Naturrecht, Geschichte und Vernunft (I) - Tuomi
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thomistischen Erkenntnistheorie spielt hierbei die sogenannte Abstraktionstheorie 8<br />
eine zentrale Rolle: unsere theoretische <strong>Vernunft</strong> gewinnt die Erkenntnis des Seins in<br />
Form von aus der Wirklichkeit abstrahierten Wesenheiten. Dadurch, so die Voraussetzung,<br />
vermag sie der praktischen <strong>Vernunft</strong> allgemeingültige Inhalte zu geben.<br />
Hiermit jedenfalls ist die Gr<strong>und</strong>bedingung für ein echtes ethisches Soll erfüllt, nämlich<br />
die allgemeingültige <strong>und</strong> absolute Forderung. Zugleich ermöglicht der abstrahierte<br />
Inhalt die Hinwendung zur konkreten Wirklichkeit, die Meisterung der Aufgaben<br />
aus sittlicher Verantwortung. 9 Aus dieser Konvergenz von Wesenheit <strong>und</strong> Gewissen<br />
folgt, daß sittlich gutes Verhalten Seinsverwirklichung besagt.<br />
Seinsverwirklichung aber bedeutet Vervollkommnung <strong>und</strong> Glück.<br />
2. Wertordnung: Allgemeingültige Erkenntnis <strong>und</strong> geschichtlich geprägte Kultur<br />
Der aristotelisch-thomistischen Ethik geht es um das Objekt der Handlung, um dasjenige,<br />
was wesentlich <strong>und</strong> darum allgemeingültig ist. Nun weist Utz freilich darauf<br />
hin, daß das, was in bezug auf die allgemeinen Erkenntnisse, die für die Handlungslehre<br />
von Bedeutung sind, oft übersehen wurde, die Tatsache ist, daß die Wesenserkenntnisse<br />
auf dem Gebiet der Werte nicht vollkommen theoretisch gewonnen werden.<br />
Innerhalb der thomistischen Philosophie ergeben sich von hier aus zwei Richtungen.<br />
Die einen nehmen an, die Objekte der Handlungen ließen sich mehr oder<br />
weniger vollkommen auf theoretischem Wege definieren, so daß die praktische <strong>Vernunft</strong><br />
keine andere Aufgabe hätte, als die theoretisch gewonnenen Definitionen in<br />
Imperative umzuformen. Zu diesen zählt Utz die meisten Thomaskommentatoren<br />
<strong>und</strong> Scholastiker, vor allem auch die Moraltheologen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Die anderen<br />
geben sich Rechenschaft darüber, daß alle Definitionen, welche das Handeln des<br />
Menschen orientieren sollen, stark von der geschichtlich geprägten Kultur bedingt<br />
sind <strong>und</strong> Zeit zur Ausreifung erfordern, um als Definitionen im eigentlichen Sinne<br />
gelten zu können. Zu dieser zweiten, zahlenmäßig geringeren Gruppe zu zählen sind<br />
vor allem Thomas von Aquin selbst, unter den <strong>Naturrecht</strong>svertretern des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
insbesondere der große Systematiker des <strong>Naturrecht</strong>s Johannes Messner <strong>und</strong><br />
nicht zuletzt auch Utz selber (dieser freilich z.T. auch das Anliegen der Spätscholastiker<br />
anerkennend).<br />
3. Die Frage der Wesensdefinition <strong>und</strong> absoluter Werturteile: zwei Richtungen des<br />
Thomismus<br />
Die aristotelisch-thomistische Ethik muß mithin die Frage reflektieren, ob die aus<br />
dem Sein abgelesenen Definitionen wirkliche Definitionen sind, oder ob es sich nicht<br />
vielmehr um Erkenntnisse handelt, die wir heute als vorläufig <strong>und</strong> hypothetisch bezeichnen<br />
würden. Auch der die Abstraktionslehre noch so wichtig findende Erkenntnistheoretiker<br />
muß zugestehen, daß die Scholastiker, auch Thomas von Aquin selber,<br />
oft etwas rasch sich vor Definitionen wähnten. Aber dies dürfte kein Anlaß sein, nun<br />
den Gedanken der Abstraktion völlig abzuweisen. Beim Lesen mancher mit großer<br />
Selbstsicherheit vorgetragenen Theorien mancher Soziologen gewinnt man den<br />
Eindruck, auch hier habe man es mit einem voreiligen Essentialismus zu tun. Die<br />
Scholastiker hatten eben die damals verfügbare Erfahrung zugr<strong>und</strong>egelegt. Entsprechend<br />
wird es immer bleiben. Dennoch sucht der Mensch spontan nach Allgemeinerkenntnis,<br />
was die Tendenz der Soziologen nach Bildung einer Theorie zu erklären<br />
vermag.<br />
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