Naturrecht, Geschichte und Vernunft (I) - Tuomi

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Peter Paul Müller-Schmid Naturrecht, Geschichte und Vernunft (I) Naturrecht und Pluralismus bei Arthur F. Utz OP Vor zehn Jahren, am 18. Oktober 2001, verstarb dreiundneunzigjährig einer der großen katholischen Sozialphilosophen des 20. Jahrhunderts: Arthur F. Utz OP 1 (geb. 15. 4. 1908), Schweizer Theologe und Philosoph, Naturrechtler und Interpret der Geschichte der Naturrechtstheorien (insbesondere Thomas von Aquin), Interpret der katholischen Soziallehre und Herausgeber grundlegender Texte zu ihrer Geschichte, Systemdenker 2 und Verfasser einer die Prinzipien der Gesellschaftslehre, die Rechtsphilosophie sowie die ordnungsethischen Grundfragen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft umfassenden fünfbändigen Sozialethik. Neben den in Erinnerung zu rufenden Leistungen und den Rückblicken auf ein großes philosophischtheologisches Lebenswerk und dessen zeitgeschichtlichen Rang und grundsätzliche Bedeutung dürfte es von Nutzen sein, das Augenmerk auch einer all seine Publikationen durchziehenden Grundidee zuzuwenden – der Frage des Naturrechts: nur scheinbar eine Spezialfrage der Ethik, in Wirklichkeit jedoch die in Utz’ Sicht überhaupt zentrale Frage nach der Begründungsphilosophie einer freiheitlich-sozialen Ordnungsethik. So seien im folgenden – auch im kritischen Dialog mit gegensätzlichen, für Utz’ Situierung seiner naturrechtlichen Sozialethik jedoch eine Rolle spielenden Theorien – einige Überlegungen formuliert zu Grundfragen des Naturrechts als des Herzstücks einer in der Geistesgeschichte, auch im zeitgenössischen Diskurs im Hinblick auf seine metaphysischen Voraussetzungen geschätzten, aber auch umkämpften normativen Ordnungsphilosophie von Freiheit und Bindung des in die Gesellschaft integrierten Menschen und seiner personalen Würde. I. Die zwei prinzipiellen Systeme der Ethik Ausgangspunkt der Utzschen Sozialethik ist der Sachverhalt, daß es im Grunde nur zwei prinzipielle Systeme der Ethik gibt: eines, das seine Normen aus dem Sein bezieht, oder aber ein solches, welches Sein und Sollen trennt und einen eigenen Bereich des Sollens postuliert. 3 Freilich ist, wie Utz betont, nicht zu übersehen, daß es innerhalb der beiden Gruppen eine große Verschiedenheit der Theorien und Denkansätze gibt. Es erscheine daher oft als mißverständlich, sie unter einem gemeinsamen Namen zu nennen. Zur ersten Gruppe zählt die aristotelisch-thomistische Naturrechtsethik, der eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Moralphilosophie und 343

Peter Paul Müller-Schmid<br />

<strong>Naturrecht</strong>, <strong>Geschichte</strong> <strong>und</strong> <strong>Vernunft</strong> (I)<br />

<strong>Naturrecht</strong> <strong>und</strong> Pluralismus bei Arthur F. Utz OP<br />

Vor zehn Jahren, am 18. Oktober 2001, verstarb drei<strong>und</strong>neunzigjährig einer der<br />

großen katholischen Sozialphilosophen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts: Arthur F. Utz OP 1<br />

(geb. 15. 4. 1908), Schweizer Theologe <strong>und</strong> Philosoph, <strong>Naturrecht</strong>ler <strong>und</strong> Interpret<br />

der <strong>Geschichte</strong> der <strong>Naturrecht</strong>stheorien (insbesondere Thomas von Aquin), Interpret<br />

der katholischen Soziallehre <strong>und</strong> Herausgeber gr<strong>und</strong>legender Texte zu ihrer <strong>Geschichte</strong>,<br />

Systemdenker 2 <strong>und</strong> Verfasser einer die Prinzipien der Gesellschaftslehre,<br />

die Rechtsphilosophie sowie die ordnungsethischen Gr<strong>und</strong>fragen von Staat, Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Wirtschaft umfassenden fünfbändigen Sozialethik. Neben den in Erinnerung<br />

zu rufenden Leistungen <strong>und</strong> den Rückblicken auf ein großes philosophischtheologisches<br />

Lebenswerk <strong>und</strong> dessen zeitgeschichtlichen Rang <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Bedeutung dürfte es von Nutzen sein, das Augenmerk auch einer all seine Publikationen<br />

durchziehenden Gr<strong>und</strong>idee zuzuwenden – der Frage des <strong>Naturrecht</strong>s: nur<br />

scheinbar eine Spezialfrage der Ethik, in Wirklichkeit jedoch die in Utz’ Sicht überhaupt<br />

zentrale Frage nach der Begründungsphilosophie einer freiheitlich-sozialen<br />

Ordnungsethik. So seien im folgenden – auch im kritischen Dialog mit gegensätzlichen,<br />

für Utz’ Situierung seiner naturrechtlichen Sozialethik jedoch eine Rolle<br />

spielenden Theorien – einige Überlegungen formuliert zu Gr<strong>und</strong>fragen des <strong>Naturrecht</strong>s<br />

als des Herzstücks einer in der Geistesgeschichte, auch im zeitgenössischen<br />

Diskurs im Hinblick auf seine metaphysischen Voraussetzungen geschätzten, aber<br />

auch umkämpften normativen Ordnungsphilosophie von Freiheit <strong>und</strong> Bindung des in<br />

die Gesellschaft integrierten Menschen <strong>und</strong> seiner personalen Würde.<br />

I. Die zwei prinzipiellen Systeme der Ethik<br />

Ausgangspunkt der Utzschen Sozialethik ist der Sachverhalt, daß es im Gr<strong>und</strong>e nur<br />

zwei prinzipielle Systeme der Ethik gibt: eines, das seine Normen aus dem Sein bezieht,<br />

oder aber ein solches, welches Sein <strong>und</strong> Sollen trennt <strong>und</strong> einen eigenen Bereich<br />

des Sollens postuliert. 3 Freilich ist, wie Utz betont, nicht zu übersehen, daß es<br />

innerhalb der beiden Gruppen eine große Verschiedenheit der Theorien <strong>und</strong> Denkansätze<br />

gibt. Es erscheine daher oft als mißverständlich, sie unter einem gemeinsamen<br />

Namen zu nennen. Zur ersten Gruppe zählt die aristotelisch-thomistische <strong>Naturrecht</strong>sethik,<br />

der eine bedeutende Rolle in der <strong>Geschichte</strong> der Moralphilosophie <strong>und</strong><br />

343


Sozialethik bis heute zukommt. Ihr Charakteristikum ist eine auf einem erkenntnistheoretischen<br />

<strong>und</strong> metaphysischen Realismus aufbauende materiale Ethik. An materialer<br />

Ethik orientiert sind freilich auch andere Ethiken wie die phänomenologische<br />

Wertethik, insbesondere aber auch die Hegelsche dialektische Ethik, um nur diese zu<br />

nennen. Beide sind im Gegensatz zum Realismus der <strong>Naturrecht</strong>sphilosophie Vertreter<br />

eines – wenn auch sehr unterschiedlichen (zum einen wertethischen, zum anderen<br />

geschichtsphilosophisch-immanentistischen) – Idealismus. Eine geistesgeschichtlich<br />

besonders einflußreiche, den Beginn der Kopernikanischen Wende in der modernen<br />

Philosophie bezeichnende Variante idealistischer Philosophie begegnet uns im<br />

„transzendentalen Idealismus“ als der Begründungsphilosophie der Kantschen Ethik.<br />

Deren Charakteristikum ist bei Ablehnung einer ontologischen F<strong>und</strong>ierung der Rekurs<br />

auf eine formal begründete absolute <strong>und</strong> allgemeingültige Ethik. Diese bis heute<br />

die ethische Debatte beherrschende Auseinandersetzung zwischen den philosophischen<br />

Systemen sei im folgenden kurz skizziert in der Absicht, hiermit den systematischen<br />

Stellenwert einiger wesentlicher Elemente des auf der aristotelischthomistischen<br />

Tradition aufbauenden <strong>und</strong> diese weiterentwickelnden <strong>Naturrecht</strong>sdenkens,<br />

deren Herausarbeitung nicht zuletzt Utz 4 sich zu einer zentralen Aufgabe<br />

machte, im Zueinander <strong>und</strong> Gegeneinander der Argumente besser verstehen zu können.<br />

5<br />

344<br />

II. Die F<strong>und</strong>ierung der Sollensordnung im Sein<br />

Die auf der aristotelisch-thomistischen 6 Philosophie aufbauende klassische <strong>Naturrecht</strong>slehre<br />

zählt zu jenen Ethiken, die ontologisch, d.h. an einer F<strong>und</strong>ierung der<br />

Sollensordnung im Sein orientiert sind. Dies gilt nicht nur für die Individual-, sondern<br />

auch für die Sozialethik. 7 Eine solche Ethik muß uns sagen können, was gut <strong>und</strong><br />

was schlecht in unserem gesellschaftlichen Handeln ist <strong>und</strong> wie wir Normen gewinnen,<br />

um unsere rationalen Überlegungen zugleich sittlich verantworten zu können.<br />

Wir erwarten von ihr echtes Wirklichkeitsverständnis, <strong>und</strong> zwar ein Wirklichkeitsverständnis<br />

nicht nur für unsere sittliche Integrität, sondern zugleich auch für unsere<br />

gesellschaftliche Situation. Sittliche Integrität <strong>und</strong> gesellschaftliche Situation aber in<br />

einem einzigen sittlichen Imperativ zusammenzubringen, macht eine Ethik erforderlich,<br />

welche einerseits über der Situation steht <strong>und</strong> das Absolute ergreift, andererseits<br />

aber auch das Konkrete <strong>und</strong> Individuelle nicht vernachlässigt. Sozialethik im naturrechtlichen<br />

Sinne geht es um den Aufweis einer gesellschaftlichen Ganzheitsnorm,<br />

die mehr ist als die Summe individueller Normen, denn aus keiner noch so adäquaten<br />

Summierung der Einzelverantwortungen resultiert bereits die Norm für ein Ganzes.<br />

Freilich muß in dieser Norm die Verantwortung der einzelnen mit enthalten sein.<br />

Voraussetzung ist daher eine Offenheit für die Realität des Individuellen. Sozialethik<br />

im naturrechtlichen Sinne bedarf ganzheitlicher Orientierung, muß aber zugleich in<br />

der Lage sein, einen rationalen Ausgleich der individuellen Interessen innerhalb des<br />

Gesellschaftsganzen zu ermöglichen.<br />

1. Theoretische <strong>und</strong> praktische <strong>Vernunft</strong> – Seinserkenntnis <strong>und</strong> Seinsverwirklichung<br />

Für die Ethik gr<strong>und</strong>legend ist die Unterscheidung von theoretischer <strong>und</strong> praktischer<br />

<strong>Vernunft</strong>. In der in einem metaphysischen Realismus begründeten aristotelisch-


thomistischen Erkenntnistheorie spielt hierbei die sogenannte Abstraktionstheorie 8<br />

eine zentrale Rolle: unsere theoretische <strong>Vernunft</strong> gewinnt die Erkenntnis des Seins in<br />

Form von aus der Wirklichkeit abstrahierten Wesenheiten. Dadurch, so die Voraussetzung,<br />

vermag sie der praktischen <strong>Vernunft</strong> allgemeingültige Inhalte zu geben.<br />

Hiermit jedenfalls ist die Gr<strong>und</strong>bedingung für ein echtes ethisches Soll erfüllt, nämlich<br />

die allgemeingültige <strong>und</strong> absolute Forderung. Zugleich ermöglicht der abstrahierte<br />

Inhalt die Hinwendung zur konkreten Wirklichkeit, die Meisterung der Aufgaben<br />

aus sittlicher Verantwortung. 9 Aus dieser Konvergenz von Wesenheit <strong>und</strong> Gewissen<br />

folgt, daß sittlich gutes Verhalten Seinsverwirklichung besagt.<br />

Seinsverwirklichung aber bedeutet Vervollkommnung <strong>und</strong> Glück.<br />

2. Wertordnung: Allgemeingültige Erkenntnis <strong>und</strong> geschichtlich geprägte Kultur<br />

Der aristotelisch-thomistischen Ethik geht es um das Objekt der Handlung, um dasjenige,<br />

was wesentlich <strong>und</strong> darum allgemeingültig ist. Nun weist Utz freilich darauf<br />

hin, daß das, was in bezug auf die allgemeinen Erkenntnisse, die für die Handlungslehre<br />

von Bedeutung sind, oft übersehen wurde, die Tatsache ist, daß die Wesenserkenntnisse<br />

auf dem Gebiet der Werte nicht vollkommen theoretisch gewonnen werden.<br />

Innerhalb der thomistischen Philosophie ergeben sich von hier aus zwei Richtungen.<br />

Die einen nehmen an, die Objekte der Handlungen ließen sich mehr oder<br />

weniger vollkommen auf theoretischem Wege definieren, so daß die praktische <strong>Vernunft</strong><br />

keine andere Aufgabe hätte, als die theoretisch gewonnenen Definitionen in<br />

Imperative umzuformen. Zu diesen zählt Utz die meisten Thomaskommentatoren<br />

<strong>und</strong> Scholastiker, vor allem auch die Moraltheologen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Die anderen<br />

geben sich Rechenschaft darüber, daß alle Definitionen, welche das Handeln des<br />

Menschen orientieren sollen, stark von der geschichtlich geprägten Kultur bedingt<br />

sind <strong>und</strong> Zeit zur Ausreifung erfordern, um als Definitionen im eigentlichen Sinne<br />

gelten zu können. Zu dieser zweiten, zahlenmäßig geringeren Gruppe zu zählen sind<br />

vor allem Thomas von Aquin selbst, unter den <strong>Naturrecht</strong>svertretern des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

insbesondere der große Systematiker des <strong>Naturrecht</strong>s Johannes Messner <strong>und</strong><br />

nicht zuletzt auch Utz selber (dieser freilich z.T. auch das Anliegen der Spätscholastiker<br />

anerkennend).<br />

3. Die Frage der Wesensdefinition <strong>und</strong> absoluter Werturteile: zwei Richtungen des<br />

Thomismus<br />

Die aristotelisch-thomistische Ethik muß mithin die Frage reflektieren, ob die aus<br />

dem Sein abgelesenen Definitionen wirkliche Definitionen sind, oder ob es sich nicht<br />

vielmehr um Erkenntnisse handelt, die wir heute als vorläufig <strong>und</strong> hypothetisch bezeichnen<br />

würden. Auch der die Abstraktionslehre noch so wichtig findende Erkenntnistheoretiker<br />

muß zugestehen, daß die Scholastiker, auch Thomas von Aquin selber,<br />

oft etwas rasch sich vor Definitionen wähnten. Aber dies dürfte kein Anlaß sein, nun<br />

den Gedanken der Abstraktion völlig abzuweisen. Beim Lesen mancher mit großer<br />

Selbstsicherheit vorgetragenen Theorien mancher Soziologen gewinnt man den<br />

Eindruck, auch hier habe man es mit einem voreiligen Essentialismus zu tun. Die<br />

Scholastiker hatten eben die damals verfügbare Erfahrung zugr<strong>und</strong>egelegt. Entsprechend<br />

wird es immer bleiben. Dennoch sucht der Mensch spontan nach Allgemeinerkenntnis,<br />

was die Tendenz der Soziologen nach Bildung einer Theorie zu erklären<br />

vermag.<br />

345


Wann man von einer Wesensdefinition sprechen kann, ist bereits im theoretischen<br />

Bereich schwierig zu bestimmen. Erst recht gilt dies auf dem Gebiet des ethischen<br />

Handelns, das der praktischen <strong>Vernunft</strong> untersteht. Aus unserem Handeln gewinnen<br />

wir die Einsicht, daß es nicht so leicht ist, aus dem geschichtlich geprägten Erfahrungswissen<br />

heraus Moralprinzipien im Rang von Definitionen <strong>und</strong> Wesenheiten zu<br />

formulieren. Der Gr<strong>und</strong> liegt in der Tatsache der Schwierigkeit, unsere Werturteile<br />

zu transzendieren, d.h. sie einer absolut gültigen Kontrolle zu unterwerfen. Viele<br />

glauben heute, daß der Güter Höchstes für die Gesellschaft in der größtmöglichen<br />

Freiheit des möglichst autonomen Individuums liege. So war es aber nicht zu allen<br />

Zeiten. Diese Wesensaussagen über die rechte Gesellschaftsordnung sind nichts als<br />

Werturteile, die nicht nur theoretischer Natur, sondern vom Wertempfinden her bestimmt<br />

sind. Mag auf dem Gebiet der Theorie aufgr<strong>und</strong> der Abstraktionslehre die<br />

Frage nach den Wesensaussagen noch verhältnismäßig einfach aussehen, so erscheint<br />

sie hier auf dem Gebiet der Ethik <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung mit einer neuen<br />

Nuance, nämlich in der Form, ob es möglich ist, Wesenswertungen vorzunehmen,<br />

indem man das geschichtlich bedingte Wertempfinden transzendiert <strong>und</strong> zu einem<br />

absoluten Werturteil gelangt. Der ersten Richtung der Thomisten ging es zu sehr um<br />

die theoretische Analyse, ohne das Wertempfinden als gr<strong>und</strong>legendes Element des<br />

<strong>Naturrecht</strong>s miteinzubeziehen. Im Gegensatz dazu war Thomas von Aquin anderer<br />

Auffassung. Als <strong>Naturrecht</strong> gilt ihm nur, was sowohl vom Objekt (also von der theoretischen<br />

<strong>Vernunft</strong>) her als auch vom Wertempfinden her spontan Geltung erlangt. J.<br />

Messner 10 hat das Verdienst, diesen Gesichtspunkt der thomasischen <strong>Naturrecht</strong>slehre<br />

herausgearbeitet zu haben.<br />

Freilich scheint durch diese zweite Auffassung der Thomismus seinem erkenntnistheoretischen<br />

Realismus zu widersprechen. Man kann daher Verständnis für die<br />

Spätscholastiker haben, warum sie sich von der praktischen in die theoretische Ordnung<br />

begaben, um das „an sich“ <strong>und</strong> das Apriori der sittlichen Normen durch Rückgriff<br />

auf die objektive Wahrheit der Wesenheiten zu bewahren. Dieses ihr Anliegen<br />

hat allerdings dazu beigetragen, ihrer Auffassung von allgemeingültigen sittlichen<br />

Normen eine allzu intellektualistische Note zu verleihen. Sie setzten andererseits<br />

stillschweigend voraus, daß die praktische <strong>Vernunft</strong> an sich die Kraft besäße, in<br />

Form evidenter Werteinsicht die theoretische Ordnung zu bejahen. In dieser Weise<br />

hat sich A. F. Utz 11 in seinem Thomaskommentar zu S. Theol. II-II 57,2 ausgesprochen:<br />

„Alles das hat als <strong>Naturrecht</strong> zu gelten, was objektiv rational, d.h. sachlich<br />

analysierbar ist. Ob es nun immer möglich sein wird, auf rationalem Wege die an<br />

sich rationale, genauer gesagt, rationable <strong>und</strong> intelligible, weil sachlich vorliegende,<br />

Rechtslage zu analysieren, ist eine andere Frage.“ Was hier vom <strong>Naturrecht</strong> gesagt<br />

wurde, gilt allgemein von den sittlichen Normen. Im Gr<strong>und</strong>e muß aber auch die<br />

Erklärung, die durchgängig durch J. Messner vertreten wird, zum gleichen Ergebnis<br />

kommen. Wenn man annimmt, daß das immer allgemeingültige <strong>und</strong> oberste Prinzip<br />

sittlicher Erkenntnis (das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden) ein Werturteil <strong>und</strong><br />

nicht nur einen objektiven Sachverhalt beinhaltet, wie auch Utz in seiner Ethik ausdrücklich<br />

bejaht, dann muß man sich bewußt bleiben, daß gemäß diesem Apriori-<br />

Urteil die sittliche Erkenntnis, d.h. die praktische <strong>Vernunft</strong> von Natur darauf<br />

hingeordnet ist, den allgemeinen Begriff des „Guten“ im Hinblick auf das Sein, also<br />

346


auf objektive Sachverhalte zu konkretisieren, womit man wiederum auf einen Sachverhalt<br />

verwiesen ist, der „an sich“ gilt <strong>und</strong> darum tatsächlich auch allgemein anerkannt<br />

zu werden „verdient“. Diese Überlegungen beweisen, daß die beiden Richtungen<br />

im Thomismus im Gr<strong>und</strong>e wieder übereinkommen.<br />

4. Primäres <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>äres <strong>Naturrecht</strong> – die Möglichkeit ethischer Bewertung gesellschaftlicher<br />

Entwicklung<br />

Wenngleich ganz offenbar Thomas von Aquin eine Vielzahl von objektiv gültigen<br />

Werturteilen annimmt, so teilt er trotzdem nur eines, nämlich das oberste, dem primären<br />

<strong>Naturrecht</strong> (eigentlich müßte man sagen „Naturgesetz“ 12 ), d.h. dem natürlichen<br />

Sittengesetz zu. Tatsächlich sind eben nicht alle an sich anerkennenswerten<br />

praktischen Wahrheiten anerkannt. Die Gründe können unterschiedlicher Art sein:<br />

Irrtum, Verzerrung des sittlichen Verhaltens, Erziehung, soziales <strong>und</strong> kulturelles<br />

Milieu. Die Tatsache, daß sie nicht anerkannt sind, beweist, daß sie nicht natürlich<br />

oder spontan Anerkennung finden. Dies genügt, um sie unter das sek<strong>und</strong>äre <strong>Naturrecht</strong><br />

(d.h. sek<strong>und</strong>äre sittliche Naturgesetz) einzureihen. 13 Für die gesellschaftliche<br />

Ordnung ist diese Einreihung von besonderer Bedeutung, nämlich als Einsicht, daß<br />

eine tatsächliche Nichtanerkennung von an sich, d.h. objektiv gültigem Werturteil<br />

korrekturbedürftig ist, eben weil sie von der Seinsorientierung des obersten apriorisch<br />

gültigen Imperativs abgewichen ist. Da der oberste Imperativ immer bestehen<br />

bleibt, eröffnet er die Möglichkeit der sittlichen Selbstkontrolle <strong>und</strong> damit der sachgerechten<br />

Vervollkommnung. Nach thomistischer Auffassung kann man nicht einfach<br />

von verschiedenen sittlichen Kulturen sprechen, da man sie nach objektiven<br />

Kriterien sittlich zu beurteilen vermag. Es gibt somit einen rationalen Weg zur stets<br />

besseren Gestaltung des sittlichen Lebens, eine Einsicht, die für die Gesellschaftsethik<br />

gr<strong>und</strong>legend ist. Das sittliche Apriori kann logischerweise <strong>und</strong> zwar auch unter<br />

wertlogischem Gesichtspunkt nicht in jedweder Richtung in konkretere Handlungsprinzipien<br />

umgeformt werden. Es muß daher möglich sein, tatsächlich vertretene<br />

sittliche Werturteile <strong>und</strong> Verhaltensweisen zu verifizieren <strong>und</strong> zu falsifizieren.<br />

III. Apriori <strong>und</strong> Erfahrung in der Ethik<br />

Als Gr<strong>und</strong>muster der Zuordnung von Apriori <strong>und</strong> Erfahrung in der Ethik gilt im<br />

zeitgenössischen Philosophiediskurs weithin die Kantsche Lösung des Problems, die<br />

als Begründung des modernen, „nachmetaphysischen“ Zeitalters erscheint. Der naturrechtlichen<br />

Sicht scheint es an Zeitgemäßheit zu fehlen. Doch führen Pauschalurteile<br />

in dieser Frage nicht weiter. Es gilt zu differenzieren.<br />

1. Apriori <strong>und</strong> Erfahrung – Kant <strong>und</strong> das <strong>Naturrecht</strong> gegen Deduktion des ethischen<br />

Solls aus empiristischem Naturbegriff<br />

Bei aller Gegensätzlichkeit der Ethikkonzeptionen gibt es eine bedeutende Übereinstimmung<br />

der naturrechtlichen <strong>und</strong> der Kantschen Auffassung zur Ethik: diese findet<br />

sich im Kontext von Apriorismus <strong>und</strong> Empirismus. In beiden Konzeptionen handelt<br />

es sich um die Gr<strong>und</strong>legung einer den Empirismus transzendierenden absoluten<br />

Ethik <strong>und</strong> die Ablehnung einer Auffassung, die das ethische Sollen aus einem empiristisch<br />

gefaßten Naturbegriff deduziert. In dieser Hinsicht sind sowohl das <strong>Naturrecht</strong><br />

als auch die Kantsche Ethik „metaphysische“ Auffassungen 14 , die dem Men-<br />

347


schen als geistbegabtem, mit personaler Würde ausgezeichneten Wesen gerecht zu<br />

werden versuchen. Bezogen auf den genannten Kontext, hat der Hinweis auf die<br />

Formalität des kategorischen Imperativs zunächst wenig zu tun mit dem traditionellerweise<br />

von naturrechtlicher Seite gegen Kant geäußerten Formalismus-Vorwurf:<br />

Formalität meint bei Kant nicht mangelnde, sondern im Gegensatz zum Empirismus<br />

eine aus <strong>Vernunft</strong>gründen stammende Bestimmtheit.<br />

2. Kants kategorischer Imperativ als formales <strong>Vernunft</strong>gesetz <strong>und</strong> der naturrechtliche<br />

Sollbegriff<br />

Hier trennen sich nun freilich die Wege der Kantschen <strong>und</strong> der klassischnaturrechtlichen<br />

Ethikauffassung: während Kant den kategorischen Imperativ als<br />

formales <strong>Vernunft</strong>gesetz im Sinne der Autonomie der praktischen <strong>Vernunft</strong> versteht,<br />

ist bei Thomas von Aquin der ethische Imperativ ein Soll, das von einer ontologisch,<br />

d.h. an Vorgegebenheiten des Seins orientierten <strong>Vernunft</strong> ausgesprochen wird. Somit<br />

führt die thomasische Ethik trotz ihrer rigorosen Eingrenzung des primären <strong>Naturrecht</strong>s<br />

gleichwohl nicht zu einem nur formalen obersten Imperativ. Man kann Thomas<br />

von Aquin nicht im Sinne des modernen Idealismus interpretieren. Sosehr, wie<br />

dies manche Interpreten meinen, die thomasische Lehre von der Synderesis dem<br />

transzendentalen Idealismus Kants ähnlich zu sein scheint, sosehr ist sie doch letztlich<br />

von dieser Philosophie unterschieden durch die Annahme einer wesentlichen<br />

Hinordnung der Synderesis auf den rational analysierbaren Objektbereich der ethischen<br />

Imperative. In der thomasischen Ethik geht es um die innere Zuordnung von<br />

Sein <strong>und</strong> Sollen, in Kants Ethik demgegenüber um die nicht in der Seinsordnung<br />

begründbare, daher formale Apriorität des Moralprinzips.<br />

3. Die Idee der Autonomie <strong>und</strong> die Frage der Theonomie in der Kantschen Ethik<br />

Sosehr Kant auf dem Gebiet der theoretischen <strong>Vernunft</strong> eine metaphysische Erkenntnis<br />

ablehnt, sosehr geht es ihm jedoch auf dem Gebiet der praktischen <strong>Vernunft</strong><br />

um den Erweis einer absoluten Wirklichkeit. Kants Ablehnung der Abstraktion, d.h.<br />

der metaphysischen Wesenserkenntnis, ist freilich der Gr<strong>und</strong>, daß das Absolute der<br />

praktischen <strong>Vernunft</strong>, d.h. der kategorische Imperativ, in keiner Weise ontologisch,<br />

sondern einzig im Sinne der „Autonomie“ bestimmbar ist.<br />

„Autonomie“ der praktischen <strong>Vernunft</strong> im Kantschen Sinne besagt freilich nicht, daß<br />

überhaupt jede Idee einer Theonomie ausgeschlossen wäre, führt doch nach Ansicht<br />

Kants das moralische Gesetz durch den „Begriff des höchsten Guts“ zur „Erkenntnis<br />

aller Pflichten als göttlicher Gebote“, wobei Kant betont, daß diese nicht zu verstehen<br />

seien als „zufällige Verordnungen eines fremden Willens“, sondern daß es um ein<br />

Verständnis der Gebote gehe als „wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für<br />

sich selbst, die aber dennoch als Gebote eines höchsten Wesens angesehen werden<br />

müssen.“ 15 Mit dieser in gewisser Hinsicht transzendenten Verankerung des moralisches<br />

Gesetzes gehört Kant ebenso wie Thomas von Aquin zu jenen Ethikern, die mit<br />

dem Verweis auf die innere Notwendigkeit einer absoluten Begründung der Ethik<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich jedem Empirismus <strong>und</strong> Relativismus in der Ethik die Basis zu entziehen<br />

suchen.<br />

348


4. Relativierend-individualistische Tendenz im vertragstheoretischen Begründungsansatz<br />

der Kantschen Rechts- <strong>und</strong> Staatslehre: gr<strong>und</strong>sätzliche Trennung von Recht<br />

<strong>und</strong> Ethik statt im moralischen Naturgesetz verankerter Rechtspflicht<br />

Daß eine solche von Kant in der allgemeinen Ethik durchaus gesuchte absolute Verankerung<br />

allerdings in der Kantschen, insbesondere neukantianischen Rechts- <strong>und</strong><br />

Staatslehre nicht vorhanden ist, vielmehr ein ins Soziologische führender, ja gewissermaßen<br />

relativierender Individualismus tendenziell bestimmend wird, liegt an der<br />

der Kantschen Philosophie gemäßen Trennung von Recht <strong>und</strong> Ethik <strong>und</strong> letztlich<br />

nicht vorhandenen Gemeinwohlnorm: die rechtliche Pflicht ist, anders als im <strong>Naturrecht</strong>,<br />

nicht verankert in dem mit Sanktionsmacht verb<strong>und</strong>enen moralischen Naturgesetz.<br />

Sicherlich könnte mit manchen Interpreten eine gewisse Einschränkung dieser<br />

Relativierung in dem Sachverhalt gesehen werden, daß bei Kant die Verpflichtungsf<strong>und</strong>amente<br />

des Rechts in seinem Begriff der transzendentalen Freiheit verankert<br />

sind <strong>und</strong> diese somit immerhin einen gewissen indirekt-ethischen Verpflichtungscharakter<br />

haben. Für Thomas von Aquin hingegen ist die ganze Freiheit der<br />

natura humana eingeordnet, die ihrerseits in der Schöpfungsordnung begründete<br />

Norm des sowohl rechtlichen als auch sittlichen Handelns ist. Rechtspflichten sind<br />

daher bei Thomas von Aquin konsequenterweise nicht nur indirekt-ethische, sondern<br />

direkt-ethische Pflichten. Bei aller Freiheitsorientierung der Kantschen Rechtslehre<br />

ist dennoch nicht zu übersehen, daß sie aufgr<strong>und</strong> der Trennung von Ethik <strong>und</strong> Recht<br />

zu einer Autonomie des Staates führt, die den vertragstheoretischen Begründungsansatz<br />

der Kantschen Rechts- <strong>und</strong> Staatslehre sehr deutlich werden läßt.<br />

5. Das Anliegen einer materialen Ethik im Idealismus der phänomenologischen<br />

Wertethik: das Gute als Gr<strong>und</strong> des Gesolltseins – Ähnlichkeit <strong>und</strong> Unterschied zum<br />

<strong>Naturrecht</strong><br />

Bevor die vergleichenden Überlegungen zur Systematik des <strong>Naturrecht</strong>s im Hinblick<br />

auf die Sozialethik weiterverfolgt werden sollen, seien mit der phänomenologischen<br />

Wertethik <strong>und</strong> der Hegelschen Dialektik kurz zwei wichtige Richtungen einer nicht<br />

formalen, sondern materialen nicht-empiristischen Ethik erwähnt, die neben dem<br />

kantianischen formalen Ansatz des kategorischen Imperativs für die Situierung des<br />

Utzschen <strong>Naturrecht</strong>sverständnisses unerläßlich sind <strong>und</strong> im übrigen es erleichtern,<br />

ein differenzierteres Verständnis dessen zu gewinnen, worin das Anliegen einer<br />

materialen Ethik in der <strong>Naturrecht</strong>slehre seine spezifische Begründung findet.<br />

Kant hat mit seiner formalistischen Ethik, die im Sinne des transzendentalen Subjektivismus<br />

das Absolute als allgemeine Gesetzlichkeit der <strong>Vernunft</strong> bestimmt, konsequent<br />

eine der Möglichkeiten einer zugleich nicht-empiristischen <strong>und</strong> nichtontologischen<br />

Ethik formuliert. Man wird hinsichtlich dieser Ethik (jedenfalls bzgl.<br />

der allgemeinen Ethik) sicherlich anerkennen müssen, daß sie der Idee des absoluten<br />

Solls wie auch der Idee der Personalität des Menschen gerecht zu werden sucht.<br />

Andererseits bleibt freilich ein wichtiges Phänomen der Ethik, das Wertbewußtsein<br />

des Menschen im Sinne materialer Werte, in Kants Ethik unberücksichtigt, worauf<br />

von Seiten der phänomenologisch orientierten Wertethik mit Recht hingewiesen<br />

wird.<br />

349


Die phänomenologische Wertethik versucht, sowohl den Empirismus als auch den<br />

Kantschen Formalismus im Sinne einer materialen Wertethik zu überwinden. Sie<br />

definiert freilich die Werte als apriorische Gegebenheiten einer idealen Ordnung. 16<br />

Dies bedeutet einerseits ohne Zweifel eine Überwindung des Kantschen Formalismus.<br />

Andererseits jedoch kommt die Wertethik – aus der Sicht des <strong>Naturrecht</strong>sdenkens<br />

– insofern über Kant nicht hinaus, als sie das Problem einer ontologisch f<strong>und</strong>ierten<br />

Wert- <strong>und</strong> Sollensordnung unberücksichtigt läßt. Hierin dürfte der wichtigste<br />

Gr<strong>und</strong> für nicht zu übersehende Schwierigkeiten dieser Ethik liegen.<br />

Die Bedeutung der Wertethik kommt in einem wichtigen, auch von Thomas von<br />

Aquin geteilten Gr<strong>und</strong>satz zur Geltung. Im Gegensatz zum Formalismus der Kantschen<br />

Ethik weist sie auf die Einsicht hin, daß, wie z.B. M. Scheler betont, das Sollen<br />

im Wert begründet ist 17 , daß also das Gute der Gr<strong>und</strong> für das Gesolltsein, nicht umgekehrt<br />

das Gesolltsein der Gr<strong>und</strong> des Guten ist. Insofern nun freilich die Wertethik<br />

vom Problem einer ontologisch f<strong>und</strong>ierten Wert- <strong>und</strong> Sollensordnung absieht, ist sie<br />

aus Sicht des <strong>Naturrecht</strong>sdenkens allerdings weder in der Lage, den im Sein begründeten<br />

Zweckcharakter der Werte aufzuweisen 18 noch auch (wenn man von Ausnahmen<br />

wie etwa in Johannes Hessens Gr<strong>und</strong>legung der Ethik absieht 19 ) den Gr<strong>und</strong> des<br />

seinshaften Wertcharakters selbst, die Teilhabe an Gott als dem absoluten Seinswert,<br />

zu erklären. Die Orientierung der Wertethik einzig an der idealen Ordnung bringt aus<br />

naturrechtlicher Sicht schließlich auch ein Realitätsmanko in der Bestimmung des<br />

Pflichtcharakters mit sich: das Absehen von der Frage nach dem absoluten realen<br />

Gr<strong>und</strong> des Pflichtcharakters, seiner Begründung in einer transzendenten absoluten<br />

Autorität.<br />

Die Wertphilosophie repräsentiert somit in der Interpretation von Utz 20 eine eigenartige,<br />

zwischen der ontologischen <strong>und</strong> der formalen Auffassung der Ethik befindliche<br />

Richtung. Die Welt der ideale Wesenheiten bedeutenden apriorischen Werte ist in<br />

der Wertethik nur durch das Wertempfinden erfaßbar. Wertempfinden <strong>und</strong><br />

Seinserkenntnis befinden sich somit in keiner wesentlichen Zuordnung. Für das Handeln<br />

des Menschen ist das Wertempfinden gr<strong>und</strong>legend. Eigentlich wird also, so die<br />

Interpretation aus naturrechtlicher metaphysisch-realistischer Sicht nicht <strong>Geschichte</strong><br />

gestaltet, sondern der innere Mensch in der <strong>Geschichte</strong>, einerseits das Anliegen der<br />

Ethik, das Absolute im Menschen zur Geltung zu bringen, erreicht, andererseits aber<br />

ein gestalterischer Geschichtsbeitrag direkt nicht geleistet. Die rationale Bewältigung<br />

der geschichtlichen Aufgaben bleibt vom Wertempfinden gesondert. Mit einer gewissen<br />

Logik ergibt sich in Weiterentwicklung dieser Philosophie jene im ethischen<br />

Diskurs der Gesellschaft oft angeführte Aufteilung der Ethik in Gesinnungs- <strong>und</strong> in<br />

eine Art pragmatistischer Verantwortungsethik, wie sie von M. Weber 21 aufgr<strong>und</strong><br />

seiner Theorie, die ebenfalls wie die Wertethik Sein <strong>und</strong> Sollen in keine rationale<br />

Zuordnung zu bringen vermag, formuliert wurde (nicht zu verwechseln mit der von<br />

Hans Jonas vertretenen, ontologisch begründeten Ethik der Verantwortung 22 ).<br />

6. Anthropologie: Verbindung von phänomenologischem Ansatz <strong>und</strong> metaphysischem<br />

Realismus<br />

Eine entscheidende Realitätswendung der Anthropologie <strong>und</strong> Ethik im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

23 liegt vor in den Versuchen einer Verbindung von phänomenologischem Erfahrungsansatz<br />

<strong>und</strong> metaphysischem Realismus. Hier wäre in erster Linie auf die Philo-<br />

350


sophie des Personalismus 24 zu verweisen, wie sie Karol Wojtyla als Philosoph formuliert<br />

<strong>und</strong> im Rückgriff auf die christliche Lehre vom Menschen in seiner päpstlichen<br />

Sozialverkündigung vertreten hat: Johannes Paul II. geht es um das christliche<br />

Bild des Menschen als Person, d.h. um die Würde jedes Menschen als mit Freiheit<br />

ausgestattetem, dem Nächsten <strong>und</strong> dem Gemeinwohl verpflichteten personalen Wesen,<br />

das Subjekt, Zweck an sich ist <strong>und</strong> niemals zum Objekt gemacht werden darf.<br />

Auf dieses Prinzip hin orientiert Johannes Paul II. im Sinne einer christlich f<strong>und</strong>ierten<br />

Sozialethik die Wirtschafts- <strong>und</strong> Arbeitswelt in seiner Enzyklika „Laborem<br />

exercens“ 25 , darüber hinaus aber auch die christliche Gesellschaftsorientierung überhaupt.<br />

26<br />

In diesem Kontext sei wiederum insbesondere auch verwiesen auf den phänomenologisch-metaphysischen<br />

Realismus, wie man ihn unter Rekurs auf ein Konzept der<br />

verstehenden Erfahrung in der auch heute noch (bis in den außereuropäischen Raum)<br />

vielbeachteten <strong>Naturrecht</strong>slehre J. Messners (man konsultiere hierzu die interessante<br />

Interpretation von A. F. Utz 27 ) vorfindet.<br />

Von großem Einfluß in der Gegenwartsphilosophie ist der nicht zuletzt seiner Evidenz<br />

<strong>und</strong> seiner ethischen Folgerungen im Hinblick auf eine konsequente Ethik <strong>und</strong><br />

Politik des Lebensschutzes wegen viel Beachtung findende personale Argumentationsansatz<br />

28 des Philosophen R. Spaemann, der verschiedene (sprachanalytische,<br />

interaktionistische, nicht zuletzt auch phänomenlogische) Zugangsweisen der Erkenntnis<br />

mit einem metaphysischen Realismus verbindet 29 , um in Auseinandersetzung<br />

mit reduktionistischen Erfahrungs- <strong>und</strong> Realitätsbegriffen (Descartes, u.a.) den<br />

gr<strong>und</strong>legenden Unterschied zwischen „etwas“ <strong>und</strong> „jemand“, d.h. das Wesen des<br />

Menschen als Person, als nicht zum „etwas“ der Objektwelt zu degradierendem,<br />

sondern mit unbedingt zu achtender Würde ausgestattetem Subjekt herauszuarbeiten.<br />

30 Es leuchtet ein, daß sich aus dem Aufweis der unbedingten Würde des Menschen<br />

<strong>und</strong> der in seinem Personsein begründeten unbedingten Anerkennung wesentliche<br />

Konsequenzen für die heute so umstrittenen Fragen der Biopolitik <strong>und</strong> des<br />

Lebensschutzes ergeben: Personen besitzen Fähigkeiten. Personen können sich entwickeln.<br />

„Aber es kann sich nicht etwas zur Person entwickeln. Aus etwas wird nicht<br />

jemand. Wenn Personalität ein Zustand wäre, könnte sie allmählich entstehen. Wenn<br />

aber Person jemand ist, der sich in Zuständen befindet, dann geht sie diesen Zuständen<br />

immer schon voraus. Sie ist nicht Resultat einer Veränderung, sondern einer<br />

Entstehung, wie die Substanz nach Aristoteles. Sie ist Substanz, weil sie die Weise<br />

ist, wie ein Mensch ist.“ 31 „Personalität ist nicht das Ergebnis einer Entwicklung,<br />

sondern immer schon die charakteristische Struktur einer Entwicklung. Da Personen<br />

nicht in ihre jeweils aktuellen Zustände versenkt sind, können sie ihre eigene Entwicklung<br />

als Entwicklung <strong>und</strong> sich selbst als deren zeitübergreifende Einheit verstehen.<br />

Diese Einheit ist die Person.“ 32<br />

7. Hegels materiale Ethik als Ursprung eines modernen geschichtsimmanentistisch<br />

begründeten Universalismus <strong>und</strong> sein Gegensatz zur Kantschen Autonomie wie auch<br />

zum metaphysisch-ontologischen <strong>Naturrecht</strong><br />

Eine nicht nur formale oder wertethische Überwindung des Empirismus setzt eine<br />

wirklichkeitsorientierte <strong>und</strong> zugleich absolute Ganzheitsphilosophie voraus. In den<br />

Konzeptionen sowohl von Hegel als auch von Thomas von Aquin wird diesem Sach-<br />

351


verhalt Rechnung getragen, freilich aufgr<strong>und</strong> einer diametral entgegengesetzten<br />

Erklärung des Absoluten: während Thomas von Aquin das Absolute von der Transzendenz<br />

her begreift, erklärt es Hegel rationalistisch (trotz religionsphilosophischer<br />

Entstehungsgründe seines Denksystems) im Sinne der Immanenz der geschichtlichen<br />

Entwicklung. Entsprechend befindet sich Hegels Ethik <strong>und</strong> Sozialphilosophie im<br />

Gegensatz nicht nur zur „Abstraktheit“ der Kantschen formalen Subjektivität, sondern<br />

auch zur ontologisch-naturrechtlichen Auffassung des Ganzheitsbegriffs. Aus<br />

der Idee, daß das Allgemeine als absolute geschichtliche Wirklichkeit verstanden<br />

wird, welche die Menschheit umgreift <strong>und</strong> deren Sinn bestimmt, folgt Hegels berühmte<br />

Auffassung, derzufolge nicht nur das Vernünftige als wirklich, sondern auch<br />

umgekehrt das Wirkliche als vernünftig zu bezeichnen ist. 33 Es ist daher folgerichtig,<br />

wenn Hegel seine geschichtsdialektische Universalphilosophie in institutioneller<br />

Hinsicht verwirklicht sieht im Staat, der für Hegel als Wirklichkeit des substantiellen<br />

Willens das an <strong>und</strong> für sich Vernünftige ist 34 <strong>und</strong> insofern von Hegel verstanden wird<br />

als die Wirklichkeit der sittlichen Idee. 35<br />

Gewiß gibt es auch in Kants Sozialphilosophie die Idee einer sowohl dem Begriff der<br />

Freiheit als auch dem Begriff des Staats (bei Kant als notwendiger Institution der<br />

gesellschaftlichen Koordination) zukommenden „Autonomie“. Dieser Kantsche<br />

Rekurs auf „Autonomie“ im Sinne formaler Selbstbestimmung resultiert allerdings<br />

einzig aus der Trennung von Seins- <strong>und</strong> Sollensordnung einerseits, von Recht <strong>und</strong><br />

Ethik andererseits. Er hat somit nichts zu tun mit einer im Sinne des Hegelschen<br />

Begriffs des Selbstbewußtseins verstandenen Autonomie, die – anders als bei Kant –<br />

ihre Bestimmung einzig von der Idee der geschichtsdialektischen Einheit von Sein<br />

<strong>und</strong> Sollen erhält, nämlich als „konkrete Freiheit“ im Sinne der Partizipation an der<br />

„konkreten Totalität“ des Staats. Ethik wird im Hegelschen Ansatz interpretiert aus<br />

dem Prinzip einer „Dialektik der Sittlichkeit“ (eine auch verschiedene „realistische“<br />

Umformungen des Hegelschen Idealismus – K. Marx, Kritische Theorie, Habermas’<br />

Diskursethik – bestimmende Gr<strong>und</strong>idee). 36 Für Kant <strong>und</strong> auch für das <strong>Naturrecht</strong>sdenken<br />

käme eine solche Geschichtsdialektik einer Variante des empiristischen Denkens<br />

bzw. einem nicht akzeptierbaren geschichtsimmanentistischen Universalismus<br />

gleich, da die Geschichtsdialektik im Gr<strong>und</strong>e die Personalität des Menschen verkennt<br />

<strong>und</strong> – was das <strong>Naturrecht</strong>sdenken angeht – zusätzlich eine metaphysischontologisch<br />

begründete Objektivität sozialethischer Normen negiert.<br />

352<br />

IV. Metaphysik des Sozialen<br />

Utz hat in seiner erkenntnistheoretisch-normativen Gr<strong>und</strong>legung der Ethik – vorrangig<br />

durch kommentierenden Rekurs auf das thomasische <strong>Naturrecht</strong> – herausgearbeitet,<br />

daß es die innere Struktur der das Gewissen des Handelnden bestimmenden<br />

Sollordnung ist, auf eine verpflichtende Gesamtordnung zu verweisen. Der<br />

<strong>Naturrecht</strong>ler spricht hierbei von „Metaphysik“ <strong>und</strong> „Gemeinwohl“. Wie sieht nun<br />

diese Metaphysik des Sozialen aus, <strong>und</strong> welches ist die von dieser abstrakten Ebene<br />

aus zur konkreten Gesellschaftsethik führende <strong>Naturrecht</strong>slogik?<br />

1. Menschenbild <strong>und</strong> verpflichtende Gesamtordnung: <strong>Naturrecht</strong> <strong>und</strong> dialektische<br />

Geschichtsphilosophie als konkurrierende Weltanschauungen


Die im Sinne naturrechtlicher Normenlogik gefaßte Gemeinwohlnorm umfaßt den<br />

Menschen in seiner individuellen <strong>und</strong> sozialen Natur <strong>und</strong> ist als solche Gr<strong>und</strong> der<br />

Normativität <strong>und</strong> Integrationsleistung einer ihr adäquaten Gesellschaftsordnung. Das<br />

in dieser Metaphysik des Sozialen supponierte Menschenbild ist das des Menschen<br />

als personalen Wesens, d.h. – im Gegensatz zu jeder Vorstellung einer hegelianischgeschichtsdialektisch<br />

„geschuldeten“ Verantwortung – des in persönlich verantworteter<br />

Freiheit handelnden Menschen, der keiner geschichtsdialektischen Normativität<br />

unterliegt, der vielmehr die abstrakt vorgegebenen (auch dem Staat <strong>und</strong> der Gesellschaft<br />

vorgegebenen <strong>und</strong> daher der staatlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Verfügung<br />

entzogenen) Wesensnormen der menschlichen Natur zu konkretisieren hat 37 .<br />

Wie sieht diese Zuordnung von „Allgemeinem“ <strong>und</strong> „Konkretem“ aus? Sie ist nicht<br />

zu verwechseln mit der nur scheinbar ähnlichen Auffassung der dialektischen Geschichtsphilosophie,<br />

wie dies in der <strong>Naturrecht</strong>skritik des Kritischen Rationalismus<br />

aufgr<strong>und</strong> einer fälschlichen Gleichsetzung von dialektischer <strong>und</strong> naturrechtlicher<br />

Philosophie als „Essentialismus“ bzw. „Historizismus“ geschieht. Wie A. F. Utz in<br />

seinen Schriften herausgearbeitet hat, ist – im Gegensatz zur geschichtsdialektischen<br />

Auffassung der Natur des Menschen als der in der <strong>Geschichte</strong> sich nach einem dialektischen<br />

Prozeß entwickelnden Menschheit (Hegel, Marx) – in der Sicht des <strong>Naturrecht</strong>s<br />

die Natur „jenes Allgemeine in den konkreten Menschen, das diese in der<br />

<strong>Geschichte</strong> mit der ihnen verliehenen (<strong>und</strong> darum geb<strong>und</strong>enen) Freiheit konkretisieren<br />

sollen. Die Aufgabe, die Gesellschaft in Selbstverantwortung zu gestalten, ist<br />

darum nicht deutbar aus der Einsicht in den universalhistorischen Entwicklungsprozeß<br />

der Freiheit als solcher, sondern ist vielmehr begründet in der universalen Natur<br />

des Menschen als einer abstrakten, durch personale Freiheit zu konkretisierenden<br />

Norm.“ 38<br />

2. <strong>Vernunft</strong>, Gewissen <strong>und</strong> personale Würde des Menschen<br />

Aus der Sicht des metaphysisch-ontologischen <strong>Naturrecht</strong>s sind die Menschenrechte<br />

<strong>und</strong> die Handlungsprinzipien ohne die Vorstellung eines ewigen Schöpfers nicht<br />

erklärbar. 39 Utz entfaltet in dieser Frage die in seinen verschiedenen Veröffentlichungen<br />

dargestellte <strong>Naturrecht</strong>sdoktrin des Thomas von Aquin.<br />

Freiheit ist aus der Sicht des Metaphysikers nicht voraussetzungsfrei – ein nicht<br />

zuletzt auch von Papst Benedikt XVI. in seinen theologischen Schriften immer wieder<br />

herausgearbeiteter Sachverhalt. 40 Die von Gott geschaffene Freiheit <strong>und</strong> aufgetragene<br />

geschichtliche Aufgabe des Menschen weist auf dessen personale Würde, die ihm<br />

durch die Gottebenbildlichkeit verliehen wurde. Thomas von Aquin erörtert ausführlich<br />

in der Summa theologica die Gottebenbildlichkeit des Menschen. 41 Er betont,<br />

daß diese den Intellekt, den freien Willen <strong>und</strong> (in der Sprache von J. Messner) die<br />

Kreativität des Menschen in seinem Werk bedeutet. Thomas von Aquin spricht jedoch<br />

an anderer Stelle der Summa theologica in geradezu moderner Weise auch vom<br />

Begriff der in Freiheit <strong>und</strong> Selbstzwecklichkeit gründenden Menschenwürde. 42 Von<br />

Freiheit <strong>und</strong> Selbstzwecklichkeit spricht auch die moderne Philosophie in ihren unterschiedlichen,<br />

sei es transzendent, sei es nicht-transzendent verankerten Ausprägungen.<br />

Thomas kommt in der „Summe gegen die Heiden“ darauf zu sprechen, daß<br />

gegenüber denen, die an keinen Gott glauben, nur das <strong>Vernunft</strong>argument bleibe, dem<br />

sie sich beugen müssen. 43 Jeder Mensch ist ausgezeichnet durch die Begabung mit<br />

353


<strong>Vernunft</strong> <strong>und</strong> Gewissen 44 <strong>und</strong> damit mit Pflichten <strong>und</strong> Rechten, die unverlierbar <strong>und</strong><br />

unverzichtbar sind. 45 J. Messner hat die <strong>Naturrecht</strong>sauffassung im Hinblick auf die<br />

Pflichten (denen natürlich auf der anderen Seite Rechte 46 entsprechen) in markanter<br />

Weise in die Form des sozialethischen Kernsatzes gebracht: „Daß jeder Mensch so<br />

gegenüber allen <strong>und</strong> alle ihm gegenüber verpflichtet sind, macht die Menschenwürde<br />

aller aus.“ 47 Sah Kant die Voraussetzung des Gewissens in der sich von der traditionellen<br />

Metaphysik trennenden Autonomie der <strong>Vernunft</strong> begründet, ist aus Sicht der<br />

Metaphysik <strong>und</strong> ihres personalen Menschenbildes der Teilhabegedanke Gr<strong>und</strong> des<br />

dem Gewissen des Menschen zukommenden normativen Sonderrangs.<br />

3. Das Gewissen als Teilhabe am Ewigen Gesetz <strong>und</strong> seine freiheitlich-soziale Relevanz:<br />

<strong>Naturrecht</strong>sgr<strong>und</strong>satz der katholischen Soziallehre<br />

Das Gewissen ist gemäß der durch Augustinus <strong>und</strong> Thomas von Aquin systematisierten<br />

Lehre Teilhabe am Ewigen Gesetz: ein in der <strong>Geschichte</strong> des Rechtsdenkens von<br />

augustinischer <strong>und</strong> thomasischer <strong>Naturrecht</strong>sbegründung bis in die moderne <strong>und</strong> die<br />

zeitgenössische <strong>Naturrecht</strong>sphilosophie immer wieder systematisierter klassischer<br />

<strong>Naturrecht</strong>sgedanke. 48 Aufgabe des Menschen ist die Erfüllung einer gesamthaften<br />

Sinnordnung, somit die Einordnung seiner einzelnen Handlungen in einen allgemeinen<br />

Sinn. Der religiöse Mensch anerkennt diesen Sinn in der göttlichen Schöpfungsordnung<br />

<strong>und</strong> im Auftrag Gottes an den Menschen, entsprechend seiner Natur die<br />

Gesellschaft zu gestalten. Die Instanz dieser Verantwortung ist das Gewissen, womit,<br />

wie A. F. Utz dies systematisierte, die Natur des Menschen die Normgr<strong>und</strong>lage einer<br />

überindividuellen, gesellschaftlichen Ordnung ist – eine Gr<strong>und</strong>lage, deren Normativität<br />

vorstaatlichen Charakters ist. 49<br />

Die Lehre vom Gewissen als Teilhabe am Ewigen Gesetz erweist sich als alles andere<br />

denn nur Theorie, sie hat sozialethische Konsequenzen, wie sie Christoph Schefold<br />

in einer gr<strong>und</strong>legenden rechtsphilosophisch-philosophiegeschichtlichen Arbeit über<br />

„Souveränität als <strong>Naturrecht</strong>sproblem“ herausgearbeitet hat 50 : diese Konsequenzen –<br />

da begründet in einer vorstaatlichen Normativität – sind von freiheitlich-sozialer<br />

Relevanz. Dies ist ein von allen in der Tradition der katholischen Soziallehre 51 <strong>und</strong><br />

des Katholizismus 52 argumentierenden (s. insbesondere O. von Nell-Breuning 53 , G.<br />

G<strong>und</strong>lach 54 , J. Messner 55 , J. Höffner 56 ) wie überhaupt metaphysisch-ontologisch<br />

orientierten zeitgenössischen „<strong>Naturrecht</strong>sschulen“ – seien es eher deduktiv (A. F.<br />

Utz) oder eher induktiv orientierte <strong>Naturrecht</strong>sansätze (J. Messner) – herausgearbeiteter<br />

Sachverhalt. Mit Recht sieht A. Rauscher 57 diese im transzendent begründeten<br />

personalen Menschenbild zum Ausdruck kommende freiheitlich-soziale Ordnungsrelevanz<br />

als einen der Angelpunkte der katholischen Soziallehre.<br />

4. <strong>Naturrecht</strong>lich verstandene Freiheit des Gewissens<br />

Es sei im folgenden eine zentrale Passage der Arbeit von Schefold zitiert. Sie ist nicht<br />

nur eine klar formulierte Erklärung, warum das metaphysisch begründete <strong>Naturrecht</strong><br />

der Menschenwürde <strong>und</strong> der Freiheit entspricht <strong>und</strong> wie aus dieser Sicht Freiheit zu<br />

definieren ist, sondern kann zugleich (wenigstens implizit) auch als eine in wenigen<br />

Sätzen resümeehaft ausgesprochene Widerlegung sowohl der hegelianischen geschichtsimmanent<br />

bzw. der Habermas’schen diskursethisch begründeten Universal-<br />

354


ethik als auch des kritisch-rationalen individualistischen Dezisionismus wie auch als<br />

Widerlegung postmoderner Kritik an Metaphysik <strong>und</strong> <strong>Naturrecht</strong> gesehen werden.<br />

Schefold schreibt 58 : „Wenn der Mensch durch jene Teilhabe am Ewigen Gesetz<br />

immer schon im Prinzip selbständig ist, dann braucht er nicht mehr erst von der<br />

Integration in eine politische Gemeinschaft <strong>und</strong> von der Partizipation an ihrer Sittlichkeit<br />

seine Selbständigkeit zu erhoffen. Er verdankt diese dann letztlich einer der<br />

Gemeinschaft absolut übergeordneten, denkbar unabhängigen Instanz. Also kann<br />

auch er sogar der Gemeinschaft gegenüber radikal unabhängig sein, statt total auf sie<br />

angewiesen zu bleiben. Ist ihm allein schon mit dem ‚natürlichen’ Sitten- <strong>und</strong><br />

Rechtsgesetz seines Gewissens 59 die prinzipielle Möglichkeit selbständigen Urteilens<br />

gegeben, so hat er die Freiheit, einerseits die Gemeinschaft <strong>und</strong> deren Gesetze auch<br />

mit kritischen Augen zu sehen – <strong>und</strong> andererseits sich ihr aus seiner Gewissens-<br />

Autonomie heraus um so intensiver zuzuwenden. Frei ist er aber dann vor allem auch<br />

schon im Sinne jenes Gesetzes selbst. Von seiner ‚natürlich’-vernünftigen Freiheit<br />

her kann die „Souveränität“ eines dezisionistisch gedachten oder gearteten Willens<br />

nur noch als widersinnig erscheinen. Ist es der ‚Sinn’ solcher Freiheit, das Gute <strong>und</strong><br />

Gerechte wirklich zu tun, so brauchen die menschlichen Gesetze nicht (wie bei Hobbes<br />

<strong>und</strong> seinen Nachfolgern) als Einschränkung der natürlichen Freiheit des Menschen<br />

zu gelten.“ Ein Freiheitsgesetz, das als ‚natürliche’ Partizipation an einem ganz<br />

unbedingten ‚Gesetz’ menschlicher Beliebigkeit entzogen sei, zeige erst dem das<br />

Gesicht der Macht, der sich in Widerspruch zu ihm begebe. Es (das Freiheitsgesetz)<br />

erlaube die Konzeption menschlicher Gesetze, die Freiheitsregeln für freie Bürger<br />

geben <strong>und</strong> nur gegenüber Unvollkommenen <strong>und</strong> Schlechten unter gewissen Bedingungen<br />

auch als Erziehungs- oder Zwangsgesetze wirken. Ein Gedanke, wie ihn<br />

ähnlich auch J. Schwartländer als Herausgeber einer beeindruckenden, interkulturell<br />

<strong>und</strong> interreligiös konzipierten Reihe menschenrechtlicher Publikationen vertritt. 60<br />

5. Die metaphysisch-religiöse Gewissensdimension als geschichtliche Wirkkraft<br />

gegen Diktatur <strong>und</strong> Tyrannis<br />

Freiheitliches, verantwortungsbewußtes gesellschaftliches Denken <strong>und</strong> Handeln<br />

haben seit jeher aus der metaphysisch-religiösen Dimension ihre vielleicht stärkste<br />

Motivation erhalten – der Widerstand gegen Hitler auf der einen, der moralische<br />

Impetus beim Wiederaufbau 61 des nicht zuletzt auch moralisch zerstörten Staatswesens<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland könnten als jüngere Beispiele der<br />

<strong>Geschichte</strong> genannt werden –, wie umgekehrt gerade die jüngste <strong>Geschichte</strong> totalitärer<br />

Staatssysteme des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts darauf hindeutet, wie sehr diese Totalitarismen<br />

aus dem Fehlen authentischer, statt dessen zu ideologischen Zwecken aus der<br />

Instrumentalisierung <strong>und</strong> immanentistischen Umdeutung metaphysisch-religiöser<br />

Sinn- <strong>und</strong> Glaubenswelten entstanden sind, jedenfalls, wie Evelyn Völkel dies in ihrer<br />

gründlichen, aufschlußreichen Dissertation dargestellt hat, die Frage aufwerfen, ob<br />

sie nicht als „das Produkt einer säkularen Religion“ zu verstehen seien. 62 Es besteht<br />

somit Anlaß, die Dimensionen der Metaphysik <strong>und</strong> der Religion nicht zu unterschätzen,<br />

ihnen genügend Beachtung zu schenken <strong>und</strong> sie nicht aus vermeintlich realpolitischer<br />

Sicht als zu vernachlässigende Elemente zu betrachten. 63<br />

Anmerkungen<br />

355


1) Ein Lebensbild zeichnet W. Ockenfels: Arthur F. Utz (1908-2001). In: J. Aretz – R. Morsey<br />

– A. Rauscher – Hrsg.: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des<br />

19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, Bd. 12. Münster 2007, 142-154; s. auch W. H. Spindler: Art. Utz,<br />

Arthur. In: Thomistenlexikon (2006), Sp. 677-684; B. Kettern: Utz, Arthur Fridolin, O.P. In:<br />

Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XXII (2003), Sp. 1396-1412.<br />

2) Das Systemdenken ist das die Utzsche Rechts- <strong>und</strong> Sozialphilosophie kennzeichnende<br />

Gr<strong>und</strong>element seines wissenschaftlichen Werkes.<br />

3) Vgl. dazu A. F. Utz: Ethik. Heidelberg 1970, 37.<br />

4) Vgl. vor allem seine großen Thomas-Kommentare, mit denen Utz zusammen mit seinem<br />

Lehrer Santiago Ramírez zu den bedeutendsten Interpreten der <strong>Naturrecht</strong>slehre des Aquinaten<br />

zählt. Hier sei verwiesen auf den <strong>Naturrecht</strong>sband innerhalb der Deutschen Thomas-Ausgabe:<br />

Recht <strong>und</strong> Gerechtigkeit. Bd. 18 der Deutschen Thomasausgabe, Heidelberg 1953, sowie die<br />

Nachfolgefassung dieses Bandes: Recht <strong>und</strong> Gerechtigkeit. Thomas von Aquin: Summe II-II,<br />

Fragen 57-79. Bonn 1987 (neue Übersetzung von J. F. Groner sowie Anmerkungen <strong>und</strong> gänzlich<br />

überarbeiteter <strong>und</strong> ergänzter Kommentar von A. F. Utz). – Vgl. auch den Kommentarband<br />

zum Gesetzestraktat: Thomas von Aquin: Naturgesetz <strong>und</strong> <strong>Naturrecht</strong>. Theologische Summe,<br />

Fragen 90-97. Lateinischer Text mit Übersetzung, Anmerkungen <strong>und</strong> Kommentar. Übersetzung<br />

von J. F. Groner, Anmerkungen <strong>und</strong> Kommentar von A. F. Utz. Bonn 1996.<br />

5) Instruktiv H-G. Nissing (Hrsg.): <strong>Vernunft</strong> <strong>und</strong> Glaube. Perspektiven gegenwärtiger Philosophie.<br />

München 2008.<br />

6) Zur aristotelisch-thomasischen Philosophie vgl. H. Seidl: Über den „naiven“ Realismus der<br />

traditionellen Metaphysik. Zur Diskussion um die Wiedergewinnung der Ersten Philosophie.<br />

In: H-G. Nissing (Hrsg.): <strong>Vernunft</strong> <strong>und</strong> Glaube, a.a.O., 23-36.<br />

7) Vgl. P. P. Müller-Schmid: Der rationale Weg zur politischen Ethik. Stuttgart 1972, 81 ff.<br />

8) Zur Bedeutung der abstraktiven Realerkenntnis vgl. B. Kettern: Sozialethik <strong>und</strong> Gemeinwohl.<br />

Die Begründung einer realistischen Sozialethik bei Arthur F. Utz. Berlin 1992, 53 ff.<br />

9) Vgl. dazu A. F. Utz: Ethik, a.a.O., 42 ff.<br />

10) J. Messner: Das <strong>Naturrecht</strong>. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik <strong>und</strong> Wirtschaftsethik.<br />

5., neubearb., erw. Aufl. Innsbruck 1966, 327 ff.<br />

11) A. F. Utz: Recht <strong>und</strong> Gerechtigkeit, Kommentar zu Bd. 18 der Deutschen Thomasausgabe,<br />

a.a.O., 433.<br />

12) Vgl. dazu A. F. Utz: A.a.O.<br />

13) Begriffsgeschichtlich ist die Bedeutung von primärem <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärem <strong>Naturrecht</strong> uneinheitlich.<br />

Zur dreifachen Konzeption von primärem <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärem <strong>Naturrecht</strong> vgl. A. F. Utz:<br />

Sozialethik. II: Rechtsphilosophie. Heidelberg 1963, 94ff.<br />

14) Zum Begriff, zur <strong>Geschichte</strong> <strong>und</strong> zur Systematik der klassischen <strong>und</strong> der neuzeitlichen<br />

Metaphysik vgl. Heinrich Schmidinger: Metaphysik. Ein Gr<strong>und</strong>kurs. Stuttgart – Berlin – Köln<br />

2000, 62 ff., 164 ff.<br />

15) Immanuel Kant: Kritik der reinen <strong>Vernunft</strong> A 233.<br />

16) Vgl. J. Hessen: Lehrbuch der Philosophie, Bd. II: Wertlehre. München 1948, 133.<br />

17) Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik <strong>und</strong> die materiale Wertethik. Neuer Versuch<br />

der Gr<strong>und</strong>legung eines ethischen Personalismus. Bern 4 1954, 221.<br />

18) Im Gegensatz dazu vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, I 5,4 sowie I 5,1.<br />

19) Hier sei insbesondere verwiesen auf die von J. Hessen vertretene Wertethik, in der über die<br />

sonstige wertethische Begrenzung der Fragestellung hinaus die Bedeutung einer metaphysischen<br />

Begründung der Werte in Gott als dem Seinswert überhaupt betont wird.<br />

20) Vgl. dazu auch A. F. Utz: Ethik, a.a.O., 74 ff.<br />

21) Zur Auseinandersetzung mit der Aufteilung der Ethik in Gesinnungs- <strong>und</strong> Verantwortungsethik<br />

vgl. P. P. Müller-Schmid: Der rationale Weg zur politischen Ethik, a.a.O., 104.<br />

356


22) Die M. Webersche Aufteilung der Ethik in Gesinnungs- <strong>und</strong> in eine Art pragmatistischer<br />

Verantwortungsethik ist nicht zu verwechseln mit der Ethik der „Verantwortung“ bei Hans<br />

Jonas. Hierin dem <strong>Naturrecht</strong> vergleichbar, begegnet uns in letzterer eine ontologisch orientierte,<br />

der objektiven Wesensorientierung verpflichtete personalistische Lehre. Statt von <strong>Naturrecht</strong><br />

spricht Jonas von „Verantwortung“. Es ist nach H. Jonas offensichtlich, daß das Individuum in<br />

seiner Natur objektive Gründe für seine Pflicht findet, d.h. daß der Mensch erkennt, was er aus<br />

Freiheit tun soll. Es handelt sich um eine ontologisch f<strong>und</strong>ierte Ethik. Die Verantwortung ist<br />

die Gr<strong>und</strong>lage für das soziale Verhalten wie auch für den Umgang mit der Umwelt. Auch bei<br />

H. Jonas wird ähnlich dem <strong>Naturrecht</strong> ein Menschenbild vertreten, dessen Natur dem biologistischen<br />

Naturalismus entgegengesetzt ist. Vgl. die Interpretation von A. Rauscher: Hans Jonas<br />

<strong>und</strong> seine Botschaft für unternehmerische Verantwortung. In: Die Neue Ordnung 58,2 (2004)<br />

98-107.<br />

23) Zu den anthropologischen Ansätzen vgl. A. Zimmermann: Der Mensch in der modernen<br />

Philosophie. Essen 1975.<br />

24) Vgl. Ch. Böhr: Ethik als Anthropologie. Der Personalismus von Karol Wojtyla. In: Die<br />

Neue Ordnung 62 (2008) 419-426; K. Jüsten: Ethik <strong>und</strong> Ethos der Demokratie. Paderborn<br />

1999, 173 ff.<br />

25) Vgl. A. F. Utz: Kommentar zur Enzyklika Laborem exercens des Papstes Johannes Paul II.<br />

In: A. F. Utz: Ethische <strong>und</strong> soziale Existenz, Ges. Aufsätze aus Ethik <strong>und</strong> Sozialphilosophie<br />

1970-1983 (hrsg. von H. B. Streithofen). Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg<br />

1983, 349-364.<br />

26) Vgl. Lothar Roos: Es geht um die Würde des Menschen. Zum sozialethischen Vermächtnis<br />

von Johannes Paul II. Köln 2005.<br />

27) Johannes Messners Konzeption der Sozialphilosophie. Die Definition der Sozialnatur <strong>und</strong><br />

der Gesellschaft. In: Das Neue <strong>Naturrecht</strong>. Die Erneuerung der <strong>Naturrecht</strong>slehre durch Johannes<br />

Messner. Gedächtnisschrift für Johannes Messner. Berlin 1985, 21-62. (in dieser Abhandlung<br />

von Utz ist zugleich der Unterschied der Utzschen, eher an Thomas von Aquins deduktiver<br />

Logik orientierten Begründungsweise des <strong>Naturrecht</strong>s zu der von J. Messner vertretenen,<br />

eher induktiven Logik zu erkennen).<br />

28) Vgl. R. Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas’ <strong>und</strong> ‚jemand’.<br />

Stuttgart 1996.<br />

29) Vgl. hierzu auch die interessante Interpretation von K.-H. Nusser: Metaphysischer Realismus<br />

oder interaktionistische Anerkennung? Zu Ursprung <strong>und</strong> Begründung des Begriffs der<br />

Person. In: H-G. Nissing (Hrsg.): <strong>Vernunft</strong> <strong>und</strong> Glaube, a.a.O., 67-82.<br />

30) Es geht um den „Begriff der Person als eines ‚Jemand’ eigenen Rechts“ (a.a.O., 256).<br />

31) A.a.O., 261.<br />

32) A.a.O.<br />

33) G. W. F. Hegel, Gr<strong>und</strong>linien der Philosophie des Rechts, hrsg. von J. Hoffmeister, Berlin<br />

4<br />

1956, 14.<br />

34) Ebenda, 208.<br />

35) Ebenda, 207.<br />

36) Zur Logik dieser Debatte vgl. P. P. Müller-Schmid, Emanzipatorische Sozialphilosophie<br />

<strong>und</strong> pluralistisches Ordnungsdenken. Stuttgart 1976, 157 ff., 193 ff.<br />

37) Zum Begriff der menschlichen Person vgl. A. F. Utz: Ethik, a.a.O., 85.<br />

38) A. F. Utz: Ethische <strong>und</strong> soziale Existenz, Ges. Aufsätze aus Ethik <strong>und</strong> Sozialphilosophie<br />

1970-1983, (hrsg. von H. B. Streithofen), Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg<br />

1983, 398.<br />

39) Zur transzendenten Begründung der Menschenrechte <strong>und</strong> der Handlungsprinzipien vgl. P.<br />

P. Müller-Schmid: Zur sozialethischen Relevanz naturrechtlicher Begründung der Menschen-<br />

357


echte. In: C. Böttigheimer, N. Fischer, M. Gerwing (Hrsg.): Sein <strong>und</strong> Sollen des Menschen.<br />

Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen. Münster 2009, 177-181. – Am Beispiel der<br />

katholischen Soziallehre vgl. J. Punt: Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung<br />

<strong>und</strong> ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung. Paderborn<br />

1987; A. Saberschinsky: Die Begründung universeller Menschenrechte. Zum Ansatz der Katholischen<br />

Soziallehre. Paderborn 2002, 479 ff.<br />

40) Vgl. J. Ratzinger: Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum <strong>und</strong> die Weltreligionen.<br />

Freiburg – Basel – Wien 2003, 3 2004, 187 ff. – Vgl. zu dem Gesagten auch E. Schockenhoff:<br />

Wie gewiß ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung, a.a.O., 185 ff.<br />

41) Vgl. hierzu <strong>und</strong> zum folgenden J. Messner: Was ist Menschenwürde? In: Internationale<br />

Katholische Zeitschrift 6(1977) 233-240, hier 235 f.<br />

42) Vgl. hierzu J. Messner: Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen<br />

Gesellschaft. In: Menschenwürde <strong>und</strong> freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für Willi Geiger<br />

zum 65. Geburtstag. Tübingen 1974, 221-241, hier 229 f.<br />

43) Zum thomasischen Begriff des Naturgesetzes <strong>und</strong> der <strong>Vernunft</strong> vgl. den Kommentar von<br />

A. F. Utz zum Gesetzestraktat des Aquinaten: Thomas von Aquin. Naturgesetz <strong>und</strong> <strong>Naturrecht</strong>,<br />

a.a.O., 215 ff. – E. Schockenhoff: <strong>Naturrecht</strong> <strong>und</strong> Menschenwürde. Universale Ethik in einer<br />

geschichtlichen Welt. Mainz 1996, 154 ff. – A. Saberschinsky: Die Begründung universeller<br />

Menschenrechte, a.a.O., 2002, 80 ff.<br />

44) Unter den neueren Veröffentlichungen zum thomasischen Gewissensbegriff vgl. auch E.<br />

Schockenhoff: Wie gewiß ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung. Freiburg 2003, 102 ff.<br />

45) Vgl. L. J. Elders: St.Thomas Aquinas' Doctrine of Conscience. In: L. J. Elders SVD and K.<br />

Hedwig, Lex et libertas. Freedom and Law According to St.Thomas Aquinas. Città del Vaticano<br />

1987, 125-134.<br />

46) Ein zentrales <strong>und</strong> vieldiskutiertes, auch von Utz (allerdings streng zwischen theologischer<br />

<strong>und</strong> sozialphilosophischer Argumentation differenzierend, worauf aufgr<strong>und</strong> der Begrenzung<br />

dieses vorrangig der philosophischen Systematik gewidmeten Artikels hier nur hingewiesen<br />

sei) debattiertes Rechtsgebiet bilden vor allem die Glaubens-, Gewissens- <strong>und</strong> Religionsfreiheit.<br />

Nach Georg Jellineks Auffassung befand sich die Religionsfreiheit historisch am Ursprung<br />

der Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts. Doch ist dies eine den Historiker<br />

angehende Frage. Einen guten Überblick über die rechts- <strong>und</strong> staatsphilosophische Systematik<br />

<strong>und</strong> Debatte bietet der Beitrag von S. Mückl: Die Gewissens-, Glaubens- <strong>und</strong> Religionsfreiheit<br />

als zentrales Menschenrecht. In: Handbuch der Katholischen Soziallehre. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft<br />

zur Pflege der Wissenschaft <strong>und</strong> der Katholischen Sozialwissenschaftlichen<br />

Zentralstelle hrsg. von A. Rauscher in Verbindung mit J. Althammer, W. Bergsdorf, O.<br />

Depenheuer. Berlin 2008, 77-90.<br />

47) J. Messner: Was ist Menschenwürde? In: Internationale Katholische Zeitschrift 6 (1977)<br />

233-240, hier 237. – Man vergleiche, wie dies mit einer etwas anderen Formel – <strong>und</strong> einer<br />

allerdings sehr unterschiedlichen, jede ontologische F<strong>und</strong>ierung der Ethik vermeidenden Philosophie<br />

– auch Emmanuel Levinas mit seinem Apriori der Anerkennung des „Anderen“ ähnlich<br />

bzw. auf seine Weise formuliert hat.<br />

48) Zum Begriff des Ewigen Gesetzes vgl. Thomas von Aquin: S.Th. I-II 91,1; I-II 93; s.<br />

hierzu den Kommentar von A. F. Utz zum Gesetzestraktat des Aquinaten: Thomas von Aquin.<br />

Naturgesetz <strong>und</strong> <strong>Naturrecht</strong>, a.a.O., 186 ff., 197 ff. – Zu den Begriffen von „lex aeterna“, „lex<br />

naturalis“ <strong>und</strong> „lex humana“ bei Thomas von Aquin vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: <strong>Geschichte</strong><br />

der Rechts- <strong>und</strong> Staatsphilosophie. Antike <strong>und</strong> Mittelalter. Tübingen 2002, 225 ff.<br />

49) Vgl. A. F. Utz: Das Gr<strong>und</strong>anliegen der Pluralismusidee in der freiheitlichen Gesellschaftskonzeption<br />

<strong>und</strong> der Dritte Weg. In: Neomarxismus <strong>und</strong> pluralistische Wirtschaftsordnung.<br />

Hrsg. von der Internationalen Stiftung Humanum (durch A. F. Utz), Bonn 1979, 77-104 (hier<br />

86); vgl. auch die prägnante Zusammenfassung „Der systematische Aufbau der <strong>Naturrecht</strong>sleh-<br />

358


e“ im Kommentar von A. F. Utz zum Gesetzestraktat des Aquinaten: Thomas von Aquin.<br />

Naturgesetz <strong>und</strong> <strong>Naturrecht</strong>, a.a.O., 215-225.<br />

50) C. Schefold: Souveränität als <strong>Naturrecht</strong>sproblem. „<strong>Naturrecht</strong>liche“ Lehren bei Aristoteles<br />

<strong>und</strong> Thomas von Aquin – <strong>und</strong> einige Konsequenzen für ein ‚rechtlich’ orientiertes Souveränitätsdenken.<br />

In: Das <strong>Naturrecht</strong>sdenken heute <strong>und</strong> morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic.<br />

Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly <strong>und</strong> Peter M. Simons. Berlin 1983, 137-194.<br />

51) Vgl. die hierzu erschienenen Beiträge in dem von A. Rauscher herausgegebenen Handbuch<br />

der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008: L. Roos: Entstehung <strong>und</strong> Entfaltung der modernen<br />

Katholischen Soziallehre, 103-124; ders.: Die Sozialenzykliken der Päpste, a.a.O., 125-142.<br />

52) Vgl. hierzu A. Rauscher (Hrsg.): Der soziale <strong>und</strong> politische Katholizismus in Deutschland<br />

1803-1963. 2 Bde. München 1981/1982; W. Becker: Der politische <strong>und</strong> soziale Katholizismus.<br />

In: Handbuch der Katholischen Soziallehre, a.a.O., 175-192.<br />

53) Zur Tradition der katholischen Soziallehre <strong>und</strong> des Katholizismus im Denken von Nell-<br />

Breunings vgl. A. Rauscher: Oswald von Nell-Breuning SJ (1890-1991), in: J. Aretz, R.<br />

Morsey, A. Rauscher – Hrsg.: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 7. Mainz 1994, 277-292.<br />

54) Vgl. G. G<strong>und</strong>lach: Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Hrsg. von der Katholischen<br />

Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach. 2 Bde. Köln 1964; A. Rauscher<br />

– Hrsg.: Gustav G<strong>und</strong>lach 1892-1963. Hrsg. <strong>und</strong> erl. von A. Rauscher. Beiträge zur<br />

Katholizismusforschung, Reihe A: Quellentexte zur <strong>Geschichte</strong> des Katholizismus, Bd. 2.<br />

Paderborn 1988. Vgl. die Utzsche Interpretation der im Solidarismus gründenden Gemeinwohlkonzeption<br />

von G. G<strong>und</strong>lach: A.F. Utz: Der Gemeinwohlbegriff der katholischen Soziallehre<br />

<strong>und</strong> seine Anwendung auf die Bestimmung der Wohlfahrt. In: Wohlfahrtsökonomik <strong>und</strong><br />

Gemeinwohl. Hrsg. von J. Heinz Müller. Rechts- <strong>und</strong> staatswissenschaftliche Veröffentlichungen<br />

der Görres-Gesellschaft, N.F., H. 51. Paderborn 1987, S. 83-117, hier 107 ff.<br />

55) Zur Interpretation der in der Tradition Taparellis von einem zunächst empirischen Ansatz<br />

des in der Gesellschaft situierten Individuums her eine naturrechtliche Sozialethik aufbauenden<br />

Konzeption J. Messners vgl. die Abhandlung von A. F. Utz: Johannes Messners Konzeption<br />

der Sozialphilosophie, a.a.O. – Zur Struktur seiner <strong>Naturrecht</strong>slehre <strong>und</strong> zu ihrer interkulturellen<br />

Bedeutung, etwa im Hinblick auf die Rezeption dieser Lehre in Japan: H. Yamada – J. M.<br />

Schnarrer: Zur <strong>Naturrecht</strong>slehre von Johannes Messner <strong>und</strong> ihrer Rezeption in Japan. Beiträge<br />

zum <strong>Naturrecht</strong>, Studien, hrsg. von der Johannes-Messner-Gesellschaft, Wien. Wien 1996.<br />

56) Hierzu s. Joseph Kardinal Höffner: Christliche Gesellschaftslehre. Hrsg., bearb. <strong>und</strong> ergänzt<br />

von Lothar Roos. Neuausg. Kevelaer 1997.<br />

57) A. Rauscher: Die soziale Natur des Menschen. In: Handbuch der Katholischen Soziallehre,<br />

a.a.O., 25-40; ders.: Das christliche Menschenbild. In: A.a.O., 3-23.<br />

58) C. Schefold: Souveränität als <strong>Naturrecht</strong>sproblem, a.a.O., 181.<br />

59) Es geht Schefold hier also um die Zuordnung von Recht <strong>und</strong> Moral.<br />

60) Vgl. etwa J. Schwartländer (Hrsg.): Modernes Freiheitsethos <strong>und</strong> christlicher Glaube.<br />

Beiträge zur Bestimmung der Menschenrechte. Mainz – München 1981.<br />

61) Vgl. nicht zuletzt die aus naturrechtlichen Quellen schöpfende Verfassungsordnung der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Vgl. A. Langner: Der Gedanke des <strong>Naturrecht</strong>s seit Weimar <strong>und</strong><br />

in der Rechtsprechung der B<strong>und</strong>esrepublik. Bonn 1959; C. Enders: Die Menschenwürde in der<br />

Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG. Tübingen 1997, 25 ff. – K. Jüsten: Ethik<br />

<strong>und</strong> Ethos der Demokratie. Paderborn 1999, 156 ff.; A. Rauscher: Die Wertorientierung des<br />

Gr<strong>und</strong>gesetzes. In: Handbuch der Katholischen Soziallehre, a.a.O., 845-858.<br />

62) Vgl. Evelyn Völkel: Nationalsozialismus <strong>und</strong> Kommunismus als politische Religionen?. In:<br />

Freiheit <strong>und</strong> Recht. Vierteljahresschrift für streitbare Demokratie <strong>und</strong> Widerstand gegen Diktatur,<br />

August 2008/ 1+2, S. 20-22; vgl. insbesondere die in unserem Text erwähnte Dissertation<br />

von E. Völkel: Der totalitäre Staat – das Produkt einer säkularen Religion? Baden-Baden 2009.<br />

359


63) Vgl. Tine Stein: Himmlische Quellen <strong>und</strong> irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des<br />

freiheitlichen Verfassungsstaates. Frankfurt a.M. 2007.<br />

Dr. habil. Peter Paul Müller-Schmid ist Sozialphilosoph <strong>und</strong> war Mitarbeiter an<br />

der „Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach“.<br />

360<br />

Hans-Peter Raddatz<br />

Antisemitisch <strong>und</strong> antichristlich<br />

Zur Renaissance eines totalitären Projektes für Europa<br />

In der vorangegangenen Analyse der politreligiösen Gegenwart wurde der Rahmen<br />

des aktuellen Mainstream beschrieben, der sich im Zuge der Globalisierung <strong>und</strong><br />

EU-Reichsbildung islamisiert <strong>und</strong> damit auch totalisiert. Wie dort erläutert, haben<br />

wir es bei den kommunikativen Differenztheorien (Dewey, Habermas, Luhmann)<br />

<strong>und</strong> ihrer sozialtechnischen Praxis mit einer systembedingten Dehumanisierung zu<br />

tun, die eine Mechanisierung des Denkens <strong>und</strong> eine Radikalisierung der Machtform<br />

nach sich zieht. Sie besteht in einem ebenso konsequenten Trend zum Systemfaschismus,<br />

der unter den geldgetriebenen Normen der Arbeitseffizienz <strong>und</strong><br />

Kulturtoleranz die Institutionen gleichschaltet <strong>und</strong> hier Kader von Systemparasiten<br />

produziert, eine zeitgemäße Hierarchie angepaßter Eliten. Sie bilden sich unter<br />

medialer Führung den Mustern der modernen Gewaltsysteme nach <strong>und</strong> konnten<br />

ihren Totalitarismus bislang noch mit der dämpfenden Wirkung technokonsumistischer<br />

Kodierungen kaschieren. Je stärker sich dagegen die Kombination<br />

der eurotraditionellen mit islamozentrischer Radikalität durchsetzt, desto weniger<br />

gelingt die Maskerade, ist dabei auch immer weniger erforderlich. Denn sie verbindet<br />

sich auf Volksseite mit einer Sinnverarmung <strong>und</strong> Verdummung, die die<br />

politische <strong>und</strong> finanzielle Enteignung verschleiert, solange die Medienrituale mit<br />

Sport, Musik <strong>und</strong> – Islam hinreichen.<br />

Da die Systemparasiten die Spaßgesellschaft in einen zunehmend harten Griff der<br />

Regulierung <strong>und</strong> Überwachung nehmen, aus dem sie langsam aber sicher erwachen<br />

wird, geht es in diesem Teil unserer Untersuchung um eine weitere Konkretisierung<br />

des Systemfaschismus, der in seiner nicht ganz einfachen Genese verstanden<br />

sein muß, wenn man sich mit den kommenden Verhältnissen arrangieren will.<br />

Denn seine parasitären Vorteilsnehmer legitimieren sich nicht nur im Dressurdialog<br />

mit dem „Frieden des Islam“ <strong>und</strong> dessen anti-jüdisch-christlichen Wurzeln,<br />

sondern speisen sich auch aus dem eigenen Totalitarismus, der aus einer so antisemitischen<br />

wie antichristlichen Tradition kommt. Es geht um den aufklärerischen<br />

Machtwandel, der mit den Stufen jakobinisch-marxistisch-nazistischer Gewalt eine<br />

neue „Form“ der Zerstörung alles Alten – mit Ausnahme der anti-jüdischchristlichen<br />

Tradition – „aufbaute“. Aufgr<strong>und</strong> ihrer damit legitimierten Totalität<br />

geben unter Führung von Wirtschaft, Politik <strong>und</strong> Medien alle Institutionen die<br />

demokratischen Rechte auf <strong>und</strong> rechtfertigen die Beseitigung von Strukturen <strong>und</strong>

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