinderzahl, die hier ohne Zuwanderung zu einer raschen Entvölkerung führen mü ßte.<br />

Die derzeitige durchschnittliche Kinderzahl von 140 je 100 Frauen (bzw. Männer)<br />

sorgt dafür, daß von einer Generation auf die nächste, also im Verlauf von rund 30<br />

Jahren, von den Eltern auf die Kinder und von diesen auf die Enkel, die Zahl der<br />

Personen um jeweils ein Drittel kleiner wird. Ein gutes Beispiel sind die 1.142.000


Lebendgeborenen des Jahres 1969 auf die im Jahr 1999 nur noch 771.000 folgten.<br />

Manche Leser wird das Beispiel der Akademiker interessieren. Von den 40-jährigen<br />

Akademikerinnen in Westdeutschland im Jahr 1997 waren 36% ledig und fast 40%<br />

kinderlos geblieben. Im Durchschnitt beträgt die Kinderzahl dieser Gruppe nach<br />

abgeschlossener Familienbildung 110 je 100 Akademikerinnen. Von einer Nachwuchssicherung<br />

der Akademiker über die Familien kann also – anders als früher –<br />

nicht die Rede sein. Ob das vielleicht bei den Ehen zwischen Akademikern und<br />

Akademikerinnen der Fall ist? Für sie ergaben sich 1997 167 Kinder bei 19% kinderlos<br />

Gebliebenen. In den vergangenen 30 Jahren hat eine Abnahme um ein Drittel<br />

stattgefunden. Mehr als 200 Kinder je 100 Ehen mit abgeschlossener Familienbildung<br />

ergaben sich 1997 in Westdeutschland nur noch für die Selbständigen in der<br />

Land- und Forstwirtschaft und für die Ehen, in denen Mann und Frau keinen Berufsbildungsabschluß<br />

nachweis en konnten, unter ihnen sehr viele Ausländer.<br />

II. Die zwangsläufige weitere Bevölkerungsentwicklung<br />

Damit der durch den Geburtenrückgang vorprogrammierte Bevölkerungsrückgang<br />

eines Tages aufgehalten werden kann, müßten die in Deutschland lebenden Männer<br />

und Frauen sich weitgehend zu wenigstens einem Kind entschließen wollen und<br />

viele zu mehr als zwei, um auszugleichen, daß es immer Kinderlose und Paare mit<br />

nur einem Kind geben wird. Daß der Anteil der kinderlos Bleibenden so groß geworden<br />

ist, hängt sicher damit zusammen, daß die Erfüllung des Kinderwunschs heute<br />

vielfach in einen Lebensabschnitt verschoben wird, der zu spät liegt. Zweifellos wird<br />

die Elternrolle heute vielfach aber auch nicht mehr als die Selbstverständlichkeit und<br />

das Glück empfunden, die es einmal waren.<br />

Heute weiß jeder: Kinder kosten Geld und auch Zeit, oder besser Zuwendung. Beides<br />

kann auch anderweitig und über Berufstätigkeit von Frau und Mann zur Vermehrung<br />

des materiellen Wohlstandes verwendet werden. Ohne Nachwuchs kann jedoch<br />

keine Gesellschaft dauerhaft überleben. Die Kinderlosen und Kinderarmen werden<br />

daher früher oder später dazu verpflichtet werden müssen, sich an den Kosten der<br />

Nachwuchssicherung, d. h. weit über den gegenwärtigen Umfang hinaus zu beteiligen.<br />

Daß Familien mit mehreren Kindern und alleinerziehende Mütter zu den wichtigsten<br />

Gruppen der Sozialhilfeempfänger gehören, ist eine Schande für eine sonst<br />

reiche Gesellschaft. Es bestehen allerdings Zweifel, ob eine materielle Besserstellung<br />

der Familien das Geburtendefizit entscheidend vermindern könnte. Wie oben gezeigt<br />

wurde, haben Wohlhabende ja nicht mehr Kinder als andere soziale Schichten. Kinder<br />

kann man offensichtlich nicht „kaufen“. Bevor wir daran weitere Überlegungen<br />

anschließen, müssen wir uns aber noch mit wichtigen Aspekten der zu erwartenden<br />

Bevölkerungsstruktur beschäftigen.<br />

III. Die älter werdende Gesellschaft<br />

Als Folge des Geburtenrückgangs muß sich statt einer Bevölkerungspyramide ein<br />

Altersaufbau ergeben, der unten nicht breit, sondern schmal ist. Er bewegt sich auf<br />

folgende Gliederung in % zu:<br />

343


Alter in Jahren heute in Zukunft<br />

unter 20 21 16<br />

20 bis 59 56 50<br />

60 und älter 23 34<br />

Zusammen 100 100<br />

Zuwanderung ist dabei nicht berücksichtigt; ebenso wenig die erwartete Zunahme<br />

der Lebenserwartung. Geht man auch davon aus, kommt man bei einem jährlichen<br />

Zuwanderungsüberschuß von 200.000 und einer Zunahme der Lebenserwartung bis<br />

2030 um vier Jahre zu 36 und ohne Zuwanderung zu 38% über 60-Jährige im Jahr<br />

2050 und auch schon 34 bzw. 35% im Jahr 2030. 3 Entgegen mancherlei Erwartungen<br />

spielt also auch eine hohe Zunahme der Zahl der Ausländer durch eine hohe Nettozuwanderung<br />

von immerhin zwei Millionen in 10 Jahren für die Altersstruktur kaum<br />

eine Rolle. Zugleich ist mit einer Abnahme der Zahl der Personen im Erwerbsalter<br />

und damit zugleich des Erwerbspersonenpotentials zu rechnen.<br />

In absoluten Zahlen würde sich die Bevölkerung ohne Zuwanderung von 82 Millionen<br />

bis 2030 auf 72 und bis zum Jahr 2050 auf 58 Millionen vermindern, mit einer<br />

Jahresnettozuwanderung von 200.000 von 82 auf 75 bzw. 65 Millionen, mit nur 30<br />

Millionen im Erwerbsalter von 20 bis 60 Jahren. Heute stehen 46 Millionen in diesem<br />

Alter, mit einem nicht mehr viele Jahre andauernden Übergewicht der jüngeren<br />

über die älteren Arbeitskräfte.<br />

344<br />

IV. Zu den Folgen für Politik und Gesellschaft<br />

Ist von den Folgen der älter werdenden Bevölkerung die Rede, wird fast immer zuerst<br />

an Einbußen des materiellen Wohlstandes und an die finanziellen Probleme der<br />

Sozialversicherungssysteme gedacht. Das soll hier nicht ausgelassen werden. Kaum<br />

weniger wichtig sind jedoch die gesellschaftspolitischen, kulturellen und staatspolitischen<br />

Aspekte. Einige sollen wenigstens gestreift werden.<br />

Heute setzt sich die Bevölkerung zu etwa gleichen Teilen aus einem Fünftel Kinder<br />

und Jugendlichen und einem Fünftel über 60-Jährigen zusammen. Doch wird die<br />

Zahl der Älteren schon in wenigen Jahren die der Jungen übersteigen. Bereits in 30<br />

Jahren werden es doppelt soviele sein, in 50 Jahren 2½ Mal soviele. Es wird doch<br />

niemand glauben, unsere Stadtviertel, unsere Alltagsentscheidungen, das gesellschaftliche<br />

Klima, ja alle Facetten des öffentlichen Lebens könnten davon unberührt<br />

bleiben, wenn die Kinder und Jugendlichen demnächst nur noch 15%, die Älteren<br />

aber fast 40% ausmachen. In den Parlamenten hätten demnächst fast nur noch die<br />

von Älteren gewählten noch Älteren zu entscheiden. Schon heute sind von den<br />

Wahlberechtigten fast ein Drittel über 60 und in 30 Jahren über 40%. Geht man<br />

davon aus, daß die meisten Menschen heute schon mit 50 an ihre Rente denken, so<br />

könnte die seltsame Lage eintreten, daß diejenigen, welche in Kürze im Ruhestand<br />

leben werden, allein in der Lage wären, über ihre Altersbezüge zu entscheiden.


Vielleicht wäre es auch wichtig, darüber zu philosophieren, wie eine Gesellschaft<br />

aussehen und funktionieren könnte, in der durch den medizinischen Fortschritt, etwa<br />

auf dem Gebiet der Gen-Therapie, alle bald 100 Jahre alt werden. Dann hätten wir<br />

die Natur gewaltig übertrumpft, aber eine Welt geschaffen, auf die uns die Natur<br />

bisher nicht vorbereitet hat und für die wir wahrscheinlich auch keine Lösungen<br />

anzubieten hätten. Es könnte daraus eine Katastrophe entstehen.<br />

V. Einige Arbeitsmarktprobleme<br />

Alles, was wir im privaten Haushalt oder über öffentliche Haushalte ausgeben, muß<br />

erwirtschaftet werden. Das gilt für das Transfereinkommen eines Rentners oder<br />

Sozialhilfeempfängers, wie für die Einkommen aus Vermögen. Wer sein Geld in<br />

Mietshäusern angelegt hat, und dafür keine Mieter mehr findet, weil seine Stadt<br />

ständig Menschen verliert, kann „verhungern“. Die zu erwartende Entwicklung des<br />

Erwerbspotentials, der Erwerbstätigkeit und der Erwerbslosigkeit (hier Personen<br />

ohne Arbeitsplatz, die sich um eine Stelle bemühen) ist infolgedessen für unsere<br />

Zukunftsüberlegungen von größter Bedeutung.<br />

Wir gehen von den Zahlen der Erwerbstätigkeitsstatistik des Statistischen Bundesamtes<br />

vom Mai 1999 mit 51,4 Millionen 20- bis unter 65-Jährigen aus, von denen 35,1<br />

Millionen oder 68% erwerbstätig und 3,9 Millionen oder 7,6% erwerbslos waren. 4<br />

Mißt man die Erwerbslosigkeit – wie üblich – an den Erwerbstätigen plus Erwerbslosen<br />

(Erwerbspersonen = 39,0 Millionen) kommt man auf rund 10%. Bezeichnet man<br />

die Erwerbstätigen als Verdiener, mußten danach 100 Verdiener für 134 Nichtverdiener<br />

aufkommen, davon 50 noch nicht 20-jährige Kinder und Schüler, 47 nichtverdienende<br />

20- bis 64-Jährige (darunter auch Nur-Hausfrauen, Erwerbslose und Frührentner)<br />

sowie 37 65-Jährige und Ältere (vor allem Ruheständler). Bei Vollbeschäftigung<br />

hätte sich der Quotient 134 auf 110 reduziert.<br />

Geht man auch für die Zukunft von einer Erwerbstätigenquote der 20- bis 65-<br />

Jährigen von 68% aus, würde sich die Zahl der Erwerbstätigen bis 2030 von 35,1 auf<br />

27,6 und bis 2050 auf 21,4 Millionen vermindern und bei der jährlichen Nettozuwanderung<br />

der Ausländer von 200.000 auf 30,7 und 26,6 Millionen. Sollte es darüber<br />

hinaus gelingen, die Erwerbslosigkeit auf eine Quote von 4 bis 5% zu verringern,<br />

so kommt man für 2030 auf 32,2 statt 30,7 und für 2050 auf 27,9 statt 26,6<br />

Millionen, verglichen mit 35,1 Millionen heute. Was das wirtschaftlich bedeutet, ist<br />

kaum zu übersehen, weil es dazu aus neuerer Zeit keine Beispiele gibt.<br />

Es bleibt nur der Trost, daß es sich um keine Entwicklung von heute auf morgen<br />

handelt. Gewiß wird die deutsche Wirtschaft aber einem gewaltigen Anpassungsdruck<br />

ausgesetzt werden. Dabei ist auch zu bedenken, daß die gesamte Infrastruktur<br />

allmählich an eine Lage anzupassen ist, die nicht nur von Veränderungen des Arbeitsmarktes,<br />

sondern von Veränderungen in allen Teilen der Bevölkerung geprägt<br />

sein wird.<br />

Im Hinblick auf die zu erwartenden gewaltigen Einbußen beim Arbeitskräftepotential<br />

sind die Arbeitszeiten zu bedenken. Schon heute spiegeln z. B. die 38,8 Millionen<br />

Erwerbstätigen in Deutschland Mitte des Jahres 2001 und die Zunahme um 1,2 seit<br />

1998 keine Zunahme des Arbeitsvolumens wider, weil die Zunahme geringfügiger<br />

345


Tätigkeiten, vor allem durch Frauen, so groß war. Schätzungsweise sind so etwa 4<br />

Millionen Frauen beschäftigt und verdienen damit nur ein Zubrot. Mit Teilzeitarbeit,<br />

die etwa 40% der Frauenerwerbstätigkeit ausmacht, wird der dramatische Rückgang<br />

des Arbeitskräftepotentials nicht auszugleichen sein.<br />

346<br />

VI. Die Gefahren für die sozialen Sicherungssysteme<br />

Als einzige große Altersgruppe ist mit einer Zunahme der Zahl der über 60-Jährigen<br />

von 19 auf 26 Millionen bis gegen 2040 mit Schwergewicht bei den Ältesten zu<br />

rechnen. Ab 2040 sind die starken Geburtsjahrgänge aus den Jahren 1960 bis 1970<br />

über 80 Jahre alt. Es sind das die Altersgruppen der Rentner und Versorgungsempfänger<br />

unter den Beamten, mit den höchsten Krankheitskosten und mit dem Alter<br />

rasch steigendem hohen Anteil Pflegebedürftiger. Das alles muß von einem sinkenden<br />

Anteil erwerbstätiger Beitrags- und Steuerzahler bezahlt werden. Es soll hier<br />

nicht der Versuch gemacht werden, die voraussichtlichen Beitragssätze der Rentenversicherung,<br />

der gesetzlichen Krankenkassen und der Pflegeversicherung vorauszuschätzen,<br />

weil zu viel von gesetzlichen Regelungen über Höhe der Leistungen und<br />

die Art der Finanzierung abhängt. Stattdessen begnügen wir uns mit einer Angabe<br />

über das Verhältnis über 64-Jährige zu Erwerbstätigen unter der Annahme einer<br />

Nettozuwanderung der Ausländer von jährlich 200.000, den Erwerbsquoten von<br />

1999 und einer Arbeitslosenquote von 4,5%.<br />

Mit diesen Annahmen kommen auf 100 Erwerbstätige im Jahr:<br />

1999: 35<br />

2010: 46<br />

2030: 64<br />

2050: 74<br />

65-Jährige und Ältere. Selbst bei starker Einschränkung der Leistungen entstehen<br />

also starke Belastungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das durch Beiträge oder<br />

Steuern geschieht, deren Ertrag den Älteren zugute kommt.<br />

VII. Was wäre zu tun?<br />

Vordringlich und Voraussetzung für alles andere ist es, die demographischen Probleme<br />

breiten Schichten der Bevölkerung bewußt zu machen. 5 Es reicht nicht, gelegentlich<br />

unverbindlich über Familienpolitik und Zuwanderung zu reden. Es sollte<br />

außerdem überlegt werden, wie es gelingen könnte, die bevölkerungsrelevanten<br />

politischen Aktivitäten zu bündeln und sie zur Chefsache zu machen.<br />

Die Akteure auf diesem Gebiet brauchen einen langen Atem und können nicht mit<br />

raschen Erfolgen rechnen. Das hängt mit der „Trägheit“ der demographischen Prozesse<br />

zusammen. Es wird ein Denken in Generationen und Lebensabläufen gefordert.<br />

Es müssen die Konsequenzen aus der Gewißheit gezogen werden, daß Kindererziehung<br />

als Humanvermögensbildung mindestens die gleiche Bedeutung wie Erwerbstätigkeit<br />

hat. Durch die Bereitschaft, sich an den Kosten der Nachwuchssicherung<br />

angemessen zu beteiligen, müssen dazu auch diejenigen ihren Beitrag leisten,


welche kinderlos geblieben sind, aber von den Erziehungsleistungen von Eltern profitieren.<br />

Auf diese Weise könnte erreicht werden, daß mehr Frauen und Männer als<br />

heute gerne Eltern werden.<br />

Auch wenn durch einen solchen Familienlasten- und -leistungsausgleich eine Wende<br />

im generativen Verhalten erreicht werden könnte, würde es allerdings mehr als 20<br />

Jahre dauern, bis es das Erwerbspotential tangiert. Auch wäre die bis dahin eingetretene<br />

Bevölkerungsabnahme damit noch nicht rückgängig gemacht.<br />

Es sollte aber vermieden werden können, daß in 50 Jahren ein Viertel oder mehr der<br />

Bevölkerung durch weitere Zuwanderung aus Ausländern oder Abkömmlingen von<br />

Ausländern, in den Ballungsgebieten wohl die Hälfte, besteht. Die ohnehin zu erwartende<br />

große Zunahme wird schon genug Integrations- und Assimilationskräfte erfordern<br />

und eine der wichtigsten Herausforderungen der Gesellschaft mit hohem finanziellen<br />

Aufwand bedeuten.<br />

Sollen die Beitragssätze und Steuerverpflichtungen der Verdiener nicht unerträglich<br />

steigen und (oder) die Versorgungsleistungen für die Älteren nicht unvertretbar sinken,<br />

ergibt sich im Hinblick auf das nach 2010 mit Gewißheit sinkende Erwerbspotential<br />

die Notwendigkeit, die Lebensarbeitszeit auszudehnen. Durch Ausbau der<br />

außerschulischen Kinderbetreuung müßte außerdem erreicht werden, für mehr Frauen<br />

Einkommensmöglichkeiten zu schaffen, die über wenige Wochenstunden, wie<br />

heute, hinausgehen.<br />

Wichtigstes Nahziel müßte Vollbeschäftigung sein mit Rücknahme der meisten<br />

Vorruhestandsregelungen. Zuwanderung macht nur dann Sinn, wenn sie nicht zu<br />

neuer und damit noch größerer Arbeitslosigkeit führt. Ein höherer Beschäftigungsstand<br />

wird allerdings nur zu erreichen sein, wenn mehr Leistung geboten wird und<br />

bei Jung und Alt mehr Bescheidenheit Platz greift. Im Ganzen wird es bei der bevorstehenden<br />

Bewährungsprobe sehr auf mehr Solidarität ankommen; Solidarität zwischen<br />

Jung und Alt, Solidarität mit den Familien und Solidarität zwischen Einheimischen<br />

und Zuwanderern.<br />

Anmerkungen<br />

1) Nach Max Wingen in dem Beitrag „Elternschaft“. In: Werte – Leitbilder – Tugenden (zur<br />

Erneuerung politischer Kultur). Studien zur politischen Bildung, Band 8 (hrsg. von K. Weigelt),<br />

Mainz 1985: 403.<br />

2) Siehe insbesondere Bundestagsdrucksache 13/11460 vom 05.10.1998 mit 455 Seiten.<br />

3) Hierzu und zum Folgenden siehe insbesondere: Statistisches Bundesamt. Bevölkerungsentwicklung<br />

Deutschlands bis zum Jahr 2050, Wiesbaden 2000.<br />

4) Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland<br />

2000: 99f.<br />

5) Darauf hat immer wieder M. Wingen hingewiesen. Immer noch aktuell ist sein Beitrag<br />

„Population education als bevölkerungspolitische Aufgabe“. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft<br />

3-4/1980: 273f.<br />

Prof. Dr. Karl Schwarz war Abteilungsleiter im Statistischen Bundesamt und<br />

Direktor im Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.<br />

347


348<br />

Frank Loges / Lothar Susok<br />

Basel II und die Kirchen<br />

Die neuen Baseler Eigenkapitalkriterien („Basel II“), die ab Ende 2006 für den<br />

europäischen Raum gelten sollen, sorgen seit einiger Zeit für Unruhe, zunächst<br />

im Mittelstand, inzwischen aber auch in der Freien Wohlfahrtspflege und in den<br />

Kirchen. Mit den neuen Kriterien wird die Unterlegung von Krediten mit Eigenkapital<br />

bei den kreditausreichenden Banken stärker als bisher von der individuellen<br />

Bonität der Kreditnehmer abhängig gemacht. Die Bonität wird im Rahmen<br />

eines so genannten „Ratings“, also einem Verfahren zur Bewertung des Unternehmens<br />

durch eine Bank oder Ratingagentur, festgestellt. Angestrebt wird eine<br />

ganzheitliche und stärker zukunftsorientierte Unternehmensbeurteilung, „hard<br />

facts“ sollen durch „soft facts“ ergänzt werden. Die Bonitätsprüfung soll so<br />

gleichzeitig von personellen bzw. willkürlichen Einflüssen befreit und objektiviert<br />

werden. Folge ist eine deutliche Steigerung der Informationsanforderungen<br />

an Kreditgeber und Kreditnehmer in kurzen zeitlichen Abständen. Die Banken<br />

müssen verfeinerte Meß- und Steuerungsverfahren entwickeln. Sie werden ihre<br />

Risikodifferenzierung und Risikoselektion bei den Kunden verschärfen.<br />

In der Konsequenz bedeutet dies, daß Kredite - unbeschadet anderer bestimmender<br />

Faktoren auf den Kapitalmärkten - teurer oder billiger werden, je nachdem<br />

wie günstig oder ungünstig das Rating, das selbstverständlich auch mit Kosten<br />

verbunden ist, für den Kreditnehmer ausfällt. Pauschalisierungen sind also unangebracht.<br />

Allerdings gewinnt die Frage nach dem Rating einen hohen Stellenwert.<br />

Für die Kirchen stellt sich die Frage, ob die zulässigen und angewandten<br />

Ratingverfahren dem besonderen Charakter kirchlicher Einrichtungen und Dienste<br />

gerecht werden. Zu fragen ist ferner, welche Gruppen von Kreditnehmern<br />

von welchen Auswirkungen betroffen sein werden und welche Auswirkungen<br />

auf die Kirchen zukommen.<br />

Rating wird in Zukunft die Basis für Verhandlungen mit Kapitalgebern bilden.<br />

Die Kirchen, zumindest aber ein Teil der kirchlichen Träger, stehen daher vor<br />

der Aufgabe, im Hinblick auf die neuen Kapitalmarktbedingungen optimale<br />

Ratingvorbereitungen zu treffen. So fremd der Gedanke zunächst sein mag: Kirchen<br />

treten auf dem Kapitalmarkt als Kreditnehmer auf und sehen sich in dieser<br />

Eigenschaft intensiver als bisher einer Sichtweise ausgesetzt, die sie wie andere<br />

Kreditnehmer, also z. B. Wirtschaftsunternehmen, behandelt und insofern ihre<br />

besondere Bedeutung als Glaubensgemeinschaft mit hoher gesellschaftlicher<br />

Bedeutung schlicht vernachlässigt. Sie werden daher wie andere Kreditnehmer<br />

darauf bedacht sein mü ssen, das Vertrauen in ihre Bonität zu sichern und zu<br />

steigern. Mit den neuen Spielregeln auf dem Kapitalmarkt ist eine deutliche<br />

Steigerung der Transparenzanforderungen verbunden - für Wirtschaftsunternehmen,<br />

aber eben auch für die Kirchen. Was früher als selbstverständlich galt -<br />

eben Vertrauen in kirchliche Bonität -, gilt heute unter veränderten Bedingungen


keineswegs mehr. Die Kirchen werden vermutlich nicht umhinkommen, sich auf<br />

neue Sichtweisen und Bedingungen umzustellen.<br />

Ohne Vorbereitungen auf die neue Entwicklung ist zu befürchten, daß die Kirchen<br />

mit ihren Untergliederungen und Verbänden als Kreditnehmer vor erschwerten<br />

Bedingungen stehen, wenn es ihnen nicht gelingt, für ihre Aktivitäten,<br />

vor allem in Caritas und Kultur, günstige Kreditbedingungen zu erhalten. Gleiches<br />

gilt für die werteorientierte Sozialarbeit. Da aber insbesondere caritative<br />

bzw. diakonische Dienste und entsprechend genutzte kirchliche Immobilien in<br />

der Kreditwirtschaft generell als weniger gute Risiken gelten, ist nach Basel II<br />

eine Entwicklung zu befürchten, daß die Kirchen und mit ihnen die Freie Wohlfahrtspflege<br />

von erhöhten Kreditkosten ausgehen müssen. Daraus könnten sich<br />

schließlich Risiken für kirchliche und freigemeinnützige Aktivitäten und Investitionsentscheidungen<br />

ergeben.<br />

Von Basel I zu Basel II - Neue Spielregeln für den Kapitalmarkt<br />

1988 veröffentlichte der Baseler Ausschuß für Bankenaufsicht, ein Gremium der<br />

Zentralbanken und der Bankenaufsichtsinstanzen der wichtigsten Industrieländer<br />

(„G-10-Länder“), die seither geltenden Eigenkapitalvereinbarungen für Banken<br />

(„Basel I-Accord“). Die von ihm erlassenen Richtlinien dienen in der Regel als<br />

Grundlage für die Gesetzgebung der Europäischen Union und gehen in die nationale<br />

Gesetzgebung ein. In über 100 Ländern wurde dieser Accord in nationales<br />

Recht umgesetzt. Der Ausschuß ist also von unübersehbarer nationaler, supranationaler<br />

und internationaler Bedeutung. Ziel von Basel I war die Harmonisierung<br />

der rechtlichen Grundlagen für die Bankenaufsicht und die Festlegung international<br />

anerkannter Regelungen für die Eigenkapitalvorschriften für Banken. Dadurch<br />

entstanden gleiche internationale Wettbewerbstandards für die Kreditwirtschaft.<br />

Im Januar 2001 stellte er einen Vorschlag zur Änderung der internationalen<br />

Eigenkapitalregelung vor. Der Entwurf wurde unter der Bezeichnung „Basel II“<br />

bekannt. Der Finanzausschuß des Deutschen Bundestages führte hierzu 2002<br />

eine Anhörung durch. Nach dem derzeitigen Zeitplan soll der neue Accord -<br />

nach diversen Ve rschiebungen - voraussichtlich Ende 2003 verabschiedet und<br />

publiziert werden und seine Bestimmungen ab Ende 2006 – nach kurzer paralleler<br />

Gültigkeit von Basel I und II - in mehr als 100 Ländern in nationales Recht<br />

umgesetzt werden. Aber große, zentral organisierte Banken verfügen über Informations-<br />

und Technikvorsprünge gegenüber kleinen, dezentralen Banken (z.<br />

B. Volks- und Raiffeisenbanken, Sparkassen), die wohl ihre dezentralen Strukturen<br />

im Hinblick auf Basel II reformieren werden. Sollten nicht alle Banken bis<br />

2006 Ratings durchführen können, wäre eine weitere Terminverschiebung die<br />

Folge.<br />

Seit dem Basel-I-Accord im Jahr 1988 müssen Kreditinstitute für jeden Kredit<br />

pauschal 8 v. H. der Kreditsumme als Eigenkapital hinterlegen, und zwar unabhängig<br />

vom tatsächlichen Risiko. Mit dem Basel-II-Accord soll sich die Höhe<br />

des Eigenkapitals der Kreditinstitute stärker an den individuellen Kreditrisiken<br />

349


sowie den operationellen Risiken der Bank orientieren. Neben diesen weitreichenden<br />

Konsequenzen für die Mindestkapitalanforderungen werden auch höhere<br />

Anforderungen an das Risikomanagement und die Offenlegungsvorschriften<br />

gerichtet. Banken mit niedrigen Kreditrisiken bzw. operationellen Risiken werden<br />

zukünftig auch eine niedrigere Eigenkapital-Unterlegung vorhalten müssen<br />

und umgekehrt. Das Eigenkapitalproblem der Banken und das Fremdkapitalproblem<br />

der Kreditnehmer werden durch Basel II noch stärker miteinander verknüpft.<br />

Die Zielsetzung der Basel-II-Kriterien, im Zeichen der Mega-Trends Globalisierung,<br />

Liberalisierung und Deregulierung zeitgemäße, einheitliche Spielregeln für<br />

einen fairen Wettbewerb, angemessene Kontrollmechanismen für den Markt der<br />

Finanzdienstleistungen zu schaffen und die Sicherheit auf den Kapitalmärkten zu<br />

erhöhen, ist positiv zu bewerten. Jedoch müssen die Auswirkungen bedacht<br />

werden, insbesondere die zahlreichen, primär indirekten Risiken einer möglichen<br />

Verteuerung von Krediten bis hin zur denkbaren Kündigung der Zusammenarbeit<br />

mit einem Betrieb bei kontinuierlich schlechtem Rating. Nicht wünschenswert<br />

wären ordnungspolitische Auswirkungen, weil z. B. junge Unternehmen mit<br />

dünner Eigenkapitaldecke und vergleichsweise hohem Fremdkapitalbedarf, also<br />

typisch mittelständische Existenzgründungen, generell als riskant eingestuft<br />

werden, dadurch möglicherweise Innovationen - dazu noch unter den Bedingungen<br />

einer demographisch stark alternden Bevölkerung in einem Land mit geringen<br />

Rohstoffreserven - entfallen und Beschäftigungschancen durch Existenzneugründungen<br />

in Zeiten stagnierenden Arbeitsvolumens, hoher Arbeitslosigkeit<br />

und niedriger Wachstumsraten ungenutzt bleiben.<br />

Ebenso wenig wünschenswert wären negative gesellschaftspolitische Effekte, z.<br />

B. weil dringend erforderliche Finanzierungen von Sozialimmobilien, z. B. im<br />

Gesundheits- und Pflegebereich, wegen verschlechterter Kapitalmarktbedingungen<br />

unterblieben.<br />

Derartige Effekte werden nach dem neuesten Stand der Basel-II-Kriterien keineswegs<br />

zwangsläufig eintreten. Schließlich wurden im Juli 2002 auf Initiative<br />

der deutschen Delegation Sonderregelungen für die Eigenkapitalunterlegung bei<br />

der Kreditvergabe an kleine Unternehmen beschlossen, die vermutlich die Probleme<br />

reduzieren werden. Letztlich muß abgewartet werden, ob die denkbaren<br />

negativen Effekte für Kirchen, Sozialwirtschaft und Mittelstand wirklich verhindert<br />

wurden. Das gemeinsame Interesse muß darauf gerichtet bleiben, daß Basel<br />

II über Politik und Kreditwirtschaft hinaus zu einem größtmöglichen Nutzen für<br />

alle Beteiligten führt.<br />

350<br />

Kirchen als Kreditnehmer<br />

Der Verkündigungsauftrag der Kirchen reicht von pastoralen Aufgaben über<br />

kulturelle und pädagogische Aktivitäten sowie missionarische und entwicklungspolitische<br />

Aktivitäten bis hin zu caritativem bzw. diakonischem Engagement<br />

und ist weltumspannend. Wenn die katholische Kirche von einem dreifachen<br />

Glaubensvollzug - Liturgie, Caritas und Mission - spricht, benötigt sie hier-


für nicht nur Personal mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen, sondern auch<br />

Gebäude mit sehr unterschiedlicher Funktion. Baumaßnahmen, vom Neubau<br />

über Renovierungen bis hin zu Änderungen der Funktionalität, müssen finanziert<br />

werden. Mit anderen Worten: Die Kirchen benötigen zur Wahrnehmung ihrer<br />

Aufgaben und zu deren Finanzierung dringend Kapital, auch Fremdkapital. Aus<br />

dem Bau und Unterhalt solcher Bauten erwachsen den Kirchen erhebliche finanzielle<br />

Lasten, u. a. für den Kapitaldienst.<br />

Kirchen treten als Kreditnehmer juristisch gesehen in unterschiedlicher Eigenschaft<br />

auf, teils handelt es sich um Körperschaften öffentlichen Rechts, teils um<br />

Körperschaften privaten Rechts. Ob die Schuldnersystematik nach Basel II den<br />

verschiedenartigen Rechtstatus kirchlicher Träger bei der Ermittlung der Risikogewichtung<br />

adäquat erfaßt, bleibt abzuwarten.<br />

In der Diskussion um diese Fragen weisen die Kirchen - keineswegs zu Unrecht -<br />

auf nachfolgende Sachverhalte hin. Kirchliche Körperschaften öffentlichen<br />

Rechts verfügen, soweit sie ein verfassungsrechtlich garantiertes Steuererhebungsrecht<br />

haben, über stete Einnahmen. Sie sind insofern insolvenzunfähig.<br />

Faktisch stellt sich das Bonitätsproblem bei derartigen kirchlichen Trägern nicht.<br />

Kredite an diese Körperschaften wurden vor Inkrafttreten des Europarechts wie<br />

Kredite an staatliche Körperschaften behandelt (Risikogewichtungssatz 0 v.H.).<br />

Die derzeitige, durch europäisches Bankenrecht veranlaßte Gewichtung von 20<br />

v.H. würdigt grundsätzlich die besondere Bonität der Kirchen in Deutschland.<br />

Aus ihrer Sicht würde der mit einem Rating verbundene Aufwand zu wenig<br />

neuen Erkenntnissen über die Risikogewichtung, aber zu großen finanziellen und<br />

organisatorischen Belastungen führen.<br />

Kirchliche Körperschaften privaten Rechts haben ebenfalls im Vergleich zu den<br />

Baseler Schuldnerkategorien eine geringere Ausfallwahrscheinlichkeit. Sie sehen<br />

sich mit der gegebenen und vorgesehenen Risikogewichtung von 100 v. H. nicht<br />

risikogerecht eingeordnet. Mit Hilfe des bankinternen Ratings könnten sie ihre<br />

Gewichtung individuell verbessern unter der Voraussetzung, daß das Rating ihre<br />

Besonderheiten berücksichtigt. Auf gewerbliche Betriebe ausgerichtete<br />

Ratingverfahren leisten dies jedenfalls nicht.<br />

Gemeinnützige kirchlich-soziale Dienste als Kreditnehmer<br />

Wenn es speziell um den caritativen bzw. diakonis chen Auftrag der Kirchen<br />

geht, so stellt sich in diesem Kontext die Frage nach den spezifischen Kreditbedingungen<br />

für caritative bzw. diakonische Träger, wie z. B. Trägern von Krankenhäusern<br />

oder Trägergesellschaften.<br />

Dabei ist die volkswirtschaftliche Bedeutung der freien Wohlfahrtspflege, deren<br />

Schwerpunkt die kirchlichen sozialen Dienste sind, zu würdigen, wie sie die<br />

nachfolgenden Zahlen eindrucksvoll belegt. Zu ihnen gehören 93.566 Einrichtungen<br />

und Dienste, davon 1.227 Krankenhäuser, 6.440 stationäre Altenwohn-<br />

und Pflegeeinrichtungen, 5.263 Einrichtungen für Behinderte (Wohnen, Ausbildung<br />

und Beschäftigung) und 3.827 stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe. In<br />

diesen Diensten sind fast 1,2 Mio. Menschen beschäftigt. Die Bruttowertschöp-<br />

351


fung dieser Dienste beträgt ca. 46 Mrd. €. Dies entspricht einem Anteil von 1,9<br />

v. H. des Bruttoinlandproduktes.<br />

Mit der Ökonomisierung sozialer Dienste, also Caritas und Diakonie, wurde in<br />

den letzten Jahrzehnten die Landschaft sozialer Dienste völlig verändert. Auch<br />

die kirchlichen Sozialdienste gerieten unter erheblichen Druck. Möglicherweise<br />

sind die kirchlichen Krankenhäuser in einer als dramatisch zu bezeichnenden<br />

Änderung der Krankenhauslandschaft das eindrucksvollste Beispiel dafür. Innerhalb<br />

eines Jahrzehnts zeigen sich Angebotsstruktur, Trägerstruktur, Management,<br />

Personal etc. völlig verändert. Kirchliche Krankenhäuser dokumentieren<br />

damit ein bemerkenswertes Maß an Flexibilität. Sie wollen durch gezieltes Ve ränderungsmanagement<br />

auch in Zukunft ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten.<br />

Caritas und Diakonie müssen seit geraumer Zeit als Organisationen verstärkt wie<br />

Wirtschaftsunternehmen operieren. Der einst oligopolistisch strukturierte Wettbewerb<br />

ist in weiten Bereichen sozialer Dienste einem intensiven, weit gefächerten<br />

Wettbewerb gewichen. Verstärkt ist von „Sozialwirtschaft“ die Rede, während<br />

früher ausschließlich vom „Non-profit-Bereich“ gesprochen wurde. Die<br />

auch heute noch als „intermediärer Sektor“ und als „5. Säule des Sozialstaats“<br />

bezeichneten (gemeinnützigen) Verbände der freien Wohlfahrtspflege gelten als<br />

zunehmend wettbewerbsorientiert. Einst als „Nicht-Markt-Ökonomie“ eher eine<br />

Gegenstruktur zur gewerblichen Wirtschaft bildend, hat ein Prozeß der Konvergenz<br />

zwischen gewerblichen und gemeinnützigen Trägern eingesetzt. Gerade die<br />

kirchlichen Dienste sind durch die Anpassung an den Markt und Anerkennung<br />

von Markt und Konkurrenz als zentrale Leitbilder in Gefahr geraten, ihre ethischen<br />

Grundlagen zu verlieren. Ob die Leitbildprozesse diese Entwicklung wirklich<br />

korrigieren können, muß abgewartet werden. Die Konsequenzen aus Basel II<br />

dürften den Trend zur Ökonomisierung verstärken.<br />

Im Gegensatz zum Ausland jedoch, wo etwa in Frankreich von „economie sociale“<br />

die Rede ist und insofern von einer in die Marktwirtschaft integrierten Sozialwirtschaft<br />

ausgegangen wird, bestehen in Deutschland immer noch, wenn auch<br />

mit abnehmender Tendenz, deutliche Unterschiede zwischen gewerblichen und<br />

gemeinnützigen Sozialbetrieben, sowohl betreffend Angebotsstruktur, Finanzierung,<br />

Management und Organisation, aber auch in unternehmensrechtlicher,<br />

steuer- und arbeitsrechtlicher Sicht.<br />

Es ist richtig, daß viele junge gewerbliche Wettbewerber - oft mangels ausreichenden<br />

Eigenkapitals - schnell von Insolvenzen (z. B. bei den Pflegediensten)<br />

getroffen sind. Aber auch das bisherige flächendeckende Netz kirchlicher sozialer<br />

Dienste und deren Werte stehen zunehmend zur Disposition. Flexibilisierung<br />

und Deregulierung als Perspektive werden erörtert. Die Frage der Schließung<br />

von kirchlichen Einrichtungen steht ebenso auf der Tagesordnung wie der Abbau<br />

von Personal (z. B. Schließung kirchlicher Krankenhäuser und Einrichtungen).<br />

Die tarifrechtliche Orientierung am BAT wird wohl nicht auf Dauer bestehen<br />

bleiben können. Die Doerfert-Affäre im Bistum Trier wie auch die Finanzlage<br />

des angeschlagenen Deutschen Ordens haben offengelegt, daß auch kirchliche<br />

Träger Vorgänge, wie sie in dieser Form bestenfalls bei gewerblichen Wettbe-<br />

352


werbern vorstellbar schienen, nicht gänzlich ausschließen können und Vertrauen<br />

in kirchliche Träger Schaden nehmen kann.<br />

Die Sicherung eines unterscheidbaren Profils gemeinnütziger und speziell kirchlicher<br />

Träger gegenüber gewerblichen Betrieben wird zur dringenden Aufgabe,<br />

steht aber in offensichtlicher Spannung zu den Ökonomisierungstendenzen, zur<br />

abnehmenden Bedeutung des Solidaritätsgedankens (und damit des Gebotes der<br />

Nächstenliebe) in der zunehmend individualisierten Gesellschaft sowie zum<br />

Niedergang des Sozialstaates. Besonders die Kirchen werden eher als andere mit<br />

den Spannungen und Widersprüchen konfrontiert, etwa wenn es um die Spannung<br />

zwischen kirchlichem Anspruch und (betriebs-)wirtschaftlichen Entscheidungen<br />

geht. Gerade das von kirchlichen Arbeitgebern angeführte Argument<br />

eines „Leistungsplus“ im Sinne eines besonderen kirchlich-sozialen Engagements<br />

des Personals wird als Ressource in Frage gestellt, wenn<br />

betriebswirtschaftliche Argumente die eigentliche Entscheidungsgrundlage<br />

bilden (z. B. bei Outsourcing, Kündigungen) und nicht-marktfähige Aufgaben,<br />

möglicherweise kirchlich sehr gewichtige, aufgegeben werden oder in den<br />

Hintergrund treten.<br />

Auf diesem Hintergrund müssen die Sorgen der Kirchen und der Verbände der<br />

Freien Wohlfahrtspflege im Hinblick auf die geplanten Veränderungen des Kapitalmarktes<br />

durch Basel II sehr ernst genommen werden, auch weil viele Menschen<br />

auf diese Dienste angewiesen sind. Die beschäftigungs- und versorgungspolitischen<br />

Konsequenzen eventuell verschlechterter Kapitalmarktbedingungen<br />

für die Kirchen und Verbände der Freien Wohlfahrtspflege liegen auf der Hand.<br />

Zu berücksichtigen ist u. a., daß die gemeinnützigen sozialen Dienste besonderen<br />

gesetzlichen Vorschriften unterliegen, die ihre Bonität beeinträchtigen und in der<br />

Konsequenz ihr Rating verschlechtern. Sie dürfen laut Abgabenordnung (AO) z.<br />

B. nur eingeschränkt Gewinne erwirtschaften und diese auch nur gemeinnützig<br />

verwenden, sie dürfen nur eingeschränkt Eigenkapital bilden und leiden daher<br />

unter einer chronisch dünnen Eigenkapitaldecke. Die Forderungen der sozialen<br />

Dienste gegenüber Staat und übrigen Sozialleistungsträgern (einschließlich Sozialversicherungen)<br />

für erbrachte Leistungen werden als Sicherheiten von den<br />

Basel II-Kriterien nicht berücksichtigt.<br />

Sollte Basel II den besonderen Bedingungen der freien Wohlfahrtspflege nicht<br />

Rechnung tragen, könnte dies ernste sozialpolitische Konsequenzen haben. Zusätzliche<br />

finanzielle Belastungen kämen auf die gemeinnützigen Anbieter zu,<br />

eine marktverzerrende Benachteiligung der gemeinnützigen Träger, die in hohem<br />

Maß auf Kreditfinanzierungen angewiesen sind, würde eintreten, die erforderliche<br />

Modernisierung und der absehbar notwendige Ausbau der Sozial-, Gesundheits-<br />

und Bildungsinfrastruktur in Deutschland käme ins Stocken. Das Wachstumspotential<br />

des Sozial- und Gesundheitssektors von ca. 1,5 bis 2,5 v. H. ließe<br />

sich nicht voll realisieren.<br />

Die besondere Bedeutung sog. „Sozialimmobilien“<br />

Wenn es um die Besicherung von Fremdkapital geht, rücken die sog. „Sozialimmobilien“<br />

(z. B. Krankenhäuser, Altenheime, Kindergärten, Schulgebäude) in<br />

353


den Mittelpunkt des Interesses. Gerade die Kirchen mit ihrem besonderen caritativen<br />

und kulturellen Engagement und die gemeinnützigen Sozialverbände verfügen<br />

über einen großen Immobilienbestand, der insofern eine besondere Relevanz<br />

als Sicherheit für Kredite erhält. Grundsätzlich ist festzustellen, daß Kredite,<br />

die vielfach mit Grundpfandrechten auf Immobilien innerhalb eines vorgegebenen<br />

Beleihungsrahmens besichert sind, nach dem in Deutschland geltenden<br />

Grundsatz I als „Realkredite“ ausgewiesen werden. Mit diesem Realkreditausweis<br />

ist eine verminderte Eigenkapitalanrechnung verbunden. Dies hat geringere<br />

Kreditkosten für die Banken und einen niedrigeren Kreditzins für die Kreditnehmer<br />

zur Folge.<br />

Im Rahmen von Basel II wurde zwar diese deutsche Realkreditregelung übernommen,<br />

jedoch mit erheblichen Einschränkungen. Spezielle Arten gewerblicher<br />

Immobiliendarlehen, zu denen auch die Finanzierung von Sozialimmobilien<br />

gerechnet wird, kommen für die bevorzugte Behandlung nicht in Frage. So wurde<br />

nach I (b) 4 der Baseler Kriterien bestimmte Finanzierungsarten als „spekulativ<br />

oder stark risikobehaftet betrachtet und sind deshalb auf jeden Fall von der<br />

Möglichkeit einer bevorzugten Behandlung ausgeschlossen“. Dazu gehören<br />

Darlehen, die durch Spezialimmobilien besichert sind (z. B. religiöse Zentren,<br />

Produktionsgebäude, Hotels), Immobilien mit dem Erfordernis einer Konzession<br />

(z. B. Alten- und Pflegeheime, Privatkliniken und Sanatorien) oder Immobilien,<br />

bei denen der Darlehensnehmer oder ein mit ihm verbundener Dritter ein wichtiger<br />

Mieter ist. Sollten diese Kriterien Anwendung finden, wäre in Zukunft die<br />

Berücksichtigung von Sozialimmobilien bei Realkreditausweisen, im Gegensatz<br />

etwa zu Büro- und Ve rwaltungsgebäuden, ausgeschlossen. Das wäre weder von<br />

der Sache her einsichtig noch von den gesellschaftspolitischen Konsequenzen<br />

her akzeptabel.<br />

Nun hat sich die FAZ (v. 19.10.2001) in ihrem Wirtschaftsteil mit der besonderen<br />

Problematik von Sozialimmobilien im Rahmen der Pflege und Betreuung<br />

Hilfebedürftiger, insbesondere Senioren, beschäftigt, die vordergründig die Notwendigkeit<br />

der oben genannten Regelung bestätigen könnten. Der Markt werde<br />

von Insolvenzen und Konkursen heimgesucht. „Kleeblatt“ habe die Mieten nicht<br />

mehr erwirtschaften, „Rentaco“ die hochpreisigen Einrichtungen nicht auslasten<br />

können, „KBN“ habe unter zu hohen Mieten gelitten und „Refugium“ an zu<br />

hohen Immobilienpreisen und einer konzeptionslosen Expansionsstrategie. Folge<br />

seien hohe Wertberichtigungen für die Kapitalgeber gewesen.<br />

Unübersehbar ist: Hier handelt es sich um gewerbliche Investoren im Sozialmarkt,<br />

aber nicht um kirchliche Träger öffentlichen oder privaten Rechts. Gleichzeitig<br />

geht es um spezifische Marktprobleme, betriebswirtschaftliche Fehleinschätzungen<br />

oder Managementfehler, wie sie auch in anderen Sektoren vorkommen.<br />

Hieraus aber generelle Probleme von Sozialimmobilien oder gar ein erhöhtes<br />

Kreditrisiko für soziale Dienste und kirchliche Einrichtungen ableiten zu<br />

wollen, stellt eine dramatische Überzeichnung der tatsächlichen Sachlage dar.<br />

Gewerbliche Altenwohnheime von Investoren sind auch als Kreditrisiken anders<br />

zu bewerten als kirchliche Krankenhäuser oder Werkstätten für Behinderte. Der<br />

Wohlfahrtsbereich stellt kein „Klumpenrisiko“ dar, sondern muß so differenziert<br />

354


etrachtet und bewertet werden, wie er sich in der Realität darstellt. Die genannten<br />

Einschränkungen bei der Vorzugsbehandlung von Realkrediten im Hinblick<br />

auf Sozialimmobilien sind - so pauschal, wie sie zuletzt vorgenommen wurden -<br />

ungerechtfertigt.<br />

Die Sorge vor eingeschränkten Vermietungs- und Verwertungsmöglichkeiten im<br />

Fall der zwangsweisen Verwertung (sog. eingeschränkte Drittverwertungsmö glichkeit)<br />

im Fall kirchlicher bzw. gemeinnütziger Träger ist also nicht belegt. Im<br />

Gegenteil konnten Sozialimmobilien, teilweise selbst Kirchen, für neue Zwecke<br />

umgebaut bzw. umgewidmet werden. Z. B. können Altenheime in Studentenwohnheime,<br />

kleinere Krankenhäuser, wie sie für die Kirchen typisch sind, in<br />

Altenwohnheime umgewandelt oder selbst für gewerbliche Zwecke genutzt werden.<br />

Daß die Verwertung von Sozialimmobilien höhere Ausfallrisiken in sich<br />

birgt, kann jedenfalls von den im Bereich der Sozialwirtschaft tätigen Banken<br />

nicht bestätigt werden, im Gegenteil weisen sie geringere Ausfallrisiken aus.<br />

Bei näherem Hinsehen stellt sich die skizzierte Entwicklung als mögliches versorgungspolitisches<br />

Problem der Zukunft dar. Nach Berechnungen der FAZ<br />

werden bis 2030 allein im Pflegebereich zusätzlich ca. 700.000 Betten benötigt,<br />

ca. 7.400 Pflegeeinrichtungen müssen neu gebaut werden. Hinzu kommt die<br />

Ersatzbeschaffung für ca. 100.000 bis 150.000 Betten, die wegen unzumutbarer<br />

Verhältnisse schon heute ersetzt werden müßten. Die Kosten werden auf ca. 3,3<br />

Mrd. DM bzw. 1,69 Mrd. € geschätzt. Bis 2010 wird mit einem zusätzlichen<br />

Bedarf von 10.000 Plätzen in Werkstätten für Behinderte und 20.000 Wohnheimplätzen<br />

für Behinderte gerechnet. Die Kosten hierfür werden auf 3 Mrd. €<br />

geschätzt. Weit höher liegen die Schätzungen für den Investitionsstau im Krankenhausbereich,<br />

teilweise gehen diese Schätzungen bis 50 Mrd. €.<br />

Die hier skizzierten Folgen einer Verteuerung von Sozialimmobilien infolge<br />

veränderter Kapitalmarktbedingungen durch Basel II verdeutlichen die Gefahr<br />

von Wettbewerbsnachteilen und Beeinträchtigungen für Einrichtungen und Dienste<br />

der Kirchen und freien Wohlfahrtspflege, wie z. B. Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen,<br />

Seniorenwohn- und -pflegeeinrichtungen, Werkstätten und<br />

Wohneinrichtungen für Behinderte, Einrichtungen der Erziehungshilfe, Kindertageseinrichtungen<br />

sowie Bildungseinrichtungen. Das Rating nach Basel II wird<br />

darüber entscheiden, ob ein Kredit vergeben wird, welches Kreditlimit gezogen<br />

wird und wie teuer der Kredit wird. Die Sorge, daß die Finanzierungskosten für<br />

sozialwirtschaftliche Unternehmen und Kirchen, die nicht nur im Krankenhaussektor<br />

verstärkt auf Kapitalmarktmittel angewiesen sind, in Zukunft steigen werden,<br />

ist berechtigt. Besonders brisant sind die Auswirkungen für das Investitionskostenvolumen<br />

für vollstationäre Pflegeeinrichtungen. Dies gilt sowohl für<br />

Neuinvestitionen wie auch für die Modernisierung und den Ersatzneubau.<br />

Nach derzeitigem Stand ist es denkbar, daß die Umsetzung der Baseler Eigenkapitalübereinkunft<br />

zu einer Belastung für die öffentlichen Haushalte führen kann.<br />

Z. B. werden für die Ausgaben nach §39 BSHG (Eingliederungshilfe für Behinderte)<br />

und nach §72 BSHG (Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer<br />

Schwierigkeiten) pro Jahr ca. 1 Mrd. € aufgewendet. Für den Fall des unveränderten<br />

Inkrafttretens der geplanten Regelungen ist mit Mehraufwendungen in<br />

355


diesen Leistungsbereichen in Höhe von 2,5 Mrd € beim überörtlichen Sozialhilfeträger<br />

zu rechnen.<br />

Bund und Länder haben jedoch in ihrer Finanzplanung die Reduzierung der<br />

staatlichen Förderung hierfür vorgesehen. Die Konsequenz könnte sein, daß die<br />

benötigten Sozialimmobilien entweder von nicht-staatlichen Trägern, gewerblich<br />

oder gemeinnützig, unter erschwerten Kreditmarktbedingungen finanziert werden<br />

mü ssen. Dann würde eine verringerte staatliche Förderung vermutlich einen<br />

erhöhten Bedarf an Fremdkapital nach sich ziehen oder Träger zwingen, auf<br />

öffentliche Mittel zu verzichten. Die Alternative wäre ein dramatisches Defizit<br />

an Pflegebetten. Bisher schon bietet das Engagement von Banken bei der Finanzierung<br />

gewerblicher Sozialunternehmen eher ein uneinheitliches Bild. Die<br />

Hoffnung auf gewerbliche Investoren bei der Problemlösung scheint nicht allzu<br />

begründet. Sollten noch verschlechterte Kapitalmarktbedingungen hinzukommen,<br />

werden auch gemeinnützige Träger kaum einspringen können. Eine Fehlsteuerung<br />

wäre gegeben, wenn Mittel, die doch eigentlich in größtmöglichem<br />

Umfang sozialen Anliegen zugute kommen sollten, infolge der veränderten Kreditbedingungen<br />

verstärkt bei den Banken und ihren Aktionären ankommen sollten.<br />

Dem Staat, der seine Tätigkeit im sozialen Sektor beschränken will oder<br />

muß, kann die Frage nach den Kapitalmarktbedingungen für Sozialbetriebe,<br />

gleich ob gewerblich oder gemeinnützig, sowie deren Auswirkungen nicht egal<br />

sein.<br />

356<br />

Basel II als Gestaltungsaufgabe für die Kirchen<br />

Was können die Kirchen unternehmen, um unerwünschte Risiken infolge von<br />

Basel II abzuwenden? Die vorangegangene Analyse verdeutlicht, daß einige<br />

vorgesehene Regelungen Kirchen und gemeinnützige Sozialverbände benachteiligen<br />

sowie zu unerwünschten ordnungs- und gesellschaftspolitischen Konsequenzen<br />

führen könnten. Primär ist also eine Änderung der relevanten Regelungen<br />

anzustreben. Die Forderungen gegenüber der öffentlichen Hand und den<br />

sozialpolitischen Parafisci müssen als Sicherheiten im Sinne von Basel II anerkannt<br />

werden können. Sozialimmobilien dürfen nicht schlechter gestellt sein als<br />

Büro- und Ve rwaltungsgebäude. Ratingverfahren zur Beurteilung gewerblicher<br />

Kreditnehmer dürfen nicht auf Kirchen und gemeinnützige Sozialverbände angewandt<br />

werden. Branchenspezifische Ratings, wie sie z. B. die Bank für Sozialwirtschaft<br />

für die sozialen Dienste entwickelt, müssen zulässig sein. Schließlich<br />

dürfen längere Kreditlaufzeiten, wie sie gerade bei den Kirchen und der<br />

Sozialwirtschaft üblich sind, nicht zu Aufschlägen führen.<br />

Doch die Annahme, daß die Kirchen bei Erfüllung dieser Forderungen von Veränderungen<br />

verschont blieben und alles beim alten bleiben könnte, ist Illusion.<br />

Viele kirchliche Träger werden um ein Rating und damit um die Prüfung ihrer<br />

Kreditwürdigkeit nicht umhinkommen. Längerfristig dürfte es dabei im sozialwirtschaftlichen<br />

Wettbewerb um eine sichere Positionierung kirchlicher Träger,<br />

in Einzelfällen um das Überleben von Einrichtungen gehen. Die neuen Kapitalmarktbedingungen<br />

sind ein Wettbewerbsfaktor, um den auch die Kirchen und die


Sozialwirtschaft nicht herumkommen werden, wenn sie Fremdkapital aufnehmen<br />

wollen. Weite Bereiche, wie z. B. der Krankenhaussektor, werden einen weiteren<br />

Professionalisierungsschub erfahren, der vom Aufbau eines ausgeprägten Finanzmanagements<br />

mit Informationen über alternative Finanzierungsformen und<br />

dem Aufbau eines Netzwerkes kompetenter, betriebswirtschaftlich bzw. kaufmännisch<br />

geprägter Gesprächs- und Kooperationspartner (Bankenvertreter, Leasinggesellschaften,<br />

Investoren) geprägt sein wird.<br />

Die weitere notwendige Professionalisierung kirchlichen Managements wird sich<br />

nicht auf das hauptamtliche Personal beschränken können. Auch das Ehrenamt<br />

ist einzubeziehen. Beispielsweise werden sich die Anforderungen an kirchliche<br />

Vorstände überall dort, wo es um Finanzierungen mit Fremdkapital geht, weiter<br />

erhöhen, aber vermutlich auch in anderen Bereichen. Das Ehrenamt ändert insofern<br />

zumindest in Teilen seinen Charakter: Gefragt sind nicht allein besondere<br />

Motivationen (Nächstenliebe, Freiwilligkeit etc.), sondern auch zunehmende<br />

Professionalität bei Ehrenamtlichen. Gegenseitiges Vertrauen zwischen Haupt-<br />

und Ehrenamtlichen, aber auch die Sicherung der Entscheidungsfähigkeit in<br />

einem zunehmend schwierigen Sozialmarkt bei den beteiligten Haupt- und Ehrenamtlichen<br />

hängen auch von der gemeinsamen Professionalisierung ab. Wenn<br />

dieser koordinierte Prozeß nicht gewollt und gesteuert würde, könnten Spannungen<br />

zwischen ehrenamtlichen Entscheidungsträgern und professionellem Management<br />

eintreten.<br />

Managementaufgaben werden im kirchlichen Dienst nicht nur von Laien, sondern<br />

vielfach auch von Geistlichen wahrgenommen. Steigende Anforderungen<br />

an das kirchliche Finanzmanagement erhöht somit auch Management- bzw.<br />

Kompetenzanforderungen an Geistliche überall dort, wo sie mit entsprechenden<br />

Entscheidungen über Finanzierungen, mit kaufmännischen Steuerungsinstrumenten<br />

und entsprechenden Strategien befaßt sind. In der Regel wurden sie in ihrem<br />

Theologiestudium nicht oder nur bedingt auf derartige Aufgaben vorbereitet und<br />

müssen sich als Praktiker in diese Aufgaben einarbeiten und auf entsprechenden<br />

Positionen bewähren. Die Personalknappheit infolge des Priestermangels wird<br />

hier weitere Diskussionen und neue Lösungen erzwingen.<br />

Rating erfordert eine größere Transparenz kirchlicher Einrichtungen über ihr<br />

Finanzgebaren, ihre Management etc. Die Kirchen werden gut daran tun, diese<br />

Transparenz offensiv unter Beweis zu stellen. Gleichzeitig erfordert Rating eine<br />

intensive Vorbereitung, auch strategisch, weil ein ungünstiges Ergebnis des Ratings<br />

keinem Kreditnehmer egal sein kann. Die Kirchen werden für die Zukunft<br />

wohl nicht umhin kommen, verstärkt Dienstleistungen von Unternehmensberatungen<br />

zusätzlich zur Kompetenz des eigenen Managements in Anspruch zu<br />

nehmen.<br />

Basel II ist nicht die Ursache für diese Entwicklungen, aber beschleunigt sie wie<br />

ein Katalysator und fokussiert den Blick auf vorhandene sowie zukünftige Probleme,<br />

Spannungen und Herausforderungen. Dies sollte nicht als Gefahr, sondern<br />

als Chance verstanden werden. Die Kirchen werden diese Prozesse erfolgreich<br />

bewältigen können, wenn sie sie konsequent als Gestaltungsaufgabe begreifen<br />

und die erforderlichen Steuerungsprozesse beherzt einleiten.<br />

357


Literaturhinweise<br />

Bank für Sozialwirtschaft: Stellungnahme der Bank für Sozialwirtschaft AG zur öffentlichen<br />

Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages zu Basel II, Berlin 20.<br />

März 2002<br />

Basel II. Neue Vorschriften zur Kreditvergabe, in: Pax-Bank-Note. Informationsdienst der<br />

Pax-Bank 3/2002<br />

Gabot-Spezial: Basel II und Rating, in: http://www.gabot.de/dehne/themen/basel2/ Zugriff<br />

am 14.05.2002<br />

Rödl & Partner (Hrsg.): Fitneß-Programm für den Mittelstand. Wie Sie Ihr Unternehmen<br />

auf ein Rating vorbereiten können, (ohne Ort) 2001<br />

Wambach, Martin/ Wunderlich, Dieter: Rating für den Mittelstand - Über die Zukunft der<br />

Finanzierung mittelständischer Unternehmen. Ein Informationsleitfaden, Nürnberg/Köln<br />

2001<br />

Wambach, Martin/Kirchner, Thomas: Unternehmensrating: Weit reichende Konsequenzen<br />

für mittelständische Unternehmen und für Wirtschaftsprüfer, in: Betriebsberater,<br />

Zeitschrift für Recht und Wirtschaft 57(2002)400 - 405<br />

Sozialimmobilien: Ein Wachstumsmarkt mit vielen Gefahren, FAZ v. 19.10.2001<br />

Dr. Frank Loges ist nach Leitungsfunktionen in der freien Wohlfahrtspflege<br />

Leiter des Kompetenzcenters Sozialwirtschaft der Unternehmensberatung Rödl<br />

& Partner, Köln.<br />

Diplom-Sozialwissenschaftler Lothar Susok war von 1982 bis 1998 Leiter des<br />

Referates Wirtschaft und Gesellschaft des Zentralkomitees der deutschen Katholiken<br />

und lebt als Dozent und Publizist in Meckenheim bei Bonn<br />

358


Jörg Splett<br />

„Selbstverwirklichung“ – christlich?<br />

„Lebenskunst“ ist heute gefragt und Lebenskunstanleitungen werden gesucht.<br />

Mit Wilhelm Schmid, dessen Philosophie der Lebenskunst „seit mehr als vier<br />

Jahren ein Long- und Bestseller auf dem deutschsprachigen Buchmarkt“ ist,<br />

führte die Herderkorrespondenz kürzlich ein Gespräch zum (post)modernen<br />

Dilemma der Freiheit. 1 Dabei kam auch der Vorwurf zur Sprache, hier werde die<br />

Ethik durch einen Privatutilitarismus ersetzt. Den parierte der Philosoph mit dem<br />

Hinweis auf die „gute alte philosophische Tradition“ der Klugheit, die im modernen<br />

Ethik-Diskurs „zu Unrecht vollständig gemieden“ werde. Die Grundlage<br />

rechten Lebens sei „die Sorge um sich und Stärkung des Selbst – strikt nach dem<br />

christlichen Grundsatz des ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’.“<br />

Mit dieser Berufung auf die goldene Regel als „das eigentliche Weltethos“<br />

schließt das Gespräch. Was auch wäre noch weiter zu sagen?, werden Christen<br />

bemerken, Laien wie Theologen, und nicht bloß Pastoraltheologen. – Wieso sieht<br />

ein Philosoph hier Probleme?<br />

Ihm mag zunächst eine Fußnote Kants zur goldenen Regel eingefallen sein. Im<br />

zweiten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erläutert Kant den<br />

„kategorischen Imperativ“, also die unbedingte Verpflichtung, Menschen niemals<br />

bloß als Mittel zu gebrauchen. Und dazu merkt er nun an (ich darf ungekürzt<br />

zitieren) 2 : „Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri<br />

etc (Was du nicht willst, daß man dir tu...) zur Richtschnur oder Prinzip dienen<br />

könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem<br />

(Sollen) abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht<br />

den Grund (!) der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen<br />

andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohltun<br />

sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen), endlich<br />

nicht der schuldigen Pflichten gegen einander; denn der Verbrecher würde aus<br />

diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentieren, u.s.w.“<br />

Anders gesagt, Humanität bestimmt sich nicht einfach durch das, was einer tut;<br />

sondern entscheidend auch dadurch, warum und wozu jemand tut, was er tut. -<br />

Aber setzen wir grundsätzlich: anthropologisch an. Philosophische Vernunft wie<br />

der christliche Glaube sehen in der Tat den Menschen als ein Wesen auf dem<br />

Weg von Möglichkeiten zu deren Verwirklichung.<br />

I. Der Mensch ist Möglichkeit, die wirklich werden will und soll<br />

1. Auf die Frage „Was ist der Mensch?“ scheint mir nach wie vor die prägnanteste,<br />

das heißt dichteste und fruchtbarste Antwort in der Frage selbst gegeben: Der<br />

Mensch ist (sich) eine Frage. Er weiß noch nicht, wer er ist, weil er sich erst zu<br />

dem zu machen hat, der er sein soll. Er ist noch unbestimmt, weil einzig durch<br />

359


sich selbst bestimmbar. In diesem Sinn nennt Thomas von Aquin den freien Menschen<br />

„sui causa“. Natürlich meint er damit nicht völlige Selbstursächlichkeit.<br />

(Nach solchem Ve rständnis ist für die klassische Philosophie nicht einmal Gott<br />

„Ursache seiner selbst“, wie die Neuzeit sagen wird, sondern „ratio sui“, sein<br />

eigener Grund; denn nichts und niemand bringt sich selbst hervor, wohl aber<br />

kann eine Urwirklichkeit in eigener Wesensnotwendigkeit gründen.) Ursprünglich<br />

ist „causa“ sogar als Ablativ zu lesen: der (soziologisch) Freie ist, nach Aristoteles,<br />

„um seiner selbst willen“ da, nicht wie der Sklave um eines anderen<br />

willen. Doch wiederholt spricht Thomas mit dieser Formel auch die konkrete<br />

„Selbstverwirklichung“ des Menschen an und versteht ihn in diesem präzisierten<br />

(eingeschränkten) Sinn durchaus als Ursache seiner selbst. 3<br />

2. Diese Selbstbestimmung könnte man sich in der Weise denken, daß hier ein<br />

Vorbild nachgestaltet werden solle. So sieht es der vielzitierte Vers Friedrich<br />

Rückerts: „Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll / Solang er das nicht<br />

ist, ist nicht sein Friede voll.“ Doch scheint mir dies dem Ernst der menschlichen<br />

Freiheitssituation nicht wirklich zu entsprechen. Es liegt kein Muster vor – weder<br />

des Menschen überhaupt noch etwa eines Christen schlechthin (auch hier hat<br />

es höchstens christliche Menschenbilder gegeben – des Mönchs, des christlichen<br />

Kaufmanns, des christlichen Ritters... –, niemals das christliche Menschenbild);<br />

und mögen „Rollen“-Muster bestehen, ein Musterbild des jeweils Einzelnen gibt<br />

es nicht. Romano Guardini hat das einmal so formuliert, und damit anschaulich<br />

Last wie Chance dieses Sachverhalts angesprochen: Des Menschen Lebensweg<br />

unter dem Willen Gottes sei „nicht Weg, der vorgezeichnet läge, und wenn man<br />

ihn verließe, wäre Weg-Losigkeit. Es ist ein Weg, der sich von Gott her dem<br />

Menschen unter den Füßen erzeugt, aus jedem seiner Schritte heraus neu.“ 4<br />

3. Menschsein ist gerade darum bleibende Frage, weil es hierbei weder um einen<br />

abstrakten Begriff geht noch um eine Sammlung humanwissenschaftlicher Fakten.<br />

Nach dem Menschsein fragen heißt, nach Menschlichkeit fragen. Und diese<br />

ist kein theoretis ch-objektives Datum, sondern eine Zielwirklichkeit – nicht als<br />

bestimmtes, schon gegebenes Ziel, das es bloß zu erreichen, sondern als eine<br />

Wirklichkeit, die es erst zu verwirklichen gilt. Ja, gemäßer hätte man wohl von<br />

Er-wirklichung zu sprechen. Natürlich herrscht hier nicht totale Unbestimmtheit.<br />

Es geht um den Menschen, also weder um Götter oder himmlische Geister noch<br />

um Tiere (oder Maschinen). Und es geht darum, die in uns selbst sich meldende<br />

Un-Menschlichkeit zu überwinden. Aber was innerhalb dieser „dead-lines“ konkret<br />

geschehen soll, liegt nicht fest.<br />

360<br />

II. Verwirklichung des Selbst gelingt nur in Gemeinschaft<br />

1. Auf dem Weg dieser Realisierung braucht der Mensch Hilfe. Wie aber kann es<br />

die geben? Hat nicht der Einzelne auf je besonderem Weg zu sich selber zu finden?<br />

Helfen zu leben muß heißen, die Freiheit des anderen mehren. Mindert man<br />

sie aber nicht eben dadurch, daß man (ge)leitend zur Autorität wird (dem Wortsinn<br />

zuwider, der – augére – mehren, wachsen machen bedeutet)?


Auf diese Frage ist doppelt zu antworten. Zunächst einmal grundsätzlich, daß die<br />

Rede von „totaler“ Freiheit („Allmöglichkeit“) sinnlos würde; denn dann dürfte<br />

es auch den nicht geben, für den sie bestünde. Obendrein mißt Freiheit sich an<br />

Positiv-Vorgaben („kopf-frei“ und „kopflos“ sind nicht dasselbe; fieberfrei ist<br />

kein Toter, sondern jemand mit normaler Temperatur).<br />

Doch auch wenn, immer noch bei diesem ersten grundsätzlichen Schritt, Freiheit<br />

nicht logisch-abstrakt: Max Scheler hat in seiner Phänomenologie des Personseins<br />

gezeigt, „daß Gemeinschaft von Personen überhaupt zur evidenten Wesenheit<br />

einer möglichen Person gehört“. Denn sie vollzieht sich wesentlich in Akten,<br />

in denen sie sich auf andere Personen bezieht – in „Liebe, Achtung, Versprechen,<br />

Befehlen usw., die Gegenachtung, Gegenliebe, Annehmen, Gehorchen<br />

usw. als ideale Seinskorrelate fordern...“ 5<br />

2. Diese Grundsatz-Antwort ist darum wichtig, weil die Gegen-Vorstellung, in<br />

sich unmöglich, nicht einmal als „regulative Idee“, „Realutopie“ oder ähnlich<br />

einen ernsthaften Maßstab zur Kritik an den „Verhältnissen“ abgibt, „die (noch)<br />

nicht so sind“.<br />

Daß sie der Kritik bedürfen, ist die zweite, nicht minder wichtige Antwort. Denn<br />

ist man auf Menschen angewiesen, dann ist man ihnen auch immer ausgeliefert.<br />

Und dies bei ständig drohender Unmenschlichkeit des Menschen. Was korrumpiert<br />

ihn mehr als jede Form von Machtbefugnis?<br />

Wenn Menschsein eine Frage aufgibt, dann wird Menschlichkeit fraglich. Was<br />

aber fraglich und bedroht scheint, erweckt Angst. Angst um es, doch zugleich<br />

auch, weil Angst selber ängstigt und es deren Anlaß bietet, Angst vor ihm. Denn<br />

die Angst ängstigt den Menschen vielleicht noch mehr als die Gefährdung dessen,<br />

worum er Angst hat. Dann wären nicht nur Risiko und Gefährdung des<br />

Menschseins Anlaß zur Angst, sondern umgekehrt zeigt die Angst sich als eine<br />

ernste Bedrohung des Menschseins.<br />

3. Was wunder, daß das Individuum sich lieber auf sich selbst zurückzieht? –<br />

Oder in der Gegenrichtung darauf setzt, daß Gruppen (die darum auch „alles von<br />

ihm fordern“ dürfen – politisch wie religiös) ihm sich selbst und seine Selbstbestimmung<br />

als „Groß-Ich“ abzunehmen bereit sind.<br />

Damit wird deutlich, daß der einzige Ausweg in Richtung dessen liegt, was Karol<br />

Wojtya in seinem frühen Hauptwerk Person und Tat unter dem klassischen<br />

Begriff der participatio anspricht. 6 Sie macht „die Eigentümlichkeit der Person<br />

selbst aus, ihre innere und homogene Eigentümlichkeit, die bestimmend ist dafür,<br />

daß die Person, die ‚gemeinsam mit anderen’ existiert und handelt, als Person<br />

existiert und handelt.“<br />

Im Deutschen wird participatio meist mit „Teilhabe“ wiedergegeben. Doch<br />

bringt ‚Habe’ den Geschehens- und Beziehungs-Charakter des Gemeinten kaum<br />

zum Ausdruck. Statt um ein Haben (zumal, wenn nur als Besitzen verstanden)<br />

geht es um Geben und Nehmen. Gelebt wird solches Teilgeben und -nehmen in<br />

gegenseitigem Austausch.<br />

Damit aber stellt sich in neuer Schärfe die Frage nach dem Selbst und seinem<br />

Selbstand. – Der Mensch hat durch eigenes Handeln wirklich zu werden. Ernst<br />

361


und Gewagtheit dieser Situation waren ihm wohl – in unterschiedlicher Weise –<br />

immer bewußt. Aber heute drängen sie sich dem Bewußtsein besonders notvoll<br />

und ängstigend auf. Darin liegt die Chance höherer Wachheit, doch auch die<br />

Gefahr einer spezifischen Beirrung: überwacher Selbst-Befangenheit.<br />

So unumgänglich das Bisherige war: gehen wir – endlich – die Thematik<br />

„Selbstverwirklichung“ direkt an, mit der Eingangsfrage: Ist Wirklich-werdendurch-sich<br />

dasselbe wie Sich-Verwirklichen? „Macht“ der Mensch sich, oder<br />

wird er nicht so (durch sich selbst), daß er anderes macht?<br />

362<br />

III. Statt Selbstverwirklichung: Realisierung des eigenen Auftrags<br />

1. Zuerst ein psychologischer Wink. Jede Verwirklichung – als die von Möglichkeiten<br />

– bedeutet zugleich die „Verunmöglichung“ von solchen. Möglich ist ja<br />

immer etwas und (zumindest) dessen Gegenteil; verwirklicht werden aber kann<br />

konkret nur dieses oder jenes, und zwar so, daß eben dadurch das Entfallene<br />

zugleich unmöglich wird. Wer den „Kuchen ißt“, kann ihn nicht aufbewahren.<br />

Dies nun führt in der Perspektive der Selbstverwirklichung dazu, daß eben dem<br />

Selbst unauskömmlich der Schatten der Selbst-Verunmöglichung folgt. Anders<br />

gesagt, wird hiermit – zwar ohne Absicht, doch nicht weniger wirksam – „unglückliches<br />

Bewußtsein“ vorprogrammiert; mag dies dann – eher larmoyant –<br />

davon sprechen, daß, der ich bin, traurig den grüße, der ich hätte werden können,<br />

7 oder mag es – eher heroisch – eine Theorie „tragischer Existenz“ entwerfen.<br />

2. Sodann – auch dies psychologisch – handelt es sich beim Modell der „Selbstverwirklichung“<br />

um eine „zweistellige“ Relation: um eine Beziehung nur zwischen<br />

„Ich“ und „mich“. Das übrigens auch dann, wenn man – aufgrund der<br />

ersten Überlegung – „Selbstverwirklichung“ durch „Selbstfindung“ ersetzt. Noch<br />

vor einem Blick auf das Verhältnis der sozialen Dimension zu diesem Selbst<br />

erhebt sich die Frage, ob das Selbst an und für sich denn die Mühe seiner Ve rwirklichung<br />

(salopp gesagt: schon die des Sich-Bückens nach sich) wert sei.<br />

Nur blindeste Naivität dürfte von solchem Zweifel unbetroffen bleiben. Natürlich<br />

kann man von veröffentlichter Meinung hören, die Verwirklichung als solche<br />

wiege alle Kosten (vor allem anderer?) auf – unabhängig von dem, wer oder<br />

was da verwirklicht werde. Vielleicht braucht es umgekehrt nur ein Stück bewahrter<br />

– oder besser: wiedergewonnener? – Naivität (der des Kindes in Andersens<br />

Märchen), um solchen Normenzwang seinerseits zu durchschauen.<br />

Dreistellig wird die Selbst-Relation, wenn man dieses Verhältnis als den Aufruf<br />

zur Selbst-Annahme auffaßt. „Die Annahme seiner selbst“ 8 hat nämlich auch und<br />

sogar vor allem die Instanz im Blick, von der her ich mir – nicht gleich aufgegeben,<br />

sondern erst einmal – gegeben bin: mir und den anderen.<br />

Eine Gabe hat zu und vor ihrem Selbstwert ihren bestimmenden Wert in ihrem<br />

Gabe- und Gegebensein. So ist die quälende Dialektik von Selbstwert- und Unwertbilanzen<br />

(von Selbstüberschätzung und „Minderwertigkeitskomplex“) durch<br />

den Blick über sich selbst hinaus überwunden: ohne daß solches „Absehen von


sich“ in funktionalistischen Selbst-Verlust entartet. Denn was der Mensch hier<br />

annimmt, ist ja eben er selbst.<br />

Er wird sich gegeben; und er darf von dorther „annehmen“ – im Doppelsinn des<br />

Wortes –, daß er annehmbar ist. So aber nicht bloß für sich, sondern auch für die<br />

anderen. Denn der Mensch wird niemals bloß sich, sondern darin zugleich anderen<br />

gegeben. Hier tut sich die Möglichkeit auf, daran nicht verschämt als einer<br />

Zumutung für die andern zu leiden – und dies mit dem Leiden an einer angeblichen<br />

Zumutung für sich selbst zu kaschieren; sondern es wird möglich, diese<br />

„condition humaine“ gelassen hinzunehmen, ja sie aktiv mitzuvollziehen: sie<br />

mitzuverwirklichen.<br />

3. Damit aber verwirklicht der Einzelne nicht so sehr sich – obwohl er selbstverständlich<br />

darin seine Wirklichkeit erwirkt – , als vielmehr sein Gegeben-Werden,<br />

sein Da-Sein für die anderen. Er „realisiert“, d. h. er erfaßt, und er „realisiert“, d.<br />

h. er erfüllt seinen Auftrag. Früher hat man dies „Sendung“ genannt; Martin<br />

Luther hat es als Theologie des „Berufs“ entfaltet; Heidegger spricht – in Aufnahme<br />

des Wort-Sinns – von Geschick. Heute scheinen diese Wörter vielen zu<br />

groß und vor allem durch Mißbrauch unverwendbar geworden.<br />

Nun sollte man dem Mißbrauch nie das letzte Wort belassen. Sonst würde im<br />

Endeffekt mit den Wörtern auch die Menschlichkeit verunmöglicht, die sich in<br />

ihnen ausspricht – gilt für ein Wesen der Sprache wie den Menschen doch in<br />

erheblichem Maß die Einsicht Stefan Georges, daß „kein ding sei wo das wort<br />

gebricht“.<br />

Was aber die „Größe“ der Wörter betrifft, so kann – und soll der Christ sowohl<br />

den Individualisten, welcher mit Protagoras den (Einzel-)Menschen zum „Maß<br />

aller Dinge“ erklärt, wie den Kollektivisten, demzufolge „der (gesellschaftliche)<br />

Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ ist, 9 nach der Rechtfertigung<br />

solcher Einschätzung fragen. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um die<br />

Logik jener Enttäuschung nachzuvollziehen, die gleichermaßen elitäres<br />

Selbstbewußtsein in Selbstekel umschlagen läßt wie egalitäre Beglückungsprogramme<br />

in Menschenverachtung.<br />

Gleichwohl sei für die gewichtigen Wörter „Sendung“, „Auftrag“, „Geschick“<br />

oder ähnlich ein unauffälligeres vorgeschlagen (auch es ist freilich bereits ins<br />

Gerede gekommen): das Wort „Sinn“. Was fachlich „Sinnfrage“ heißt, wird<br />

umgangssprachlich oft mit „Warum?“ ausgedrückt. Gemeint ist aber nicht wirklich<br />

„Warum?“, die Frage nach den (Wirk-)Ursachen, der Herkunft und dem<br />

Zustandekommen von etwas, sondern „Wozu?“: nach Ziel und Zukunft. Im Wozu<br />

fragt der Mensch – jeder einzelne – nach seinem Wozu, also nach sich. Aber<br />

er fragt zugleich auch über sich hinaus: nach seinem Wozu.<br />

„Wozu“ bedeutet hier nicht Zweck, was die Person zum Mittel herabsetzen würde.<br />

(Mittel ist, was seinen Sinn durch sein Verbrauchtwerden erfüllt.) Das heißt<br />

konkret: Ein Mensch ist weder da, um Kinder aufzuziehen noch um der Gesellschaft<br />

zu dienen – oder auch der Zukunft der Menschheit als solcher –, noch<br />

wird er geboren, um die Rente der älteren Generation zu verdienen. Er ist seinetwegen<br />

da, als „Selbstzweck“; aber das heißt anderseits mitnichten: bloß für<br />

363


sich. Erfülltes Leben findet nur, wer seinen Sinn erfüllt. Und welchen Dienst<br />

leistet hierbei Jesu Grundformel „... wie dich selbst“?<br />

364<br />

IV. Basis aller Liebe die Liebe zu sich?<br />

1. Wäre zuerst an die Fußnote Kants zu erinnern? Ähnlich wie dort schreibt der<br />

Rabbiner H. I. Grünewald, die gebotene Liebe müsse „von dem Umfang der<br />

Eigenliebe, die ich mir selbst zugestehe“, überhaupt „von meiner Person unabhängig“<br />

werden, um der göttlichen Forderung zu entsprechen.. 10 Darum scheint<br />

mir in der Tat die bekannte jüdische Wiedergabe des Urtextes (Lev 19, 18: kamôka)<br />

treffender als die uns durch Septuaginta, Vulgata und Luther überkommene:<br />

„den Nächsten – dir gleich (= er ist wie du)“. 11<br />

2. Doch ist dem zuvor noch eine andere Beobachtung am Urtext bedeutsam,<br />

insbesondere wenn wir das Levitikus-Wort mit jenem anderen Gebot zusammenlesen,<br />

mit dem Jesus es verbunden hat (und diese Verbindung ist offenbar seine<br />

ureigene Leistung): dem Schema Israel (Dtn 6, 4ff) „Höre Israel,... Liebe den<br />

Herrn, deinen Gott...“ An beiden Stellen begegnet das selbe Verb ahab (= lieben);<br />

in seiner Folge aber steht ‚Gott’ im Akkusativ, der Nächste im Dativ: „Sei<br />

dem Nächsten gut wie dir (du).“<br />

Geboten wird hier also Freundschaftlichkeit und Wohlwollen, nicht bloßes Tun,<br />

sondern auch ein Gesinntsein, ja Affekt – um es ausgerechnet mit I. Kant zu<br />

sagen: „Den Nächsten lieben heißt: alle Pflichten gegen ihn gerne ausüben“<br />

(wobei die Betonung von ihm stammt). 12 – Aber ist das schon Liebe? Oder genauer<br />

– denn warum soll es dies nicht sein? –: liegt hier die Spitzenbestimmung<br />

von „Liebe“?<br />

Die sehe ich in einem doppelten: ästhetisch in Fest und Feier selbstvergessenen<br />

Entzückens, ethisch in Leben und Sterben für jemand. Wie nun steht es bei diesen<br />

Spitzenbestimmungen für den Bezug auf sich selbst? So sehr ein Mensch –<br />

aus der „Annahme seiner selbst“ – mit sich befreundet sein sollte, so fände man<br />

ein Entzücktsein von sich doch wohl mit Recht komisch. 13 Wo aber jemand<br />

ernstlich (nur) für sich leben und sterben wollte, wäre m. E. die Komik verlassen;<br />

das wäre tragisch. Selbstliebe in diesem Sinn wäre demnach tragi-komisch.<br />

Die „goldene Regel“ gibt uns also eine Maßangabe, 14 keinen, wie schon Kant<br />

erklärte, Grund. Darum begründet sie keinen Vorrang der Liebe zum Selbst.<br />

Vielmehr wäre sie nüchterner einfach als Forderung zur Unparteilichkeit zu<br />

lesen: Ziehe dich nicht vor, bloß weil es um dich geht! 15<br />

3. Nun aber - nicht zuerst, sondern diesmal zuletzt – die Psychologie: Müßte man<br />

trotz allem nicht erst einmal mit sich selbst im reinen sein, um anderen wohl zu<br />

wollen?<br />

Dazu setze ich gerade bei der Schwierigkeit an, auf die sich die Rückfrage stützt.<br />

Droht nämlich nicht gerade „jenseits von Eden“, aufgrund der Probleme mit der<br />

Annahme seiner selbst, die Gefahr, daß der Mensch sein Leben lang in „Beziehungsarbeit“<br />

mit sich selbst verstrickt bleibt – um dann auf dem Sterbebett zu<br />

erkennen, daß er spätestens jetzt mit der Nächstenliebe anfangen sollte?


Oben wurde bereits erwogen, daß ein rechtes Verhältnis zu sich nicht „zweistellig“<br />

erreichbar ist, sondern einzig („dreistellig“) aus Selbst-Entgegennahme<br />

wachsen könnte. Was aber – dies jetzt der springende Punkt der Argumentation –<br />

macht diese Selbstannahme möglich? 16<br />

Tatsächlich kann bei seinen Grenzen und Mängeln ein Mensch sich nur akzeptieren,<br />

wenn er sich akzeptiert finden durfte. Er braucht die Annahme seiner vom<br />

anderen her. Die jedoch ist ihrerseits zu akzeptieren, und das verlangt, dem Gegenüber<br />

zu trauen.<br />

Einzig derart vermag man dem andern sich selbst zu glauben, d. h., ihm zu glauben,<br />

man sei wirklich so annehmbar, wie er sagt. Man setzt bei ihm also 1. Urteilskraft<br />

voraus, und 2., wichtiger, guten Willen mit Aufrichtigkeit. Wie aber<br />

irgendwen für ehrlich und liebevoll halten, wenn man ihn nicht liebt?<br />

Darum zuerst das Liebesgebot des Schema. Immer wieder hört man, es sei widersinnig.<br />

Dabei steht es so, daß Liebe einzig von Liebe erkannt und anerkannt<br />

werden kann. Sonst erscheint sie zwangsläufig als Aufdringlichkeit, Bemächtigungswille,<br />

neurotische Schwäche... Darum verlangt einfach Gerechtigkeit, der<br />

sich schenkenden Liebe mit dem Blick der Liebe zu begegnen. (Was selbstverständlich<br />

nicht heißt, auf eine Liebeserklärung gebe es nur ein „Ja“.)<br />

Es reicht also nicht, daß jemand uns liebt; wir müssen ihn wieder-lieben. Statt<br />

ihn nur als „gut für uns“ zu nehmen, müssen wir „ihm gut“ sein. – Das Wohlwollen-für-sich-selbst<br />

weist zurück auf das für andere.<br />

Vielleicht etwas umwegig, dieser Schluß? Dafür aber, meine ich, zwingend. Ein<br />

unverbildeter Sinn allerdings braucht ihn nicht. Dem nämlich ist es klar, was<br />

soeben über die Spitze von Liebe – „ästhetisch“ und „ethisch“ bedacht worden<br />

ist.<br />

V. Leben ist Lieben – und deren Geist Freigebigkeit<br />

1. Die Überschrift ist natürlich ein wenig Goethe entliehen, 17 doch schöpfungsphilosophisch<br />

vertieft. So zu lieben ist nämlich stets Antwort. Vertrauen „schenken“<br />

wir nur jemandem, der es uns „einflößt“. – Biblisch: „Nicht darin besteht<br />

die Liebe, daß wir (sehnend?) Gott geliebt haben, sondern daß Er uns geliebt...“<br />

(1 Joh 4, 10). Das ist – statt „erbaulich“ – schlicht wahr: Wir konnten Ihn nicht<br />

lieben, weil es uns nicht gab. Aus nichts heraus hat uns Gott ins Leben gerufen.<br />

Und zwar – gegen jede mythologische Verkleinerung des Wunders (auch von<br />

Theologenseite) – gänzlich ungenötigt.<br />

Gott brauchte uns nicht, und er wäre um nichts weniger göttlich und liebend,<br />

hätte er uns nicht geschaffen. Hingabe und Austausch nämlich spielen seit je in<br />

Gott selbst zwischen Vater, Sohn und Geist. 18<br />

Unser Ursprung liegt nicht in Mangel und Sehnsucht, sondern in reiner Freigebigkeit,<br />

purem Gönnen. In göttlicher Großmut, die „Mit-Liebende will“ (J. Duns<br />

Scotus).<br />

365


Auf solche Großherzigkeit – das ist jetzt nicht mehr Philosophie – hat das Geschöpf<br />

statt mit Dank und Vertrauen mit Mißtrauen reagiert. Weil es sich – unvermeidlich<br />

– begrenzt fand, gab es dem Argwohn Raum, zu kurz zu kommen,<br />

und stahl die Frucht, die es sich hätte schenken lassen sollen. Gott aber widerruft<br />

seine Zuwendung nicht. Das Wort aus dem Johannesbrief wurde nicht ganz zitiert;<br />

er fährt fort: „... daß Er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat“. Das<br />

Schöpfungs-Ja besiegelt Gott durch die Neuzusage seiner selbst. Sie lebt unser<br />

Bruder und Herr Jesus Christus in Wort und Tat getreu bis zum Tod, den ihm die<br />

mörderische Angst des Kleinglaubens antut. So ist das Siegel der Schöpfung ihre<br />

Erlösung, und wir haben doppelt Grund, zu lieben.<br />

2. Doch nun wieder philosophisch: Jemanden lieben besagt, seine „Schwächen“<br />

teilen. Gottes Schwäche ist unbegreiflicherweise der Mensch. Darum folgt aus<br />

der Liebe zu Gott die zu uns selbst wie zum Nächsten. Beides eingebettet in das<br />

Antwort-Ja zu Gott – und bleibend Ihm verdankt. 19<br />

Wenn (Pastoral-)Theologen, welche „die Menschen dort abholen wollen, wo sie<br />

stehen,“ immer häufiger den Begriff der Selbstverwirklichung übernehmen,<br />

unterschätzen sie vielleicht nicht bloß die bekannten aktuellen Konnotationen,<br />

von denen man sich ja absetzen kann, sondern auch die Eigendynamik des Wortes<br />

selbst, also die Bestimmungskraft der (egozentrischen) Perspektive, in der es<br />

spricht. Knapp und deutlich lesen wir bei Gottfried Benn: „Vollende nicht deine<br />

Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke.“ 20<br />

Werk ist Antwort – auf die Namenssehnsucht der Geschöpfe, die gesehen und<br />

benannt werden wollen – nicht zu ihrer besseren Verfügbarkeit für das Selbst,<br />

sondern in selbstvergessenem Lob ihres Da- und So-seins. 21 Derart aber zeigt das<br />

Werk nur überdeutlich, was humane Weltbegegnung überhaupt ist. Statt die<br />

Sinne als „Fühler“ unserer Lebensbedürfnisse zu verstehen, als Instrumente des<br />

Ausgriffs und der Aneignung, hätten wir sie als Organe der Offenheit für die<br />

Dinge, der Anrührbarkeit durch sie und des Betroffenwerdens von ihnen zu sehen:<br />

als Stellen und Weisen der Aufnahme dessen, was ist. Darum ist vollends im<br />

Geist nicht Behauptung, Konstitution oder Konstruktion das Grundlegende; auch<br />

nicht die Frage, welche man dem – tiefer lotend – entgegengesetzt hat, sondern<br />

die Antwort angerufener Freiheit (und so noch die Frage als Antwort – siehe<br />

Parzival in der Gralsburg). 22<br />

3. Ist so aber Antwort, wie nun wiederholt erinnert, Annahme des Aufgenommenen:<br />

der Weltdinge, des anderen, ja des eigenen Selbst, dann ist schließlich zu<br />

sehen, daß sie nicht bloß dem Empfangenen gilt. – Hier liegt der Hauptgrund für<br />

meinen Vorbehalt gegenüber der Parole „Selbstverwirklichung“. Der Ich-Zirkel<br />

dieses Worts (wie jenes älteren Programmworts christlicher Erziehung, gegen<br />

das es sich vor allem wendet: „Selbstverleugnung“) wird aufgebrochen im Dank,<br />

der etwas (jemanden, das Selbst) von jemandem annimmt – und darin den Geber<br />

selbst.<br />

„Der Begriff des Dankens oder der Erkenntlichkeit fällt mit jenem der Anerkennung<br />

der Gegenwart des Gebers in der Gabe zusammen... Der Geber ist nicht die<br />

Gabe, und diese nicht jener, und doch gibt der Geber in der Gabe sich selber,<br />

366


insofern er liebt, und der Empfänger empfängt den Geber in der Gabe, insofern<br />

er ihn liebt.“ 23<br />

Machen solche Sätze nicht aufs schlichteste klar, um welche Dimensionen man<br />

Menschen bringt, die man – sei's auch nur vorläufig – in der Lust- und/oder<br />

Leistungsperspektive von „Selbstverwirklichung“ aufhält, statt ihnen sogleich<br />

das Fenster dieses Ausblicks in die Weite aufzutun?<br />

Um Abstinenz und Selbstverleugnung geht es tatsächlich nicht: Denn ein Geschenk<br />

wird gegeben, um angenommen zu werden, und es ist – einfach als solches<br />

– kostbar. So soll ihm das Leuchten auf dem Antlitz des Empfangenden<br />

erwidern. – Gleichwohl vergißt im „Wohlverhalten als Beschenkter“ der Empfänger<br />

sich wie das Erhaltene im Aufblick zum Geber: denn der Dank ist selber<br />

Gabe; gelebtes Leben sagt Austausch. 24<br />

Anmerkungen<br />

1) W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt/M. 8 2001; Schönes Leben? Einführung<br />

in die Lebenskunst, Frankfurt/M. 4 2001. – „Das Dilemma der Freiheit anerkennen.“<br />

Ein Gespräch mit dem Philosophen Wilhelm Schmid über Lebenskunst in der Moderne,<br />

in: HK 56 (2002) 342-346.<br />

2) A/B 68: Werke in sechs Bänden (W. Weischedel), Darmstadt 1963, VI 62.<br />

3) Sth I-II 108, 1 ad 2; II-II19, 4; ScG II 48; IV 22.<br />

4) Vom lebendigen Gott, Mainz ; o. J., 54.<br />

5) Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, München 5 1966, 524.<br />

6) Person und Tat, Freiburg 1981, 312. Vgl. ders, Person: Subjekt und Gemeinschaft, in:<br />

K. Wojtyla / A. Szostek / T. Styczen, Der Streit um den Menschen, Kevelaer 1979, 11-68,<br />

56ff.<br />

7) Da fühl' ich denn mich schaudernd, wie niemals noch, allein. Und der ich bin, grüßt<br />

trauernd, den, der ich könnte seyn! F. Hebbel, SW, Berlin 1901-07, VII 301 (später zurückgezogene<br />

Strophen).<br />

8) R. Guardini, Die Annahme seiner selbst, Würzburg 1960. Vgl. S. Kierkegaard, Die<br />

Krankheit zum Tode (SV XI 128): „Indem er sich zu sich selbst verhält, und indem es es<br />

selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat.“<br />

9) K. Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Werke, Darmstadt<br />

51972, I 497 (zum Klammerzusatz: I, 595f, 605-607).<br />

10) Die Lehre Israels, München-Wien 1970, 148-152, 149.<br />

11) So umginge man die Fatalität, daß wir uns selbst nicht leiden können – um dann den<br />

Nächsten zu lieben wie uns. Der modisch exzessiven Berufung auf Sir 14, 5 indes („Wer<br />

sich selbst nichts gönnt, wem kann der Gutes tun?“) wäre schlicht mit der Rückfrage zu<br />

begegnen, ob nicht auch einiges für die Umkehrung spreche: Wer andere schlecht behandelt,<br />

kann der sich selber wohltun?<br />

12) Kritik der prakt. Vernunft: Werke (Anm. 2) IV 205.<br />

13) Übrigens ist nicht Narziß dessen Muster; denn sich zu erkennen hätte ihn gerettet.<br />

14) Und schon die verlangt Diskretion. Es ist mehr als ein Scherz, wenn G. B. Shaw die<br />

Gegen-Regel aufgestellt hat: „Die goldene Regel: Was du willst, daß man dir tu, das füge<br />

367


keinem andern zu: der Geschmack ist verschieden.“ Aphorismen für Umstürzler: Vorreden<br />

zu den Stücken, Zürich 1947, I 231.<br />

15) B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile, Düsseldorf 5 1980, 79-88 (Nächstenliebe<br />

und Selbstliebe); Goldene Regel: 89-106.<br />

16) Ich nehme dafür Gedanken auf aus: Gott-ergriffen. Grundkapitel einer Religionsanthropologie,<br />

Köln 2001, Kap. 4, III (Lieben).<br />

17) Buch Suleika, Artemis-Ausg. 3, 356: „Denn das Leben ist die Liebe / Und des Lebens<br />

Leben Geist.“<br />

18) „Wenn später die Neuscholastik lehrte, die ‚natürliche Vernunft’ könne es zum Gedanken<br />

eines einpersönlichen Gottes bringen, so ist diese Lehre unvereinbar mit dem Gedanken<br />

einer freien Schöpfung. Ein einpersönlicher Gott hätte nämlich endliche Personen<br />

zu seinem notwendigen Korrelat.“ R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied<br />

zwischen ‚etwas’ und ‚jemand’, Stuttgart 1996, 36. Ebd. 49: „Der philosophische<br />

Monotheismus ist daher immer ambivalent. Wenn er nicht trinitarisch wird, dann tendiert<br />

er notwendigerweise zum Pantheismus.“<br />

19) Das Folgende greift Darlegungen auf aus: Zur Antwort berufen. Zeugnis aus christlichem<br />

Stand, Köln 2002, Kap. 1, IV (Selbstsein in Antwort).<br />

20) Ges. Werke in zwei Bänden, Wiesbaden 1968, II 1404 (Der Ptolemäer). – Das hier<br />

„produktions-ästhetisch“ Gesagte gilt ebenso rezeptions-ästhetisch. Ein wenig spitz gefragt:<br />

Muß man nicht Pädagoge, Psycho- oder Pastoraltheologe sein, um jemandem einen<br />

Film, eine Ausstellung, ein Buch oder eine Gebetsübung zur Selbstverwirklichung zu<br />

empfehlen, statt weil sie den „Einsatz lohnen“, die „Mühe wert“ sind – es einfach „verdienen“,<br />

zur Kenntnis genommen zu werden (und weil man es dem anderen gönnt und<br />

wünscht, eben diese Erfahrung zu machen)? Pflichtlektüre wäre hier C. S. Lewis, Über<br />

das Lesen von Büchern, Freiburg 1966, mit seiner fundamentalen Unterscheidung zwischen<br />

„Gebrauchen von Kunst“ (ob zur Erholung oder zur „Selbstbildung“) und der<br />

„Aufnahme“ ihrer.<br />

21) Sie „zu sagen, verstehs, / oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals / innig meinten<br />

zu sein... Und diese, von Hingang / lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich<br />

/ traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.“ R. M. Rilke, Neunte der<br />

Duineser Elegien, SW I 718f. – Siehe in weiterem (als so privatmythischem und mythopoietischem)<br />

Ausgriff: H. Kuhn, Dichten heißt Rühmen, in: ders., Schriften zur Ästhetik,<br />

München 1966, 236-264.<br />

22) H. Rombach, Über Ursprung und Wesen der Frage, in: Symposion. Jhb. f. Philos. III,<br />

Freiburg-München 1952, 135-236; E. Coreth, Metaphysik. Eine methodisch-system.<br />

Grundlegung, Innsbruck (1961) ;1980. Siehe dazu M. Heideggers Weg vom herrischen<br />

Zugriff in Sein und Zeit über das Fragen als „Frömmigkeit des Denkens“ (Vorträge u.<br />

Aufsätze, Pfullingen 1954, 44) zu jenem ins Hören gerufenen Nachsagen (Unterwegs zur<br />

Sprache, Pfullingen ;1965, 254, vgl. 70), wie es etwa in seiner Trakl-Auslegung Wort<br />

wird (ebd. 175f).<br />

23) F. v. Baader, SW, Aalen 1963, IV 302 (Verband des intelligenten und des nichtintelligenten<br />

Seins und Wirkens),189 (Sätze aus der erotischen Philosophie).<br />

24) „Wohlverhalten...“: J. Betz, Eucharistie, in SM I 1214-1233, 1214.<br />

Prof. Dr. Jörg Splett lehrt Philosophie an der Philosophisch-Theologischen<br />

Hochschule St. Georgen in Frankfurt a.M. und ist Gastdozent an der Hochschule<br />

für Philosophie in München.<br />

368


Bericht und Gespräch<br />

Ambrosius Esser<br />

Ein neuer Heiliger:<br />

Josemaría Escrivá de Balaguer<br />

I.<br />

Das XX. Jahrhundert hat viele wirkungsvolle Versuche gesehen, das Christentum,<br />

insbesondere die katholische Kirche endgültig auszurotten. Eines der umfassendsten<br />

Experimente dieser Art fand in Spanien statt. Die spanischen Bischöfe<br />

haben in ihrem Brief vom 1. Juli 1937 an die Bischöfe der Welt begründet,<br />

warum sich die Kirche Spaniens auf die Seite des Movimiento gestellt hatte. Es<br />

handelt sich um eines der bedeutendsten Dokumente der spanischen Kirchengeschichte<br />

im 20. Jahrhundert. 1<br />

Aber Spanien ist auch das, was man als einen religiösen Vulkan bezeichnen<br />

könnte. Dies beweisen nicht nur die Scharen seiner Märtyrer, sondern auch viele<br />

andere religiöse Persönlichkeiten, die eine enorme Faszination ausüben, wie z.<br />

B. die Madre Maria Maravillas O.C.D., deren Wunder im Hinblick auf die Heiligsprechung<br />

kürzlich anerkannt wurden. Der Unterschied zu den Vulkanen der<br />

irdischen Wirklichkeit ist, daß die Lavablöcke, die der spanische Vulkan auswirft,<br />

nicht erkalten, sondern ihre Glut fortdauernd ausstrahlen. Josemaría Escrivá<br />

ist einer von diesen Blöcken, deren Ausstrahlung nicht abnimmt. Dennoch ist<br />

es nicht einfach, ihn zu beschreiben.<br />

Ein religiöses Genie hat viele Seiten, aber Josemaría war auch im natürlichen<br />

Sinne ein Genie, das eine Botschaft in diese Welt trug. Deswegen wird es notwendig<br />

sein, wenigstens einige Perioden seines Lebens, denen fundamentale<br />

Bedeutung eignet, zu schildern. Josemaría erblickte das Licht der Welt in Barbastro,<br />

einer aragonesischen Stadt von 7000 Einwohnern und wurde am 13. Januar<br />

1902 getauft. Seine Eltern waren Don José Escrivá y Corzan und Doña<br />

Dolores Albas y Blanc. Der Vater betrieb ein Textilgeschäft, und die Familie<br />

lebte in einem gewissen Wohlstand. Von Josemarías Geschwistern überlebten<br />

die Kindheit nur seine ältere Schwester María del Carmen und der 1919 geborene<br />

Santiago. 2 Durch die Betrügerei eines Geschäftspartners ging die Firma Don<br />

Josés 1914 in Konkurs, und die Familie mußte nach Logroño in der Rioja ziehen,<br />

wo der Vater sich eine neue Existenz aufbaute, allerdings in einem bescheideneren<br />

Rahmen als bisher. Der kleine Josemaría erwies sich als sehr begabt, beson-<br />

369


ders in Arithmetik, Geometrie, Ethik und Recht. Zeitweise trug der Junge sich<br />

mit dem Gedanken, Architekt zu werden. Am 28. Mai 1918 beendigte er seine<br />

Abiturprüfungen. 3 Inzwischen hatte er seine Berufspläne geändert. Die Familie<br />

Escrivá lebte eine traditionelle Frömmigkeit, die aber äußerst intensiv und lebendig<br />

war. Die Schicksalsschläge, die über sie hereinbrachen, der Tod zweier<br />

kleiner Schwestern Josemarías, der Zusammenbruch des väterlichen Geschäfts<br />

vertieften diese Frömmigkeit noch.<br />

Kurz nach dem 9. Januar 1918 sah der junge Mann im Schnee die Abdrücke der<br />

nackten Füße eines Karmeliten, den er später aufsuchte. Er fragte sich unwillkürlich:<br />

„Wenn andere solche Opfer für Gott und den Nächsten bringen, werde ich<br />

etwa nicht fähig sein, ihm irgendetwas zu opfern?“ 4 Josemaría bat P. José Miguel<br />

um seine geistliche Führung. Diese Begegnung entschied über seine Zukunft.<br />

Während er sich nicht entschließen konnte, Unbeschuhter Karmelit zu werden,<br />

stand seine Entscheidung für das Weltpriestertum bereits fest.<br />

370<br />

II.<br />

1. Josemaría studierte Philosophie und Theologie im Priesterseminar von Logroño<br />

und im Seminar San Carlo zu Saragossa. Aus verschiedenen Gründen war<br />

dies eine schwierige Zeit. Darüberhinaus starb am 24. November der Vater Don<br />

José. Am 28. März 1925 erhielt Josemaría die Priesterweihe in der Kirche San<br />

Carlos.<br />

2. Nach einigen Monaten Pfarrdienst in dem Dörfchen Perdiguera bekam Josemaría<br />

eine Seelsorgestelle an der Kirche San Pedro Nolasco in Saragossa, wohin<br />

die Mutter inzwischen gezogen war. Er studierte jetzt Jura an der Universität.<br />

Am 10. März 1927 schloß Josemaría seine Studien vorläufig mit dem Lizentiat<br />

im Zivilrecht ab. 5 Das Doktorat sollte 1939, nach dem Ende des Bürgerkriegs,<br />

folgen. Inzwischen unterrichtete er Recht an einer privaten Akademie, dem Instituto<br />

Amado. Er mußte für seine Mutter und das Brüderchen sorgen. Aber in<br />

kirchlichen Kreisen der aragonesischen Hauptstadt stieß Josemaría auf Widerstand,<br />

insbesondere seitens seines Onkels, des Erzdechanten Carlos Albás. Anläßlich<br />

einer Reise nach Madrid, wo er eines Tages sein Doktoratsexamen würde<br />

ablegen müssen – damals fanden alle Doktoratsexamina an der Zentraluniversität<br />

statt – richtete er seine Blicke auf die Hauptstadt und fand durch die Vermittlung<br />

eines Claretiners eine Meßfeierstelle an der Kirche der Apostolischen Nuntiatur,<br />

San Miguel. Am 19. April, Osterdienstag 1927, traf Josemaría in Madrid ein.<br />

Um Mutter und Bruder, die ihm im November 1927 nach Madrid folgten, ernähren<br />

zu können, gab er wieder Privatunterricht und dozierte an der Akademie<br />

Cicuéndiz Römisches Recht und Kirchenrecht. Die Akademie bereitete auf den<br />

Studiengang Rechtsanwälte vor. Als akademischer Lehrer erfreute er sich großer<br />

Beliebtheit. Gleichzeitig wirkte er als Kaplan in einem Krankenstift, das eine Art<br />

religiös-soziales Zentrum war. 6<br />

Die Grunderfahrung, die Josemaría während seiner enorm vielfältigen Tätigkeit<br />

machte, war die einer ausrinnenden, absterbenden Religion, die in keiner Beziehung<br />

mehr zum täglichen Leben stand. Er kämpfte dagegen an, aber der Prozeß


des Erlöschens des göttlichen Funkens in den Seelen schien unumkehrbar zu<br />

sein. Aber, wie es bei Lk 19,49 heißt, war Christus gekommen, um ein Feuer<br />

anzuzünden auf Erden. Gleichzeitig empfand er das Geschenk vieler Gnaden, die<br />

eine gewisse Auserwählung bedeuten konnten. Er machte darüber Aufzeichnungen,<br />

die er später vernichtete. 7 Er suchte nach einer klaren Sicht der göttlichen<br />

Bestimmung für ihn: „Domine ut videam! Domine ut sit! Herr, laß mich sehen!<br />

Herr, es geschehe!“ „Ich spürte, daß der Herr etwas von mir wollte, ich wußte<br />

nur noch nicht, was es war, und so wiederholte ich, manchmal rufend oder sogar<br />

singend, wie ich es eben vermochte, jene Worte, die ihr sicherlich selbst schon<br />

gesprochen oder zumindest im Herzen erwogen habt: Ignem veni mittere in terram<br />

et quid volo nisi ut accendatur?“<br />

3. Vor Beginn des Studienjahres 1928/1929 wollte Josemaría im Zentralhaus der<br />

Lazaristen (an der García de Paredes-Straße gelegen) an der hl. Messe teilnehmen.<br />

Als er am 2. Oktober 1928 nach der hl. Messe in seinem Zimmer einige<br />

Notizen las, hatte er plötzlich eine innere Erleuchtung. In dem Augenblick läuteten<br />

die Glocken der nahen Pfarrkirche „U. L. Frau von den Engeln“. Wie Josemaría<br />

später schrieb, sah er in diesem Moment die Gesamtgestalt des künftigen<br />

Werkes Gottes-Opus Dei. Gleichzeitig spürte er die Gegenwart Gottes, der von<br />

seiner Person Besitz ergriff. 8 Seine Antwort auf diese Erfahrung war „Serviam!<br />

Ich will dienen!“ 9<br />

Kurze Zeit danach begann Josemaría, synoptische Schemata niederzuschreiben,<br />

in denen er die Grundzüge des Opus niederlegte, die bisher in seinen Notizen<br />

zerstreut waren: Wir wollen, daß Christus regiert, Gott sei jegliche Ehre, alle mit<br />

Petrus zu Jesus durch Maria, Gebet, Sühne, Aktion, Ziele; daß Christus regiere,<br />

mit einem wirklichen Königtum in der Gesellschaft. Wir wollen, daß Christus<br />

regiere... Gott sei jegliche Ehre. Sich selbst heiligen und die Seelen retten...<br />

Geist, Gebet, Sühne, Aktion; Gott und Wagemut. Drei Arten der Liebe: Christus,<br />

Maria, Papst. Ich will dienen! Alles durch die Liebe!“ 10<br />

Die Frage des Namens der neuen Totalbewegung blieb zunächst ungelöst. Aber<br />

eines Tages fragte Josemarías Beichtvater, der Jesuit P. Sánchez diesen: „Und<br />

wie steht es mit diesem Werk Gottes?“ 11 Anfänglich wollte der Vater weder eine<br />

Priester- noch eine Frauenbewegung gründen, sondern eine Bewegung männlicher<br />

Laien. Aber allmählich stießen Priester zu ihm, die bereit waren, ihm auf<br />

seinem Weg der Totalhingabe an das Werk Gottes zu folgen. 12 Der weibliche<br />

Zweig entstand als Folge seines Beicht-Apostolats unter jungen Frauen, ungeachtet<br />

des Abstands, den er stets in einer sehr betonten Weise zu wahren wußte. 13<br />

Von Anbeginn war das Opus Dei eine Gruppe von Menschen, die total entschlossen<br />

waren, sich selbst durch die Heiligung der Welt zu heiligen. Dies ist in<br />

der Tat die Antwort auf die von den Menschen der Moderne zur Zeit der Französischen<br />

Revolution getroffene Entscheidung, die Welt von Gott zu befreien.<br />

III.<br />

Bisher sind wir dem Lebensweg des Vaters in bestimmten Einzelheiten gefolgt.<br />

Natürlich können wir das aus Raummangel nicht durchhalten. Das entscheidende<br />

371


Ereignis im Leben Josemarías war die Vision des Opus Dei mit ihrem erneuerten<br />

Bewußtsein des Auserwähltseins zur Sohnschaft und dem Ideal der totalen<br />

Heiligkeit ohne bürgerliche Kompromisse und schizophrene Teilung zwischen<br />

Religion und Leben in der Welt. Die Grundlagen waren da, obwohl der weibliche<br />

Zweig des Opus Dei und die Priestergemeinschaft noch nicht einen Zustand<br />

der Reife erreicht hatten, durch den sie mit heraufziehendem Sturm hätten widerstehen<br />

können. Josemaría war Kaplan der Schwestern von S. Isabel, Reformierten<br />

Augstinerinnen. Seit dem Josefsfest 1935 bildete die Akademie DYA (Dios y<br />

Audacia oder Derecho y Arquitectura), ein Studentenheim in der Ferraz-Straße,<br />

das Zentrum. 14 Es war eine chaotische Zeit mit oft schweren Gefahren für das<br />

Leben des Vaters und seiner geistlichen Söhne. Seine wichtigsten Waffen bestanden<br />

in Gebet und Bußübungen, mit denen er seine mangelnde Vollkommenheit<br />

oder Heiligkeit zu strafen und auszurotten suchte.<br />

372<br />

IV.<br />

Im spanischen Bürgerkrieg wurden 4184 Weltpriester, 2365 Ordensmänner und<br />

283 Ordensfrauen ermordet. Die Zahl der ermordeten Bischöfe belief sich auf<br />

13. Der Vater stand mit vielen Mitgliedern des Opus auf der Liste und mußte von<br />

einem Versteck zum anderen fliehen. Z. B. lebte er von Oktober 1936 bis März<br />

1937 in der psychiatrischen Klinik des Dr. Suils. 15 Als die Lage dort für ihn<br />

unhaltbar wurde, floh er ins Konsulat von Honduras und begann eine verborgene<br />

Seelsorgstätigkeit. 16 Weil er aber in ständiger Todesgefahr schwebte, beschlossen<br />

seine geistlichen Söhne, ihn in die nationale Zone zu bringen. Josemaría<br />

verschaffte sich falsche Papiere, darunter eine Mitgliedskarte des anarchistischen<br />

Gewerkschaftsbundes Confederación Nacional del Trabajo, der ihm auch einen<br />

Passierschein für eine Reise nach Valencia ausstellte, wo er am 8. Oktober 1937<br />

eintraf. Zwei Tage später befand er sich in Barcelona, wo ihn Pascual Gelbe, ein<br />

ehemaliger Studienkollege, der jetzt Richter der Republik war, unterstützte. 17<br />

Am 19. November begann die abenteuerliche und gefahrvolle Flucht über Seo de<br />

Urgel nach Andorra, das Josemaría und seine Gefährten am 2. Dezember erreichten.<br />

18 Von Januar 1938 bis März 1939 lebte der Vater hauptsächlich in Burgos<br />

und widmete sich dem Wiederaufbau des Werkes.<br />

Die weiteren Stationen seines Lebensweges waren, abgesehen von den zahlreichen<br />

und weiten apostolischen Reisen, Madrid (1939-1946), wo er das Werk<br />

gegen kirchliche, akademische und staatliche Anklagen verteidigen mußte, und<br />

Rom (1946-1975). Die Jahrzehnte brachten die kirchliche Anerkennung des<br />

Werkes und der Priesterlichen Gesells chaft des Hl. Kreuzes, aber auch enorme<br />

Widerstände und Schwierigkeiten. Hinzu kam seit Beginn der 40er Jahre eine<br />

schwere Zuckerkrankheit, die beinahe zur Erblindung des Vaters führte. 19 Sie<br />

verschwand am 27. April 1954 in Folge eines anaphilatischen Schocks 20 , aber<br />

andere Krankheiten blieben.<br />

1. Zweifellos wäre noch unendlich viel zu sagen über Josemaría, seine enorme<br />

Korrespondenz, seine offiziellen Schreiben, Predigten und Veröffentlichungen,<br />

insbesondere „Der Weg“, „Im Feuer der Schmiede“ und „Die Spur des Sä-


manns“, die ihn zu einem der größten Aphoristiker der katholischen Kirchengeschichte<br />

und der kastilianischen Sprache machten.<br />

2. Man wird sich fragen, was eigentlich das Element in der religiösen Lehre des<br />

sel. Josemaría gewesen ist, das ihm und dem Werk den entscheidenden Durchbruch<br />

sicherte. Natürlich nahm er die gesamte Lehre der Kirche an, verteidigte<br />

sie und lehrte sie. Das dürfte jedoch nicht genügen, um die Menschen zu faszinieren.<br />

3.1 Wie für die Menschen der alten Christenheit, so sind auch für den sel. Josemaría<br />

die Dogmen und die Sittenlehre der Kirche sichere Zeichen am Weg, den<br />

der Mensch unter dem Einfluß der Gnade eingeschlagen hat und der in der Seligkeit<br />

des Himmels endet. Es geht um die Wahrheit des Glaubens, ohne den die<br />

Hilfe der Gnade versiegt. Leo Kardinal Scheffczyk hat aufgezeigt, wie die Gnade<br />

die Hauptrolle im geistlichen Leben Josemarías einnimmt, da sie „das aus der<br />

Einheit mit Gott in Jesus Christus strömende Leben erfährt“ und „einen neuerlichen<br />

Antrieb durch den Heiligen Geist und seine Gaben“ erhält. 21 Aber es geht<br />

nicht nur um Selbstheiligung, sondern um die Heiligung der Welt: „Bei der inneren<br />

Verschränkung von Selbst- und Weltheiligung im Konzept der Spiritualität<br />

Escrivás muß die Berufung der Laien zur Heiligkeit, zur Nachfolge Christi und<br />

zum Dienst an Christus, die schon den Getauften den allgemeinen priesterlichen<br />

Charakter verleiht, sogleich auch in eine Form des Apostolats übergehen“. 22 Die<br />

Gnade führt den Menschen zur Herrlichkeit des Himmels: „So ist das Himmlische<br />

die endgültige, nicht mehr steigerungsfähige Vollendung des Gnadenhaften,<br />

die Einigung mit den göttlichen Personen in Liebe, Freude, Friede, Heiligkeit<br />

und Herrlichkeit“. 23<br />

3.2 Kardinal Scheffczyk spricht ausführlich über die Bekehrung und Berufung<br />

des Christen, die beide untrennbar miteinander verbunden sind. 24<br />

4. Aus diesen kurzen Erwägungen wird deutlich, daß der Gnade und mithin ihrem<br />

Schöpfer eine absolut zentrale und fundamentale Rolle zukommt. Der sel.<br />

Josemaría hat das in seiner Lehre von der Filiatio oder Erwählung zur Sohnschaft<br />

oder Kindschaft zum Ausdruck gebracht.<br />

„So wissen wir, daß denen, die Gott lieben, alles zum Guten zusammenwirkt,<br />

denen, die berufen sind, wie er es vorausbestimmt hat. Denn denen, die er vorher<br />

erkannte, hat er auch vorherbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleich zu werden,<br />

der dadurch der Erstgeborene unter vielen Brüdern wird. Die er vorherbestimmt<br />

hat, die hat er auch berufen; die er berufen hat, die hat er gerecht gemacht,<br />

und die, die er gerecht gemacht hat, die hat er verklärt“. 25<br />

Die paulinische Lehre der Auserwählung und Vorherbestimmung hat der sel.<br />

Josemaría erneuert und belebt. Der Gegensatz zur heute noch modischen anthropozentrischen<br />

Theologie ist evident. Ende des Sommers 1931 hatte Josemaría in<br />

der Straßenbahn eine übernatürliche Anrede (locutio), die sich ihm unauslöschlich<br />

einprägte: „in einem ganz bestimmten Augenblick, z. B. flößte der Herr mir<br />

ein tiefes Empfinden der göttlichen Sohnwerdung ein. In menschlich gesprochen<br />

schwierigen Augenblicken, in denen ich außerdem die Sicherheit der Unmö glichkeit<br />

hatte – dessen, was ihr heute als Wirklichkeit Gewordenes betrachtet –<br />

373


spürte ich die Aktion des Herrn, der in meinem Herzen und auf meinen Lippen,<br />

mit der Gewalt einer gebieterischen Notwendigkeit, diese zärtliche Anrufung<br />

sprießen ließ: Abba, Pater“. 26<br />

Am 4. April 1972 sagte der Vater in einem Vo rtrag: „Ich weiß nicht, wohin ich<br />

uns im Gebet führen möchte. Das, was ich sagen will, daß der Herr uns geführt<br />

hat und führt entlang dem Weg der Hingabe an Seinen Willen ... Wie Söhne<br />

klammern wir uns an den Willen Gottes; und wir bewahren und verteidigen den<br />

Frieden und die Freude, um sie den anderen mitzuteilen“. 27 Noch am 27. März<br />

1975, drei Monate vor seinem Tod, am Vorabend seines Goldenen Priesterjubiläums<br />

bekannte Josemaría: „Nach 50 Jahren fühle ich mich wie ein stammelnder<br />

Säugling, ich beginne und beginne immer wieder... Ein Blick zurück ... ein immenses<br />

Panorama ... so viele Schmerzen, so viele Freuden. Und jetzt alles Freude,<br />

weil wir die Erfahrung haben, daß der Schmerz das Hämmern des Künstlers<br />

ist, der aus jedem von uns, aus der formlosen Masse, die wir sind, einen Gekreuzigten<br />

machen will, einen Christus, den alter Christus, der wir sein müssen“. 28<br />

Der Weg der geistlichen Kindheit oder Sohnschaft bedeutet kein frommes, aber<br />

kindisches Gehabe. „Frömmigkeit von Kindern, aber nicht von Ignoranten, denn<br />

ein jeder muß sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemühen, den Glauben<br />

ernst und wissenschaftlich zu erforschen. Genau das ist Theologie.“ Verhält sich<br />

jemand wie ein gutes Kind Gottes, „gelangt er – ohne zu wissen wie noch, auf<br />

welchem Wege – zu einer wunderbaren Vergöttlichung, die es uns gestattet, die<br />

Ereignisse im richtigen Rahmen zu sehen, mit dem übernatürlichen Maßstab des<br />

Glaubens; man bringt es fertig, alle Menschen zu lieben, wie sie der himmlische<br />

Vater liebt und – noch wichtiger – man erlangt neuen Schwung, sich in unserer<br />

täglichen Bemühung dem Herrn zu nähern“. 29<br />

5. Das Bewußtsein in der gnadenhaften Erwähltheit bildet den eigentlichen<br />

Schlüssel zum Verständnis des Vaters und des Opus Dei. Hier handelt es sich<br />

nicht um einen fatalistischen Fanatismus, sondern um eine absolute Sicherheit,<br />

die keine Gewalt benötigt, weil sie auf dem Wirken der göttlichen Liebe beruht:<br />

„L’amor che muove il sole e l’altre stelle“. 30<br />

Anmerkungen<br />

1) Ausführlich erwähnt mit Literaturangaben bei Quintín Aldea Vaquero, Die Kirche in<br />

Spanien und Portugal, in: Hubert Jedin und Konrad Repgen (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte,<br />

Bd. VII, Die Weltkirche im 20. Jahrhundert, Freiburg, Basel, Wien 1979,<br />

S. 616-617.<br />

2) Andrés Vásquez de Prada. Der Gründer des Opus Dei, Josemaría Escrivá. Bd. 1, Die<br />

frühen Jahre, Köln 2001, S. 27, 105.<br />

3) Ebd., S. 100.<br />

4) Romana et Matriten. Beatificationis et Canonizationis Servi Dei Josephmariae Escrivá<br />

de Balaguer Sacerdotis et Fundatoris Societatis S. Crucis et Operis Dei. Positio super vita<br />

et virtutibus. Biographia documentata, Roma(e) 1988, S. 67.<br />

5) Romana etc., S. 192: Doc. 4b.<br />

6) Vásquez, a. a. O., S. 262ff..<br />

374


7) Ebd., S. 279-280.<br />

8) Romana et Matriten, etc., a. a. O., S. 22-223.<br />

9) Ebd.., S. 224.<br />

10) Romana etc., a. a. O., S. 225 n.204.<br />

11) Vásquez, a. a. O., S. 318.<br />

12) Ebd.., S. 422f., 434ff., 532-535.<br />

13) Ebd.., S. 532.<br />

14) Vásquez, a. a. O., S. 515-519.<br />

15) Romana et Matriten etc., S. 441.<br />

16) Ebd.., S. 462-468.<br />

17) Ebd., S. 487-488.<br />

18) Ebd., S. 511.<br />

19) Ebd., S. 681-683: Doc.9.<br />

20) Ebd., S. 1382.<br />

21) Leo Kardinal Scheffczyk, Die Gnade in der Spiritualität von Josemaría Escrivá, in:<br />

César Ortiz (Hrsg.), Josemaría Escrivá. Profile einer Gründergestalt, Köln 2002, S. 57-80;<br />

S. 75.<br />

22) Ebd., S. 70.<br />

23) Ebd., S. 78.<br />

24) Ebd., S. 66-69.<br />

25) Röm. 8,28-30 (Rießler-Storr).<br />

26) Romana et Matriten. Beatificationis etc.. Studium criticum super virtutum heroicitate,<br />

Roma(e) 1988, S. 259.<br />

27) Ebd., S. 259.<br />

28) Ebd., S. 261.<br />

29) Romana et Matriten, etc. Informatio, Roma(e) 1988, S. 64-65 (Voto del 2 Teologo<br />

Censore); vgl. ebd. S. 100-102 und 119 (Voto del 1 Teologo Censore sugli scritti inediti).<br />

30) „Die Liebe, die die Sonne rollt und Sterne“ (Dante, Div. Com., Paradiso, C.XXXIII,<br />

145).<br />

Pater Professor Dr. Ambrosius Esser O.P. ist Generalrelator der römischen<br />

Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen und war zuständiger Relator<br />

im Kanonisationsverfahren von Josemaría Escrivá.<br />

375


376<br />

Hans Thomas<br />

Was ist das Opus Dei?<br />

Moskau, Frühjahr 1980: Der orthodoxe Priester Alexandr Men, in dessen Gemeinde<br />

sich die Intelligentzia sammelt, trifft sich wie oft mit einem Kreis seiner<br />

Getreuen. Vater Alexandrs Ausführungen werden auf Tonband mitgeschnitten:<br />

„Seit einigen Jahrzehnten gibt es im Westen eine Bewegung namens Opus Dei,<br />

Werk Gottes. Es wurde von einem Portugiesen gegründet. Er heißt Josemaria<br />

Escriva. Die Bewegung ist in der Welt weit verbreitet. Escriva hat ein kleines<br />

Buch geschrieben, Der Weg: eine Sammlung von Aphorismen. Ich hoffe, daß<br />

wir es eines Tages übersetzen, damit Sie es lesen können. Escriva sagt, daß<br />

Christsein nicht heißt, ein gut-bürgerliches Leben zu führen wie ein Heide, um<br />

dann Sonntags vielleicht zwei Stunden der geistlichen Erhebung zu widmen.<br />

Christsein bedeute, es immer zu sein, jeden Tag, in den gewöhnlichsten Situationen<br />

und Dingen.“ Vater Aleksandr Men wurde zwei Jahre später ermordet. Seine<br />

eigenen geistlichen Schriften erreichen inzwischen allein in Russisch eine Gesamtauflage<br />

von 6 Millionen.<br />

„Portugiese“: Unter sowjetischen Verhältnissen waren nähere Informationen wie<br />

die, daß Escrivá Spanier war, schwer zu erlangen. Mit einem der damals Anwesenden<br />

traf ich im Januar 2001 in Rom zusammen. Den Moskauer Dichter und<br />

Schriftsteller Aleksandr Zorin hatte Vater Aleksandr Men zum orthodoxen Christentum<br />

bekehrt und 1975 getauft. Alik Zorin hat mir das damalige Geschehen<br />

geschildert. In nachfolgenden öffentlichen Auftritten habe Vater Alexandr Men<br />

offen über Escrivá und die laikale Spiritualität des Opus Dei gesprochen.<br />

Aus Anlaß des 100. Geburtstags des Seligen Josemaría Escrivá richtete im Januar<br />

2002 die Päpstliche Universität vom Heiligen Kreuz in Rom den Internationalen<br />

Kongreß „The Grandeur of Ordinary Life“ aus, bei dem ich einen workshop<br />

zu leiten hatte. Ergänzend zu den philosophisch-theologischen Kongreß-Vorträgen<br />

sollten die workshops den Einfluß der Botschaft des Seligen Josemaría im<br />

praktischen Leben und der beruflichen Arbeit konkreter Menschen sichtbar werden<br />

lassen: von Menschen unterschiedlichster Länder, Lebensbereiche und Berufe,<br />

in unserem Fall: von Künstlern. Titel: „Artistic Creativity“. 1 Der workshop<br />

versammelte Künstler von Moskau bis Vancouver. Zorin trug seine Geschichte<br />

bei.<br />

I. Begegnung mit dem Opus Dei<br />

Alik Zorin konnte bald eine Samizdat-Ausgabe einer russischen Übersetzung von<br />

Der Weg erwerben. Genauer: die Durchschlagpapier-Kopie Nr. 5 einer Schreibmaschinen-Fassung,<br />

noch gerade lesbar, wenn er ein weißes Papier hinterlegte.<br />

Zuerst faszinierte ihn die literarische Dichte der Aphorismen, dann die unkonventionelle<br />

Verbindung von geistlicher Betrachtung und lebenspraktischer Her-


ausforderung. Allerdings, so Zorin, sei ihm ein merkwürdiger Kontrast aufgefallen<br />

zwischen der modernen Direktheit persönlicher Ansprache und den im kirchlichen<br />

Altslavisch zitierten Bibel- und Liturgietexten. Dies habe er aber zunächst<br />

für einen Trick des Verfassers gehalten, um den KGB abzulenken. Mit der alten<br />

Kirchensprache vertraut, würde der KGB den Text gewiß unter „das Übliche“<br />

ablegen.<br />

Zorin hat der Text 20 Jahre begleitet. Er habe, sagt er, Entdeckung um Entdekkung<br />

gemacht. Das Buch habe seine Weltsicht verändert und sein Verhältnis zur<br />

eigenen Poesie revolutioniert. Mit Einführung der Marktwirtschaft sei beispielsweise<br />

Lyrik in Rußland kaum noch verkäuflich gewesen, wurde folglich auch<br />

kaum noch gedruckt. Ein Dichter brauche aber ein Gegenüber, mit dem er im<br />

Dialog stehe, ein Publikum, das ihn legitimiere. Er habe damals begriffen, daß<br />

er, um seine Arbeit zu legitimieren, nicht mehr irgendeines Publikums draußen<br />

bedurfte. Vielmehr sei seitdem sein erstes Publikum und seine Jury jene höchste<br />

Autorität, der er auch sein Talent verdanke, Gott. Dabei erinnert er an die Erzählung<br />

des seligen Escrivá, der in Burgos gern mit den jungen Leuten auf einen<br />

Turm der Kathedrale stieg und sie auf die Filigranarbeit des gotischen Maßwerks<br />

aufmerksam machte, wahre Wunderwerke, die von unten gar nicht zu sehen<br />

waren. 2<br />

„Für mich“ sagt Zorin, „ist Der Weg mehr als Literatur. Er leitet zum Handeln<br />

an, er ist eine Blaupause für die Umsetzung des Evangeliums ins Leben – von<br />

zeitloser Relevanz. (...) Was für Inhalte – so reich, so intim, so vertraut! Ich habe<br />

das Buch zu einem Stück von mir gemacht, zu meinem Ausgangspunkt! Mich<br />

fasziniert sein stenographischer Stil – eine Stenographie des Geistes. Die wollte<br />

ich in meine poetischen Fassungen hineinholen.“<br />

Zorin übertrug Teile von Der Weg in Verse. Der Komponist Yuri Pasternak hat<br />

sie in Ton gesetzt. Vermutlich ist die orthodoxe Gemeinde, der Zorin angehört,<br />

heute der einzige Ort, wo Texte aus Der Weg gesungen werden.<br />

Anfang der 1990er Jahre konnte man mitunter in der Presse von angeblich aufregenden<br />

strategischen Konzepten des Opus Dei in Osteuropa lesen. Der Wirklichkeit<br />

näher ist der Fall Alik Zorins, exemplarisch auch sein Wunsch nach näheren,<br />

auch persönlichen Kontakten. Er ist nicht der einzige. Nicht wenige Bischöfe in<br />

Ländern Osteuropas tragen den Wunsch vor, das Opus Dei möge in ihren Diözesen<br />

tätig werden. Es gibt bislang keine Niederlassung der Prälatur in Rußland,<br />

aber mehr oder minder regelmäßige Reisen eines Laien und öfter auch eines<br />

Priesters von Helsinki nach Moskau und St. Petersburg. An einem Pontifikalamt<br />

von Erzbischof Kondrusiewicz zu Ehren des Seligen Josemaría in der St. Ludwigs-Kirche<br />

in Moskau im Januar 2002 nahmen 400 Personen teil. Alik Zorin<br />

war so überrascht wie erfreut.<br />

Also: Was ist das Opus Dei? Ich nehme mir einfach heraus, hier gar nicht zu<br />

erklären, was eine Personalprälatur ist. Es ist zwar interessant und wichtig, weil<br />

in dieser vom II. Vatikanischen Konzil angestoßenen rechtlichen Neuschöpfung<br />

das Opus Dei eine seinem Wesen gemäße Einordnung in die Struktur der Katholischen<br />

Weltkirche gefunden hat. Es hat aber z. B. bei meiner Begegnung mit<br />

377


dem „Werk“ keine Rolle gespielt. Sollte jemand Zweifel haben, wie denn die<br />

katholische Kirche als solche nun eigentlich zum Opus Dei steht, mag der Hinweis<br />

darauf genügen, daß Papst Johannes Paul II. den Gründer am 6. Oktober<br />

heiliggeprochen hat. Es sei denn, der Zweifel bezieht sich mehr als auf das Opus<br />

Dei auf die Kirche selbst.<br />

Bei mir selbst war es anders als bei Alik Zorin. Ich habe nicht zuerst Schriften<br />

des Gründers noch etwas über das Opus Dei gelesen. Ich bin, wenn ich ehrlich<br />

bin, auch gar nicht dem Opus Dei begegnet. Ich habe nur einige Personen kennengelernt.<br />

Wir wurden Freunde. Natürlich haben sie mir vom Opus Dei, von<br />

„Berufung“, von Hingabe mitten in der Welt erzählt. Das fand ich gut, aber eher<br />

etwas für meinen Bruder Rolf, der für solche Dinge schon immer mehr „Antenne“<br />

gehabt hatte. Katholisch war ich allerdings auch, und der Glaube war mir<br />

auch keineswegs gleichgültig.<br />

Diese Freunde haben mich beeindruckt, vor allem einer. Und zwar mit meist<br />

ganz einfachen Dingen. Zum Beispiel steht der mitten in einer Unterhaltung oder<br />

während der Arbeit im Labor plötzlich auf und sagt: Es ist zwölf, beten wir den<br />

Engel des Herrn? Vielleicht hätte es gar keinen besonderen, sogar einen absonderlichen<br />

Eindruck auf mich gemacht, wenn ich ihn nicht als ein regelrechtes<br />

„Arbeitstier“ gekannt hätte und dennoch oft für mich soviel Zeit hatte, als hätte<br />

er kaum etwas zu tun. Fast immer gut gelaunt, steckte er mit seinem Optimismus<br />

an, ja feuerte an. Dinge, die mich bedrückt hätten, schien er einfach wegzustekken.<br />

Religiöse Gespräche waren häufig - und immer sehr persönlich. Er war<br />

hartnäckig. Ich auch. Lange Zeit. Irgendwann fing die Sache an, mich „zu kratzen“.<br />

Dem Kontakt lieber aus dem Weg gehen? Feigheit! Denn das war mir klar:<br />

Nicht er, der Georg, war es, der mich „kratzte“. Derjenige, der „kratzte“, kratzte<br />

jedenfalls schließlich mit Erfolg. Dafür bin ich aber auch dem Georg noch heute<br />

dankbar.<br />

Offenbar bin ich kein Sonderfall: In North-Vancouver, Canada, lebt Arnold Shives.<br />

Er ist Maler. Seit er 1972 katholisch wurde, sagt er, habe er zwar gebetet,<br />

aber seine Malerei habe damit und mit seinem Glauben irgendwie nichts zu tun<br />

gehabt. Das sei ihm selbst aufgefallen und habe ihn gestört. Im katholischen<br />

Milieu habe er dann den Eindruck gewonnen, eigentlich sollte er vielleicht auf<br />

religiöse Malerei umschalten. Dagegen habe er andererseits instinktiv eine Abneigung<br />

entwickelt. Irgendwie habe er gespürt, daß dies weder der Kunst noch<br />

dem Glauben gerecht werde. Von den Leuten vom Opus Dei, die er dann kennenlernte,<br />

hätte tatsächlich niemand ihm je gesagt, es sei besser, sich an religiösen<br />

Themen zu versuchen, geschweige denn einen Rat in die Richtung gegeben.<br />

Vielmehr habe er durch sie begriffen, daß es darum gehe, in seiner gewohnten<br />

Atelierarbeit wie im sonstigen Alltagsleben Gott näher zu kommen und Umgang<br />

mit ihm zu pflegen.<br />

378<br />

II. Im Alltäglichen das Göttliche entdecken<br />

Als Neubekehrter habe er an mancher Unordnung nicht nur in der Gesellschaft<br />

allgemein, sondern auch unter Katholiken Anstoß genommen. Das habe eine


Sympathie für Traditionalisten heraufbeschworen. Dank der Freunde vom Opus<br />

Dei sei er auch aus diesem ungesunden Dunst bald herausgewesen. Zwei Entdekkungen<br />

hätten ihm dabei geholfen: Daß seine Arbeit nach den Worten des Heiligen<br />

Josemaría „der Angelhaken unserer Heiligung“ ist, und daß er bei allem<br />

persönlichen Ungenügen dennoch Kind Gottes sei. Das sei wie klares, sonniges<br />

Wetter. Aber lassen wir ihn selbst sprechen: „Besonders ermutigend fand ich die<br />

Lehre des Seligen Josemaría, was die Arbeit und die Freiheit anlangt. Er schob<br />

beiseite, was er treffend ‚mystisches Wunschdenken’ nannte und half mir, Praxis<br />

und Theorie zusammenzubringen. (...) Der Kampf mit dem Endziel der theologischen<br />

Tugenden wird so menschlich: er beginnt und endet mit Sportsgeist. Ich<br />

lernte, oft Stoßgebete einzustreuen, z. B. das dem Seligen Josemaría so beliebte<br />

‚nunc coepi’: Jetzt fange ich an.“<br />

Darauf angesprochen, ob er Veränderungen in seinem Arbeitsrhythmus oder<br />

Tagesablauf festgestellt habe, erzählt Arnold als erstes, daß ihn die Warnung des<br />

Seligen Josemaría vor einer „bourgeoisen Mentalität“, vor jeglicher Verspießerung,<br />

gleich begeistert habe. Als Künstler sei ihm natürlich ein Hang zur Bohème<br />

und zum Chaotischen vertraut. Der Schlachtruf der modernen Künstler<br />

„épater la bourgeoisie“ stecke auch ihm in den Knochen. Das Bemühen darum,<br />

bei aller Arbeit Zeit für das Gebet und ein Leben mit den Sakramenten zu finden<br />

und auch die Familie nicht zu vernachlässigen, habe aber seinen Arbeitsstil – oft<br />

bis spät in die Nacht – revolutioniert. Er habe einfach Ordnung in seinen Tagesablauf<br />

bringen müssen. Erste Frucht: ein Stunde mehr Schlaf. Laut Urteil seiner<br />

Frau sei er seitdem gar nicht mehr so grantig, sondern viel erträglicher geworden.<br />

Richtig dankbar sei er dem Seligen Josemaría dafür, sein Verständnis von beruflichem<br />

Prestige korrigiert zu haben. Richtig verstanden, „kommt das berufliche<br />

Prestige“, so Arnold, „endlich aus dem ätzenden Klima bloßer Eitelkeit heraus<br />

und findet seinen Platz als Anlaß, Gott zu loben – und als Werkzeug des Apostolates.<br />

Durch den Seligen Josemaría habe ich berufliche Enttäuschungen und<br />

Niederlagen, ob nun selbstverschuldet oder nicht, richtig einordnen gelernt: zum<br />

einen als Herausforderung, besser zu werden. Vor allem aber lernte ich, auch in<br />

Niederlagen noch einen Beweis der Nähe und Zuneigung Jesu zu sehen, während<br />

ich früher nur Versagen und Widerspruch beklagte.“<br />

Zu der so wichtigen Frage, wie mit eigenen Erfolgen – und eben auch Mißerfolgen<br />

– umgehen, berichtet ganz ähnlich die junge Mailänder Pianistin Stefania<br />

Cafaro: „Der Geist des Opus Dei hat mich gelehrt, die Leidenschaft für den<br />

Beruf und gesunden Ehrgeiz damit zu vereinbaren, Gott in meinem Leben an die<br />

erste Stelle zu setzen.“ Die Nagelprobe sei der für den Solisten magische Augenblick,<br />

das Konzert. „Und da erlaubt mir der Applaus, dem Herrn zu sagen: ‚Dieser<br />

Applaus ist für dich, zu deiner Ehre: Danke, Herr!’ Vom Seligen Josemaría<br />

habe ich gelernt, daß Demut nicht darin besteht zu sagen, ich spiele schlecht,<br />

vielmehr darin zu sagen: Danke, Herr, denn wenn ich gut spiele, dann deshalb,<br />

weil du mir dieses Talent gegeben und mir geholfen hast, es zu entfalten.“<br />

Man nimmt es Stefania einfach ab, wenn sie sagt, daß ihr das auch eine vorher<br />

nicht gekannte Gelassenheit gibt. Sie arbeite einfach mit mehr Frieden und Freu-<br />

379


de. Und es habe ihre Musik für die anderen offener gemacht, sprich: ihre<br />

Sensibilität teile sich besser mit und es entstehe so etwas wie ein Dialog mit den<br />

Zuhörern. „Und ich habe gelernt“, fügt sie noch hinzu, „zu lächeln. Der<br />

Augenblick des Konzerts ist ein besonderer Augenblick. Da ist die Freude zu<br />

spielen und zugleich die Angst, und beide sind nicht zu trennen. An der Hand<br />

des Seligen Josemaría habe ich gelernt, auch inmitten der Angst das Spielen zu<br />

genießen. Ich denke einfach, daß Jesus bei mir ist und mit mir spielt. Er bringt<br />

mich beim Spielen zum Lächeln, denn ich will mein Genießen ja zu den Hörern<br />

herüberbringen.“<br />

380<br />

III. Berufung zur Heiligkeit<br />

Man stelle sich vor, hierzulande machten Tausende und Abertausende von gläubigen<br />

Christen, in gleich welchen Situationen und Berufen, plötzlich in dem<br />

Sinne ernst mit ihrem Glauben, daß sie – zu Hause, in der Werkstatt, im Geschäft,<br />

in der Schule, im Theater, in der Wissenschaft, in der Politik – bei allem,<br />

was sie tun, ob sie das nun gerade für wichtig halten oder für unwichtig, vor<br />

allem bestrebt sind, es aus Liebe zu Christus zu tun.<br />

Wer würde nicht, wenn er stets Christus vor Augen hätte, erstens, fast alles besser<br />

tun? Und wäre nicht, zweitens, endlich auch die Trennung überwunden zwischen<br />

unserem Alltag und unserem Verhältnis zu Gott – und zwischen den verschiedenen<br />

„Rollen“, die wir auf der Bühne der Gesellschaft jeweils zu spielen<br />

haben? Der Schreinermeister Meyer, der Familienvater Meyer, der Kirchgänger<br />

Meyer und der Kommunalpolitiker Meyer wären endlich ein und derselbe Herr<br />

Meyer: Leben aus einem Guß. Das ist, etwas kurz und vereinfacht, die Kernbotschaft<br />

des Heiligen Josemaría Escrivá und die raison d’ètre des Opus Dei.<br />

In dieser verkürzten Antwort auf unsere Titelfrage „Was ist das Opus Dei?“ liegt<br />

allenfalls die Gefahr, die Berechtigung des Opus Dei vorschnell an Breitenwirkungen<br />

zu messen. Entscheidend ist, daß es mir hilft, meinen Alltag zu heiligen<br />

(wozu auch gehört, andere im Herzen mit der Liebe Christi anzurühren). Mir<br />

wurde häufiger die Frage gestellt, ob man dazu des Opus Dei bedürfe. Meine<br />

Antwort: Um als Weltchrist – ob als Laie oder als Weltpriester – den Alltag zu<br />

heiligen, muß man nicht im Opus Dei sein. Mir hat das Opus Dei aber entscheidend<br />

geholfen, die Herausforderung zu verstehen und anzupacken. Allerdings:<br />

Nun bietet uns Laien und den Weltpriestern Gott diese Hilfe in der Kirche an. Ob<br />

man sie annimmt oder ausschlägt, ist also auch keine ganz unerhebliche Frage.<br />

Während seiner durchaus erfolgreichen Karriere liebäugelte der Burgschauspieler<br />

Michael König vor seiner Wiener Zeit mit den Ideologien der 1968er Bewegung:<br />

Materialismus, Klassenhaß, radikale Emanzipation. Dann wachte er eines<br />

Tages auf vor den Ruinen eines totalitären Relativismus und der sinnlosen Beliebigkeit.<br />

Er fühlte sich erneut aufgerufen, sich „dem dreifaltigen Gott und der<br />

katholischen Kirche“ zuzuwenden.<br />

„Zu dieser Entscheidung“, schreibt er, „fand ich gemeinsam mit meiner Frau.<br />

Die Umkehr wurde schon bald auf harte Proben gestellt durch das Verhalten von<br />

Zeitgenossen, für die ein papsttreuer Katholik ein gefährlicher Geisteskranker zu


sein scheint. Ich wollte ernstmachen mit meiner Taufberufung. Nach einigen<br />

Fehlversuchen stieß ich auf das Büchlein Der Weg von Josefmaria Escrivá. Ich<br />

hatte schon vorher über das ‚Opus Dei’ gelesen, angeregt durch das Magazin<br />

‚Der Spiegel’. Dessen üppiger Haß brachte mich zu der Vermutung, es müsse<br />

sich hier um ein bemerkenswertes Phänomen handeln.“ König zitiert einige Stellen<br />

aus Der Weg, die ihn damals blitzartig berührt haben, und fährt fort: „Ich<br />

fühlte mich ‚ertappt’. Aber nicht im Sinne peinlicher Entlarvung, sondern im<br />

Sinne inständiger Aufforderung zur Umkehr zu christlicherem Leben. Tatsächlich:<br />

hier war eine klare, aus genauer Kenntnis der Möglichkeiten und Schwächen<br />

des Menschen fordernde, begeisternde Ansprache, die in die verborgensten<br />

Kavernen der Seele reichte mit ihrer unbändigen Liebe zu Gott und seinen Geschöpfen.<br />

Hier war ein Weg, die Einheit von Leben und Glauben mitten im Betrieb<br />

der Welt zu verwirklichen. ‚Alle anständigen Berufe’, schreibt der Selige<br />

Josefmaria, ‚können und sollen geheiligt werden’.“<br />

Josemaría Escrivá warnte die Laienchristen vor einer Art Bewußtseinsspaltung<br />

oder Doppelleben – hier die ganz säkularisierte Welt des Berufs und der Gesellschaft,<br />

dort die Religion, begrenzt auf den Kirchenraum, und forderte sie auf,<br />

„das geistliche Leben zu materialisieren“. Hierauf Bezug nehmend, erinnert<br />

Nikolaus Lobkowicz, ehem. Präsident zuerst der Universität in München, dann in<br />

Eichstätt – selbst nicht Mitglied des Opus Dei –, daran, daß es nach den Texten<br />

des Neuen Testaments „auf dieser Welt nichts gibt, was durch die Menschwerdung<br />

des Logos und die Auferstehung Jesu nicht radikal verändert worden wäre.“<br />

Escrivá denke vor allem an die Laien, so Lobkowicz weiter, und habe „die<br />

(von der Kirche freilich nie ausdrücklich bejahte) Tradition vor Augen, nach der<br />

man, wenn man Heiligkeit anstrebt, Priester wird oder in einen Orden eintritt.<br />

Danach könne der Laie, eben weil er ‚in der Welt’ bleibt, nicht mehr erreichen,<br />

als ein ‚anständiger’ Christ zu sein.“ Mit seiner Betonung, jeder Beruf, jede Tätigkeit,<br />

und in ihnen auch die unbedeutendste Kleinigkeit, seien Situationen, in<br />

denen Gott auf den Menschen wartet, wolle Escrivá die christlichen Laien mobilisieren<br />

mit dem Zuruf, auch sie seien zur Heiligkeit berufen. Das II. Vatikanische<br />

Konzil habe wohl kaum beabsichtigt, pointiert Lobkowicz, „die Laien dazu<br />

einzuladen, ständig um den Altar herumzuspringen und sich zudem in die Aufgaben<br />

der Bischöfe und der Priester einzumischen“. Die Bitte der Konzilsväter<br />

laute vielmehr. „Seid dort, wo ihr gerade steht, und zwar nicht nur am Sonntag,<br />

Christen im Vollsinn des Wortes – nehmt euren Beruf, euer Familienleben, alles,<br />

was ihr tut, als Aufgabe wahr, die der Herr euch aufgetragen hat. Und seid zugleich<br />

– in unaufdringlicher Weise – Apostel.“ 3<br />

Wie man in aller Unaufdringlichkeit den sich bietenden Gelegenheiten apostolische<br />

Chancen ablauschen kann, hat mich an den eher beiläufigen Erzählungen<br />

der jungen Pianistin Stefania Cafaro beeindruckt. Da hockt sie nach vier Ausleseproben<br />

mit zwei weiteren italienischen und zwei japanischen Pianistinnen vor<br />

dem entscheidenden Konzert in der Theaterrequisite zusammen. Fünf Rivalinnen.<br />

Keine sagt ein Wort. Da fällt ihr ein, daß sie einen Riegel Schokolade in der<br />

Tasche hat. Sie teilt auf und bietet an. Es folgt eine sympathische Unterhaltung –<br />

mit Humor und Lachen. Das Klima der Rivalität ist wie weggeblasen. Eine ande-<br />

381


e tüchtige junge Pianistin – aus Mailand wie sie – war schon vorher ausgeschieden.<br />

Stefania rief sie an, als sie auch wieder in Mailand zurück war. Einfach so.<br />

Die Kollegin war völlig überrascht. Die beiden trafen sich nun öfter und freundeten<br />

sich an. Sie sprachen über Musik – und dann auch über Gott. Hiermit habe<br />

die Freundin zunächst weniger anfangen können, aber nach und nach sei sie<br />

neugieriger geworden.<br />

Noch eine Begegnung – in Siena. Für das Schlußkonzert einer Meisterklasse war<br />

die Auswahl auf sie gefallen war – gemeinsam mit einer armenischen Kollegin.<br />

Wenige Tage vor dem Konzert üben beide an zwei Klavieren. Die Armenierin<br />

hat den schlechteren Flügel erwischt. Sie spielen stundenlang. Irgendwann sagt<br />

Stefania: Komm, wir wechseln mal das Klavier. Nachher sagt ihr die orthodoxe<br />

Kollegin: Ich glaube, daß ich verstanden habe, was Katholischsein heißt.<br />

382<br />

IV. Freie Bürger; Handeln im eigenen Namen<br />

Lobkowicz reibt sich übrigens an dem Ruf, das Opus Dei sei konservativ. „Sollte<br />

damit gemeint sein“, schreibt er, „Mitglieder des Werkes würden sich zu einer<br />

bedingungslosen Treue zur Kirche bekennen, so trifft diese Charakterisierung<br />

zwar zu. Es ist freilich schwer zu verstehen, warum diese Verhaltensweise als<br />

konservativ bezeichnet werden sollte. Die Treue eines Christen zum Glauben<br />

und der Lehre der Kirche ist ja weder konservativ noch progressiv, weder links-<br />

noch rechtslastig, sie ist zunächst einmal eine Treue zum menschgewordenen<br />

Logos, zu Jesus Christus. Dies als konservativ bezeichnen könnte im Grunde nur<br />

jemand, der Treue für ein rückständiges Verhalten hält.“ 4<br />

Dann wendet Lobkowicz den Begriff politisch und widerspricht seiner Anwendung<br />

auf das Opus Dei ebenso. Denn besonders nachdrücklich habe Escrivá<br />

bestanden auf der völligen Freiheit der Mitglieder des „Werkes“ wie überhaupt<br />

der Laien in allen beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Fragen. Hierzu<br />

führt Lobkowicz eindeutige Aussagen des Gründers an, die bis in die Anfangszeit<br />

des Opus Dei zurückreichen. 1932: „Wir sind Bürger gleich den anderen: die<br />

gleichen Pflichten, die gleichen Rechte. – Politische Freiheit der Mitglieder,<br />

Männer wie Frauen. Deshalb Meinungsvielfalt im Menschlichen.“ 5 1967: „Wir<br />

dürfen nie vergessen, daß – auch unter Katholiken – ein gesunder Pluralismus<br />

der Meinungen in allen Angelegenheiten, die Gott der freien Diskussion der<br />

Menschen überlassen hat, nicht nur mit der hierarchischen Ordnung und der<br />

notwendigen Einheit des Volkes Gottes völlig im Einklang steht, sondern sie<br />

sogar stärkt und vor Verfälschungen bewahrt.“ 6 Jede fundamentalistische Versuchung<br />

sei damit abgewehrt. Noch zugespitzter, auch gegen klerikalistische Bevormundung<br />

der Laien gewandt, 1968: „Eine der größten Gefahren, die die Kirche<br />

heute bedrohen, könnte darin bestehen, (die) göttliche Forderung der christlichen<br />

Freiheit nicht anzuerkennen und aus Gründen einer vermeintlich größeren<br />

Wirksamkeit den Christen eine weitgehende Gleichgestaltung aufzwingen zu<br />

wollen.“ 7<br />

Als freier Bürger des weltlichen Gemeinwesens soll sich der schon erwähnte<br />

Herr Meyer also die persönliche Verantwortung zumuten, die seine Freiheit nun


einmal mit sich bringt – und sich, wo es für Religion oder Kirche einzustehen<br />

gilt, sich nicht hinter vermeintlichen „Profis“ verschanzen, sei es nun hinter<br />

seinem Pfarrer, den Bischöfen, dem Papst oder kirchlichen Institutionen, sondern<br />

sein Leben aus dem Glauben zuerst einmal – in Verantwortung vor Gott und der<br />

Kirche – als seine eigene Sache ansehen und in seinem eigenen Namen vertreten.<br />

In diesem Zusammenhang ist es geradezu amüsant, wenn manche Kreise – auch<br />

katholische – der kirchlichen Personalprälatur Opus Dei vorhalten, sie verschanze<br />

oder verstecke sich hinter ihren Mitgliedern, tarne sich sozusagen mit deren<br />

Initiativen, die sie als Bürger ergreifen, weil diese gesellschaftlich im eigenen<br />

Namen auftreten und nicht als kirchliche Funktionäre. Aber mit der Zeit wird die<br />

Botschaft des II. Vatikanischen Konzils von der Berufung und Sendung der<br />

Laien doch noch durchsickern.<br />

Bekanntlich wurde aber das Opus Dei öffentlich nicht nur mit dem Vorwurf des<br />

Geheimen konfrontiert, sondern auch noch mit einer ganzen Reihe anderer Ve rdächtigungen,<br />

auf die ich hier im einzelnen nicht eingehen kann. Als 1984 in<br />

einigen deutschen Medien, besonders im WDR, schon ein Jahr lang ein regelrechter<br />

Sturm der Kritik am Opus Dei tobte, sprach Kardinal Höffner öffentlich<br />

von „Kölner Opus-Dei-Hetze“ und erklärte: „Wenn ein neu in der Kirche entstandenes<br />

Werk nicht angegriffen wird, liegt die Vermutung nahe, daß dieses<br />

Werk nicht von Gott ist“ und fügte hinzu: „Durch seine parteiischen und gehässigen<br />

Sendungen gegen Opus Dei hat der Westdeutsche Rundfunk den Seligsprechungsprozeß<br />

des Gründers ungewollt gefördert.“ 8<br />

V. Was heißt Heiligkeit?<br />

Seligsprechung, Heiligsprechung, Heiligung, Heiligkeit: Was heißt das alles<br />

überhaupt?<br />

Der heilige Paulus begrüßte noch alle Mitglieder der christlichen Gemeinden als<br />

„die Heiligen“. Der Begriff ist dann irgendwann aus dem Alltagsgebrauch verschwunden<br />

und in die Schauvitrine der guten Stube gestellt worden, neben andere<br />

seltene und außergewöhnliche Erinnerungsstücke. Kardinal Meisner sagte am<br />

19. Januar im Kölner Dom, wir hätten Josemaría Escrivá die Wiederentdeckung<br />

zu verdanken, „daß Heiligkeit kein Privileg für besondere Gruppen in der Kirche<br />

ist, sondern die schlichte und selbstverständliche Berufung jedes Christen, ob im<br />

Kloster oder in der Welt.“ Sonst läge in der Kirche eine unerträgliche Diskriminierung<br />

vor. Es gebe aber in der Kirche keine Zweiklassengesellschaft.<br />

Heiligsprechung: Natürlich wird da nicht jemand zum Heiligen „gemacht“. Es<br />

gibt sehr viel mehr Heilige als von der Kirche „heiliggesprochen“ werden. Die<br />

Heiligsprechung ist, genau genommen, die kirchliche Erlaubnis, daß ein Ve rstorbener,<br />

der von vielen Menschen bereits als Heiliger angesehen und verehrt<br />

wird, nun auch in der Kirche öffentlich als Heiliger verehrt werden darf. Heilige<br />

sind Vorbilder. Insofern ist es für eine Heiligsprechung nicht unerheblich, ob der<br />

Betreffende mit seinem Leben den heutigen und zukünftigen Zeitgenossen etwas<br />

aktuell Wichtiges zu sagen hat. Um beim Gründer des Opus zu bleiben: daß<br />

Escrivá nicht etwa nur den Angehörigen des Opus Dei, sondern allen Gläubigen<br />

383


der Kirche Wesentliches zu sagen hat. Beim Festgottesdienst zum 100. Geburtstag<br />

Escrivás im Kölner Dom am 19. Januar 2002 drückte es Kardinal Meisner<br />

so aus: „Der selige Josefmaria ist und bleibt der Gründer des Opus Dei, aber<br />

er gehört uns allen in der Kirche.“<br />

Seligsprechung: Die Seligsprechung ist eine Etappe im langwierigen Verfahren<br />

bis zur Heiligsprechung. Einer Seligsprechung geht, sofern es sich nicht eindeutig<br />

um einen Märtyrer (Blutzeugen) handelt, ein strenges Prüfungsverfahren, der<br />

sogenannte Seligsprechnungsprozeß, voraus. Dieser ist ein ins einzelne des ganzen<br />

Lebens des Verstorbenen gehendes Prüfungsverfahren in der Form eines –<br />

stets jahrelangen – Gerichtsverfahrens. Zur Heiligsprechung eines Seligen ist<br />

dann noch Bedingung, daß seit der Seligsprechung mindestens ein Wunder geschieht<br />

(wissenschaftliche Prüfungskommission!), welches eindeutig der Fürsprache<br />

des Seligen zu verdanken ist (theologische Prüfungskommission!), und<br />

daß eine Kardinalskommission beide Ergebnisse billigt.<br />

Apropos Prüfungsverfahren: Über einen Mangel an Prüfungen können wir uns in<br />

unserer Leistungsgesellschaft wahrhaftig nicht beklagen. Die Vorbilder der Leistungsgesellschaft<br />

sind Nobelpreisträger und Stars. Sie haben es – je auf ihrem<br />

Spezialgebiet – zu etwas gebracht. Sie heißen Einstein oder Kofi Anan, Steffi<br />

Graf oder Jan Ullrich, Gerhard Schröder oder Edmund Stoiber, Madonna oder<br />

Michael Jackson. Nichts gegen Leistungsprüfungen, bis hin zu politischen Wahlen.<br />

Aber es gibt keine Prüfungen auf richtiges Leben mehr in unserer Leistungsgesellschaft.<br />

Selbst in Schulzeugnissen wurden die sogenannten „Kopfnoten“ (z.<br />

B. für gutes Betragen) abgeschafft. Hingegen sind die Vorbilder der Christen die<br />

Heiligen. Nur sie werden noch – und nur – darauf geprüft, ob ihnen das Leben<br />

als solches gelungen ist. Das stetige Bemühen um ein objektiv – also vor Gott –<br />

gelingendes Leben, das ist mit Heiligkeit – und Heiligung des Alltags – gemeint.<br />

384<br />

VI. Und was heißt Heiligkeit praktisch?<br />

Auf die Frage, was nun „Heiligung der (beruflichen) Arbeit“ oder „Heiligkeit im<br />

Alltag“ praktisch bedeutet, hat die Kirchenhistorikerin Elisabeth Reinhardt eine<br />

persönliche Antwort des Heiligen Josemaría ausfindig gemacht: „Heiligkeit ist“,<br />

sagt Escrivá, „fortwährend gegen die eigenen Fehler zu kämpfen. Heiligkeit ist,<br />

die Pflicht jeden Augenblicks zu erfüllen, ohne sich Ausreden zu suchen. Heiligkeit<br />

ist, den anderen zu dienen, ohne irgendwelche Gegenleistungen zu erwarten.<br />

Heiligkeit ist, die Gegenwart Gottes zu suchen – den dauernden Umgang mit ihm<br />

– durch Gebet und Arbeit, die in einem beharrlichen Dialog mit dem Herrn verschmelzen.<br />

Heiligkeit ist die Sorge um die Seelen, die uns uns selbst vergessen<br />

läßt. Heiligkeit ist die positive Antwort jeden Augenblicks in unserer persönlichen<br />

Begegnung mit Gott.“ 9 Und das hat der heilige Josemaría Escrivá nicht nur<br />

gesagt. Er hat, wie sein Heiligsprechungsprozeß bestätigt hat, auch so gelebt.<br />

Und das ist, wie sich versteht, die unschätzbare gelebte Botschaft, der das Opus<br />

Dei verpflichtet ist.<br />

Papst Pius XII. nannte Escrivá schon zu Lebzeiten „einen wahren Heiligen, einen<br />

Mann, von Gott gesandt für unsere Zeit“ 10 und bahnte dem Opus Dei den Weg in


die Weltkirche. Johannes XXIII. sah in seinem Werk „ganz unerwartete apostolische<br />

Perspektiven“ 11 für die Kirche. Nicht zuletzt war er beeindruckt von Escrivás<br />

ökumenischer Praxis, ins katholische Opus Dei als Mitarbeiter auch Nichtkatholiken<br />

und Nichtchristen aufzunehmen. Paul VI. bezeichnete Escrivás Botschaft,<br />

daß nicht nur einige wenige (etwa Priester und Ordensleute), sondern alle<br />

Menschen von Gott zur Heiligkeit berufen sind, als „den eigentlich spezifischen<br />

Teil der gesamten Lehraussage des Konzils und sozusagen dessen tiefstes Anliegen.“<br />

12 Auch Papst Johannes Paul I. würdigte schon, bevor er sein kurzes Pontifikat<br />

antrat, Escrivás Spiritualität als besonders den gläubigen Laien auf den<br />

Leib geschnitten. 13<br />

Papst Johannes Paul II. erhob Ende 1982 das Opus Dei – woraufhin in Deutschland<br />

1983 jenes Medienspektakel losbrach – zur weltweiten „Personalprälatur“<br />

(eine gänzlich neue Rechtsgestalt in der Struktur der katholischen Weltkirche,<br />

die erst durch das II. Vatikanische Konzil ermöglicht wurde). 1991 weihte er<br />

Alvaro del Portillo, den Nachfolger des Gründers in der Leitung des Opus Dei –<br />

und ersten Prälaten der Prälatur –, zum Bischof.<br />

Der Wiener Kardinal König brachte zum Ausdruck, daß Escrivá mit dem Opus<br />

Dei, schon als er es im Jahre 1928 gründete, „vieles vorwegnahm, was mit dem<br />

II. Vatikanischen Konzil Allgemeingut der Kirche geworden ist.“ 14 Und in Köln<br />

erklärte Kardinal Höffner, Escrivás Werk sei „kirchengeschichtlich providentiell<br />

und von einer heilenden Kraft, deren Wert kaum überschätzt werden kann.“ 15<br />

Eine Erfolgsgarantie gibt es im Bemühen um die Heiligung des Alltags nicht.<br />

Das ist aber kein Anlaß zur Entmutigung. Wir sollen Gottes Gnade wirken lassen.<br />

Täglich neu. Unsere Aufgabe beschränkt sich darauf, Hindernisse auszuräumen,<br />

vor allem die unserer kleinen Eitelkeiten. Der Selige Josemaría vergleicht<br />

unseren Alltag mit einer Bootsfahrt: „Dein Boot: deine Fähigkeiten, deine<br />

Pläne, deine Erfolge – all das ist nichts nütze, es sei denn, du stellst es Christus<br />

zur Verfügung, du läßt ihn ungehindert einsteigen, du verzichtest darauf, aus<br />

deinem Nachen einen Götzen zu machen. Nur wenn du die Nähe des Herrn<br />

suchst und ihm das Steuer überläßt, wirst du die Stürme des Lebens heil überstehen.“<br />

Sich einlassen auf den kleinen Heroismus in der Arbeit etwa, der unter anderem<br />

darin besteht, jede Aufgabe wirklich zu Ende zu bringen, wie es in Der Weg<br />

heißt: „Du willst wirklich heilig werden? – Erfülle die kleine Pflicht jeden Augenblicks!<br />

Tu das, was du sollst, und sei ganz in dem, was du tust“ (815). Den<br />

geistlichen Impulsen des Opus Dei verdankt Stefania Cafaro nach ihren eigenen<br />

Worten Entscheidendes ihrer Karriere. Als sie vor vielen Jahren schon morgens<br />

beim Üben, so erzählte sie bei unserem workshop in Rom, mit einem schwierigen<br />

Stück ihre Probleme gehabt habe und, wie schon oft, dieses beiseite legen<br />

wollte, um es später aufzugreifen, sei ihr diese Stelle eingefallen. Und dann habe<br />

sie gedacht, sie könne doch jetzt dem Herrn hier und jetzt das kleine Opfer bringen,<br />

sich gleich morgens an diesem vertrackten Stück abzurackern. Und das habe<br />

sie dann getan – hartnäckig. Die Folge: Die Preisjury habe ihre Interpretation als<br />

die beste bewertet und vorgeschlagen, das Stück aufzunehmen.<br />

385


Aber auch musikalisch verdanke sie den geistlichen Anregungen viel, nicht nur<br />

die Sorge um Ordnung, Harmonie, Form und Gleichgewicht, sondern auch, was<br />

die Tiefe der Interpretation angehe, beispielsweise den gestalterischen Einsatz<br />

der Pausen. „Das Schweigen ist wie die Wache am Tor des inneren Lebens“,<br />

heißt es in Der Weg (281). Daß diese Bedeutung des Schweigens auch für die<br />

Musik gelte, hätten ihr Zuhörer immer wieder bestätigt. Nach einer Schubert-<br />

Interpretation sei besonders von den „sprechenden Pausen“ und ihrer Steigerung<br />

der Spannung und Tiefe die Rede gewesen. Und im Oktober 2000 habe es im<br />

Kommentar eines bekannten Klavier-Professors geheißen: „In dieser Pianistin<br />

findet sich ein spiritueller Reichtum, der unmöglich allein aus stundenlangem<br />

Üben herrührt.“<br />

Schließlich berührt Stefania noch einen delikaten Punkt, der für erfolgsverwöhnte<br />

Künstler – und nicht nur Künstler – zur ständigen Versuchung werden kann.<br />

Lassen wir sie selbst berichten: „Meine Arbeit bedeutet auch viele Reisen, Aufenthalte<br />

in Hotels, Galadiners, Begegnungen mit hochgestellten Persönlichkeiten,<br />

usw. ... Aus der Lehre des Seligen Josemaría habe ich entnommen, daß es<br />

möglich ist, all dies auf eine christliche Art und Weise zu leben. Es ist möglich,<br />

im Hotelzimmer immer Ordnung zu halten; bei einem Gala-Diner nüchtern zu<br />

bleiben; die Armut zu leben, indem man den günstigsten Flugtarif wählt, auch<br />

wenn eine Agentur den Flug zahlt, zu Fuß zu gehen, wenn ein Taxi nicht unbedingt<br />

nötig ist.“<br />

„Schließlich habe ich gelernt“, fügt Stefania noch hinzu, „der jeweiligen Gelegenheit<br />

angemessen auf Eleganz in der Kleidung und im Auftreten zu achten“.<br />

Gern wies der Selige Josemaría daraufhin, daß unser Herr auch Wert legte auf<br />

den angemessen feinfühligen, eleganten Umgang miteinander. So im Hause des<br />

Simon, dem er Versäumnisse der Gastfreundschaft vorhält (Lk 7, 44 ff.). Und um<br />

seinen Leibrock würfeln sogar die römischen Soldaten, weil sie ihn für zu gut<br />

hielten, um ihn zu teilen (Joh. 23 f.). „Es hat mich stets beeindruckt“, so Stefania,<br />

„wenn der Gründer des Opus Dei die Eleganz unseres Herrn zur Sprache<br />

brachte und den Christen ans Herz legte, Jesus auch darin zu folgen.“<br />

Anmerkungen<br />

1) Artistic Creativity, Preparatory Papers of the Workshop, hsrg. v. Lindenthal-Institut<br />

Köln u. Fundación Promoción de la Cultura Madrid, Pontificia Universidad della Santa<br />

Croce, Piazza di Sant’Apollinare 43, 00186 Roma, 2002 (Im weiteren Text referierte Beiträge<br />

der Künstler A.Zorin, A.Shives und St.Cafaro sind hier veröffentlicht).<br />

2) J. Escrivá, Freunde Gottes, 2. Aufl. Köln 1980 (Adamas), RdNr. 65.<br />

3) N. Lobkowicz, Kultur – Christentum – Pluralismus: die Mobilisierung der Laien, in:<br />

Cesar Ortiz (Hrsg), Josemaría Escrivá – Profile einer Gründergestalt, Köln 2002 (Adamas),<br />

347-363, hier: 354 f.<br />

4) Ebd., 350.<br />

5) Ebd., 350: aus den Persönlichen Aufzeichnungen Escrivás, Nr. 158, zit. nach A. de<br />

Fuenmayor / V. Gómez-Iglesias / J.L.Illanes, Die Prälatur Opus Dei. Zur Rechtsgeschichte<br />

eines Charismas, Essen 1994, 34. In einem Brief von 1932 heißt es: „Das Werk steht<br />

386


für überhaupt keine Politik: dazu ist es nicht da. Unser Ziel ist ausschließlich spirituell<br />

und apostolisch... Uns eint nur ein geistiges Band“.<br />

6) Ebd. 351: zit. aus Gespräche mit Msgr. Escrivá, 4. Aufl. Köln 1992 (Adamas), RdNr.<br />

12.<br />

7) Ebd. 352: zit. aus Gespräche..., RdNr. 15.<br />

8) Joseph Kardinal Höffner, Interview mit KNA v. 24.08. u. Nachtrag v. 30.08.1984.<br />

9) E. Reinhardt, Wo Himmel und Erde sich vereinen, in: Cesar Ortiz (Hrsg), Josemaría<br />

Escrivá – Profile einer Gründergestalt, Köln 2002 (Adamas), 141-157, hier: 142 f.; zit.<br />

nach Salvador Bernal, Memoria del Beato Josemaría Escrivá de Balaguer, Madrid 1999,<br />

16.<br />

10) Alvaro del Portillo, Über den Gründer des Opus Dei, Köln 1996 (Adamas), 13.<br />

11) Ebd., 15.<br />

12) Paul VI., Motu proprio Sanctitatis Clarior, 09.03.1969, AAS 61 (1969), 149-150.<br />

13) Albino Luciani, Cercando Dio nel lavoro quotidiano, in: Gezettino di Venezia v.<br />

25.07.1978.<br />

14) Kardinal Franz König, Über das Opus Dei, Schriftenreihe der Karlskirche Heft 2,<br />

Wien 1989, 4.<br />

15) Ambosius Eßer OP, Wenn alles zur Freude wird, in: Notizen, Zeitung zur Seligsprechung<br />

des Opus-Dei-Gründers Josemaría Escrivá, Mai 1992, S. 8 (Pater A. Eßer OP ist<br />

Generalrelator der römischen Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen und war<br />

zuständiger Relator im Kanonisationsverfahren von Josemaría Escrivá).<br />

Dr. Hans Thomas leitet das Lindenthal-Institut in Köln.<br />

387


388<br />

Paul Johannes Fietz<br />

Subsidiarität in der Kirche?<br />

Zum 37. Essener Gespräch<br />

Es war das letzte „Essener Gespräch“, zu dem er als Bischof eingeladen hatte.<br />

Nach zehn Jahren und elf Tagungen in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“<br />

verabschiedete sich Hubert Luthe von den Teilnehmern der „Essener Gespräche“,<br />

die er von seinem Vorgänger Franz Hengsbach übernommen hatte.<br />

Langer und dankbarer Applaus war ihm, der im Mai 75 Jahre alt wurde und<br />

dann, wie er es selbst ausdrückte, „seinen Platz frei“ machte, sicher.<br />

Das Thema dieses Jahres klang eher spröde: „Universalität und Partikularität in<br />

der Kirche“ war das 37. „Essener Gespräch“ überschrieben. Allerdings verbergen<br />

sich hinter dieser Überschrift Fragen von enormer praktischer Relevanz. So<br />

treffen immer wieder römische Bemühungen um die Erhaltung der Einheit der<br />

Kirche auf eigenständige Entwicklungen in den Ortskirchen. Dabei ist das Ve rhältnis<br />

zwischen Gesamtkirche und Ortskirchen nicht erst heute spannungsreich.<br />

Der Bamberger Kirchenrechtler Alfred Hierold betonte vielmehr, das Ringen<br />

dieser Gemeinschaften durchziehe wie ein roter Faden die Geschichte der Kirche,<br />

„seit sich immer stärker eine zentrale Autorität in der Gestalt des Bischofs<br />

von Rom etabliert und ihren Anspruch in Schreiben, bei Streitigkeiten und auf<br />

Synoden gegenüber anderen Ortskirchen und deren Vereinigungen geltend<br />

macht“. Aber, darauf wies der Bonner Privatdozent Matthias Jestaedt hin: „Ohne<br />

weltkirchliche Einbettung der Ortskirchen, ohne Rom keine Katholische Kirche.“<br />

Dem Spannungsverhältnis näherte man sich in der „Wolfsburg“ mit der Frage,<br />

ob und gegebenenfalls auf welche Weise das aus der Katholischen Soziallehre<br />

stammende Subsidiaritätsprinzip auch auf das Verhältnis von Ortskirche und<br />

Universalkirche zueinander anzuwenden sei. Nach dem Subsidiaritätsprinzip<br />

erkennt die jeweils übergeordnete Gemeinschaft die Wirkungsmöglichkeiten der<br />

untergeordneten an und zieht nur die Aufgaben an sich, die von dieser nicht<br />

erfüllt werden können. Als Beispiel diente dabei das Ringen um den Verbleib der<br />

Katholischen Kirche im System der staatlich anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatung.<br />

Auf Weisung des Papstes darf nun auch Limburg als letztes der 27<br />

deutschen Bistümer in seinen Schwangerenberatungsstellen nicht mehr die<br />

Scheine ausstellen, die für eine straffreie Abtreibung erforderlich sind.<br />

Die Diskussion über das Für und Wider wurde über Jahre geführt und in der<br />

„Wolfsburg“ nicht wieder aufgegriffen. Seinerzeit waren die Forschung an embryonalen<br />

Stammzellen, die Präimplantationsdiagnostik, das Klonen und andere<br />

Manipulationen am Beginn des menschlichen Lebens noch wenig beachtet worden<br />

– Herausforderungen einer neuen Dimension. Die Kirche aber, so meint der


Papst, kann nur überzeugen, wenn ihre Botschaft für das Leben unmißverständlich<br />

ist.<br />

Beim „Essener Gespräch“ ging es jedoch um das Prozedere. Der Konflikt würde<br />

mißverstanden, wenn man ihn als Machtkampf in einem rechtsfreien Raum<br />

wahrnähme, bei dem am Ende der Ortsbischof klein beigeben mußte. Robert<br />

Spaemann hat das Ergebnis in einem Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung so formuliert (FAZ vom 19. März 2002): „Der Papst ist kein Frühstücksdirektor.<br />

Wer mit einem Dienst beauftragt ist, muß auch über die<br />

Vollmachten verfügen, die diesen Dienst ermöglichen.“<br />

In der „Wolfsburg“ verwies der Kirchenrechtler Klaus Lüdicke auf die Canones<br />

331 und 381 des kirchlichen Gesetzbuches, des Codex Iuris Canonici von 1983,<br />

in denen der Papst und der Diözesanbischof als Teil der hierarchischen Verfassung<br />

der Kirche behandelt werden. In Canon 331 heißt es: „Der Bischof der<br />

Kirche von Rom (...) verfügt kraft seines Amtes in der Kirche über höchste,<br />

volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben<br />

kann.“ Und Canon 381 bestimmt: „Dem Diözesanbischof kommt in der ihm<br />

anvertrauten Diözese die ganze, ordentliche, eigenberechtigte und unmittelbare<br />

Gewalt zu, die zur Ausübung seines Hirtendienstes erforderlich ist.“ Der entscheidende<br />

Zusatz lautet jedoch: „Ausgenommen ist, was von Rechts wegen<br />

oder aufgrund einer Anordnung des Papstes der höchsten oder einer anderen<br />

kirchlichen Autorität vorbehalten ist.“<br />

Und so stellt auch das Subsidiaritätsprinzip nicht in Frage, daß im Konfliktfall<br />

die höhere Ebene entscheidet. Denn, darauf wies der Bonner Staatsrechtslehrer<br />

Josef Isensee hin, Hierarchie steht zum Subsidiaritätsprinzip nicht im Gegensatz,<br />

ist vielmehr eine Voraussetzung desselben. Wenn es um die Glaubwürdigkeit der<br />

Kirche insgesamt gehe, könne sich, so Isensee, eine „nationalkirchliche Tendenz“<br />

nicht auf das Subsidiaritätsprinzip berufen. In der Frage der Schwangerenkonfliktberatung<br />

habe sich die Kirche in einem Dilemma befunden. Dessen Wesen<br />

sei es aber, daß man so oder so nicht unbeschädigt herauskomme. Eine Erlaubnis<br />

für das Bistum Limburg, den von Bischof Kamphaus eingeschlagenen<br />

Weg weiterzugehen, hätte die negativen Seiten beider Entscheidungen – der für<br />

einen Verbleib ebenso wie der für einen Ausstieg – andauern lassen und so das<br />

Dilemma verstärkt. Deshalb sei eine einheitliche Praxis für die Kirche unerläßlich<br />

gewesen.<br />

Dieses Ergebnis wurde aus kirchenrechtlicher Sicht in der „Wolfsburg“ nicht<br />

bestritten. Die Frage, ob die Verfügung des Papstes nicht nur vom Ersten, sondern<br />

auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil gedeckt sei, wurde nicht gestellt –<br />

aus gutem Grund. Denn die versammelten Fachleute wußten, daß das Zweite<br />

Vatikanum nicht verkündet hat, daß man unter allen Umständen Streit und<br />

Zwistigkeiten zu vermeiden habe. Es bekräftigte vielmehr die Einheit des Episkopats<br />

mit dem Papst: „Das Kollegium oder die Körperschaft der Bischöfe hat<br />

aber nur Autorität, wenn das Kollegium verstanden wird in der Gemeinschaft mit<br />

dem Bischof von Rom“ (Lumen gentium 22). Die Bischöfe sind nicht Vorsteher<br />

unabhängiger Landeskirchen, einen dauerhaften Konflikt mit dem Papst kann es<br />

nicht geben, wenn die Einheit der Kirche nicht gefährdet sein soll. Nirgendwo<br />

389


lehrte das Konzil, daß ein Bischof, wenn eine Streitfrage einmal entschieden ist,<br />

in dieser Angelegenheit allein weiter anders verfahren kann.<br />

Andererseits ist offensichtlich, daß Papst-Dekrete zumal in Deutschland häufig<br />

wie Eingriffe einer auswärtigen Macht gesehen und interpretiert werden und, wie<br />

Josef Isensee formulierte, sich des Beifalls sicher sein kann, „wer den antirömischen<br />

Affekt kitzelt“. Der Münchner Theologe Gerhard Ludwig Müller, Schüler<br />

von Kardinal Karl Lehmann, betonte, daß sich die „Spannungen, Mißstimmu ngen<br />

und inneren Entfremdungen, die sich in den letzten Jahrzehnten zwischen<br />

‚Rom’ und den Ortskirchen in Deutschland und im mitteleuropäischen Raum<br />

ergeben haben“, mit den Mitteln „einer soziopolitischen Ekklesiologie“ kaum<br />

erfassen ließen. Bei all den emotional aufgeladenen Themen – angefangen bei<br />

‚Humanae vitae’, der Laienpredigt in der Meßfeier, dem Kommunionempfang<br />

von wiederverheirateten Geschiedenen und der Möglichkeit des Weihesakraments<br />

für die Frau, der Erteilung des Nihil obstat bis zur Schwangerenkonfliktberatung<br />

–, die sich zu einem antirömischen Affekt aufgeladen hätten, gehe es<br />

nur an der Oberfläche um die Austarierung weltkirchlicher und ortskirchlicher<br />

Zuständigkeiten oder gar nur um ein triviales Kompetenzgerangel oder allzumenschliches<br />

Machtgebaren.<br />

„Die Medien sind gewiss nicht an der Frage interessiert, mit welchen Maßnahmen<br />

man am besten das gemeinsame Ziel des Lebensschutzes erreichen kann,<br />

sondern daran, wie man genüßlich einen Keil zwischen die deutschen Bischöfe<br />

und den Papst treiben kann als Vorspiel einer romfreien deutschen Kirche unter<br />

nationalistischen Vorzeichen“, so Müller. In dieser Analyse bestanden zwischen<br />

den Referenten des „Essener Gesprächs“, die in diesem Jahr nicht nur interdisziplinär<br />

und interkonfessionell, sondern in besonderem Maße auch generationsübergreifend<br />

zusammengesetzt waren – von Matthias Jestaedt bis zum emeritierten<br />

Münchner Staats- und Kirchenrechtler Dietrich Pirson – keine Meinungsverschiedenheiten.<br />

Letzterer hatte in seinem Vortrag über „die protestantischen Kirchen im universalkirchlichen<br />

Zusammenhang“ noch einmal darauf hingewiesen, daß der Teil<br />

der Christenheit, der der Reformation verpflichtet ist, sich als ein Nebeneinander<br />

von Einzelkirchen darstellt, die nicht Teil eines übergreifenden kirchlichen Organismus<br />

sind. „Jede einzelne Kirche ist gegenüber den übrigen Kirchen in der<br />

Welt originär selbständig.“ Nach protestantischer Auffassung machen nicht Ämter<br />

und ihre Inhaber die Kirche aus, sondern „Handlungsweisen oder Lebensäußerungen“.<br />

Hier zeigt sich nach Pirson „eine gewisse antihierarchische Tendenz“.<br />

„Die Einheit der evangelischen Kirche ist vor allem eine Einheit im Bekenntnis“,<br />

so der Kirchenrechtler Heinrich de Wall aus Erlangen. Die katholische<br />

Lehre, wonach die von Christus gestiftete und mit bestimmten Verfassungselementen<br />

ausgestattete Kirche in der römisch-katholischen Kirche ihre geschichtlich<br />

wahrnehmbare Realisierung gefunden hat, läßt dagegen die Vorstellung<br />

einer Pluralität nebeneinanderstehender, in jeder Hinsicht gleichgearteter<br />

Kirchen nicht zu.<br />

Dennoch sei es, so Pirson, weithin als unbefriedigend, ja als unfreundlicher Akt<br />

empfunden worden, „als im Kontext der in der Erklärung ‚Dominus Iesus’ be-<br />

390


handelten Thematik in Erinnerung gebracht wurde, daß der Begriff Kirche, wie<br />

ihn die römisch-katholische Kirche versteht, auf Kirchen im Sinne protestantischer<br />

Kirchenverfassung keine vorbehaltlose Anwendung finden könne“. Pirson<br />

war damit einer der wenigen, die das Thema am Rande erwähnten. Ganz überwiegend<br />

schien eine unausgesprochene Übereinkunft die konfessionell gemischten<br />

Teilnehmer davon abzuhalten, näher auf die Erklärung der Glaubenskongregation<br />

vom August 2000 einzugehen. Allein der Osnabrücker Sozialwissenschaftler<br />

Manfred Spieker hatte – ohne Resonanz – angeregt, bevor man über<br />

Teil-Kirchen spreche, zunächst die Frage zu klären, „was Kirche ist“. Zu einer<br />

einvernehmlichen Antwort wäre man aber auch in der „Wolfsburg“ vermutlich<br />

nicht gekommen – anders als bei der Frage, die Gerhard Ludwig Müller, den<br />

französischen Philosophen André Glucksmann zitierend, an den Beginn seiner<br />

Ausführungen gestellt hatte: „Ist es nicht der Irr-Sinn aller Irr-Sinnigkeiten,<br />

wenn Millionen Getaufter, denen sich Gott als der unvergängliche Sinn ihres<br />

Daseins und damit als Grund und Quelle aller Humanität geoffenbart hat, so<br />

leben, als ob es Gott gar nicht gäbe?“<br />

Paul Johannes Fietz ist Ministerialrat im Bundesministerium des Innern.<br />

391


392<br />

Clemens Breuer<br />

Die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft<br />

Zum siebten Deutsch-Amerikanischen Kolloquium<br />

Zum siebten Mal fand unter der Federführung der Katholischen Sozialwissenschaftlichen<br />

Zentralstelle, Mönchengladbach, und The Catholic University of<br />

America – School of Philosophy, Washington DC, ein Kolloquium zu gesellschaftspolitischen<br />

Fragen statt, bei dem sich die Teilnehmer dem Geist der chris tlich-abendländischen<br />

Überlieferung verpflichtet wußten. Die Kolloquien finden in<br />

einem zweijährigen Turnus statt, wobei als Tagungsstätte abwechselnd ein Ort in<br />

Amerika bzw. Deutschland dient. In diesem Jahre (11. bis 16. Juli) stellte die<br />

Hanns-Seidel-Stiftung die idyllisch gelegene Tagungsstätte in Wildbad Kreuth zur<br />

Verfügung, wobei sie sich dankenswerterweise auch maßgeblich an der Durchführung<br />

und somit auch an dem Gelingen des Kolloquiums beteiligt und verdient<br />

gemacht hat. Bereits bei der Eröffnung des Kolloquiums wiesen die beiden „Initiatoren“,<br />

die Professoren Anton Rauscher und Jude P. Dougherty, darauf hin, daß<br />

eine Reflexion über die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft und eine Ve rhältnisbestimmung<br />

der Beziehung von Kirche und Staat für die zukünftige Entwicklung<br />

der Industriestaaten einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert besitzen.<br />

Weihbischof Anton Losinger ging in seinem Beitrag auf die Problematik der Begründung<br />

unveräußerlicher Menschenrechte im Kontext neuzeitlicher kultureller<br />

Differenzen ein. Eine naturrechtlich begründete Anerkennung der menschlichen<br />

Person auf der einen Seite als auch die Akzeptanz einer Schöpfungsordnung auf<br />

der anderen machte Losinger zur Voraussetzung einer soliden Begründung der<br />

Menschenrechte. Ohne eine transzendente Begründung der Menschenrechte bleiben<br />

die großen Erklärungen – die Menschenrechtserklärung der UNO von 1948,<br />

die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Französische<br />

Erklärung zu den Menschenrechten von 1789 – in einem „Schwebezustand“, der<br />

innerweltlich nicht auszugleichen ist.<br />

In einer für europäische Verhältnisse ungewöhnlich positiven Art und Weise referierte<br />

Professor Michael Novak vom American Enterprise Institute, Washington<br />

DC, zu dem Thema „Religion at the Time of the American Founding“. Kein geringerer<br />

als Alexis de Tocqueville hat die besondere Bedeutung der (jüdischchristlichen)<br />

Religion für die moderne Demokratie hervorgehoben. Tocqueville ist<br />

in den Wirren der Franzöischen Revolution geboren worden und kam nach Amerika<br />

als krasser Außenseiter, da er Franzose, Aristokrat und dazu noch Katholik war.<br />

Wie kein anderer hat er darauf hingewiesen, daß das Vordringlichste aller Organisationen<br />

für die Amerikaner die Religion sei. Heute zeigt sich, so Novak, daß dieser<br />

Ausspruch Tocquevilles keineswegs seine Gültigkeit eingebüßt hat, da heute


wesentlich mehr Amerikaner in die Kirche gehen und sich regelmäßig in religiöser<br />

Hinsicht engagieren als zur Zeit der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.<br />

Tocqueville beschrieb in unmißverständlicher Klarheit die hervorragende Rolle der<br />

Katholischen Kirche, die sie bei der Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte<br />

einnehmen kann. Novak machte keinen Hehl daraus, daß er bereits in<br />

jungen Jahren von Tocquevilles Gedanken der Harmonie zwischen dem „Geist der<br />

Religion“ und dem „Geist der Freiheit“ (The spirit of religion and the spirit of<br />

freedom) fasziniert gewesen sei. Für den katholischen Glauben ergeben sich – so<br />

Novak – drei wesentliche Vorbedingungen für die Demokratie: Wahrheit, Freiheit<br />

und Würde. Hierbei handelt es sich um drei Glaubensgüter (background beliefs),<br />

die es uns ermöglichen, das Konzept der Menschenrechte und den geistigen Vo rrang<br />

der Freiheit miteinander in Einklang zu bringen. Dies ist der Weg des frühen<br />

Amerika gewesen. Aber diese Ideen, so referiert Novak abschließend aus Tocquevilles<br />

Schriften, sind nicht spefizisch amerikanische, sondern universelle und damit<br />

katholische, allumfassende.<br />

Anknüpfend an Michael Novak schilderte Professor Anton Rauscher in seinem<br />

Vortrag „Die Maxime ‚Religion ist Privatsache’“ zunächst den religiösen<br />

Schrumpfungsprozeß in Europa im Gegensatz zu der gestiegenen Bedeutung der<br />

katholischen Kirche in den USA, die mit 65 Millionen zur größten religiösen Gemeinschaft<br />

in den USA geworden ist. Während in den USA die Anerkennung der<br />

Religionsfreiheit zu einem religiösen Aufschwung geführt hat, sind in Europa die<br />

Religionsfreiheit und die Maxime „Religion ist Privatsache“ in einer antikirchlichen<br />

Stoßrichtung gedeutet worden, die eine Verdrängung aller religiösen Elemente<br />

aus dem öffentlichen Leben zur Folge haben sollte. Umstrittene Urteile des<br />

Bundesverfassungsgerichts („Kruzifix-Urteil“, „Kind als Schaden“) aus den 90er<br />

Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben hierzu ihr übriges beigetragen.<br />

Auf staatskirchenrechtliche Grundüberlegungen ging Professor Martin Heckel von<br />

der Universität Tübingen ein, wobei er feststellte, daß das Staatskirchenrecht längst<br />

zu einem säkularen Rahmenrecht geworden ist. „Jedweder Glaube, Irrglaube,<br />

Aberglaube, Unglaube ist gleichermaßen ohne staatliche Wertung seiner religiösen<br />

Dignität und Seriösität geschützt.“ Indem somit einerseits klart erkannt worden ist,<br />

daß der Sinn der Religion nicht vom Staat zu definieren ist, besitzt der Staat jedoch<br />

andererseits unzweifelhaft einen Kulturauftrag, der sich auf die religiös geprägte<br />

Kultur stützt und diese beispielsweise in der Erziehung auch deutlich werden läßt.<br />

„Kultur- und Bildungsfaktor“ auf der einen und „Glaubenswahrheit“ auf der anderen<br />

Seite sind zwar zu unterscheiden, doch bilden sie keinen Gegensatz, sondern<br />

ergänzen sich wechselseitig und verweisen aufeinander. Bezogen auf die Einführung<br />

des Schulfaches „LER“ führt Heckel aus, daß sich dahinter ein Religionsverständnis<br />

der „Gottlosigkeit“ verbirgt, das einen Agnostizismus bzw. Atheismus<br />

vermitteln will.<br />

Das Spannungsverhältnis von religiöser Erziehung und Säkularisierungstendenzen,<br />

wie es sich in Schule und Bildung in den neuen Bundesländern abzeichnet, stand<br />

im Mittelpunkt des Vortrags von Jürgen Aretz, Staatssekretär im Thüringer Ministerium<br />

für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Aretz wies darauf hin, daß der<br />

hohe Anteil Konfessionsloser auf dem Gebiet der ehemaligen DDR langfristige<br />

393


Ursachen habe: Er sei nicht allein durch die antikirchliche und antichristliche Politik<br />

und Propaganda der Kommunisten zu erklären, schon die Nationalsozialisten<br />

zwischen 1933 und 1945 hätten eine kirchenfeindliche Politik betrieben; hinzu<br />

kämen die ökonomischen und geistigen Prozesse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts,<br />

die die religiösen Bindungen in diesem Teil Deutschlands nachhaltig beeinträchtigt<br />

hätten. Wie sehr die weltanschaulich-säkulare Mentalität der früheren<br />

DDR-Gesellschaft nachwirkt, machte Aretz am Fortleben der Jugendweihe deutlich.<br />

Die Kirche suche darauf pastoral zu reagieren, so etwa in Form der „Lebenswendefeiern“,<br />

die für die meisten der daran teilnehmenden Jugendlichen der erste<br />

Kontakt mit der Kirche überhaupt sei. Da trotz vielfältiger kirchlicher Initiativen<br />

und bei allem Engagement der Christen im einzelnen eine Neuchristianisierung<br />

nach 1990 ausgeblieben ist, komme, wie Aretz betonte, den christlichen Schulen<br />

und dem Religionsunterricht an den allgemeinen Schulen für die Zukunft eine um<br />

so größere Bedeutung zu.<br />

In seinem Beitrag „Religion und Gewalt“ wies der Trierer Professor für Christliche<br />

Sozialwissenschaft, Wolfgang Ockenfels, auf die mangelnde Bereitschaft zum<br />

Gewaltverzicht in nicht wenigen islamischen Staaten hin: „In den ‚islamisch’ dominierten<br />

Staaten ist die Religionsfreiheit stark eingeschränkt, in den ‚islamistisch’<br />

beherrschten ist sie – wie die übrigen Menschenrechte – so gut wie aufgehoben.“<br />

Aufgrund der Erkenntnis, daß der Islam keine verbindliche Instanz besitzt, die<br />

„islamistische“ Verfälschungen abwehren und „Häretiker“ entlarven könnte, fordert<br />

Ockenfels eine Aufklärung, wie sie das Christentum bereits im Mittelalter<br />

durch Thomas von Aquin erfahren hat. Das aristotelisch-thomasische Naturrechtsdenken<br />

hat im Christentum für eine grundlegende Unterscheidung zwischen Glauben<br />

und Politik, Kirche und Staat, Moral und Recht gesorgt. Insofern lassen sich –<br />

so der Sozialwissenschaftler – Fundamentalismus und Despotie nicht als „Rückfall“<br />

ins Mittelalter deuten, sondern stellen eher einen „Unfall“ oder „Abfall“ der<br />

Moderne dar.<br />

Alberto Piedra (The Catholic University of America, Washington, DC) ging in<br />

seinem Beitrag „Islam und Christianity“ ebenfalls auf die militante Tradition („jihad“<br />

etc.) des Islam ein, wobei er jedoch als die größte Gefahr für die chris tliche<br />

Kultur nicht externe Effekte verantwortlich macht, sondern interne: den Verlust<br />

von grundlegenden Werten und Prinzipien, die Europa im Laufe der Jahrhunderte<br />

errungen und beibehalten hat. Ein materalistisch und ausschließlich ökonomisch<br />

orientierter Westen hat einer tief religiösen islamischen Welt kaum etwas entgegen<br />

zu setzen. Von Wertverlusten in der westlichen Welt zeugte ebenfalls der Vortrag<br />

von H. Reed Armstrong (Sculptor, Front Royal, VA) zu dem Thema „The Human<br />

Person in the Visual Arts from the Classical Period to the Present“. Nicht wenige<br />

künstlerische Darstellungen lassen jegliche Achtung vor der Würde der menschlichen<br />

Person vermissen.<br />

Wenngleich die Umfrageergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach der<br />

vergangenen Jahre zum Themenkreis „Zur Situation der katholischen Kirche in<br />

Deutschland“ deutlich negative Werte für die Bedeutung und den Stellenwert der<br />

Kirche ergaben, so ließ der Referent des dortigen Instituts, Rüdiger Schulz, dennoch<br />

einen möglichen Ausweg erkennen: „Der 11. September 2001, der die Kir-<br />

394


chen zunächst bei Gedenkgottesdiensten füllte, hatte offensichtlich keine nachhaltigen<br />

Wirkungen. Der Trend zu hedonistischem Lebensgenuß erscheint in Deutschland<br />

ungebrochen. Aber parallel entwickeln sich auch Anzeichen für wieder mehr<br />

Reflexion, Zweifel am eingeschlagenen Weg und Bereitschaft zu mehr Verantwortung.<br />

Hier könnten sich der katholischen Kirche – allerdings nur bei größerer Lebensnähe<br />

und höherer Glaubwürdigkeit – wieder mehr Einflußchancen eröffnen.“<br />

Der neuzeitlichen Thematik „Glaube in der Zivilgesellschaft“ stellte sich der Bonner<br />

Professor für Christliche Gesellschafslehre, Lothar Roos, indem er die Entwicklungslinie<br />

einer Trennung des religiösen Glaubens von der staatlichen Autorität<br />

nachzeichnete. Neben Marsilius von Padua und Wilhelm von Ockham, die den<br />

Glauben als eine unabhängige Variable hervorgehoben haben, wird mit Thomas<br />

Hobbes und Jean-Jacques Rousseau der Glaube in die Abhängigkeit vom Staat<br />

gebracht (Begründung einer absoluten Staatssouveränität). Unmißverständlich<br />

weist Roos darauf hin, daß der demokratische Verfassungsstaat auf die transpositiven<br />

Wurzeln angewiesen ist. Nur diese vermögen die Menschenrechte ausreichend<br />

zu begründen. „Die Aufgabe der Begründung der Menschenrechte und der so<br />

verstandenen Demokratie leistet nicht ‚irgendeine’ Religion, sondern die biblischchristliche<br />

Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen.“<br />

Neben den insgesamt zwanzig Vorträgen in Wildbad Kreuth, die ein ausführliches<br />

Erkunden der herrlichen Umgebung der Tagungsstätte nicht zuließen, war am<br />

Sonntag der Besuch der hl. Messe im Münchener Liebfrauendom vorgesehen. Ein<br />

„Höhepunkt“ war dabei die Möglichkeit der Besteigung eines Turms der Bischofskirche,<br />

der den Blick bis an die Ränder der bayerischen Metropole ermöglichte.<br />

Ein Besuch im Ratskeller am Marienplatz gehörte ebenso zum Programm wie eine<br />

Besichtigung der Alten Pinakothek. Den Abschluß bildete ein „Expertengespräch“<br />

(mit den Professoren Michael Zöller, Hans Maier, Stefan Muckel, sowie Wolfgang<br />

G. Lerch von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem Islamwissenschaftler<br />

Rainer Glagow) zu dem Thema „Christen und Muslime: Religiöse, gesellschaftliche<br />

und kulturelle Probleme des Zusammenlebens“ in den neu errichteten Tagungsstätten<br />

der Hanns-Seidel-Stiftung in München.<br />

Die Tagung kann als gelungene Fortsetzung der bisherigen Deutsch-Amerikanischen<br />

Kolloquien gewertet werden. Die schrecklichen Ereignisse vom 11. September<br />

2001 haben einmal mehr deutlich gemacht, daß sich die westliche Welt<br />

ihrer freiheitlichen Werte immer wieder neu bewußt zu werden hat, die maßgeblich<br />

vom christlichem Glauben geprägt worden sind und beibehalten werden müssen.<br />

Bei aller Unterschiedlichkeit in der Entwicklung der amerikanischen und der europäischen<br />

Kultur bleibt die Besinnung auf die Bedeutung der Religion und ein klares<br />

Bekenntnis zum Christentum eine unverzichtbare Aufgabe der gegenwärtigen<br />

und der zukünftigen Generationen.<br />

Dr. habil. Clemens Breuer ist Oberassistent am Lehrstuhl für Moraltheologie an<br />

der Universität Augsburg und Privatdozent für Christliche Sozialwissenschaft an<br />

der Theologischen Fakultät Trier.<br />

395


Besprechungen<br />

Betriebswirtschaftslehre<br />

Wenn die Konjunktur boomt, werden<br />

außertarifliche Gehaltszuschläge selbstverständlich<br />

hingenommen. Da nun aber<br />

gegenwärtig Sand ins Wachstumsgetriebe<br />

kommt, lösen die z. B. von Hewlett-<br />

Packard erwünschten Verlustabwälzungen<br />

auf die Mitarbeiter eine emotionale<br />

und wohl kaum ideologiefreie Diskussion<br />

aus. Dabei führt ein aufmerksamer<br />

Blick in die historischen Wurzeln betriebswirtschaftlicherFührungskonzeptionen<br />

zu schon längst angedachten Modellen<br />

einer wirtschaftlich angemessenen<br />

wie humanen betrieblichen Beteiligung<br />

und Kooperation.<br />

Eduard Gaugler, Hundert Jahre Betriebswirtschaftslehre.FBS-Studienreihe,<br />

Bd. 53. Forschungsstelle für<br />

Betriebswirtschaft und Sozialpraxis,<br />

Mannheim/Weinheim 1998, 120 S.<br />

Der kleine Sammelband mit sechs thematisch<br />

passend sortierten Beiträgen<br />

unterschiedlichen Ursprungs (Vorträge,<br />

Artikel des inzwischen emeritierten<br />

Mannheimer Professors) bringt – verständlich<br />

wie gewinnend präsentiert –<br />

betriebswirtschaftliche Grundsatzfragen<br />

und aktuelle Führungskonzepte auf den<br />

Punkt. Einer historisch unterlegten Bestimmung<br />

der „neuen BWL“ folgt über<br />

die Beleuchtung von erprobten und erdachten<br />

Managementkonzepten der Anriß<br />

eines eigenen zukunftsweisenden<br />

Ausblicks. Unterlaufene Druckfehler<br />

trüben nicht die übersichtliche Präsentation,<br />

die sich durch passende Tabellen,<br />

Grafiken und gezielt ausgewählte Literaturverweise<br />

auszeichnet.<br />

1. Nach statistischen Übersichten zur<br />

wachsenden Bedeutung der BWL stellt<br />

der erste Beitrag inhaltliche Entwicklungslinien<br />

dieses Faches vor. Die nach<br />

396<br />

Gründung der ersten Handelshochschulen<br />

in Deutschland im Jahr 1898 zu<br />

lokalisierende „neue BWL“ schwankt<br />

danach zwischen Wertfreiheit und Normativität,<br />

zwischen allgemeiner und<br />

angewandter Theorie. Die Aussicht auf<br />

eine zunehmende Ausdifferenzierung<br />

des Faches wegen fehlender allgemeiner<br />

Paradigmen und verstärkter Praxisorientierung<br />

wirkt überzeugend.<br />

2. Sechs einschlägige Thesen zur BWL<br />

als Management- und Führungslehre<br />

betonen die notwendige Anwendungsorientierung<br />

sowie die Ergänzungsbedürftigkeit<br />

von allgemeinen Führungsmodellen<br />

durch Entgelt- und Mitbestimmungsaspekte<br />

in den Betrieben.<br />

3. Mit Verweis auf Thomas Kuhn will<br />

Gaugler die Schnittmenge zwischen<br />

ökonomischer und lebenspraktischer<br />

Vernunft weiten, indem Mitarbeiter zu<br />

Mitunternehmern werden. Im Gegensatz<br />

zu den Vorläufern aus dem 19. Jh. wird<br />

der Erfolg deutscher Modelle (Gert P.<br />

Spindler) aus der Nachkriegszeit in einer<br />

Kombination von materieller und intentionaler<br />

Beteiligung ausgemacht.<br />

4./5. Der Überbewertung des Shareholder-values<br />

auf Unternehmensführung<br />

bzw. Personalmanagement wird das differenzierte<br />

Geflecht der Unternehmensziele<br />

und insbesondere der Stakeholdervalue<br />

entgegengehalten. Gaugler fordert<br />

deshalb angemessene Gewinnerzielung<br />

statt kurzfristiger Maximierung.<br />

6. Dieser Umsetzung wird das übersichtlich<br />

von alternativen Modellen geschiedene<br />

Human-Resource-Management-<br />

Konzept nach R.E. Miles zugrundegelegt.<br />

Auf der Basis eines optimistischen<br />

Menschenbildes handelt es sich dabei<br />

um eine langfristige humanistischnormative<br />

Strategie, die vor allem von<br />

der Harvard-Universität weitergedacht<br />

wird.<br />

Die Sammlung bietet neben einer angebotenen<br />

Positionierung den übersichtli-


chen Anriß von Fragen des Personalmanagements<br />

und lädt mit seiner anthropologischen<br />

Fundierung wie ethischer Relevanz<br />

weiterführend zum unternehmensethischen<br />

Diskurs ein. Wer mit betriebswirtschaftlichem<br />

Hintergrund hier<br />

einsteigen möchte, dem sei dieser Band<br />

mit Nachdruck empfohlen.<br />

Elmar Nass<br />

Unternehmensethik<br />

Jede ernstzunehmende sozialethische<br />

Abhandlung muß vor der ersten normativen<br />

Schlußfolgerung Rechenschaft<br />

über ihre Kenntnis sozialer Gesetzmäßigkeiten<br />

und Interdependenzen ablegen<br />

können. Ebenso kann eine relevante<br />

Fortentwicklung der Unternehmensethik<br />

nur dann gelingen, wenn dafür systematische<br />

Ansätze zu betriebswirtschaftlichen<br />

Prozessen der Motivation und<br />

Zielerreichung zugrundegelegt werden.<br />

In einer von Uwe-Andreas Michelsen<br />

begleiteten Dissertation wird diese<br />

Grundlagenforschung vorangetrieben.<br />

Michael Müller-Vorbrüggen, Handlungsfähigkeit<br />

durch gelungene Kompetenz-Performanz-Beziehungen<br />

als<br />

Gegenstand moderner Personal- und<br />

Organisationsentwicklung. Entwurf<br />

eines theoretischen Rahmenkonzepts.<br />

Reihe: Berichte aus der Betriebswirtschaft.<br />

Shaker Verlag, Aachen, 2001<br />

164 S.<br />

Titel und Einführung verweisen auf ein<br />

ebenso komplexes wie notwendiges<br />

Unterfangen zur theoretischen Grundlegung<br />

zielgerichteter Handlungsprozesse<br />

in Unternehmen, das mit psychologischem<br />

und pädagogischem Sachverstand<br />

die betriebswirtschaftlich notwendige<br />

Effizienz zu operationalisieren sucht.<br />

Begriffliche Schärfe und ein nicht unkritisches<br />

Bekenntnis zu den eigenen theoretischen<br />

Wurzeln führen zu einem<br />

systemischen Modell der<br />

Motivationsoptimierung, das anschließend<br />

noch einmal hinterfragt und<br />

durch einen Ausblick auf erhoffte Anknüpfungen<br />

ergänzt wird. Es gewinnt<br />

sein Profil durch eine immer wieder<br />

einfließende Abgrenzung von „traditionellen“<br />

Alternativen, die als Gegenpart<br />

hätten systematisiert werden können.<br />

Zusammenfassende Gedanken zu den<br />

Kapiteln finden sich nur am Schluß. Die<br />

wegen des terminologischen<br />

Schwerpunktes hilfreiche Zusammenstellung<br />

der Schlüsselbegriffe könnte für<br />

den fachfremden Leser noch erweitert<br />

werden. Zahlreiche Abbildungen und<br />

Tabellen Der gewählte erleichtern systemische den Zugang. Ansatz dient<br />

der Relativierung, nicht aber der Ersetzung<br />

langfristiger Zielvorgaben. Dem<br />

einseitigen Glauben an den Aufbau und<br />

die Ausrichtung an einer Unternehmenskultur<br />

wird die Symb iose von<br />

Kompetenz (als Disposition) und Performanz<br />

entgegengesetzt, die langfristige<br />

und kurzfristige Zielaspekte vereint.<br />

Diese Dynamik interdependenter Organisations-<br />

und Personalentwicklung wird<br />

über die Handlungsfähigkeit begründet,<br />

die als theoretisches Konstrukt früh<br />

eingeführt und im Laufe der Abhandlung<br />

nach und nach als solche erklärt ist.<br />

Eine Absetzung zum Konstruktivismus<br />

etwa bei Niklas Luhmann schimmert<br />

durch, wird jedoch nicht explizit vorgenommen.<br />

Müller-Vorbrüggen gelingt für<br />

den eigenen Ansatz eine überzeugende<br />

Verknüpfung des Handlungsphasenmodells<br />

von Peter M. Gollwitzer et altri<br />

und der durch Moderation wie Feedback-Strukturen<br />

zu operationalisierenden<br />

Goal-Setting-Theorie von Edwin A.<br />

Locke et altri und stellt die Modelle<br />

dann ausführlicher in der abschließenden<br />

Diskussion gegeneinander.<br />

Im Zeitalter ständig veränderter Rahmenbedingungen<br />

wird die Dynamik der<br />

Zielsetzung an die Modifizierung von<br />

397


Moderation und Mediation verknüpft.<br />

Es ist dabei ein optimistisches<br />

Menschenbild unterstellt, das ebenso<br />

wie die dezentrierte Vernunft nach<br />

Hans-Joachim Höhn Platz läßt für<br />

emotionale Momente der Rationalität.<br />

Der umgrenzte Anspruch theoretischer<br />

Grundlagenbildung wird über den<br />

Grenzgang zwischen unterschiedlichen<br />

Disziplinen erfolgreich in einer heuristisch-innovativen<br />

Systematisierung eingelöst.<br />

Die offen gelassene Frage nach<br />

den Zielinhalten fordert nun zu einer<br />

unternehmensethischen Fortführung auf<br />

der Basis dieser fächerübergreifend angelegten<br />

Managementkompetenz heraus.<br />

398<br />

Elmar Nass<br />

Familienpolitik<br />

Um das umfassende wissenschaftliche<br />

Werk von Max Wingen zu würdigen,<br />

bedarf es eigentlich keiner weiteren<br />

Rezension. Seine zahlreichen Schriften<br />

zur Familienethik und -politik gehören<br />

zu den Meilensteinen der nachkriegsdeutschen<br />

Debatte. Dennoch bietet sein<br />

jüngster Sammelband auch Anlaß zur<br />

kritischen Rückfrage:<br />

Wingen, Max: Familienpolitische<br />

Denkanstöße. Sieben Abhandlungen<br />

(Connex – gesellschaftspolitische Studien,<br />

Band 1), Vektor-Verlag, Grafschaft<br />

2001, 291 S.<br />

In sieben Abhandlungen, bescheiden als<br />

Denkanstöße benannt, legt Max Wingen<br />

Fundament und Schattierungen seiner<br />

familienpolitischen Perspektive dar. Das<br />

Zentrum der Überlegungen ist dabei klar<br />

und wertvoll: Familienpolitik gilt ihm<br />

als gesellschaftliche Ordnungspolitik<br />

und „Querschnittsaufgabe“.<br />

Hierzu bedarf es laut Wingen einer integrativen<br />

Sichtweise von Wirtschafts-<br />

und Sozialpolitik: eine Unterordnung<br />

von sozial- und damit auch familienpolitischen<br />

Zielen unter den Primat der<br />

ökonomischen Sphäre ist folglich unzulässig.<br />

Dieser ambitionierten Forderung<br />

ist vollends zuzustimmen – wieso also<br />

durchkreuzt Wingen an anderen Stellen<br />

seine eigene Agenda? Wenn Wingen<br />

„Anreizdenken“ (80) fordert und detailliert<br />

begründet, rückt er in die Nähe<br />

einer wirtschaftsethischen Logik, die<br />

einer Sozialpolitik für den Markt das<br />

Wort redet: Ist auch für Wingen – um<br />

eine Formulierung von Karl Homann<br />

aufzugreifen – die Ökonomik die Fortsetzung<br />

der Ethik mit anderen Mitteln?<br />

Gleiches gilt zu befürchten, wenn Wingen<br />

das Konzept der Generationenbilanzierung<br />

vorstellt. Diese Methodik, die<br />

mittels der Gegenüberstellung von Nettotransferzahlungen<br />

von heute Lebenden<br />

im Vergleich zu zukünftigen Generationen<br />

intergenerative Umverteilung sichtbar<br />

machen will, beschränkt sich auf<br />

eine rein finanzierungstechnische Erfassung<br />

des Gerechtigkeitsproblems und<br />

zielt lediglich auf einen monetären Ausgleich<br />

zwischen den Generationen. Doch<br />

statt – wie Wingen fordert – die Ansätze<br />

zu verfeinern, wäre auf ihre bestenfalls<br />

für eine neoklassische Ökonomik begrenzte<br />

Gültigkeit und auf die weitergehende<br />

Bedeutung nicht-monetärer Solidarität<br />

hinzuweisen. Hierbei ist auch die<br />

von Wingen gegebene Definition von<br />

Generationengerechtigkeit zu überdenken,<br />

in der er vom Grundsatz ausgeht,<br />

„daß jede Generation der nächsten mindestens<br />

so viele Chancen und Handlungsspielräume<br />

hinterlassen sollte, wie<br />

sie selbst vorgefunden hat“ (154). Denn<br />

versteht man dies rein quantitativ, fehlt<br />

die konkrete Ausgestaltung, ist es hingegen<br />

qualitativ gemeint, bleibt die<br />

Bestimmung recht unscharf: jedwedes<br />

Handeln einer lebenden Generation<br />

beschränkt und erweitert zugleich den<br />

Handlungsspielraum der kommenden<br />

Generation.


Eine grundlegendere Diskussion wäre<br />

auch in bezug auf ein weiteres Thema<br />

wünschenswert gewesen: So betont Wingen,<br />

daß die Soziale Marktwirtschaft auf<br />

Institutionen „wie die Familie“ (12)<br />

angewiesen sei, um die vorgängige<br />

Wertebasis zu sichern. Zugleich charakterisiert<br />

er die Familie als „gesellschaftliche(s)<br />

Teilsystem“, das „an seine ihm<br />

gesetzten Grenzen stößt“ (14). Doch wie<br />

ist diese Differenz zwischen einer Moral,<br />

gebildet in und beschränkt auf die<br />

„kleinen Gemeinschaften des täglichen<br />

Lebens“ (Günter Dux) und einer gesamtgesellschaftlichen<br />

Wertebasis aufzuheben?<br />

Bei aller Kritik im Detail leistet der<br />

Band eine zentrale Aufgabe: Er ist eine<br />

Zusammenschau nicht nur der überaus<br />

fundierten Position von Max Wingen, er<br />

kann zugleich – insbesondere mit einem<br />

Verständnis von Familienpolitik als<br />

gesellschaftlicher Ordnungspolitik – als<br />

„state of the art“ gelten. Darüber hinaus<br />

hat der Band seine besonderen Stärken<br />

in den historischen Darstellungen. Das<br />

Kapitel zur Geschichte und zum Stand<br />

der Diskussion um das Familienwahlrecht<br />

sowie die abschließenden und zum<br />

Teil recht persönlichen Anmerkungen zu<br />

50 Jahren Familienpolitik sind faszinierend<br />

und informativ zugleich. Hätte man<br />

in der Edition des Bandes sorgfältiger<br />

darauf geachtet, inhaltliche Redundanzen<br />

zu vermeiden (die ersten vier Beiträge<br />

sind doch weitestgehend kongruent),<br />

wäre sowohl den Positionen von<br />

Wingen als auch dem programmatischen<br />

Charakter dieses ersten Bandes der<br />

wissenschaftlichen Reihe des Zentralinstituts<br />

für Ehe und Familie in der Gesellschaft<br />

eher gedient gewesen. Um es<br />

zusammenzufassen: Das Buch ist zu<br />

empfehlen, wenn man es in Etappen<br />

liest – daß es die Diskussion bereichert,<br />

steht außer Frage.<br />

Nils Goldschmidt<br />

Religion<br />

Fazit: Unbedingt lesen, gerade auch wer<br />

noch nie etwas über ‚so etwas‘ gelesen<br />

hat! Zupackend, geistreich und anregend<br />

läßt Zander die ach so menschliche<br />

Geschichte einer scheinbar gänzlich<br />

verstaubten Epoche wiederauferstehen.<br />

Zander, der bei den Dominikanern am<br />

eigenen Leib Ordenserfahrungen gesammelt<br />

hat, erweist sich mit seinen<br />

Essays über die frühen ägyptischen und<br />

syrischen Wüstenväter als meisterlicher<br />

Historienerzähler, der möglicherweise<br />

für manche zu journalistisch, dafür aber<br />

um so erfrischender seine Pointen setzt.<br />

Hans Conrad Zander, Als die Religion<br />

noch nicht langweilig war. Die Geschichte<br />

der Wüstenväter, Kiepenheuer<br />

& Witsch-Verlag, Köln 2001, 296 S.<br />

Seine Einblicke und Erkenntnisse gruppiert<br />

Zander dreifach: um den Wüstenvater<br />

Antonius, der als erster das Exp eriment<br />

der Einsamkeit einging; um<br />

Pachomius, der in seinen wirtschaftlich<br />

potenten Mönchskolonien gewis sermassen<br />

Einsamkeit für alle organisierte; um<br />

den Extremasketen Simeon, den älteren<br />

Säulensteher. In die höchst anschauliche<br />

Milieuschilderung fließen politische,<br />

wirtschaftliche, religiöse und spirituelle<br />

Aspekte ein. Durch präzise Beobachtungen<br />

gelingt es Zander immer wieder,<br />

unsere klischeehaften Vorstellungen<br />

anhand der harten Tatsachen des spätantiken<br />

Lebensalltags zu korrigieren.<br />

Herausgegriffen seien nur die Ausführungen<br />

über Antonius und seine Wohnverhältnisse<br />

in seinem Heimatdorf Koma.<br />

Von Antonius heißt es, er habe seine<br />

bewegliche Habe an die Armen verteilt,<br />

das ererbte Land aber den Dorfnachbarn<br />

geschenkt. Weshalb diese Aufteilung?<br />

Weil das ökonomisch sinnvoll und gemeinnützig<br />

war! Seit der diokletianischen<br />

Steuerreform mußte jedes Dorf<br />

kollektiv einen bestimmten Steuerwert<br />

399


aufbringen, wofür die reichsten Familien<br />

mit ihrem Besitz hafteten. Unter diesen<br />

Familien war vermutlich die des Antonius.<br />

Hätte Antonius seine Landgüter aufgeteilt,<br />

wäre auf alle Dorfbewohner eine<br />

enorme Steuerlast zugekommen; so aber<br />

ist es dem mutmaßlich ebenfalls wohlhabenden<br />

Nachbarn möglich, durch die<br />

Erträge seines erweiterten Besitzes für<br />

die Solidargemeinschaft des Dorfes<br />

steuerlich einzustehen. In diesen Zusammenhang<br />

gehört dann auch die Steuerfreiheit<br />

der Besitz- und Landlosen, die<br />

das Leben der Wüstenmönche überraschend<br />

attraktiv machte: „Für ihren<br />

Exodus aus Ägypten hatten sie ein<br />

mächtiges finanzielles Motiv: die Flucht<br />

vor der römischen Steuer. Aber genauso<br />

mächtig war ihr religiöses Motiv: die<br />

Nachfolge Chris ti ... So ist das in der<br />

Religion: Wo ein starkes finanzielles<br />

Motiv und ein starkes spirituelles Motiv<br />

sich verbinden, in dieser Kernfusion<br />

wird die Religion geschichtsmächtig und<br />

schöpferisch“ (S. 72-80: „Karl Marx in<br />

der Wüste“).<br />

400<br />

Mag Zander zuweilen auch kernig gegen<br />

heutige Trendschwadroneure und<br />

intellektuelle Irrläufer polemisieren und<br />

gewagte Vergleiche anstellen, nie verläßt<br />

er mutwillig den historischen Boden;<br />

dazu liebt er seine Wüstenväter zu<br />

sehr (Wüstenmütter gibt es nicht: S.<br />

115-131). Fachlich ist das Werk durchaus<br />

solide; es beruht auf echtem Quellenstudium<br />

und persönlicher Landeskunde.<br />

Im Einzelnen sind freilich Korrekturen<br />

möglich. Das griechische<br />

„Psalmodieren“ bedeutet nicht, daß die<br />

Mönche nach unserer heutigen Vorstellung<br />

die Psalmen „gesungen“ haben (S.<br />

104f); Psalmensingen galt den Asketen<br />

als Dekadenzerscheinung der überladenen<br />

Liturgie der Kathedralkirchen. Mit<br />

dem Edikt von Mailand i.J. 313 wurde<br />

die Kirche noch lange nicht „Staatskirche“<br />

(S. 133); davon kann erst unter<br />

Theodosius die Rede sein.<br />

Stefan Heid


401

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