Naturrecht, Geschichte und Vernunft (I) - Tuomi
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Sozialethik bis heute zukommt. Ihr Charakteristikum ist eine auf einem erkenntnistheoretischen<br />
<strong>und</strong> metaphysischen Realismus aufbauende materiale Ethik. An materialer<br />
Ethik orientiert sind freilich auch andere Ethiken wie die phänomenologische<br />
Wertethik, insbesondere aber auch die Hegelsche dialektische Ethik, um nur diese zu<br />
nennen. Beide sind im Gegensatz zum Realismus der <strong>Naturrecht</strong>sphilosophie Vertreter<br />
eines – wenn auch sehr unterschiedlichen (zum einen wertethischen, zum anderen<br />
geschichtsphilosophisch-immanentistischen) – Idealismus. Eine geistesgeschichtlich<br />
besonders einflußreiche, den Beginn der Kopernikanischen Wende in der modernen<br />
Philosophie bezeichnende Variante idealistischer Philosophie begegnet uns im<br />
„transzendentalen Idealismus“ als der Begründungsphilosophie der Kantschen Ethik.<br />
Deren Charakteristikum ist bei Ablehnung einer ontologischen F<strong>und</strong>ierung der Rekurs<br />
auf eine formal begründete absolute <strong>und</strong> allgemeingültige Ethik. Diese bis heute<br />
die ethische Debatte beherrschende Auseinandersetzung zwischen den philosophischen<br />
Systemen sei im folgenden kurz skizziert in der Absicht, hiermit den systematischen<br />
Stellenwert einiger wesentlicher Elemente des auf der aristotelischthomistischen<br />
Tradition aufbauenden <strong>und</strong> diese weiterentwickelnden <strong>Naturrecht</strong>sdenkens,<br />
deren Herausarbeitung nicht zuletzt Utz 4 sich zu einer zentralen Aufgabe<br />
machte, im Zueinander <strong>und</strong> Gegeneinander der Argumente besser verstehen zu können.<br />
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II. Die F<strong>und</strong>ierung der Sollensordnung im Sein<br />
Die auf der aristotelisch-thomistischen 6 Philosophie aufbauende klassische <strong>Naturrecht</strong>slehre<br />
zählt zu jenen Ethiken, die ontologisch, d.h. an einer F<strong>und</strong>ierung der<br />
Sollensordnung im Sein orientiert sind. Dies gilt nicht nur für die Individual-, sondern<br />
auch für die Sozialethik. 7 Eine solche Ethik muß uns sagen können, was gut <strong>und</strong><br />
was schlecht in unserem gesellschaftlichen Handeln ist <strong>und</strong> wie wir Normen gewinnen,<br />
um unsere rationalen Überlegungen zugleich sittlich verantworten zu können.<br />
Wir erwarten von ihr echtes Wirklichkeitsverständnis, <strong>und</strong> zwar ein Wirklichkeitsverständnis<br />
nicht nur für unsere sittliche Integrität, sondern zugleich auch für unsere<br />
gesellschaftliche Situation. Sittliche Integrität <strong>und</strong> gesellschaftliche Situation aber in<br />
einem einzigen sittlichen Imperativ zusammenzubringen, macht eine Ethik erforderlich,<br />
welche einerseits über der Situation steht <strong>und</strong> das Absolute ergreift, andererseits<br />
aber auch das Konkrete <strong>und</strong> Individuelle nicht vernachlässigt. Sozialethik im naturrechtlichen<br />
Sinne geht es um den Aufweis einer gesellschaftlichen Ganzheitsnorm,<br />
die mehr ist als die Summe individueller Normen, denn aus keiner noch so adäquaten<br />
Summierung der Einzelverantwortungen resultiert bereits die Norm für ein Ganzes.<br />
Freilich muß in dieser Norm die Verantwortung der einzelnen mit enthalten sein.<br />
Voraussetzung ist daher eine Offenheit für die Realität des Individuellen. Sozialethik<br />
im naturrechtlichen Sinne bedarf ganzheitlicher Orientierung, muß aber zugleich in<br />
der Lage sein, einen rationalen Ausgleich der individuellen Interessen innerhalb des<br />
Gesellschaftsganzen zu ermöglichen.<br />
1. Theoretische <strong>und</strong> praktische <strong>Vernunft</strong> – Seinserkenntnis <strong>und</strong> Seinsverwirklichung<br />
Für die Ethik gr<strong>und</strong>legend ist die Unterscheidung von theoretischer <strong>und</strong> praktischer<br />
<strong>Vernunft</strong>. In der in einem metaphysischen Realismus begründeten aristotelisch-