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DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi

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<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />

<strong>ORDNUNG</strong><br />

begründet von Laurentius Siemer OP<br />

und Eberhard Welty OP<br />

Nr. 2/2002 April 56. Jahrgang<br />

Editorial<br />

Wolfgang Ockenfels, Laster der Korruption –<br />

Tugend des Klüngels<br />

Alexander Saberschinsky, Menschenrechte<br />

und christliches Menschenbild<br />

Andreas Püttmann, Der Mensch im Zerrspiegel<br />

der Medien<br />

Ursula Nothelle-Wildfeuer, Der Streit um die<br />

Soziale Marktwirtschaft<br />

Stefan Heid, Der Umgang der frühen Kirche<br />

mit Tyrannenmord<br />

Henry Krause, Repräsentation<br />

bei Carl Schmitt<br />

Bericht und Gespräch<br />

Bernd Kettern, Organisierte Caritas am<br />

Scheideweg?<br />

Christoph Böhr, Ökonomische Ethik – Ethik<br />

der Ökonomie<br />

82<br />

84<br />

96<br />

113<br />

125<br />

137<br />

149<br />

157<br />

Herausgeber:<br />

Institut für<br />

Gesellschaftswissenschaften<br />

Walberberg e.V.<br />

Redaktion:<br />

Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />

Heinrich Basilius Streithofen OP<br />

Bernd Kettern<br />

Redaktionsbeirat:<br />

Stefan Heid<br />

Martin Lohmann<br />

Edgar Nawroth OP<br />

Herbert B. Schmidt<br />

Günter Triesch<br />

Rüdiger von Voss<br />

Redaktionsassistenz:<br />

Andrea und Hildegard Schramm<br />

Druck und Vertrieb:<br />

Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />

53708 Siegburg<br />

Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />

Die Neue Ordnung erscheint alle<br />

2 Monate<br />

Bezug direkt vom Institut<br />

oder durch alle Buchhandlungen<br />

Jahresabonnement: 25,- €<br />

Einzelheft 5,- €<br />

zzgl. Versandkosten<br />

ISSN 09 32 – 76 65<br />

Bankverbindungen:<br />

Sparkasse Bonn<br />

Konto-Nr.: 11704533<br />

(BLZ 380 500 00)<br />

Postbank Köln<br />

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(BLZ 370 100 50)<br />

Anschrift der<br />

Redaktion und des Instituts:<br />

Simrockstr. 19<br />

53113 Bonn<br />

Tel. + Fax Redaktion: 0228/222323<br />

Tel. Institut: 0228/21 68 52<br />

Fax Institut: 0228/22 02 44<br />

Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />

Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />

Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />

Haftung<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />

geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />

Vervielfältigung nur mit<br />

besonderer<br />

Genehmigung der Redaktion<br />

81


Editorial<br />

82<br />

Laster der Korruption - Tugend des Klüngels<br />

„Überall gibt es jeweils eigentümliche Weisen der Korruption durch Privatinteressen.<br />

Das stillschweigende Wissen aller Beteiligten läßt sie bestehen. Bei der<br />

Publizität eines Falls wird Lärm gemacht, der bald wieder aufhört in dem dunklen<br />

Bewußtsein, nur ein Symptom getroffen zu haben. Keiner übernimmt wahrhaft<br />

Verantwortung; man hat die Haltung, nicht allein entscheiden zu können. Instanzen,<br />

Kontrollen, Kommissionsbeschlüsse - einer schiebt es auf den anderen.“<br />

Diese Sätze mögen uns seltsam vertraut vorkommen und auf unsere Gegenwart<br />

bezogen. Sie stammen aber aus dem Jahr 1931 und finden sich in der berühmten<br />

kleinen Schrift von Karl Jaspers über „Die geistige Situation der Zeit“.<br />

Ein übler Nachgeschmack von Weimar verdirbt einem auch in der „Berliner Republik“<br />

den politischen Appetit, liefert immer neue Alibis für „Politikverdrossenheit“<br />

und ruft linke wie rechte Fanatiker auf den Plan, die sich als politische<br />

Saubermänner und -frauen aufspielen. Anders verhält sich katholisch-mediterrane<br />

Gelassenheit: Sie vermag es, sich sogar in einer zum Dauerzustand geronnenen<br />

Krise wohnlich einzurichten und ein gewisses Maß an Korruption für erträglicher<br />

zu halten als ein Übermaß an Korruptionsbekämpfung, das neue und noch<br />

schlimmere Gefahren heraufbeschwört.<br />

Diesmal hat es besonders die SPD erwischt. Daß so etwas gerade in den besten<br />

politischen Familien vorkommt, für die sich die Sozialdemokraten halten, hat<br />

etwas makaber Beruhigendes. Denn ihre heuchlerischen, an die CDU gerichteten<br />

Korruptionsvorwürfe fallen nun auf sie selber zurück. Hochmut kommt vor dem<br />

Fall. Dieser Rollenwechsel vom hochmütigen Ankläger zum gefallenen Angeklagten<br />

mag dann auch eine pädagogische Wirkung entfalten, die keine Moralpredigt<br />

erreicht.<br />

Wie zu Zeiten Jaspers bildet auch heute das, was als Korruption bezeichnet und<br />

beklagt wird, nur einen Bestandteil dessen, was als Gesamtkrisenbild der Gegenwart<br />

wahrgenommen wird. Korruption erscheint dabei lediglich als Symptom<br />

einer tiefergreifenden und umfassenderen Krise, deren Wurzeln nicht an der<br />

Oberfläche offenliegen und ohne weiteres empirisch greifbar sind. Das Ceterum<br />

censeo lautet zunächst: Wenn sich die religiöse Verankerung der allgemeinen<br />

Moral lockert, wird das Eigeninteresse oder der persönliche Nutzen zur moralischen<br />

Norm erhoben. Dann scheint alles käuflich zu sein, sogar Bundesratsentscheidungen.<br />

Man darf sich nur nicht erwischen lassen.<br />

Bei dem Versuch, das schillernde Phänomen der zeitgenössischen Korruption<br />

bewertend zu analysieren und auch sozialstrategisch in den Griff zu bekommen,<br />

dürften historische Befunde besonders anregend sein, weil sie den realistischen<br />

Blick für Möglichkeiten und Machbarkeiten innerhalb bestimmter Epochen und<br />

Systeme schärfen und Vergleiche zwischen ihnen zulassen. Jede Zeit und Kultur<br />

scheint die ihr gemäße Form von Korruption hervorgebracht zu haben, was einen


Theologen kaum erstaunen kann, der bereits in der menschlichen Natur Korruption<br />

am Werke sieht. Die natura corrupta des Menschen wird seit Paulus,<br />

den Kirchenvätern, besonders Augustinus, mit dem Sündenfall Adams (die Rolle<br />

der Eva tritt hier merkwürdigerweise zurück) in einen kausalen Zusammenhang<br />

gebracht. Die Erbsündenlehre wurde in der frühscholastischen Theologie des<br />

Hugo von St. Viktor zu einem Lasterkatalog entfaltet, der sich bis heute zur Erhellung<br />

korruptiver Motivlagen bestens eignet und auch als Filmstoff schon Verwertung<br />

fand. Und zwar in dem amerikanischen Thriller „Seven“ von 1995, in<br />

dem die sieben Hauptlaster oder Todsünden nacheinander dramatisch aufgeführt<br />

werden: Hochmut, Neid, Zorn, Maßlosigkeit, Habsucht, Wollust und Trägheit.<br />

Die sozialethische Korruptionsproblematik läßt sich freilich nicht allein auf der<br />

Laster- und Tugendebene abhandeln. Bereits in den heiligen Schriften des Alten<br />

Testamentes sowie in vielen anderen Kulturzeugnissen werden bestechliche<br />

Richter und ungetreue Verwalter nicht nur moralisch kritisiert, sondern auch<br />

strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen. Antikorruptionsvorschriften sind vielfältig<br />

bezeugt, so die Strafbestimmungen in der Gesetzessammlung des Hammurapi.<br />

Berichte aus der ägyptischen Pharaonenzeit und des Konfuzius lassen<br />

auf eine weitverbreitete Praxis der Korruption schließen. Ähnliches gilt für die<br />

griechischen Stadtstaaten und das alte Rom.<br />

Auch das europäische Mittelalter ist voll von Korruption, aber auch reich an<br />

kritischen Reaktionen und Gegenbewegungen. 1396 wurde die als korrupt empfundene<br />

Adelsherrschaft in Köln beendet und durch eine demokratische Herrschaft<br />

der Handwerkerzünfte abgelöst. Das entsprechende Verfassungsdokument,<br />

der sogenannte Verbundbrief, enthält für die Übernahme eines Stadtratsmandats<br />

die strenge Bestimmung, keineswegs „irgendwelche Gabe, Geld, wertvollen<br />

Gegenstand, Lohn, Liebesgabe oder Geschenk“ in Empfang zu nehmen.<br />

Aus der Betrachtung von vornherein auszuschließen sind Phänomene wie Klüngel<br />

und Trinkgeld. Letzteres fällt schon wegen Geringfügigkeit aus dem Rahmen<br />

der Korruption heraus - und Trinkgeldzahlungen mit ihr gleichzustellen, liefe auf<br />

eine grobe Beleidigung körperlich hart arbeitender Menschen hinaus. Und was<br />

den Klüngel betrifft, so muß ein überzeugter Rheinländer in Solidarität mit dem<br />

Kölner Generalvikar Norbert Feldhoff, der es ja wissen muß und deshalb ein<br />

kompetentes Büchlein darüber geschrieben hat, mit großer Entrüstung auch den<br />

entferntesten Verdacht zurückweisen, Klüngel habe auch nur annäherungsweise<br />

etwas mit Korruption zu tun. Denn Klüngel, speziell der Kölner, bewegt sich<br />

strikt im Rahmen der Legalität. Und er verfährt dabei lediglich nach dem Legitimierungsprinzip<br />

der Freundschaft und des Vertrauens, das übersetzt lautet:<br />

„Wir kennen uns, wir helfen uns“. Das öffnet Türen, erleichtert Eingang und<br />

Umgang, beschleunigt den Fortgang einer Sache, vermeidet Umwege, verkürzt<br />

Dienstwege, bewirkt Verständigung. Kurzum: Die Tugend des Klüngels hilft,<br />

das Laster der Korruption zu vermeiden. Diese Tugend ist ökonomisch sinnvoll,<br />

denn mit ihr spart man Zeit und Geld. Darum glaubt der Kölner nicht, daß der<br />

Klüngel je ausstürbe. Eher glaubt er an einen Klüngel - auch nach dem Tode.<br />

Wolfgang Ockenfels<br />

83


84<br />

Alexander Saberschinsky<br />

Menschenrechte und christliches Menschenbild<br />

Menschenrechte haben Hochkonjunktur. Beinahe allabendlich zeigt die Tagesschau,<br />

wie gerne Politiker und Medien Menschenrechte als Urteilsmaßstab für<br />

die große Weltpolitik bemühen. Angesichts der hochbrisanten Konflikte, etwa in<br />

der zerfallenen Sowjetunion, in Afrika, China und im Nahen Osten, scheint dies<br />

auch berechtigt. Offensichtlich glaubt man in einer Welt, die verstärkt von der<br />

Globalisierung geprägt ist, zunehmend in den Menschenrechten jenen ethischen<br />

Grundbestand zu entdecken, ohne den ein Gemeinwesen – insbesondere aber das<br />

globale Gemeinwesen von heute – tatsächlich nicht auskommen kann. Und so<br />

richten sich die Hoffnungen auf die Menschenrechte als die normative Grundwährung<br />

im weltweiten, politischen Geschäft, als die Basis für das Weltethos im<br />

neuen Millennium, im dritten Jahrtausend.<br />

Angesichts des hohen Kurses, in dem Menschenrechte stehen, sieht sich die<br />

katholische Sozialethik mit der Frage konfrontiert, ob die Menschenrechte nicht<br />

auch als das Fundament der christlichen Gesellschaftslehre zu nehmen seien.<br />

Damit würde man, so scheint es, nicht nur breite Zustimmung in der Öffentlichkeit<br />

finden und eine Gesprächsbasis über den kirchlichen Raum hinaus schaffen,<br />

sondern müßte auch nicht länger den für viele in Mißkredit geratenen Naturrechtsbegriff<br />

bemühen, um die eigene ethische Position zu begründen. Diese<br />

Frage stellt sich um so drängender, als die Katholische Soziallehre den Anspruch<br />

erhebt, aus Sachgründen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu sein, also für<br />

„alle Menschen guten Willens“ und nicht nur für Christen zu gelten. Sollte, ja<br />

müßte die Katholische Soziallehre nicht gerade angesichts dieses Selbstverständnisses<br />

sich die Menschenrechtsidee zu eigen machen, um in der aktuellen Diskussion<br />

sozusagen mit am Ball zu bleiben?<br />

Damit stellen sich zwei miteinander zusammenhängende Fragen. Grundsätzlich<br />

ist zu fragen: Was sagt die Katholische Soziallehre zum Anspruch der Menschenrechte<br />

auf Allgemeingültigkeit? Von der Antwort darauf hängt die Lösung<br />

der zweiten Frage ab: In welchem Sinn können Menschenrechte relevant sein für<br />

ein weltweites Ethos? Diesem Zusammenhang soll in den folgenden, zwangsläufig<br />

kurzen Überlegungen nachgegangen werden; und zwar in einer Weise, die<br />

nicht nur das bestätigt, was man weitgehend ohnehin schon als selbstverständlich<br />

erachten, nämlich die Bedeutung der Menschenrechte. Statt dessen soll hier diese<br />

Selbstverständlichkeit kritisch angefragt werden, um dann jedoch mit um so<br />

besseren Gründen für die Menschenrechte eintreten zu können. Dies geschieht<br />

zunächst, indem ein kurzer Blick in die Geschichte geworfen wird, näherhin auf<br />

die ersten kirchlichen Reaktionen auf die Formulierung moderner Menschenrechte.<br />

Dabei geht es nicht um chronologische Vollständigkeit, sondern um eine<br />

erste Differenzierung des Sachverständnisses des Begriffes „Menschenrechte“<br />

im Blick auf die heutigen Fragestellungen.


I. „Wir sehen wahrhaftig den Höllenpfuhl offen“<br />

Es mag erstaunen, daß die Kirche der Menschenrechtsbewegung anfänglich sehr<br />

ablehnend gegenüberstand, denn die Menschenrechte scheinen zunächst dem<br />

christlichen Menschenbild Rechnung zu tragen und sind wohl auch ursprünglich<br />

von ihm her motiviert. Viele Elemente, die leitend für die Menschenrechte sind,<br />

finden sich im christlichen Menschenbild: „die Einheit des Menschengeschlechts,<br />

(...) die Gleichheit aller, (...) die Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen,<br />

(...) seine Personalität und Eigenverantwortung“. 1<br />

Heute steht die Position der Kirche zu den Menschenrechten längst nicht mehr in<br />

Frage: Schon in seiner Antrittsenzyklika Redemptor hominis (1979) hat Johannes<br />

Paul II. nicht mehr zur Diskussion stellen müssen, wie sehr sich die Kirche<br />

das Anliegen der Menschenrechte zu eigen gemacht hat (vgl. RH 17). Und in<br />

seiner Sozialenzyklika Centesimus annus (1991) sieht er sogar den Beitrag der<br />

Kirche zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte als entscheidend an<br />

für die gewaltigen Umwälzungen des Jahres 1989 (vgl. CA 22). Bei einem Besuch<br />

in Frankreich hat der Papst 1980 sogar ausdrücklich seine Achtung vor den<br />

Idealen der Französischen Revolution von 1789 ausgedrückt, vor Freiheit,<br />

Gleichheit und Brüderlichkeit. 2 Welch geradezu gewaltige Entwicklung dem<br />

vorausgeht, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß 1791 Pius VI. in<br />

seinem Breve Quod aliquantum genau diese neuen Freiheitsgedanken als „absurd“<br />

bezeichnet und demgemäß verurteilt hat (UvG XXVI 13).<br />

Die Reihe päpstlicher Äußerungen gegen die Menschenrechtsideen reicht in der<br />

Folgezeit von Gregor XVI. mit der Enzyklika Mirari vos (1832) über Pius IX.<br />

mit der Enzyklika Quanta cura (1864) bis hin zum Syllabus aus dem gleichen<br />

Jahr. Stellvertretend sei hier ein Zitat aus Mirari vos angeführt, das die kirchliche<br />

Position jener Zeit verdeutlichen mag: „Aus der Quelle dieser verderblichen<br />

(religiösen) Gleichgültigkeit fließt jene törichte und irrige Meinung, oder noch<br />

besser jener Wahnsinn, es solle für jeden die Freiheit des Gewissens verkündet<br />

und erkämpft werden. Diesem seuchenartigen Irrtum bereitet jene übervolle und<br />

maßlose Freiheit der Meinungen den Weg, welche zum Schaden der kirchlichen<br />

und bürgerlichen Sache sich weit herum verbreitet. (...) Denn wenn der Zügel<br />

zerrissen ist, mit dem die Menschen auf den Pfaden der Wahrheit gehalten werden,<br />

dann stürzt ihre ohnehin zum Bösen geneigte Natur rasend schnell in den<br />

Abgrund, und Wir sehen wahrhaftig den Höllenpfuhl offen (...). Die Erfahrung<br />

bezeugt es und seit uralter Zeit weiß man es: Staatswesen, die in Reichtum,<br />

Macht und Ruhm blühten, fielen durch dieses eine Übel erbärmlich zusammen,<br />

nämlich durch zügellose Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Neuerungssucht.“ (UvG<br />

II 14)<br />

Diese Aussagen, die an Deutlichkeit nichts vermissen lassen, sind jedoch ohne<br />

den Kontext, in den sie hineingesprochen wurden, nicht wirklich verständlich.<br />

Der Papst verurteilt hier einen Liberalismus, wie er im Gefolge der Französischen<br />

Revolution vertreten wurde, und schließt dabei den Menschenrechtsgedanken<br />

nicht aus, der zunächst von den konkreten politischen Ereignissen nicht<br />

zu trennen ist. 3 Dieser Zusammenhang führt den renommierten Staatskirchen-<br />

85


echtler Josef Isensee zu einer, wenn auch nicht ganz unproblematischen, so<br />

doch interessanten und bedenkenswerten Einschätzung der damaligen lehramtlichen<br />

Position: Nach Isensee sind nicht die Menschenrechte als solche Thema der<br />

päpstlichen Lehrschreiben, es sind vielmehr eigentlich und direkt die sogenannt<br />

liberalen Ideologien, und die Menschenrechte hingegen nur indirekt, und zwar<br />

insofern sie diesen Ideologien entstammen. 4 Erst die spätere Entwicklung hin zur<br />

weltanschaulichen Neutralität des Staates ermöglichte es auch der Kirche mit der<br />

Zeit, die Ebenen zu entflechten und eine bejahende Position zu den Menschenrechten<br />

einzunehmen. 5 Zunächst wurden also die Menschenrechte von der Kirche<br />

nur unter den Vorzeichen des Säkularismus, Indifferentismus, Egalitarismus<br />

sowie totalitären und antiklerikalen Laizismus wahrgenommen und mußten so<br />

beinahe zwangsläufig als mit dem Selbstverständnis der Kirche unvereinbar<br />

gelten. Diese Einschätzung wird noch einmal gestützt durch die Tatsache, daß<br />

Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit im 19. Jahrhundert nicht nur als<br />

Schutzrechte verstanden wurden, sondern auch als gezielte Demonstrationsrechte<br />

v.a. gegen die Kirche. Insofern die kirchenpolitischen Beschlüsse z.B. der Nationalversammlung<br />

in Frankreich auch Fragen der innerkirchlichen Organisation<br />

betrafen, ist die kirchliche Absage an die Religionsfreiheit auch als Abwehr<br />

dieser Maßnahmen und als eine Verteidigung der kirchlichen Unabhängigkeit zu<br />

sehen. 6<br />

Unabhängig von der möglicherweise doch allzu positiven Einschätzung der lehramtlichen<br />

Haltung zur Moderne und von einer Unterschätzung der Provokation<br />

der antikirchlichen Haltung durch die Kirche selbst weist Isensee nicht ganz zu<br />

Unrecht darauf hin, daß damals die liberalen Freiheitsrechte nicht nur gegen die<br />

Kirche, sondern letztlich gegen sich selbst gerichtet waren. Indem die Kirche<br />

bekämpft und in ihrem Wirken beeinträchtigt wurde, wurde die Religionsfreiheit,<br />

selbst ein fundamentales Freiheitsrecht, eingeschränkt. 7 Insofern ist die Gleichsetzung<br />

der Menschenrechte mit dem liberalen Freiheitsverständnis der Aufklärung<br />

in der Tat kritisch zu hinterfragen.<br />

Bemerkenswerterweise setzt die erste Phase der Annäherung der Kirche an die<br />

Freiheitsrechte mit Leo XIII. ein. Durch dessen gründliche Auseinandersetzung<br />

mit dem Liberalismus, so etwa in der Enzyklika Libertas praestantissimum<br />

(1888), gelangt er nicht nur zu einer differenzierten Beurteilung des Liberalismus,<br />

sondern auch der Freiheitsrechte. 8 So spricht sich Leo XIII. beispielsweise<br />

gegen das liberalistische Modell des Nachtwächterstaates aus, der nur die äußeren<br />

Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Leben schafft, ohne selbst eine<br />

korrektive Funktion auszuüben und Härten abzumildern. Damit die Freiheitsrechte<br />

sich nicht gegen den Menschen richten, fordert der Papst vom Staat Engagement<br />

in der Sozialpolitik. Leitmotiv muß die Sorge um das Gemeinwohl sein.<br />

Daher betont Leo XIII. in der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) den<br />

sozialen Kontext der Menschenrechte. Das aber heißt: Der Ort der Rezeption des<br />

neuzeitlichen Menschenrechtsgedankens ist für das Lehramt die kirchliche Soziallehre,<br />

d.h., die Menschenrechte werden im Horizont der christlichen Gesellschaftslehre<br />

wahrgenommen und so mit den Prinzipien des christlichen Menschenbildes<br />

verknüpft. Wenn zunächst in den päpstlichen Schreiben auch nicht<br />

86


ausdrücklich von Menschenrechten gesprochen wird, so werden diese der Sache<br />

nach doch – nämlich unter Rückgriff auf die thomistische Naturrechtslehre – als<br />

vorstaatliche, subjektive Rechte des Menschen verstanden. Was folgt nun daraus<br />

für den Anspruch der Menschenrechtsideen auf Allgemeingültigkeit? Was sagt<br />

also die katholische Soziallehre? Lehnt sie diesen Anspruch am Ende doch ab<br />

oder macht sie ihn sich zu eigen? Und wenn ja, dann in welchem Sinne?<br />

II. Gemeinwohlorientierte Menschenrechte<br />

Als historische Erkenntnis kann aus dem Blick in die Geschichte festgehalten<br />

werden: Liberale Freiheitsrechte sind der Gefahr ausgesetzt, sich gegen sich<br />

selbst zu kehren, wenn ihnen die soziale Bindung fehlt. Dieser Einsicht entspricht<br />

das christliche Menschenbild, das der Katholischen Soziallehre zugrunde<br />

liegt. Es besagt nämlich: Zum Wesen des Menschen gehören von seiner originären<br />

Natur her gleichursprünglich Individualität und Sozialität. D.h., der Mensch<br />

ist nicht primär Individuum und erst sekundär auf Gemeinschaft angelegt. Daher<br />

können einseitig der Individualität verpflichtete liberale Freiheitsrechte nicht die<br />

letzte Norm in der Menschenrechtsfrage bilden und können aus der Idee der<br />

Menschenwürde keine uneingeschränkten Freiheitsrechte gefolgert werden. Vielmehr<br />

bedürfen individuelle Menschenrechte der Vermittlung mit der sozialen<br />

Dimension des Menschen. Die gängige Auffassung, daß die eigene Freiheit dort<br />

aufhöre, wo die des anderen beginnt, ist ein Reflex dieser Erkenntnis, allerdings<br />

ein schwacher, weil hier nur eine negative Abgrenzung der Individuen voneinander<br />

vorgenommen, nicht aber die positive Zuordnung von Individuum und Gemeinschaft<br />

geleistet wird.<br />

Die Frage, die hier angeschnitten ist, betrifft die Katholische Soziallehre in ihrem<br />

Kern, insofern diese die Beziehung zwischen einzelnem und Gemeinschaft zu<br />

ihrem spezifischen Gegenstand hat. Es geht also um die Frage nach dem Recht<br />

des einzelnen und dem Wohl aller, um das Verhältnis von Menschenrechten und<br />

Gemeinwohl. Die Alternativen im Ansatz lauten: Ist das Gemeinwohl lediglich<br />

das Ergebnis des Wohls aller – etwas salopp formuliert: Wenn jeder an sich<br />

denkt, ist doch an alle gedacht? Oder ist das Gemeinwohl ein neuer Wert, besser:<br />

ein eigenes Prinzip, das nicht auf das Wohl der einzelnen reduziert werden kann?<br />

Auf die Diskussion dieser Frage innerhalb der katholischen Soziallehre kann hier<br />

nicht näher eingegangen werden. Sie ist auf der einen Seite wesentlich mit den<br />

Namen Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning verbunden, die die<br />

Soziallehre vom Individuum her entwickeln und Gesellschaft als Interaktion zwischen<br />

den Individuen verstehen. Erstgenannter beschreibt bezeichnenderweise<br />

die Gesellschaft nicht als Größe an sich, sondern sagt:<br />

„Das Soziale als das ,Eine in den Mehreren‘ ist nicht zuerst ihre Integration in<br />

einem Ganzen, sondern ihre innerlich begründete, personale Ko-Existenz, nämlich<br />

das in der endlich-unendlichen Intentionalität menschlicher Person begründete<br />

Zueinander und Gegenüber der Mehreren, das sie auf gegenseitige Mitteilung<br />

einstellt innerhalb der durch das Menschsein (humanitas) und seine Wertfülle<br />

abgesteckten Dimension personaler Selbstverwirklichung.“ 9<br />

87


Nach G. Gundlach ist die menschliche Gesellschaft von den einzelnen Personen<br />

her aufgebaut und auf sie ausgerichtet. An anderer Stelle charakterisiert er den<br />

Menschen als „Person“ und „unteilbaren Selbstand“ und schreibt ihm „völlig<br />

positive Individualität“ zu. 10 Gesellschaft wird konsequenterweise nicht als eine<br />

Größe an sich verstanden und ist nicht zuerst die „Integration in einem Ganzen“,<br />

sondern Gesellschaft entsteht aus dem „Zueinander und Gegenüber der Mehreren“,<br />

d.h., die Personen bleiben je für sich, und nur das Beziehungsgeflecht unter<br />

diesen Einzelpersonen konstituiert Gesellschaft. Dies meint „personale Ko-<br />

Existenz“. Gesellschaft ist Ergebnis des solidarischen Handelns der Personen.<br />

Die Konsequenz, die sich damit für das Gemeinwohl ergibt, ist diejenige, daß<br />

das Gemeinwohl – nicht anders als die Gemeinschaft selbst auch – keine überindividuelle<br />

Größe an und für sich ist, sondern erst aus dem Zusammenwirken der<br />

einzelnen erwächst. Ziel auch des Gemeinwohls ist die Entfaltung der Person des<br />

einzelnen.<br />

Demgegenüber wählt der Dominikaner Arthur F. Utz einen anderen Ansatz: An<br />

der Sichtweise der beiden genannten Jesuiten kritisiert er, daß hier das Überindividuelle<br />

nur in der Teilnahme des einzelnen am gemeinsamen Geschehen bestehe.<br />

Daraus ergibt sich nach Utz im Hinblick auf die Gesellschaft und das Gemeinwohl<br />

die Schwierigkeit, die soziale Dimension nicht wirklich begründen zu<br />

können. Bei seinem Versuch, dies zu tun, greift Utz auf Thomas von Aquin zurück.<br />

Er geht nicht von der empirischen Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen<br />

aus, sondern beginnt mit Thomas bei der allgemeinen und gleichen, also alle Menschen<br />

von Grund auf verbindenden Natur und schließt daraus zunächst auf das<br />

Gemeinwohl, von dem ausgehend er die Selbstverwirklichung des einzelnen versteht.<br />

Im Original bei Thomas heißt es: „Es ist nun offensichtlich, daß das Gut des<br />

Teils wegen des Gutes des Ganzen da ist. Darum liebt ein jedes Einzelwesen<br />

auch im natürlichen Streben oder Lieben sein eigenes Gut um des Gemeingutes<br />

des ganzen Weltalls willen, (...)“ (STh I-II 109,3)<br />

Hier kommt nach Utz der Kern des Menschenbildes des Thomas zur Geltung,<br />

nach dem der Mensch nicht neben seiner vorrangigen Individualität auch sekundär<br />

,sozial‘, sondern wesentlich sozial ist. Daher ist die Beziehung zwischen den<br />

Menschen in der Gesellschaft nicht die zwischen autarken Einzelwesen, sondern<br />

erst durch die wesentliche Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen gelangen die<br />

Menschen zu ihrer Vervollkommnung, also auch zu ihren genuinen Rechten. Das<br />

Eingebundensein in eine Gesellschaft – z.B. auch in Gestalt von Pflichten – ist<br />

für den einzelnen nicht äußeres Mittel zum Zweck und eine sekundäre Belastung,<br />

sondern entspricht seinem Wesen. 11<br />

Für die Bestimmung des Gemeinwohlbegriffs bedeutet dies, daß das Gemeinwohl<br />

zwar dem einzelnen dienen soll, doch nicht dem einzelnen für sich genommen,<br />

sondern als Teil einer Gemeinschaft. In dieser Perspektive ist der<br />

Dienst des Gemeinwohls am Einzelwohl bereits immanent im Gemeinwohl enthalten.<br />

Das Einzelwohl ist hier eine Teilfunktion des Gemeinwohls. 12 Als zusammenfassende<br />

Definition kann man daher formulieren: „Das Gemeinwohl<br />

besteht in der individuellen Vollkommenheit oder im individuellen Wohlergehen<br />

aller als aufeinander bezogener Personen“. 13<br />

88


Was bedeutet dies nun für die Frage nach den Menschenrechten? Die Einsicht in<br />

die grundlegend soziale Natur des Menschen führt zu der Konsequenz, daß die<br />

Begründung der Menschenrechte nicht einseitig bei den Rechten des Individuums<br />

ansetzen kann. Die unverzichtbare und grundlegende soziale Dimension<br />

des Menschen gerät aus dem Blick, wenn Menschenrechte einseitig als Freiheitsrechte<br />

des einzelnen gedeutet werden. Die Schwierigkeit in der aktuellen Diskussion,<br />

neben den Rechten des Menschen auch dessen Pflichten zu begründen, ist<br />

ein Beleg hierfür. Keineswegs geht es darum, die Bedeutung oder die Geltung<br />

derjenigen Menschenrechte zu schmälern, die sich als Freiheitsrechte äußern,<br />

doch muß die Freiheit als Freiheit aller im Rahmen des Gemeinwohls verstanden<br />

werden. 14 Auf einen kurzen Nenner gebracht: „Ohne (...) Bezug zum Gemeinwohl<br />

gibt es keine Einzelrechte.“ 15<br />

So wie das Einzelwohl nicht auf Kosten des Wohls der Gemeinschaft erreicht<br />

werden kann, sondern das Gemeinwohl nur dann im Wohlergehen der einzelnen<br />

zu finden ist, wenn die einzelnen als in einem Ganzen aufeinander bezogene<br />

Individuen verstanden werden, so müssen auch die Menschenrechte im Hinblick<br />

auf das Gemeinwohl gedeutet werden, d.h., sie können nicht als vom Gemeinwesen<br />

losgelöste Freiheitsrechte interpretiert werden. Statt dessen müssen Menschenrechte<br />

proportional zum Gemeinwohl bestimmt werden.<br />

III. Die Rechte des über sich selbst hinausverwiesenen Menschen<br />

Mit dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, welchen entscheidenden<br />

Einfluß das zugrundeliegende Menschenbild auf das Verständnis der Menschenrechte<br />

hat. Doch gerade deshalb kann christliche Soziallehre nicht dabei stehenbleiben,<br />

die Sozialnatur des Menschen gegenüber einem einseitigen Individualismus<br />

lediglich zu postulieren. Dies bedarf seinerseits der Begründung. Letztlich<br />

ist der entscheidende Grund für dieses Individualität und Sozialität vermittelnde<br />

Menschenverständnis des Christentums die Lehre vom Menschen als imago Dei,<br />

als Abbild Gottes. Dabei handelt es sich keineswegs um ein bloßes Theologumenon,<br />

das nur aus der Offenbarung geglaubt werden könnte, sondern um ein sachlich<br />

begründetes Verständnis des Menschen. Bei der gewiß nicht zuletzt biblischen<br />

Vorstellung vom Menschen als „Bild Gottes“ geht es in der Sache, auf<br />

rationaler Ebene, um die theonome Autonomie des Menschen, ohne welche es<br />

kaum möglich sein dürfte, überhaupt vom Menschen als endlicher Person mit<br />

unendlicher Würde, also auch von Menschenrechten zu sprechen.<br />

Tatsächlich hat die kirchliche Sozialverkündigung die Menschenrechte unter<br />

Berufung auf die Gottebenbildlichkeit, also mit der eingeborenen Würde des<br />

Menschen als Person begründet. Wiederholt beruft sich v.a. Pius XII. darauf, daß<br />

der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist (vgl. UGr 27, 362). Als Person<br />

ist der Mensch Ebenbild Gottes (vgl. UGr 4103). Gerade in der gegenwärtigen<br />

Diskussion um die Würde des Menschen ist es m.E. eine der Hauptaufgaben<br />

Katholischer Soziallehre, dies als rational begründetes Menschenverständnis in<br />

den öffentlichen Diskurs einzubringen und sich nicht in die Ecke einer nicht<br />

verallgemeinerbaren ‚Glaubensideologie‘ abdrängen zu lassen. Der philoso-<br />

89


phisch entscheidende Punkt, ein wesentliches Sachargument also ist, daß hier<br />

von einem Menschenbild ausgegangen wird, das den Menschen nicht als ‚unhintergehbare<br />

Letztgegebenheit‘, sondern von Grund auf relational und dialogisch<br />

versteht, nämlich in Relation und im Dialog mit allem, was von Gott kommt, und<br />

schließlich zu seinem letzten Grund, theologisch gesprochen: zu Gott selbst.<br />

Damit unterscheidet sich das christliche Menschenbild von jener Auffassung, für<br />

die z.B. am Beginn der Neuzeit Descartes steht, der einseitig das in sich verschlossene<br />

Subjekt als „unhintergehbaren“ Ausgangspunkt, als „denkendes<br />

Ding“ verstanden hat, als letztlich unerklärbares Faktum, das als solches keinen<br />

Bezug zu einem letzten Grund aufweist, gewissermaßen also in der Luft hängt. 16<br />

Es liegt nur in der Konsequenz dieses Ansatzes, daß der so verstandene Mensch<br />

in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt ist, sich selbst absolut zu setzen und<br />

sich selbst als ‚Letztgegebenheit‘ sowie als Träger quasi-absoluter Denkakte<br />

sozusagen aufzuspielen. Aber gerade damit verspielt er seine individuelle Würde,<br />

ebenso seine Sozialität. So erweist sich dieser Weg, und es handelt sich um<br />

nicht weniger als um den Weg neuzeitlich-gottlosen Denkens, als Sackgasse:<br />

Jeder Versuch, den Menschen absolut in dem Sinne zu setzen, daß er nicht mehr<br />

hinterfragt werden kann und er sich gewissermaßen aus sich selbst heraus begründen<br />

muß, scheitert zwangsläufig, weil er das Unmögliche probiert. Und<br />

gerade an diesem Punkt zeigt sich der enge Zusammenhang mit der aktuellen<br />

Menschenrechtsfrage der Gegenwart. Denn was ist die Hochkonjunktur – um<br />

nicht zu sagen der Boom – der Menschenrechte anderes als der Versuch, den<br />

Menschen als unverfügbar zu erklären, indem man seine Unhinterfragbarkeit und<br />

Absolutheit beteuert, also postuliert, aber nicht wirklich begründet? So erklärt<br />

sich nicht nur die Tendenz, Menschenrechte zur letzten Begründungsinstanz zu<br />

erheben, sondern auch die „‚Hypertrophie‘ der Menschenrechte“, 17 die sich sowohl<br />

dadurch äußert, daß man sich im öffentlichen Diskurs zu passender und<br />

unpassender Gelegenheit inflationär auf Menschenrechte beruft, als auch daran<br />

abzulesen ist, daß man immer neue Menschenrechte fordert und erfindet.<br />

Anders argumentiert die Berufung auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen:<br />

Die Würde und damit die Rechte des Menschen sind nicht deshalb unverfügbar,<br />

weil der Mensch als letztgegeben nicht mehr hinterfragt werden kann. Es gilt<br />

vielmehr: Weil er zu Gott als seinem metaphysischen Grund in Beziehung steht,<br />

ist der Mensch und sind seine Rechte menschlicher Verfügung entzogen. Kurz<br />

gesagt: Weil hinter jedem Menschen Gott steht, ist er von absoluter Würde. Daraus<br />

folgen letztlich ineins alle Rechte und Pflichten des Menschen.<br />

90<br />

IV. Menschenrechte und Naturrecht<br />

Aufgabe christlicher Soziallehre ist es, diese zunächst theologisch klingende und<br />

gewiß ihre theologische Herkunft nicht leugnende Auffassung rational zu fassen<br />

und argumentativ in den Diskurs um den Menschen, seine Rechte und Pflichten<br />

einzubringen. Dazu bedient sich die Katholische Soziallehre der naturrechtlichen<br />

Argumentation.


Das Naturrecht wird dabei als Vernunftrecht verstanden. Dies meint nach Thomas<br />

von Aquin, daß der Mensch durch seine Vernunft Anteil am Ewigen Gesetz<br />

hat. Naturrecht wird folglich als jener Bereich verstanden, in dem die menschliche<br />

Vernunft grundsätzlich am göttlichen Gesetz und damit am Heilsplan Gottes<br />

teilnimmt. Erst diese Teilnahme der Vernunft am göttlichen Gesetz konstituiert<br />

nach Thomas das Naturrecht. Das Naturrecht besteht also nicht einfach aus der<br />

Vernunft vorgegebenen Geboten, die diese nur noch ablesen muß.<br />

Hier liegt der entscheidende Unterschied zum essentialistischen Naturrechtsdenken.<br />

Letzteres geht vom empirisch Seienden aus und begründet auf dieser<br />

Grundlage Naturrecht. Dazu setzt es bei jenen konkreten Umständen und Bedingungen<br />

an, die den Menschen in vielfältiger Weise bedingen und von denen er<br />

abhängig ist. Allerdings besteht das Naturrecht im Sinne des Thomas von Aquin<br />

darin, nicht die faktischen Bedingungen zum Begründungsprinzip zu erheben,<br />

indem sie metaphysisch verlängert werden, sondern vom Menschen als seinem<br />

eigenen Prinzip, das nicht in den diversen Abhängigkeiten aufgeht, auszugehen<br />

und auf diese Weise die Welt mit ihren Bedingtheiten transzendieren zu können<br />

auf das eigentlich Unbedingte hin.<br />

Ohne dies hier auch nur in Ansätzen weiter entfalten zu können, sei im Blick auf<br />

die Fragestellung hier soviel gesagt: Nach dem lex-Traktat des Thomas von<br />

Aquin ist das Naturrecht kein Katalog einzelner Bestimmungen, die nebeneinander<br />

stehen und für alle gleich lauten. Vielmehr enthält es allgemeine Prinzipien,<br />

die aus der Natur des Menschen folgen. Auch für Thomas ist der Mensch grundlegend<br />

als imago Dei zu begreifen. Nur die daraus abgeleiteten und ableitbaren<br />

allgemeinen Prinzipien gelten für alle Menschen, während die konkreten Schlußfolgerungen<br />

aus den allgemeinen Prinzipien variieren und unterschiedlich sein<br />

können (vgl. STh I-II 94,4f.). 18 Sie müssen sogar variieren, da der Mensch sich<br />

im praktischen Bereich mit unterschiedlichen Lebensumständen konfrontiert<br />

sieht, die konkrete und diesen Umständen angemessene singuläre Handlungen<br />

erfordern. Für solche Handlungen steckt das Naturrecht selbst nur den normativen<br />

Rahmen ab, beinhaltet aber keine konkreten Handlungsanweisungen für die<br />

unterschiedlichen Situationen. Daher ist Naturrecht kein endgültig festgelegtes<br />

Kompendium „normativer Einzelaussagen“, sondern „das oberste Koordinatensystem“,<br />

das die Vernunft unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Situation<br />

„zu einem konkreten Ethos entfaltet, das sich in einzelnen, geschichtlich<br />

wandelbaren Tugenden manifestiert“. 19<br />

Aus diesem Ansatz ergibt sich aber: Ebensowenig wie es generell möglich ist,<br />

eine konkrete, für alle Zeiten gültige und unwandelbare Aufzählung von Handlungsanweisungen<br />

vorzulegen, ist es möglich, einen endgültigen Katalog von<br />

konkreten und unveränderlichen Menschenrechten zusammenzustellen. Menschenrechte<br />

können nur als geschichtlich wandelbare, jeweilige Konkretisierungen<br />

der unwandelbaren Menschenwürde verstanden werden. 20<br />

Es ist also festzuhalten, daß nicht alle Rechte, die als Menschenrechte bezeichnet<br />

und auch als solche gedeutet werden, in dem Sinne als Naturrechte verstanden<br />

werden können, daß sie unwandelbare Rechte des Menschen sind, die die Ve rnunft<br />

als Bestandteil eines Ewigen Gesetzes erkennt. Dennoch sind Menschen-<br />

91


echte naturrechtlich begründbar. Hier ist eine Unterscheidung hilfreich, die die<br />

katholische Naturrechtstradition kennt, nämlich zwischen primärem und sekundärem<br />

Naturrecht. Die Begriffswahl ‚primär‘ und ‚sekundär‘ bringt dabei keine<br />

Abwertung des sekundären Naturrechts gegenüber dem primären zum Ausdruck,<br />

vielmehr soll damit gesagt sein, daß das sekundäre Naturrecht konkrete, situationsbezogene<br />

Normen enthält, während das sogenannte primäre Naturrecht sich<br />

strikt darauf beschränkt, allgemeine Prinzipien zu formulieren. Daher gehören<br />

Menschenrechte, insofern sie sich auf geschichtlich konkrete Situationen beziehen,<br />

eher in den Bereich des sekundären Naturrechts, wobei freilich immer sehr<br />

genau zu differenzieren ist, genauer jedenfalls als dies weithin geschieht, wenn<br />

bestimmte, oftmals sehr konkrete Forderungen mit dem Verweis auf sogenannte<br />

Menschenrechte gestellt werden.<br />

92<br />

V. Fazit<br />

Wie ist also auf die eingangs aufgeworfene Frage zu antworten, ob die Katholische<br />

Soziallehre nicht die Menschenrechte zu ihrem Fundament nehmen sollte?<br />

Es dürfte aus dem Gesagten genügend deutlich hervorgehen, daß der Begriff<br />

„Menschenrechte“ schon aufgrund seiner Geschichte, aber auch aufgrund der<br />

unterschiedlichen Sachebenen und Dimensionen, die er enthält, nicht ohne weiteres<br />

als Fundament für eine Gesellschaftsethik genommen werden kann, sogar<br />

eher ungeeignet erscheint. Damit wird die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte<br />

für ein menschenwürdiges Zusammenleben in keiner Weise in Abrede<br />

gestellt, im Gegenteil: Um der Geltung der Menschenrechte willen dürfen<br />

diese weder abgetan noch überzogen werden, was letztlich beides zu ihrer Unwirksamkeit<br />

führen würde. 21<br />

Daraus aber ergibt sich die Antwort auf die zweite Frage, nämlich ob ein heute<br />

global geltendes Ethos auf die Idee der Menschenrechte gegründet werden kann.<br />

Zwar ist gewiß ein Ethos ohne Menschenrechte nicht denkbar, dies gilt auch für<br />

ein globales Ethos, aber Menschenrechte zur Grundlage einer universellen Sozialethik<br />

zu erheben, scheitert aufgrund der spannungsvollen Differenziertheit des<br />

Begriffs der Menschenrechte nicht zuletzt schon an praktischen Schwierigkeiten:<br />

Die Menschenrechtsvorstellungen sind disparat, je kontext - und horizontbezogen<br />

im Hinblick auf Situation, Kultur, Geistesgeschichte u.a.m. Insofern hier in der<br />

Regel die Dimension der „sekundären Naturrechte“ in den Blick genommen<br />

wird, ist dies auch nicht nur kaum vermeidlich, sondern geradezu zwangsläufig.<br />

Es ergibt sich somit: Menschenrechte selbst bedürfen, um praktisch gelten zu<br />

können, der ethischen Begründung. Sie sind nicht Prinzipien, sondern Konsequenzen<br />

ethischer Prinzipien. Dementsprechend sind nicht Menschenrechte die<br />

Basis für eine Sozialethik der Zukunft, vielmehr muß eine wirklich begründete<br />

Sozialethik das Fundament einer Kultur der Menschenrechte sein. So gesehen ist<br />

die christliche Soziallehre mit ihrem Anspruch, als Naturrechtsethik eine letztbegründete<br />

Ethik zu sein, nämlich eine Ethik auf der Basis eines in Gott gegründeten<br />

Menschenbildes, in besonderer Weis e herausgefordert, und offensichtlich<br />

aber auch mehr denn je vonnöten.


Anmerkungen<br />

1) Josef Isensee, Die katholische Kirche und das verfassungsstaatliche Erbe der Aufklärung,<br />

in: Moderne als Problem des Katholizismus, hrsg. von Urs Altermatt u.a. (= Eichstätter<br />

Beiträge, Bd. 28; Abteilung Philosophie und Theologie, Bd. 6), Regensburg 1995,<br />

S. 51-91, Zitat: S. 66. Vgl. ebd., Anm. 33 mit Literaturangaben.<br />

2) „Que n’ont pas fait les fils et les filles de votre nation pour la connaissance de<br />

l’homme, pour exprimer l’homme par la formulation de ses droits inaliénables! On sait la<br />

place que l’idée de liberté, d’égalité et de fraternité tient dans votre culture, dans votre<br />

histoire. Au fond, ce sont-là des idées chrétiennes. Je le dis tout en ayant bien conscience<br />

que ceux qui ont formulé ainsi, les premiers, cet idéal, ne se référaient pas à l’alliance de<br />

l’homme avec la sagesse éternelle. Mais ils voulaient agir pour l’homme.“ Johannes Paul<br />

II., In aëronavium portu „Le Bourget“ prope Lutetiam Parisiorum ad Christifideles ibidem<br />

congregatos habita, zitiert nach: Acta Apostolicae Sedis 72 (1980), S. 716-723, Zitat: n. 5.<br />

Übersetzung: „Was haben nicht die Söhne und Töchter ihrer Nation alles für die Kenntnis<br />

des Menschen getan, um den Menschen durch die Formulierung seiner unveräußerlichen<br />

Rechte zu beschreiben. Man kennt den Platz, den der Gedanke der Freiheit, der Gleichheit<br />

und der Brüderlichkeit in eurer Kultur und Geschichte einnimmt. Im Grunde sind dies<br />

christliche Ideen. Ich sage dies ganz in dem Bewußtsein, daß diejenigen, die in dieser Art<br />

als erste dieses Ideal formuliert haben, sich nicht auf die Verbindung des Menschen mit<br />

der ewigen Weiheit bezogen. Aber sie wollten für den Menschen handeln.“ A.S.<br />

3) „Außerhalb des päpstlichen Blickfeldes lag der (protestantisch dominierte) angelsächsische<br />

Kulturkreis: damit die Erfahrung staatlicher Stabilität, innerhalb deren sich die Liberalisierung<br />

und die Demokratisierung vollzogen, sowie die pragmatische Sicht der<br />

Menschenrechte, die den Streitstoff philosophischer Grundsätzlichkeit beiseite ließ.“ Josef<br />

Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts<br />

an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschrift der<br />

Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 73 (1987), S. 296-336,<br />

Zitat: S. 304.<br />

4) Vgl. ebd., S. 301.<br />

5) Vgl. Jozef Punt, Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und<br />

ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung (= Abhandlungen zur<br />

Sozialethik, Bd. 26), Paderborn u.a. 1987, S. 209-214.<br />

6) Vgl. ebd., S. 175-177, sowie J. Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, a.a.O., S. 302:<br />

„Die Lehrschreiben haben ihre konkreten Anlässe und zeitbezogenen Ziele. Das gilt schon<br />

für die erste thematisch einschlägige Äußerung des Papstes, das Breve ,Quod aliquantum‘<br />

Pius’ VI. von 1791. Dieses Schreiben an jene Erzbischöfe und Bischöfe Frankreichs, die<br />

der Nationalversammlung angehörten, war die Reaktion auf die kirchenpolitischen Beschlüsse<br />

der Versammlung, die Constitution civile du clergé. Es ging um die Abwehr<br />

dieser Maßnahmen. Die Absage an die Religionsfreiheit und an die Gleichheit war nicht<br />

mehr als ein Argument zur Verteidigung der kirchlichen Unabhängigkeit gegen den<br />

Zugriff des Staates, also nur ein obiter dictum. Detailfragen der Kirchenorganisation, der<br />

innerkirchlichen Disziplin, der Kirchengüter, nicht zuletzt die Verurteilung des Bischofs<br />

von Autun (Talleyrand) erfuhren umfangreichere Behandlung als die Themen von Freiheit<br />

und Gleichheit. – Selbst die prinzipiell und abstrakt gehaltenen Äußerungen der Enzyklika<br />

,Mirari vos‘ zur Meinungs-, Presse- und Gewissensfreiheit, zum Bücherverbot und zur<br />

Trennung von Kirche und Staat hatten ihre persönlichen Adressaten. Diese wurden freilich<br />

nicht beim Namen genannt (...).“<br />

7) „Die Schizophrenie des realen Liberalismus wurde denn auch von Leo XIII. nachgewiesen,<br />

wenn er feststellte, dessen Anhänger dehnten die Freiheit für sich und das Staatswesen<br />

so weit aus, daß sie bedenkenlos jeder verkehrten Meinung Tür und Tor öffneten,<br />

93


daß sie andererseits der Kirche vielfache Hindernisse in den Weg legten und ihre Freiheit<br />

weitestmöglich einschränkten, obwohl die Lehre der Kirche keinerlei Nachteil für das<br />

Gemeinwesen, im Gegenteil: nur Nutzen nach sich ziehe.“ J. Isensee, Keine Freiheit für<br />

den Irrtum, ebd., S. 304.<br />

8) Vgl. ebd., S. 298f.<br />

9) Gustav Gundlach, Art. Sozialphilosophie, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft,<br />

Bd. 7, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Freiburg i.Br. 6 1962, Sp. 337-346. Wiederveröffentlicht<br />

in: Gustav Gundlach, Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, hrsg.<br />

von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Bd. 1,<br />

Köln 1964, S. 57-65, Zitat: S. 62.<br />

10) Vgl. ebd.<br />

11) A.F. Utz bringt es wie folgt auf den Punkt: „Aus dem Verhältnis von Wesensnatur<br />

und individueller Ausprägung ergibt sich vor der empirischen Feststellung der Ergänzungsbedürftigkeit<br />

des Individuums die wesenhaft soziale Natur jedes Menschen und damit<br />

der an jedes Individuum gestellte Auftrag, mit den Mitmenschen zu kooperieren, um<br />

die reiche Potentialität der menschlichen Natur zu aktuieren durch Erstellung und Verwirklichung<br />

eines naturkonformen Gemeinwohls, in dem naturgemäß auch die individuelle<br />

Eigenverantwortlichkeit der Person ihren Platz hat.“ Arthur F. Utz, Johannes Messners<br />

Konzeption der Sozialphilosophie. Die Definition der Sozialnatur und der Gesellschaft,<br />

in: ders., Ethik des Gemeinwohls. Gesammelte Aufsätze 1983-1997, hrsg. von Wolfgang<br />

Ockenfels, Paderborn u.a. 1998, S. 186-219, Zitat: S. 209f.<br />

12) Vgl. Arthur F. Utz, Sozialethik, Bd. 1: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre (=<br />

Sammlung Politeia, Bd. 10/1), Heidelberg-Löwen 2 1964, S. 144f.<br />

13) Ebd., S. 145.<br />

14) Vgl. Arthur F. Utz, Von der Erfahrung zum klassischen Naturrecht, in: ders., Ethik<br />

des Gemeinwohls, a.a.O., S. 37-41, hier: S. 38.<br />

15) Ebd.<br />

16) Med. II, 8; vgl. auch zuvor Med. II, 6.<br />

17) Menschenrechte – eine Herausforderung der Kirche, hrsg. von Johannes Schwartländer<br />

(= Entwicklung und Frieden, Materialien, Bd. 119), München-Mainz 1979, S. 25.<br />

18) Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer<br />

geschichtlichen Welt, Mainz 1996, S. 159f.: „Ebenso verhält es sich nach Thomas nun<br />

auch mit den ersten Prinzipien der praktischen Vernunft, die zugleich die obersten Grundsätze<br />

der lex naturalis sind. Wir können hinsichtlich ihrer nicht irren, da wir sie in jedem<br />

praktischen, auf die Verwirklichung des Guten zielenden Urteil immer schon voraussetzen.<br />

Die Gültigkeit der obersten Urteilsformen der praktischen Vernunft beruht allein auf<br />

der ersten Ureinsicht in den Sinn des Guten, der jedem vernünftig denkenden Menschen<br />

vertraut ist. (...) Er drückt den gerundivischen Charakter ihrer Sätze aus, die das Sein-<br />

Sollen des Guten näherhin konkretisieren. Das Grundgebot bonum faciendum, malum<br />

vitandum fächert sich gewissermaßen in die allgemeinen Prinzipien der praktischen Vernunft<br />

auf, von denen Thomas immer nur andeutungsweise und in unvollständiger Aufzählung<br />

spricht. (...) Die Formulierung dieser obersten Prinzipien bleibt also noch weitgehend<br />

inhaltsleer und steckt gewissermaßen nur den Bereich ab, innerhalb dessen die moralische<br />

Grunddifferenz von Gut und Böse entsprechend dem obersten Gebot des sittlichen Gesetzes<br />

zur Geltung gebracht werden soll.“<br />

19) Ebd., S. 178f. Vgl. auch ebd., S. 181: „Da diese notwendigen Ergänzungen jedoch geschichtlich<br />

geworden sind und weiteren Veränderungen unterliegen, kommt das natürliche<br />

Gesetz, obwohl seine allgemeinen Gebote in sich unveränderlich sind, immer nur in einer<br />

wandelbaren Gestalt zu geschichtlicher Geltung. Ein schlechthin unveränderliches Sittengesetz<br />

wäre dagegen für Thomas schon von seinem Begriff her ein Unding.“<br />

94


20) E. Schockenhoff bringt es auf den Punkt: „Jeder Katalog von Menschenrechten enthält<br />

deshalb einen Vorgriff auf die Idee eines Ganzen, das sich nie vollständig erfassen<br />

läßt und dennoch in jedem Versuch der historischen Annäherung vorausgesetzt ist. Zwischen<br />

der ‚Natur‘ des Menschen und ihren historischen Realisierungsformen waltet so<br />

eine dialektische Beziehung, die nicht auflösbar ist. Für die Entwicklung unseres Menschenrechtsethos<br />

bedeutet dies, daß der Begriff eines ‚von Natur aus‘ Rechten nur in Gestalt<br />

einzelner Menschenrechte verwirklicht werden kann, wohingegen alle einzelnen<br />

Menschenrechte diesen Begriff auch in ihrer Gesamtheit nicht vollständig erfassen.“ Ebd.,<br />

S. 197.<br />

21) „Wenn man, wie es häufig geschieht, unter dem Etikett der Menschenrechte jede Art<br />

von sozialer und politischer Zielvorstellung unterbringen will, wird der Menschenrechtsgedanke<br />

überdehnt und verliert seine politische Effektivität.“ Theodor Herr, Johannes<br />

Paul II. und die Menschenrechte. Neue Wege der katholischen Soziallehre? (= Kirche und<br />

Gesellschaft, Nr. 90), Köln 1982, S. 13.<br />

Dr. Alexander Saberschinsky arbeitet als Sozialethiker und Liturgiewissenschaftler<br />

in Trier.<br />

95


96<br />

Andreas Püttmann<br />

Der Mensch im Zerrspiegel der Medien<br />

„Die Epoche der Weltanschauungsdebatten ist vorbei. Es hat die Epoche der Menschenanschauungsdebatten<br />

begonnen“, konstatiert Joachim Kardinal Meisner im<br />

Juni 2001 im kritischen Blick auf die „Folgen einer Entwicklung, die den Menschen<br />

nicht als Geschöpf Gottes, sondern von seiner Entstehung an bis zu seinem Tod als<br />

herstellbares und verfügbares Objekt menschlicher Technik begreift“. 1 Bei diesem<br />

Epochenwechsel handelt es sich aber wohl nur um eine Akzentverschiebung innerhalb<br />

eines unauflösbaren Ideen- und Wirkungszusammenhangs. Von jeher beruhen<br />

Konzeptionen von Gesellschaft und Staat, ihre Wirkungsmacht, Persistenz oder ihr<br />

Scheitern auf Menschenbildern. Deren Pluralität erwächst aus der Schwierigkeit,<br />

„durch alle geschichtlichen Ablagerungen und wechselnden Interpretamente hindurch<br />

auf so etwas wie ein stets gleichbleibendes Wesen zu kommen“. 2 Die Frage<br />

nach der Natur des Menschen „stößt bekanntlich auf den Zirkel, daß derjenige, der<br />

die Frage stellt, auch der ist, nach dem gefragt wird“; diese Selbstreferenz „provoziert<br />

entweder die Suche nach einem gültigen Wesen des Humanen innerhalb des<br />

Zirkels oder die Frage nach denjenigen Instanzen, die außerhalb seiner der Repräsentation<br />

des Menschen dienen“. 3 Zu diesen gehören heute zuvörderst die Massenmedien,<br />

in denen wir dem Menschen gleich in drei Positionen begegnen: als dem,<br />

den die Medien zeigen; als dem, der die Medien nutzt, und als dem, der den Blick<br />

der Medien steuert. Welche Rolle spielen also die Massenkommunikationsmittel für<br />

unser anthropologisches Wissen und Meinen? Welches Menschenbild vermitteln<br />

sie?<br />

Das Thema kann hier nur fragmentarisch behandelt werden. Denn einer Reihe von<br />

inhaltsanalytischen Studien über die mediale Darstellung von soziodemographischen<br />

Gruppen – Männer und Frauen, Alte und Jugendliche, Ausländer oder einzelne<br />

Völker – steht eine tabula rasa in der Grundfrage gegenüber, welches Bild des<br />

Menschen Inhalte, Nutzung und Macher von Medien heute insgesamt vermitteln.<br />

Gibt es das Menschenbild der Medien nicht oder ist es mangels empirischer Studien<br />

schwerlich zu skizzieren, so liegt es nahe, die Frage auf die Prämisse jener (noch)<br />

weithin akzeptierten Grundaussagen über den Menschen zu fokussieren, die uns als<br />

„christliches Menschenbild“ überliefert sind und auch unsere Verfassungsordnung<br />

prägen: Das Bundesverfassungsgericht betont in religiös gefärbter Diktion, „daß der<br />

Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenständigen Wert besitzt und Freiheit<br />

und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind“. 4 In der Genese<br />

der Menschenbildformel 5 des Gerichts ist „eine eindeutige Verbindungslinie zur<br />

katholischen Soziallehre“ nachweisbar: Sein damaliger Präsident Josef Wintrich<br />

„übernimmt aus ihr wesentliche Elemente für sein Menschenbild“, ohne dieses<br />

„ausdrücklich auf die christliche Auffassung von der Gottesebenbildlichkeit des<br />

Menschen zu gründen“. 6


Wurde unsere Kultur und Rechtsordnung nachhaltig vom Christentum und seinem<br />

Menschenbild inspiriert, dann ergeben sich aus der Fragestellung auch Perspektiven<br />

auf die Zukunft unseres Gemeinwesens. Ein „richtiges“, realistisches Bild des Menschen<br />

gehört zu jenen vielbeschworenen Voraussetzungen, von denen der demokratische<br />

Verfassungsstaat lebt, ohne sie garantieren zu können. Seine geistige Pflege<br />

und „Übersetzung“ in die jeweilige zivilisatorische Situation hinein kann insofern<br />

als „Verfassungserwartung“ 7 an jene gesellschaftlichen Potenzen begriffen werden,<br />

welche die geistige und sittliche Orientierung im Lande beeinflußen. Dazu gehören<br />

schon rein quantitativ die Massenmedien, wenn man bedenkt, daß der Deutsche<br />

durchschnittlich sechs Stunden täglich mit Medienkonsum verbringt 8 und daß ein<br />

14jähriger Schüler in seinem Leben mehr Zeit vor dem Fernseher als im Klassenzimmer<br />

oder im Gespräch mit seinen Eltern verbracht hat. Josef Isensee bezeichnet<br />

die Medien daher in Übereinstimmung mit neueren Befunden der Medienwirkungsforschung<br />

als „die großen Erzieher der heutigen Gesellschaft“ 9 . Kann aber ein erheblicher<br />

Einfluß von Massenmedien für unsere Wirklichkeitswahrnehmung, Meinungsbildung<br />

und Verhaltensbereitschaft angenommen werden, so ist dies Grund,<br />

dem/den in den Medien vermittelten Menschenbild/ern unter der Perspektive einer<br />

Affirmation oder Destruktion der christlichen Auffassung vom Menschen nachzuforschen.<br />

I. Die religiöse Dimension: ignoriert, reduziert, karikiert<br />

Die Idee der Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Fundament<br />

des christlichen Menschenbildes wird man als theologische Denk- und<br />

Sprachfigur schwerlich explizit in den Medien finden; sie könnte aber durch den<br />

Stellenwert religiöser Bezüge des Menschen im Programmangebot sowie durch eine<br />

angemessene Art der Darstellung von Glaube und Kirche dort vermittelt werden.<br />

„Das christliche Menschenbild ist die direkte Konsequenz des christlichen Gottesbildes.<br />

Wem das nicht klar ist, dem ist auch das christliche Menschenbild nicht<br />

klar“ 10 , hat Joachim Kardinal Meisner gegen Tendenzen betont, im öffentlichen<br />

Leben eine Art christliche Anthropologie ohne Gott zur Geltung bringen zu wollen.<br />

Kommt der „Gottesbezug“ des Menschen also – wie in der Verfassung – auch in der<br />

Medienwirklichkeit vor?<br />

Ausgehend von einer Umfrage, bei der die ersten drei der Zehn Gebote als die unwichtigsten<br />

eingestuft wurden, kommentierte kürzlich der Leiter der katholischen<br />

Journalistenschule: „Wir kennen und lehren vom Glauben fast nur noch die Ausführungsbestimmungen,<br />

und bei den Verboten sind wir uns am sichersten. Vom Gott,<br />

der Himmel und Erde und alles Getier und Gemensch erschuf, schweigen wir, und<br />

langweilen die Menschen mit unserem ewigen Moralisieren, dessen Basis, den<br />

lebendigen Gott nämlich, wir weitgehend aus dem Blick verloren haben“. 11 Ein<br />

Reflex des Blicks in Zeitung und Fernsehen? Jedenfalls ergab eine Inhaltsanalyse<br />

der Printmedien Der Spiegel, Focus, Die Woche, Süddeutsche Zeitung, Tageszeitung,<br />

Berliner Zeitung und Stuttgarter Zeitung im Erscheinungszeitraum von April<br />

2000 bis April 2001, „daß sich bei allen Blättern nur rund ein Prozent der Beiträge<br />

mit religiösen Themen befaßt. Ihre Schlagzeilen stürzen sich mit Vorliebe – bei den<br />

Tageszeitungen zu 70 bis 80 Prozent – auf die Amtsträger in der Kirche (...). Inhalt-<br />

97


liche Renner sind noch ,Ehe, Scheidung, Ehebruch, wiederverheiratete Geschiedene‘<br />

und ,Schwangerschaft, Abtreibung, Konfliktberatung‘ (...). Die veröffentlichte<br />

Meinung ist demnach auch nicht so ganz dicht dran am Geheimnis des Glaubens“. 12<br />

Gleiches ergaben Inhaltsanalysen von TV-Nachrichtenmagazinen. 13<br />

Die Kirche, immerhin Organisation von Zweidritteln der Menschen und zweitgrößter<br />

Arbeitgeber in Deutschland mit globaler Präsenz, lokaler Verankerung und 7<br />

Millionen Gottesdienstbesuchern wöchentlich, genügt in ihren zentralen Botschaften<br />

offenbar nicht den Aufmerksamkeitsregeln der Medienmacher. So berichtet der<br />

frühere Kulturchef und stellvertretende Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks:<br />

„Als vor einer Reihe von Jahren in einer anderen Redaktion ein Film über die<br />

Wallfahrt zum bayerischen Marienwallfahrtsort Altötting gemacht werden sollte,<br />

wollte es mir nicht in den Sinn, daß wir dieses Thema nicht schon mehrmals behandelt<br />

haben sollten. Aber es stimmte: Wir hatten die vielen Hunderttausende von<br />

Pilgern, auch von jungen Menschen, die jedes Jahr auf stundenlangen Märschen zur<br />

Muttergottes in Altötting pilgern, überhaupt nicht wahrgenommen. Aber zur gleichen<br />

Zeit haben wir jeden Protestmarsch von zwanzig oder fünfzig Leuten durch<br />

die Münchner Innenstadt selbstverständlich aufgenommen und noch am gleichen<br />

Abend gesendet. (...) Kommt die eine Wirklichkeit deshalb eher in den Blick, weil<br />

sie der Lebenswirklichkeit der Redakteure eher entspricht?“ 14 Die Antwort geben<br />

Journalistenumfragen: Tatsächlich ist diese Berufsgruppe weit überdurchschnittlich<br />

konfessionslos und kirchendistanziert, bis hin zum vollständigen religiösen Analphabetismus.<br />

15 Die prekären Konsequenzen für die Hüter und Verkünder der chris tlichen<br />

Botschaft hat Josef Isensee auf die plastische Formel gebracht: „Deutsche<br />

Bischöfe fürchten nicht den Bundeskanzler, sondern den Fernsehjournalisten“. 16<br />

Die eindimensionale Abflachung des christlichen Profils im Fremdverständnis säkularer<br />

Medien zeigt sich in der Nachrichtenselektion. Wenn in Predigten der hohen<br />

Feste – die (etwa Weihnachten oder Pfingsten) das christliche Menschenbild besonders<br />

gut verdeutlichen können – nicht eine politisch verwertbare Aussage vorkommt,<br />

sinkt der Nachrichtenwert erheblich. Bischöfe wundern sich, „daß eine<br />

Nachricht am Rande einer Bischofskonferenz zur einzigen Hauptsache wird und die<br />

Relationen und Proportionen der einzelnen Themen einer Veranstaltung verzerrt.<br />

Nicht selten kommt einem als Teilnehmer einer solchen Veranstaltung (z. B. auch<br />

Katholikentage, Kirchentage) der Eindruck, man sei bei der so in der Berichterstattung<br />

gespiegelten Veranstaltung gar nicht gewesen“. 17 Allerdings hat man auch bei<br />

mancher chris tlichen Verkündigungssendung bis hin zum „Wort zum Sonntag“ eher<br />

den Eindruck, in einer brandenburgischen LER-Stunde zu sitzen als einer kirchlich<br />

verantworteten Veranstaltung beizuwohnen. Und zu mancher durchaus seriösen<br />

Sendung der Medien treten eingeladene Kirchenführer erst gar nicht an. Als Sabine<br />

Christiansen im Juni 2001 eine höchst Menschenbild-relevante Talkrunde zum<br />

Thema Prostitution zusammenstellte, fand sich kein deutscher Bischof bereit, dort<br />

die christliche Auffassung von der Würde des Menschen vor einem Millionenpublikum<br />

zu erläutern.<br />

Auch im Unterhaltungsprogramm scheinen sich Marginalisierung und Deformation<br />

christlicher Religiosität zu mehren. Zwar fanden Pfarrer- und Nonnenserien in öffentlich-rechtlichen<br />

wie privaten Programmen auch in den achtziger und neunziger<br />

98


Jahren ein beachtliches Publikum und vermochten es, „das Bild von weltoffenen,<br />

erdverbundenen Pfarrern und Gemeinden (...) und christliche Grundhaltungen auf<br />

unterhaltsame Weise zu vermitteln“ 18 , doch blieb der Transzendenzbezug von Pater<br />

Βrowns und Don Camillos Nachfolgern vage bis unkenntlich. 19 Und viel interessanter<br />

als der Mensch als Wesen der Transzendenz erscheint zeitgenössischen Filmemachern<br />

offenbar der Kleriker als sexuelles Wesen („Der Priester“, „Der Kardinal“).<br />

Das krasseste Signal der Mißachtung christlicher, keineswegs aber jüdischer oder<br />

moslemischer „Ehrfurcht vor Gott“ sind die sich häufenden Fälle von Blasphemie<br />

und Kirchenschmähung in den Medien. Dabei geht für konservative wie für liberale<br />

Kirchenführer nicht nur die „zunehmende Hetze“ (Karl Kardinal Lehmann) gegen<br />

die Kirche inzwischen „über alles erträgliche Maß hinaus“ (Joachim Kardinal<br />

Meisner). Bei der Jagd nach Quoten und Aufmerksamkeit werde selbst das Heiligste<br />

zum Gegenstand von Spott und Hohn, beklagt Peter Hahne, ZDF-Hauptstadtkorrespondent<br />

und EKD-Ratsmitglied; es sei „schizophren“, daß nach fremdenfeindlichen<br />

Übergriffen stets die Bedeutung des Religionsunterrichts für die Wertorientierung<br />

betont werde, zugleich aber Glaubensüberzeugungen und religiöse<br />

Symbole in den Medien immer wieder zum Gegenstand dümmsten Spotts erhoben<br />

würden, ohne daß dies Folgen habe. 20 In den „publizistischen Grundsätzen (Pressecodex)“<br />

des Deutschen Presserates heißt es zwar: „Veröffentlichungen in Wort und<br />

Bild, die das sittliche oder religiöse Empfinden einer Personengruppe nach Form<br />

und Inhalt wesentlich verletzen können, sind mit der Verantwortung der Presse<br />

nicht zu vereinbaren“ (Ziff. 10), doch dies hinderte Journalisten zum Beispiel nicht<br />

daran, nach dem Bundesverfassungsgerichtsbeschluß zum Schulkreuz 1995 das<br />

Kruzifix als Klorollenhalter („Spielt Jesus noch eine Rolle?“) zu präsentieren oder<br />

im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu spotten: „2000 Jahre Rumhängen sind ja<br />

auch kein Vorbild für die Jugend“. 21<br />

II. Medienpranger und Menschenzoo: Die verletzte Würde<br />

Wie zur Bestätigung der These vom unauflöslichen Zusammenhang zwischen Go ttesbild<br />

und Menschenbild treten mit der zunehmenden Verletzung des religiösen<br />

Empfindens in den Medien auch vermehrt gegen die Würde der Person gerichtete<br />

Tabubrüche auf. Hierbei mag man zunächst an die „Preisgabe des Ehrenschutzes<br />

und der Menschenwürde an eine exzessiv verstandene Meinungs- und Kunstfreiheit<br />

(,Alle Soldaten sind Mörder‘)“ 22 denken oder an die Skrupellosigkeit, mit der inkriminierte<br />

Personen öffentlich vorverurteilt werden. Nachdem der sachsen-anhaltinische<br />

Ministerpräsident Werner Münch, als vermeintlicher „Raffke“ samt dreier<br />

Minister in der sogenannten Gehälter-Affäre 1993 mit Schimpf und Schande aus<br />

dem Amt gejagt, schließlich von Verwaltungs- und Strafgerichtsbarkeit für unschuldig<br />

befunden worden war, kam dies, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

titelte, nur noch einem „Freispruch nach der Hinrichtung“ gleich. Wie Poesie liest<br />

sich da Ziffer 13 des Pressekodex: „Die Berichterstattung über schwebende Ermittlungs-<br />

und Gerichtsverfahren muß frei von Vorurteilen erfolgen. Die Presse vermeidet<br />

deshalb vor Beginn und während der Dauer eines solchen Verfahrens in<br />

Darstellung und Überschrift jede einseitige oder präjudizierende Stellungnahme.<br />

99


Ein Verdächtiger darf vor einem gerichtlichen Urteil nicht als Schuldiger hingestellt<br />

werden“. In einem Kommentar hat der Rechtsanwalt und Professor Rüdiger Zuck<br />

nach einer eindrücklichen Schilderung seiner – bis zu Handgreiflichkeiten reichenden<br />

– Erfahrungen in der CDU-Spendenaffäre 23 kürzlich das bittere Fazit gezogen:<br />

„Freiwild ist man eben für die Medien, und sonst nichts. Nun geht es mir aber gar<br />

nicht in erster Linie um die Manieren, sondern darum, mit welcher Selbstverständlichkeit<br />

und Gleichgültigkeit gegenüber der Person man für Medienzwecke in Anspruch<br />

genommen, instrumentalisiert und zum Objekt gemacht wird. Die Medien<br />

gehen offenbar dabei davon aus, wir hätten alle dieselbe Mentalität: Sieht das Publikum<br />

eine Kamera, winkt es. Offenbar wird angenommen, es habe sich zu den bekannten<br />

Trieben ein weiterer hinzuentwickelt, die Mediengeilheit, die jeden von den<br />

Medien Befragten in einen adrenalingesteuerten Taumel versetzt“. 24<br />

Damit ist der Blick auf jene mediale Herausforderung des christlichen Menschenbildes<br />

gelenkt, bei welcher die Würde der Person nicht mehr als Schutznorm gegen<br />

Angriffe Dritter, sondern als Schranke der freien Selbstbestimmung geltend zu<br />

machen wäre. Angesichts der Tendenz der Rechtsprechung, einen Schutz des autonom-freiwillig<br />

Handelnden gegen sich selbst nach dem Grundgesetz abzulehnen 25 ,<br />

ist es aber illusionär, im Grundgesetz „ein Bollwerk zu sehen, das der Unterbietung<br />

des Menschen durch den Menschen wirksam wehrt. Vielmehr erweist sich der<br />

Rechtsstaat ziemlich hilflos in der Pflege seiner eigenen sittlichen Voraussetzungen,<br />

wo „die Verlockung, auf dem Bildschirm zu erscheinen, häufig größer ist, als die<br />

Selbstachtung, als die Scham, sich auch noch bei intimsten Gedanken und Handlungen<br />

zu zeigen“. 26 Beispiel „Big Brother“: Am 1. März 2000 zogen fünf Männer und<br />

fünf Frauen für 100 Tage in einen von der Außenwelt isolierten Wohncontainer ein,<br />

in dem 28 Kameras und 47 Mikrophone täglich 24 Stunden lang alle Aktionen der<br />

Bewohner im gesamten Haus optisch und akustisch aufzeichneten. Eine unbeobachtete<br />

Stunde täglich, die man den Teilnehmern unter dem Druck von Öffentlichkeit<br />

und Zensurbehörden zugestand, wollten diese gar nicht haben. Aus dem Filmmaterial<br />

stellte die Redaktion täglich eine ca. 50minütige Sendung (mit zwei Werbeunterbrechungen)<br />

zusammen, die einen Tag später im Privatsender RTL 2 ausgestrahlt<br />

wurde. Nominiert von der Wohngruppe und abgewählt von den Zuschauern, wurde<br />

alle zwei Wochen ein Bewohner des Hauses verwiesen; der Gewinner des Spiels<br />

verließ nach 100 Tagen mit einer Prämie von 250.000 DM den Container. Das<br />

zynische Motto der Reality-soap, die inzwischen mehrere Folgestaffeln und ähnliche<br />

Sendungen („Girlscamp“, „House of Love“ u. a.) nach sich gezogen hat: „Du<br />

bist nicht allein“. Die Tages- und Wochenaufgaben, wie etwa eine Kletterwand oder<br />

circensische Vorführungen im Garten, erinnerten an eine Beschäftigungstherapie für<br />

gefangene Tiere im Zoo; wie dort bildeten in den Sendungsausschnitten die Bereiche<br />

Nahrungsaufnahme, Paarungsverhalten und wechselseitige Spiele die zentralen<br />

Attraktionsfaktoren der Beobachtung. 27 Der Ausscheidungskampf der „Aufmerksamkeitsgladiatoren“<br />

28 erfolgte unter Einsatz eines ansonsten in der Gesellschaft<br />

geächteten Sozialverhaltens („mobbing“) und war unverkennbar von einem „ökonomischen<br />

Imperativ“ überlagert 29 : „Es war auffällig, daß vor allem diejenigen<br />

Kandidaten aus der Sendung genommen wurden, die sich zu diesem Zeitpunkt<br />

besonders gut vermarkten ließen. Zlatko brachte außerhalb des Containers mehr<br />

100


Einnahmen für die Produktionsfirma Endemol, die mit 50% an seinen Einnahmen<br />

beteiligt ist, als durch sein weiteres Bleiben.“ 30 „Das Endergebnis der medialen<br />

Selbstinszenierung sind menschliche Markenartikel, die unter dem ,Big Brother‘-<br />

Label verkauft werden.“ 31 „Zlatko ist das Produkt eines medialen Labors, in dem<br />

die Marktgängigkeit von Versuchspersonen erprobt und gleichzeitig hergestellt<br />

wird. Es ist ein Warentest (...).“ 32 Schon diese wenigen Formulierungen aus der<br />

einschlägigen Sekundärliteratur machen deutlich, wie würdelos das hier millionenfach<br />

verbreitete Menschenbild ist – von der Gefahr psychischer (und physischer)<br />

Schädigung der Probanden dieser und ähnlicher „sozialanthropologischer Kulinarien“<br />

33 ganz zu schweigen.<br />

III. Trieb- und Affektstereotypen<br />

Der „Big Brother“-Sieger „verkörpert das derzeitige gesellschaftliche Ideal des<br />

,Ego-Taktikers‘ (Klaus Hurrelmann), der kommunikativ ist, sich schnell verändernden<br />

Anforderungen anpaßt und sie zur Optimierung der eigenen Situation zu nutzen<br />

weiß“ 34 . Bildung ist bei diesem Erfolgsrezept nicht gefragt, eher sogar hinderlich:<br />

„Wer auf irgendeine Weise den Eindruck erweckt, er habe eine differenziertere<br />

Meinung (...), ist bei den eingefleischten Show-Fans nicht länger wohlgelitten.<br />

Entsprechend schnell avancierte gerade der BB-Protagonist Zlatko zu einem Medienstar“;<br />

er besticht durch seine „Eindimensionalität: Ihm ist Shakespeare unbekannt,<br />

was ihn nicht weiter bekümmert, sondern ihm (Zitat:) ,scheißegal‘ ist. Er<br />

protzt, stöhnt demonstrativ bei seinen Fitneßübungen, lästert, schimpft, gibt peinliche<br />

Weisheiten zum besten (...) und hat zu jedem Thema eine feststehende, unumstößliche<br />

Meinung (Zitat: ,Schwule sind Scheiße‘)“. 35 Inzwischen gibt es selbstverständlich<br />

ein „Best of Zlatko Sprüche Buch“, und – trotz völliger Sangesuntauglichkeit<br />

– gelangte Zlatko in die nationale Vorauswahl für den Europäischen Schlagerwettbewerb.<br />

Jürgen Bräunlein hat in seinem Buch: „Schön blöd“ eine Fülle von<br />

Beispielen für den „unheimlichen Medienerfolg der Untalentierten“ zusammengetragen<br />

und systematisiert. Sein Fazit: „Heute noch nach einem verbindlichen kulturellen<br />

Bildungskanon zu suchen ist vergeblich. Schon das Wort Kanon ist ein Frevel.<br />

(...) Bildung und Stilsicherheit sind sehr schön, aber ,bad taste‘ ist lebensfroher<br />

und lustiger. (...) Vermutlich haben Gebildete schon immer in diesen Gefilden des<br />

Verbotenen gewildert, aber sie haben es bisher nicht zugeben können, haben sich<br />

dafür geschämt. Doch jetzt ist das unsichtbare Gängelband der Hochkultur schlaff<br />

geworden: Lese statt Adorno lieber Porno!“ 36<br />

Das Verblassen des Menschen als geistiges Wesen in der audiovisuellen Medienwirklichkeit<br />

findet seine Entsprechung im Körperkult. 37 „Zu Zeiten von Marilyn<br />

Monroe war Pin-up zu sein vielleicht der Start zu einer Karriere, niemals aber deren<br />

Fortsetzung. Heute ist es umgekehrt. (...) Was früher den Ruf ruinierte, festigt ihn<br />

jetzt. (...) Bevor Anna Nowak, Freunden der ,Lindenstraße‘ als Urzula bekannt, für<br />

den ,Playboy‘ alle Hüllen fallen ließ, philosophierte sie über den ,Geist der Nacktheit‘:<br />

,Es ist eine große Herausforderung, meine Haut als Kostüm zu benutzen.‘<br />

Eine Herausforderung, die alle spüren und die meisten bewältigen“. 38 Nach einem<br />

EU-Bericht über das Bild der Frau in den Medien liegt zwar bei Werbesendungen<br />

der Schwerpunkt „deutlicher auf dem Körper der Frau“ 39 ; doch deuteten die weni-<br />

101


gen Studien zur Darstellung von Männern darauf hin, „daß sich ihr Bild im Wandel<br />

befindet, da sie nunmehr häufiger als Väter oder sensible Menschen oder als begehrenswerte<br />

Körper dargestellt werden“; in Mittel- und Osteuropa hätten sich die<br />

Medieninhalte „westlichen Normen angepaßt, so daß nach Auffassung der Forscherinnen<br />

in einigen dieser Staaten das Frauenbild nun stärker stereotypisiert ist als<br />

vor dem Umbruch, vor allem im Hinblick auf die Sexualisierung und Ausbeutung<br />

des weiblichen Körpers“. 40 Im Westen erfolgte die „Erotisierung“ der Medieninhalte<br />

in drei Etappen: Zunächst wurde der weibliche Körper vermehrt in Zeitschriften<br />

„oben ohne“ oder nackt dargestellt – etwa auf 43 Prozent der Titelseiten des STERN<br />

(1960-88) –, dann kam es zu Beginn der achtziger Jahre mit der Verbreitung von<br />

Videorecordern zu einem erheblichen Anwachsen von pornographischen Produktionen<br />

(bis zu 25 Prozent Marktanteil in den Videotheken); nach der Einführung<br />

privater Fernsehprogramme wurde Sex in Filmen, Spielshows und Magazinen direkt<br />

auf den Bildschirm gebracht – als „Türöffner“ für „bislang obstinate Zuschauergruppen“<br />

sowie als begehrtes Umfeld für Werbekunden. 41 Die öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunkanstalten zogen mit eigenen Erotikangeboten, „oftmals jedoch<br />

kulturell oder künstlerisch verbrämt“, nach. 42<br />

Solche Camouflage brauchte RTL für seine bahnbrechende Spielshow nicht: „Der<br />

Eindruck, daß wir es bei den Eurogirls und Früchtchen eher mit Objekten der Begierde<br />

und mit Konsumartikeln denn mit Frauen zu tun haben, wird auch dadurch<br />

noch verstärkt, daß – vergleichbar einem Warensortiment im Supermarkt – immer<br />

mehr von ihnen bereitstehen als letztendlich ausgewählt werden. (...) Tutti Frutti<br />

und Konsorten präsentieren uns eine funktionslose Aneinanderreihung dieses Endproduktes<br />

,Frau‘ en masse. Jugendlich, makellos, fast schon geistesabwesend teilen<br />

die Frauen in solchen Sendungen miteinander ihre eigene Objektivierung. Ihre Bewegungen<br />

wirken mechanisch, gleichförmig, keine ,tanzt‘ aus der Reihe. Sie sind<br />

beliebig und austauschbar“. 43 Ein Indiz für die Wirkung solcher Medienbotschaften<br />

auf die Lebenswirklichkeit mag man schon darin sehen, daß die Nachfrage nach<br />

halterlosen Strümpfen nach jeder Tutti Frutti-Sendung rapide stieg, wobei die Käufer<br />

überwiegend männlichen Geschlechts waren. 44 Daß die zunehmende Sexualisierung<br />

in den Medien nicht einfach gesellschaftliche Wirklichkeit widerspiegelt, läßt<br />

schon eine Inhaltsanalyse deutscher Fernsehprogramme im Jahr 1990 erahnen: Von<br />

den in Sendungen mit Spielhandlung vorkommenden sexuellen Beziehungen fallen<br />

37 Prozent in die Kategorie „dauerhaft“; ein insgesamt größerer Anteil verteilt sich<br />

auf „eine Nacht“ (20%), „feste und zusätzliche“ (12%), „mehrere gleichzeitig“<br />

(4%), „mehrere nacheinander“ (3%) und sonstiges (4%); bei einem Viertel war die<br />

Dauer nicht erkennbar. 45 In Umfragen über das tatsächliche Sexualverhalten der<br />

Deutschen gaben jedoch 89 Prozent der Frauen und 77 Prozent der Männer an, in<br />

den letzten 12 Monaten nur einen oder keinen Geschlechtspartner gehabt zu haben.<br />

Selbst bei Annahme einer „Dunkelziffer“ von Falschantworten läßt sich die Lebensrealität<br />

schlechterdings nicht mit dem Medienbild zur Deckung bringen.<br />

Die Reduktion des Menschen auf seine Triebe und Affekte ist weiterhin besonders<br />

augenfällig bei Sendungen, in denen pure Gewalt bar jeden Kontextes und die „nur<br />

fiktionale“ Vernichtung von Menschen gezeigt wird, sowie bei „Beschimpfungs-,<br />

Spott-, Demaskierungs-, Erniedrigungs-, Bloßstellungs-, Brüll- sowie Dreinhau-<br />

102


Shows“ 46 , wie sie vorwiegend von privaten TV-Veranstaltern angeboten werden.<br />

Das Ausreizen der Trieb-Stereotypen, die offenkundig das Menschenbild der Medienmacher<br />

prägen, droht bei den Rezipienten eine innere Leere, ein Sinn-Vakuum<br />

zu hinterlassen, das seinerseits nach immer intensiverem Medienkonsum mit immer<br />

extremeren Emotionen verlangt, um überdeckt zu werden. Die „Katharsis“-These<br />

einer Entlastung vom Trieb- oder Spannungsstau hat die Wirkungsforschung längst<br />

aufgegeben zugunsten der „Risiko-These“ (oder „Doppelte-Dosis -Theorie“), wonach<br />

mediale Gewaltdarstellungen zwar nicht regelmäßig, jedoch in Verbindung<br />

mit familiären und milieuspezifischen Belastungen sowie entwicklungspsychologischen<br />

Krisen gewaltauslösend sein können. Der Zusammenhang von Gewalt-<br />

Computerspielen und der Abstumpfung des Mitleidsempfindens ist erwiesen. 47<br />

Wenn gewalttätige Actionhelden zu Idolen der Kinder avancieren und in deutschen<br />

Fernsehprogrammen wöchentlich 4000 Leichen – darunter schon ein Großteil im<br />

Vorabendprogramm –„produziert“ werden 48 , verwundern spektakuläre Nachahmungstaten<br />

sowie ein starker Anstieg der Kinder- und Gewaltkriminalität jedenfalls<br />

nicht. Schließlich spiegeln sich Medieneinflüsse auch in der größeren Angst von<br />

„Vielfernsehern“ wider, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden: Fiktion und<br />

Realität verschwimmen. 49<br />

Die Sorge um den Schutz der Würde der Person betrifft auch das Medienbild älterer<br />

Menschen. Wenn diese im Durchschnitt aller Sendungen etwa 10 Prozent der auftretenden<br />

Personen darstellen, ist dies nicht einmal die Hälfte des realen Bevölkerungsanteils<br />

der über 60jährigen. 50 Neben dieser Unterrepräsentanz fällt insbesondere<br />

in der Werbung eine Stereotypisierung auf: Als häufigster Typ (mit etwa 30 Prozent)<br />

„tritt uns hier der Clown entgegen. Der Clowntypus, der sowohl weibliche,<br />

überwiegend aber männliche Protagonisten kennt, soll lustig wirken, hat aber oft<br />

einen lächerlichen Touch. Morphologisch wird dieses Bild bestimmt von Auffälligkeiten<br />

wie Fettleibigkeit, großer und/oder schiefer Nase, Doppelkinn, abstehenden<br />

Ohren, fehlenden Zähnen. Dieses Bild wird verstärkt durch die Verwendung von<br />

Accessoires wie unangemessene Kleidung, Handschuhe, Hüte und Schmuck in<br />

grellen Farben. Motorisch und non-verbal wird das Auftreten dieses Typus noch<br />

weiter unterstrichen durch übertriebene Gestik und Mimik“. 51<br />

In Nachrichten und Magazinsendungen erscheint „der alte Mensch – neben dem<br />

verhungernden Kind mit den großen traurigen Augen – als Symbol für Siechtum<br />

und Elend. Das Sickness-Modell dominiert“; und in Gesprächen werden die Antworten<br />

älterer Menschen – insbesondere bei Widerspruch – „erheblich kürzer gehalten<br />

als diejenigen von jüngeren“, während affirmative Äußerungen auffällig oft vom<br />

Interviewer wiederholt werden – „ein Ansatz zu einer Entmündigung“ 52 . Man muß<br />

sich die Feststellung eines „ageism“ 53 , eines Altersrassismus, angesichts durchaus<br />

divergierender Forschungsbefunde 54 in ihrer Drastik nicht zu eigen machen; doch ist<br />

vor dem Hintergrund des grassierenden Jugend- und Körperkultes, der Ablösung<br />

ethischer durch ästhetische Leitbilder, der zunehmenden Finanzierungsprobleme<br />

von Kranken- und Rentenversicherung sowie der Tendenzen zur aktiven Sterbehilfe<br />

besondere Wachsamkeit beim Schutz der Würde alter Menschen auch in den Medien<br />

angebracht.<br />

103


104<br />

IV. Deformation des Menschen als sittliches und soziales Wesen<br />

Zum christlichen Menschenbild gehört auch die Realität des Bösen. Die Würde des<br />

Menschen in seiner Freiheit und Befähigung zur sittlichen Selbstverantwortung<br />

schließt sowohl die Möglichkeit ein, schuldig zu werden als auch mit dieser Schuld<br />

angemessen umzugehen. Heute scheint eher Andy Warhols Diktum zu gelten: „Es<br />

gibt kein Böses; gut ist alles, was in die Presse kommt“ 55 . So werden in diversen<br />

Talkshows schon nachmittags „Menschen vorgeführt, die mit ihren Verfehlungen,<br />

ihrem menschlichen Versagen, ihren sittlichen Defiziten auch noch angeben und<br />

sich wichtig tun. (...) Inzwischen sind immer weniger Beteiligte und Zuschauer<br />

dieses Spiels entsetzt, wenn einstige Grenzen überschritten werden, wenn Mitspieler<br />

Niedertracht und Bosheit wichtigtuerisch, manchmal auch naiv preisgeben, wenn<br />

sie das, was Menschen einst peinlich war, zum Vergnügen anderer ausbreiten“. 56 Im<br />

medialen Voyeurismus werden Schuld, Reue und Scham „nicht mehr als existentiell,<br />

sondern als akzidentiell erlebt“. 57 Inzwischen verfolgen medienkritische Publikationen<br />

das Schicksal von Talkshow-Gästen, die sich vom veranstaltenden Sender<br />

vorgeführt, aufgehetzt, enttäuscht oder fallen gelassen fühlen, und verhelfen ihnen<br />

zu einer neuen Identität als Opfer, obwohl sie sich doch selbst exhibitionistisch als<br />

Figuren dem Spiel der Medien angeboten haben. 58 Der Kontrast zu jenen Helden<br />

und Heiligen, an denen sich früher (nicht nur) Heranwachsende die „Überbietung<br />

des Menschen durch den Menschen“ veranschaulichten, ist kraß und kann auf Dauer<br />

nicht ohne Folgen bleiben.<br />

Bevorzugtes Thema von Talkshows und Daily Soaps, in denen Jugendliche nach<br />

empirischen Studien „Lehrweisheiten für das Leben“ und „soziale Spielregeln“ für<br />

ein angemessenes Rollenverhalten suchen 59 , sind Familienkonflikte, Freundschaftskrisen<br />

und (wechselnde) intime Beziehungen. Empathisch zuhörende oder ungeduldig<br />

penetrierende Moderatoren laden einfache, oft nur begrenzt artikulationsfähige<br />

Menschen zur öffentlichen Vorstellung ihrer zwischenmenschlichen Probleme und<br />

gescheiterten Lebensprojekte ein, öffnen mehr oder weniger behutsam die Schamgrenzen<br />

und provozieren zum Teil erbitterte Angriffe auf ehemalige Liebespartner,<br />

verhaßte Eltern oder ungeliebte Geschwister („Ich halte es nicht mehr aus: Mein<br />

Vater schlägt meine Mutter!“; „Meine beste Freundin hat mich betrogen!“ u. ä.),<br />

begleitet von johlender, hämischer, mitleidiger oder empörter Anteilnahme des Publikums.<br />

60 Die soziale Beziehungswirklichkeit, die hier gezeichnet wird, ist überwiegend<br />

trostlos und ermutigt nicht gerade zu einem Zusammenleben in Ve rtrauen und<br />

Treue. Auch in Fernsehfilmen und -spielen wird die Familie „selten als positive,<br />

dem Einzelnen Rückhalt bietende Intimsphäre dargestellt, sondern vorrangig als<br />

Schauplatz von Ehe- und Familienkrisen. (...) Erotik und Sex treten vorwiegend in<br />

nichtehelichen Zusammenhängen auf“. 61 Insgesamt dominiert durch die einseitige<br />

Konfliktorientierung „ein durch Fatalismus bestimmtes Menschenbild“. 62 Durch<br />

den Aufmerksamkeit heischenden Zwang zur Dramatik entstehen geradezu unglaubliche<br />

Biographien: In einem Fernsehjahr hatte eine Figur aus dem „Marienhof“<br />

eine Fehlgeburt, eine Krebsoperation, einen Mordanschlag und eine Scheidung<br />

hinter sich zu bringen. „Das Frappierende an den Soaps ist, daß die massiven<br />

Schicksalsschläge, die die Figuren ereilen, schon nach wenigen Folgen abgehakt


sind. (...) Schicksal als etwas, das dem Menschen bleibend nachgeht und an dem der<br />

einzelne zerbrechen kann, kommt in den Soaps nicht vor. Die Sinnfrage wird nicht<br />

gestellt. Religiöse Dimensionen von Schicksal und Schuld spielen im Soap-Umfeld<br />

keine Rolle“. 63 Auch suggeriert die dominierende Kurzfristigkeit, daß Freundschaften<br />

und intime Beziehungen sich schnell entwickeln und zwischenmenschliche<br />

Probleme sich „im Spielfilmlängen-Zeittakt“ lösen lassen, unrealistische Erwartungen<br />

hinsichtlich des beharrlichen Einsatzes, der Anstrengung und Geduld, die es<br />

erfordert, tragfähige menschliche Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. 64<br />

Das dominante Jugendbild der „Ichbewußten“, das fast alle Medien durchdringt, „ist<br />

das eines jungen Menschen, der sich intensiv mit sich selbst beschäftigt. Alles was<br />

er wahrnimmt, auch seine Umwelt, sieht er durch seine höchst individuelle Brille.<br />

Er ist sich dieser mehr emotionalen als rationalen Sichtweise durchaus bewußt (...).<br />

Es geht primär darum zu leben, ,Fun‘ zu haben. (...) Der eigene Lebensentwurf wird<br />

als ,feeling‘ artikuliert, dem ,feeling‘ der anderen gegenübergestellt. Die ichbewußten<br />

Jugendlichen betonen selbstsicher ihr Anderssein und verlangen dessen Achtung“.<br />

65 Ein vom Aufmerksamkeitsbonus für die jeweils rabiateren Protestformen<br />

und Tabubrüche genährter „medialer Narzißmus“ verstärkt die Tendenz zu Abweichungen<br />

von der Normalität und von sozialverträglichem Verhalten: Rechtsradikale<br />

Jugendliche, die ein Asylantenheim „abfackeln“ oder Hooligans, die einen Polizisten<br />

verprügeln, verschaffen sich „so etwas wie Anerkennung, selbst wenn die<br />

Rückmeldung negativ ist; denn auch negative Anerkennung bedeutet Identität. (...)<br />

Die narzißtische Dimension liegt im Bewußtsein des Gesehen- und Beachtetwerdens,<br />

das häufig ein unbewußtes ist“. 66<br />

Daß charakteristische Züge des Narziß besonders in den Kommunikationsweisen<br />

des Internet wiederzufinden sind, hat Wolfgang Bergmann in seinem Buch „Abschied<br />

vom Ge wissen. Die Seele in der digitalen Welt“ 67 dargelegt: Hier herrsche<br />

ein Ve rsorgtwerden und Ich-Passivität vor, Bindungslosigkeit bis an die Grenze der<br />

Leugnung des Anderen – Ist der Andere im Netz wirklich der, als der er sich beim<br />

,chat‘ ausgibt? 68 –, eine ruhelose Suche nach etwas, das ,hinter dem Möglichen‘<br />

liegt, ,hinter dem Horizont‘. Im Netz kann ich unbehelligt von Ansprüchen innerer<br />

oder äußerer Instanzen meine im realen Leben festgezimmerte Identität umstoßen,<br />

spielerisch aufheben, ergänzen, austauschen und der sein, der ich sein will. Die<br />

schmale Pforte der Wirklichkeit, deren Zugang für die infantilen Bedürfnisse durch<br />

Zensur und Verbote geregelt ist, die Maß und Aufschub verordnen, sie wird im Netz<br />

magisch aufgerissen. Hier gibt es keine einzige kritische Instanz und kein konkretes<br />

Gegenüber, das mich dazu zwingen könnte, jene Anteile von mir, die mir oder meiner<br />

Umgebung inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen und anzuerkennen. Das Du<br />

ist eine reine Funktion, auf die Beiläufigkeit reduziert, mit der ich es im Netz antreffe.<br />

Ein Mausklick, eine Bewegung der Fingerspitzen genügt, und es verschwindet,<br />

ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Keine Erinnerung an Gesichtsausdruck,<br />

körperliche Begegnung, Rituale von Begrüßung und Abschied. Mein digitales Du<br />

ist nur ein möglicher Kontakt in einer Reihe vieler möglicher Kontakte, die ich alle<br />

beliebig und in schneller Folge aufrufen kann. Ich brauche den anderen nicht.<br />

Entfällt die prinzipielle Unversöhnbarkeit von narzißtischem Anspruch und Erlebnisrealität,<br />

dann kann die Folge nur eine Schwächung der Gewissensinstanz sein.<br />

105


Das Gewissen mit seiner Mahnung ans Soziale, an Mitgefühl und Rücksicht, mit<br />

seinen Gehorsamsforderungen, mit seinen strengen Vorschriften, die es dem Ich<br />

aufbürden will, wird leiser. Was bedeutet Verantwortung, wenn, wie in den Chats,<br />

gar kein stabiles und erkennbares Gegenüber da ist? Im Fall der Tamagotchis war es<br />

mit der Mode des Umsorgens und des Mitgefühls urplötzlich vorbei; „Chicken<br />

rösten“ lautete auf einmal die Variante des weltweiten Spiels, mit einer Reihe von<br />

Tötungsarten für das zuvor so umsorgte Küken. Schon durch den bloßen Zeitaufwand<br />

für das Surfen im Cyberspace werden gemeinschaftliche Situationen, konzentrierte<br />

gemeinsame Aktivitäten, soziale Spiele seltener, Normen nicht mehr auf<br />

eine tiefgreifende, verhaltensprägende Weise vermittelt. Moralisches Verhalten<br />

kann zwar in Erwägung gezogen, aber schon bei geringfügigen Konflikten wieder<br />

aufgegeben werden. Was gesagt und gefühlt wird, schwindet wie die Gestalten und<br />

Landschaften in einem Computerspiel. Fazit: „Das neuzeitlich-abendländische Ich<br />

(...) steht, was seine Fähigkeit angeht, in einer sozialen Gemeinsamkeit zu überleben,<br />

vor einer Bewährungsprobe mit ungewissem Ausgang“. 69<br />

Der anglikanische Erzbischof von York, David Hope, geißelte das Internet als „Hexerei“,<br />

da es einer seelenlosen Gesellschaft Vorschub leiste; die Nutzer sässen zu<br />

Hause fest und verlören ihre sozialen Kontakte. 70 Man muß diesem düsteren Szenario<br />

nicht uneingeschränkt folgen, doch erscheint es im Blick auf ein gestörtes Lern-<br />

und Sozialverhalten einer wachsenden Zahl von „minderjährigen Soziopathen“ 71<br />

gerade in den informationstechnisch fortgeschrittensten Ländern durchaus nicht<br />

abwegig. Ist Kommunikation die Schnittstelle zwischen Individualität und Sozialität<br />

des Menschen und entscheidendes Mittel seiner Entfaltung in Gemeinschaft, dann<br />

hat die Verbreitung eines neuen Kommunikationsmittels selbstverständlich auch<br />

soziale Implikationen. Beispielsweise hat sich nach einer Untersuchung des Allensbacher<br />

Instituts für Demoskopie die Verbreitung des Fernsehens negativ auf das Ge -<br />

sprächsverhalten von Eheleuten ausgewirkt. 72 Noch nie aber hat sich ein neues<br />

Medium so rasch ausgebreitet wie das Internet. Es wird wachsam zu beobachten<br />

sein, welche Einflüsse auf den Menschen als sittliches und soziales Wesen die neuen<br />

Kommunikationstechniken ausüben und wie unerwünschte „Risiken und Nebenwirkungen“<br />

vermieden oder behandelt werden können.<br />

106<br />

V. Gegenkräfte: Nutzerethik, Medienkritik, Politik, Erziehung<br />

„Neben all dem Guten, das sie tun und zu dem sie imstande sind, vermögen die<br />

Massenmedien, die so wirksame Werkzeuge für Einheit und Verständigung sein<br />

können, zuweilen auch zu Werkzeugen einer entstellten Sicht des Lebens, der Familie,<br />

Religion und Moral zu werden – eine Sicht, die die wahre Würde und Bestimmung<br />

der menschlichen Person nicht achtet“, warnte 1992 die Pastoralinstruktion<br />

„Aetatis Novae“ des Päpstlichen Rats für die Sozialen Kommunikationsmittel.<br />

Quod erat demonstrandum! Angesichts dieses Resümees in Resignation zu verfallen,<br />

würde dem christlichen Menschenbild allerdings ebenso wenig gerecht wie<br />

dessen hier aufgezeigte Verzerrungen durch destruktive Medieneinflüsse. Menschliche<br />

Kreativität, Anstrengung, Tapferkeit und Beharrlichkeit sind gefragt, um die<br />

Voraussetzungen menschenwürdigen Lebens in der privaten wie in der öffentlichen<br />

Sphäre zu schützen.


Dazu gehört zunächst, die vielen Möglichkeiten von Kritik und Kontrolle zu nutzen.<br />

Im Kontext unseres Themas könnte man zugespitzt formulieren: Wer sich nicht<br />

wehrt, wird entehrt. Das Handlungsrepertoire mündiger Medienkonsumenten reicht<br />

von den in ihrer Wirkung oft unterschätzten Leserbriefen über Beschwerden bei<br />

Herausgebern und Chefredaktionen, Rundfunkräten, Landesmedienanstalten und<br />

Deutschem Presserat bis hin zur Unterstützung medienkritischer Initiativen und<br />

Publikationen. Wo sich (un-)verantwortliche Medienmacher uneinsichtig zeigen,<br />

muß „das Bewußtsein, um nicht zu sagen, das Gewissen der Öffentlichkeit geweckt<br />

und eine kritische Stimmung von der Nachfrage her entwickelt werden“. 73 Eine<br />

kleine Kirchengemeinde im Landkreis Darmstadt-Dieburg machte es vor: Über 650<br />

Gemeindemitglieder und Fernsehzuschauer beteiligten sich eine Woche lang an<br />

einem freiwilligen Fernsehboykott einschlägiger Privatsender, aus Protest gegen die<br />

menschenverachtenden „Reality-Soaps“ – und machten damit auch Schlagzeilen. 74<br />

Die kritische Bewußtseinsbildung in der Öffentlichkeit mag ihren Anteil an der<br />

Trendwende gehabt haben, die „Der Spiegel“ schließlich konstatierte: „Die Fernsehmacher<br />

haben sich mit ihrer Reality-Offensive verkalkuliert. Die Zuschauer reagieren<br />

verschreckt: Auf einmal gibt es alles zu häufig, zu schnell, zu schamlos“.<br />

Das Erfolgsrezept „Hose runter, Quote rauf“ sei „natürlich Quatsch. Die Rechnung<br />

konnte nicht aufgehen. Reality-TV ist eben doch nicht die billige Gelddruckmaschine,<br />

an die seit ,Big Brother‘ viele glaubten (...). Anfangs war all die vermeintliche<br />

Authentizität ein Ereignis, das ,Event-TV‘ genannt wurde. Nun ist es eine Inflation,<br />

die Trend heißt, sich aber bereits selbst kannibalisiert. Der Voyeurismus, den die<br />

Sender noch bieten, ist ein Mißverständnis. Der Exhibitionismus, zu dem die Kandidaten<br />

bereit sind, ebenso. Mißverstanden fühlt sich vor allem der Zuschauer, der<br />

seit ,Girlscamp‘ nicht mal mehr ab-, sondern gar nicht erst einschaltet. Vielleicht<br />

entdeckt er das eigene Leben wieder. Kommt übrigens echt gut – garantiert Realtime<br />

und in 3-D-Qualität“. 75<br />

Die stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Maria<br />

Böhmer, die auch Mitglied des ZDF-Fernsehrates ist, rief 1994 eine Kampagne<br />

„Rote Karte für TV“ ins Leben: Mit roten Postkarten sollten Zuschauer gegen Sendungen<br />

mit Gewalt und Pornographie bei den Anstalten protestieren. Ihre Fraktion<br />

brachte kürzlich im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Änderung des („Gotteslästerungs“-)Paragraphen<br />

166 des Strafgesetzbuchs ein, wonach die Beschimpfung<br />

des Bekenntnisses, der Einrichtungen und der Gebräuche der Religionsgemeinschaften<br />

generell und nicht mehr nur dann bestraft werden soll, wenn „sie geeignet<br />

ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Schon allein die Initiative dürfte dazu beitragen,<br />

das öffentliche Problembewußtsein zu schärfen. Aufgabe der Politik müßte<br />

es weiterhin sein, eine strengere Normierung von Sendungen mit Gewalt-, Sex- oder<br />

Vulgärgehalt im Sinne der Jugendschutzes durchzusetzen, zumindest aber, die Anbieter<br />

zur Kennzeichnung solcher Angebote und alle Hersteller von Fernsehgeräten<br />

zu deren Ausstattung mit „technischen Vorrichtungen zur Filterung von Programmen“<br />

76 zu veranlassen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muß erhalten, dann aber<br />

auch in seinen Inhalten von einer Anpassung an die verflachten, informationsarmen<br />

privaten Sender abgehalten werden. Schließlich kann die Politik dafür Sorge tragen,<br />

daß im Bildungssektor – vom Kindergarten bis zur Universität – ein verantwortlich-<br />

107


kritischer Umgang mit den Medien gelernt wird. „Medienerziehung“ – Schulfach in<br />

Sachsen – sollte in allen Bundesländern zumindest als fächerübergreifendes Prinzip<br />

in die Curricula eingearbeitet werden. Damit sind die Eltern allerdings nicht aus<br />

ihrer vorrangigen erzieherischen Ve rantwortung entlassen. Diese erschöpft sich<br />

keineswegs in der Einübung bzw. Durchsetzung einer „information diet“ (Neil Postman)<br />

oder „geistigen Müllabfuhr“ (Heinz-Joachim Fischer), sondern besteht viel<br />

grundlegender in einer von Zuwendung, Prägewillen und Vorbild getragenen Erziehung<br />

zur gefestigten Persönlichkeit, die äußeren Einflüssen jeder Art und Güte<br />

etwas entgegenzusetzen hat.<br />

„Was für Journalisten ein Volk hervorbringt, das ist heute ein wesentliches Moment<br />

seines Schicksals“ (Karl Jaspers). Daher ist die kritische Reflexion der eigenen<br />

Wirkungsmacht und berufsethischer Standards für Journalisten und andere Medienmacher<br />

dringlich. Die Entwicklung entsprechender Aus- und Fortbildungsangebote<br />

steht jedermann frei. Besonders die Befunde der empirischen Medien(wirkungs)forschung<br />

müßten den Praktikern transparenter gemacht werden, schärfen sie<br />

doch vielleicht mehr als der moralische Zeigefinger das Bewußtsein für die eigene<br />

Verantwortung. Soll der „Vermittler geistiger Güter“ (Otto Groth) 77 im Journalismus<br />

nicht weiter hinter jenen Typus Redakteur zurücktreten, der „die Spreu vom<br />

Weizen trennt und die Spreu sendet“ (Didi Hallervorden), so ist beim Berufszugang<br />

die akademische Bildung als Kombination von „Wissen und Haltung“ (Hermann<br />

Lübbe) stärker zu gewichten – beispielsweise durch das Angebot journalistischer<br />

Ausbildungszweige im studienbegleitenden Seminarprogramm von Begabtenförderungswerken,<br />

in denen mit öffentlichen Geldern besonders intelligente, leistungswillige,<br />

gemeinwohlorientierte und persönlich integere Studierende auf gesellschaftliche<br />

Führungsaufgaben vorbereitet werden sollen. Daß eigentlich die in diesem<br />

Sinne „Besten“ für den Journalismus gewonnen werden müßten, folgt schon aus<br />

Max Webers Einschätzung, „daß eine wirklich gute journalistische Leistung mindestens<br />

soviel ,Geist‘ beansprucht wie irgendeine Gelehrtenleistung – vor allem infolge<br />

der Notwendigkeit, sofort, auf Kommando hervorgebracht zu werden und: sofort<br />

wirken zu wollen, bei freilich ganz anderen Bedingungen der Schöpfung“. 78<br />

Sollte sich das doppelsinnige Wort „Kanal“ weiterhin in Richtung einer Verähnlichung<br />

seiner beiden Bedeutungen entwickeln, ist durchaus über einen intensiveren<br />

Einsatz und eine erweiterte Wirkungsmacht von „Kanal- und Schleusenwächtern“<br />

zur „Klärung“ der angeschwemmten Medieninhalte nachzudenken. „Es ist ein eigenartiger<br />

Weise nur selten bedachter und öffentlich diskutierter Umstand, daß sich<br />

demokratische Gesellschaften einen mit erheblichen Vollmachten ausgestatteten<br />

Zentralbankrat leisten, der so gut wie völlig unabhängig von Wahlen, öffentlichen<br />

Stimmungen, ja selbst von demokratischer Kontrolle ist. Seine Sitzungen, auf denen<br />

Entscheidungen von großer volkswirtschaftlicher Tragweite getroffen werden, finden<br />

wie ein Papstkonklave unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Kein gewählter<br />

Politiker (...) kann diesem Rat dazwischenreden. All das zu einem einzigen Zweck,<br />

zu verhindern, daß sich Greshams Gesetz bewährt, um also dafür zu sorgen, daß<br />

gutes Geld nicht von schlechtem Geld verdrängt wird. Nun gilt dieses Gesetz offensichtlich<br />

auch für die Massenmedien: Schlechte Sendungen verdrängen weitgehend<br />

108


gute Sendungen. Kein dem Zentralbankrat an Kompetenzen auch nur entfernt vergleichbarer<br />

Medien-Aufsichtsrat sorgt für eine anti-inflationäre Medienpolitik“. 79<br />

Gerade angesichts der Erosion christlicher Wertorientierung und der nicht unerheblichen<br />

Rolle, welche die überdurchschnittlich kirchenfernen Medienmacher dabei<br />

spielen, kommt es für die Verteidiger des christlichen Menschenbildes darauf an,<br />

„in vielen, möglichst allen Medien durch überzeugte katholische Publizisten, die je<br />

an ihrem beruflichen Ort ihr selbständiges Zeugnis geben, gegenwärtig zu sein“. 80<br />

Kirchliche Pastoral und Sozialethik werden den Journalisten und ihrer Schlüsselfunktion<br />

in Zukunft wohl größere Aufmerksamkeit widmen müssen. 81 So haben die<br />

Kirchen allen Grund, über die Einrichtung eines eigenen TV-Kanals nachzudenken.<br />

Unabhängig davon müssen sie ihre journalistische Nachwuchsförderung mit sorgfältiger<br />

Personalauswahl, großzügigem Mitteleinsatz und ethischem Profil betreiben.<br />

Anmerkungen<br />

1) Joachim Kardinal Meisner: Es geht nicht um eine katholische Sonderethik, sondern um den<br />

rechten Gebrauch der Vernunft, in: Die Tagespost vom 23.6.2001, 6.<br />

2) Karl Lehmann: Das christliche Menschenbild – Orientierung in einer pluralistischen Gesellschaft,<br />

in: Communicatio Socialis 2/1994 (27. Jg.), 118-133, 119f.<br />

3) Annette Keck/Nicolas Pethes: Das Bild des Menschen in den Medien. Einleitende Bemerkungen<br />

zu einer Medienanthropologie, in: Dies. (Hg.): Mediale Anatomien: Menschenbilder<br />

als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 12.<br />

4) BVerfGE 2,1 (12) (SRP-Urteil).<br />

5) „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums;<br />

das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der<br />

Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne<br />

dabei deren Eigenwert anzutasten“; BVerfGE 4,7 (15f) (Investitionshilfe-Entscheidung).<br />

6) Ulrich Becker: Das ,Menschenbild des Grundgesetzes‘ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

(Schriften zum Öffentlichen Recht 708), Berlin 1996, 68 bzw. 66.<br />

7) Zu dem von Herbert Krüger geprägten Begriff siehe Isensee: Grundrechtsvoraussetzungen<br />

und Verfassungserwartungen, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, §115 (436ff).<br />

8) Im einzelnen sind dies 206 Minuten Radio, 185 Fernsehen, 30 Zeitung, 18 Bücher und 13<br />

Internet – insgesamt 62 Prozent mehr Zeit als vor 20 Jahren; siehe Christa-Maria Ridder/Bernhard<br />

Engel: Massenkommunikation 2000: Images und Funktionen der Massenmedien<br />

im Vergleich, in: Media Perspektiven 3/2001, 102-125, 105.<br />

9) Interview in: Rheinischer Merkur vom 20.11.1992, 24.<br />

10) Joachim Kardinal Meisner: Mit dem Herzen sehen. Chance und Auftrag der Kirche zu<br />

Beginn des dritten Jahrtausends. Ein Gespräch mit Stefan Rehder, Aachen 2000, 100. „Daß<br />

das Menschenbild des Verfassungsstaates traditionell mit einem Gottesbild korreliert“, betont<br />

auch Peter Häberle: Das Menschenbild im Verfassungsstaat (Schriften zum Öffentlichen<br />

Recht 540), Berlin 1988, 12.<br />

11) Roger Gerhardy: Notizblock, in: transparent 2/2001, 3.<br />

12) Ebd.; gestützt auf eine Recherche Simone Ehmigs vom Mainzer Institut für Publizistik<br />

mittels der Datenbank Reuters Business Briefing.<br />

13) Nämlich Programmanteile zwischen 1% (ZDF) und 0,3% (RTL-Aktuell); idea-spektrum<br />

vom 21.2.1996, 16f.<br />

14) Walter Flemmer: Das Unheil nicht erfindungsreich vermehren. Die Wirklichkeit, die wir<br />

ihnen auf dem Bildschirm zeigen, in: Hermann Boventer (Hg.): Medien und Moral. Unge-<br />

109


schriebene Regeln des Journalismus (Journalismus. Schriftenreihe der Stiftervereinigung der<br />

Presse, 27), Konstanz 1988, 55-70, 60f.<br />

15) Zusammenfassung und Diskussion empirischer Befunde sowie Beispiele entsprechender<br />

journalistischer Fehlleistungen bei Andreas Püttmann: Auf Vermittler angewiesen. Wie entsteht<br />

öffentliche Meinung über die Kirche (Kirche und Gesellschaft hrsg. von der Katholischen<br />

Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, 229), Köln 1996, 6ff; Ders.:<br />

Kirche im Zerrspiegel der Medien. Zur Verantwortung der Katholiken für die öffentliche<br />

Meinung über ihren Glauben, in: Katholische Presse oder: Die Scheidung der Geister. Festschrift<br />

zum 50jährigen Bestehen der Deutschen Tagespost, Würzburg 1998, 153-185.<br />

16) Isensee: Verfassungsstaatliche Erwartungen, 115.<br />

17) Karl Lehmann: Kirchliche Konflikte in der Öffentlichkeit, in: Ders.: Glauben bezeugen,<br />

Gesellschaft gestalten. Reflexionen und Positionen, Freiburg/Basel/Wien 1993, 475-480, 476.<br />

18) Martin Thull: Sakralisierung des Profanen. Wie Religion und Kirchen im Fernsehen<br />

vorkommen, in: Herder-Korrespondenz 6/1994 (48. Jg.), 300-304, 302.<br />

19) Vgl. Andreas Püttmann: Don Camillos Enkeln fehlt der Draht nach oben. Seelenhirten<br />

avancieren zu Serienhelden – für Christen ein Grund zur Freude?, in: Rheinischer Merkur<br />

vom 7.9.1990, 30.<br />

20) Zit.n.: Informationen VII-VIII/2001, hg. von der Gesellschaft Katholischer Publizisten, 9.<br />

21) Titelbild der Satirezeitschrift „Titanic“ (10/1995) und Friedrich Küppersbusch in „ZAK“<br />

(ARD).<br />

22) Josef Isensee: Am Ende der Demokratie – oder am Anfang? (Wirtschaftspolitische Kolloquien<br />

der Adolf-Weber-Stiftung 20), Berlin 1995, 47; vgl. Ders.: Grundrecht auf Ehre, in:<br />

Festschrift für Martin Kriele, hg. von Burkhardt Ziemske u. a., München 1977, 5-48.<br />

23) Zu diesem Beispiel auch Wolfgang Bergsdorf: Die Medien: Aufdecker der Regelverletzung<br />

und Betreiber des Skandals, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft<br />

2000, 47-58.<br />

24) Rüdiger Zuck: Glanz und Elend der deutschen Justizberichterstattung, in: Neue Juristische<br />

Wochenschrift 1/2001 (54. Jg.), 40-42, 40.<br />

25) Siehe Wolfgang Schulz: „Menschenwürde“ im Konzept der Regulierung medialer Gewaltdarstellungen.<br />

Symbolischer Gebrauch, Fehlgebrauch und Mißbrauch eines Rechtsbegriffs,<br />

in: Medien & Kommunikationswissenschaft 3/2000 (48. Jg.), 354-370, 365; vgl. Christian<br />

Hillgruber: Der Schutz des Menschen vor sich selbst, Berlin 1992.<br />

26) Flemmer: Das Unheil, 68.<br />

27) Joan Kristin Bleicher: Zwischen Menschenzoo, Panoptikum und Dauertheater. Inszenierungsstrategien<br />

im „Big Brother“-Container und ihre gesellschaftlichen Funktionen, in:<br />

Medien & Kommunikationswissenschaft 4/2000 (48. Jg.), 518-536, 532.<br />

28) Ebd., 534.<br />

29) Thomas Bohrmann: Big Brother. Medienethische Überlegungen zu den Grenzen von<br />

Unterhaltung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41-42/2000 (50. Jg.), 3-10, 9.<br />

30) Bleicher: Menschenzoo, 523.<br />

31) Ebd., 534.<br />

32) Martin Altmeyer: Das neue Subjekt entsteht im Auge der Kamera. „Big Brother“ und<br />

andere Inszenierungen von postmoderner Identität, in: Kommune 6/2000 (18. Jg.), 44-49, 45.<br />

33) Ebd., 47.<br />

34) Bleicher: Menschenzoo, 533.<br />

35) Klaus Neumann-Braun/Axel Schmidt: Nichts ist authentischer als die Suche nach Authentizität.<br />

Real-People-Formate in Fernsehen und Internet, in: psychosozial IV/2000 (23. Jg.,<br />

Nr. 82), 65-80, 71f.<br />

36) Jürgen Bräunlein: Schön blöd. Vom unheimlichen Erfolg der Untalentierten, Berlin 1999,<br />

31f.<br />

110


37) Zur Paradoxie von gleichzeitiger Körperaufwertung und -auflösung im digitalen Zeitalter:<br />

Gabriele Klein: Die Würde des Körpers in Mediengesellschaften, in: Deutscher Evangelischer<br />

Kirchentag Frankfurt 2001. Dokumente. Hrsg. von Christoph Quarch, Gütersloh 2001, S.<br />

601-607.<br />

38) Bräunlein: Schön blöd, 128.<br />

39) Dazu Ephraim Kishon: „Wir leben in einer Epoche der Sexualität, die bis zum Absurden<br />

aufgeblasen worden ist. Sie sehen im Fernsehen eine fast nackte, junge Frau mit den Hüften<br />

wackeln, tatsächlich aber will man eine hydraulische Presse verkaufen. Eine schamlose Ausnutzung<br />

der männlichen Schwäche. Es ist auch Terror, aber legal“; zit. n. idea-spektrum<br />

26/2001, 7.<br />

40) Europäische Gemeinschaften: Das Bild der Frau in den Medien. Ein Bericht über bestehende<br />

Untersuchungen in der Europäischen Union, Luxemburg 1999, 27.<br />

41) Kirsten Küsters/Stefani Mälzer: Tutti Frutti und Konsorten. Zur Erotisierung unserer<br />

Medieninhalte und was wir Frauen davon haben, in: Romy Fröhlich (Hg.): Der andere Blick.<br />

Aktuelles zur Massenkommunikation aus weiblicher Sicht (Frauen und Massenmedien 1, hg.<br />

von Christina Holtz-Bacha), Bochum 1992, 159-164, 159.<br />

42) Hans-Bernd Brosius: Sex und Pornographie in den Massenmedien. Eine Analyse ihrer<br />

Inhalte, ihrer Nutzung und ihrer Wirkung, in: Fröhlich: Der andere Blick, 139-158, 141.<br />

43) Küsters/Mälzer: Tutti Frutti, 161,163.<br />

44) Siehe Die Zeit vom 27.7.1990, 28.<br />

45) Siehe Monika Weiderer: Das Frauen- und Männerbild im Deutschen Fernsehen. Eine<br />

inhaltsanalytische Untersuchung der Programme von ARD, ZDF und RTL plus (Medienforschung<br />

4, hg. von Helmut Lukesch), Regensburg 1993, 176.<br />

46) Heinrich Anker: Blinder Fleck. Das Menschenbild in den Medien: Freiheit zur Verantwortung,<br />

7. In den USA gibt es sogar explizit Hass vorführende „hate-shows“.<br />

47) Siehe GKP-Informationen II/2001, 21.<br />

48) Laut einer Untersuchung von Jo Groebel (1991), zit. n. Dieter Stammler: Verzerrte Bilder.<br />

Gegen die Gewalt in den Medien, in: Evangelische Kommentare 3/1994 (27. Jg.), 136-139,<br />

137.<br />

49) Siehe Die Welt vom 20.2.1998, 11: „UNESCO-Studie zu Mediengewalt und Alltag“.<br />

50) Hans W. Jürgens: Zum Bild älterer Menschen in den elektronischen Medien, in: Bundesministerium<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Das Alter in den Medien.<br />

Muß es ein Zerrbild sein? Dokumentation einer Fachtagung für Journalisten vom 20. bis<br />

22.5.1996 in der Evangelischen Akademie Tutzing, Bonn 1997, 57-61, 57.<br />

51) Ebd., 58.<br />

52) Ebd., 60.<br />

53) Ebd., 61.<br />

54) Reinhard Dierl: Zwischen Altenpflegeheim und Seniorenstudium. Alter und Alte als<br />

Zeitungsthema (KDA-Forum, 11), Köln 1989, 12.<br />

55) Zit. n. Bräunlein: Schön blöd, 117.<br />

56) Rainald Merkert: Auf dem Bildschirm: Die Unterbietung des Menschen durch den Menschen,<br />

in: Funkkorrespondenz 51-52/2000 (48. Jg.), 24.<br />

57) Kathrin Lenzer: Triumph der Schamlosigkeit, in: Rheinische Post vom 10.2.2001.<br />

58) Siehe Altmeyer: Das neue Subjekt, 49.<br />

59) GKP-Informationen I/2001, 19 unter Bezug auf eine Studie des Münchener Instituts für<br />

Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JF) im Auftrag der Bayerischen Landeszentrale<br />

für Neue Medien (BLM); vgl. Udo Göttlich/Friedrich Krotz/Ingrid Paul-Haase (Hg.): Daily<br />

Soaps und Daily Talks im Alltag von Jugendlichen (Schriftenreihe Medienforschung der<br />

Landesanstalt für Rundfunk, 38), Opladen 2001.<br />

60) Vgl. Altmeyer: Das neue Subjekt, 45.<br />

111


61) So eine Untersuchung des Medienforschers Udo Krüger über das Bild der deutschen<br />

Familie in Fernsehspielen, zit. n. Flemmer: Das Unheil, 63.<br />

62) Marianne Wünsch/Jan-Oliver Decker/Hans Krah: Das Wertesystem der Familienserien<br />

im Fernsehen (Themen. Thesen. Theorien, hrsg. von der Unabhängigen Landesanstalt für das<br />

Rundfunkwesen), Bd. 9, Kiel 1996, 118.<br />

63) Elisabeth Hurth: Fehlgeburt, Krebsoperation, Scheidung. Jede Menge Schicksal – die<br />

Welt der Daily Soaps, in: zeitzeichen 3/2001 (2. Jg.), 50f.<br />

64) Vgl. GKP-Informationen III/1999, 16, unter Bezug auf die Zeitschrift Psychologie heute<br />

2/1999 (26. Jg.).<br />

65) Bernd Schorb/Natasa Basic/Helga Theunert: Ab(zieh)bilder. Wie Medien Jugendliche<br />

präsentieren. Eine Analyse von Print-, Hörfunk- und Fernsehprodukten, München 1996, 137f.<br />

66) Altmeyer: Das neue Subjekt, 48.<br />

67) Asendorf 2000. Der Autor ist Psychologe, Kindertherapeut und Chefredakteur der Deutschen<br />

Lehrer-Zeitung. Im folgenden Absatz wird sein Gedankengang durch redigierte<br />

Textzitate wiedergegeben.<br />

68) Vgl. Klaus Müller: Verdoppelte Realität – virtuelle Wahrheit? Erkenntnistheoretische,<br />

sozialphilosophische und anthropologische Konsequenzen der „Neuen Medien“, in: Rüdiger<br />

Funiok/Udo Schmälzle/ Christoph Werth (Hg.): Medienethik – die Frage der Verantwortung,<br />

Bonn 1999, 75-92, 87.<br />

69) Bergmann: Abschied vom Gewissen, 221.<br />

70) Zit. n. idea-spektrum 18/2000, 9.<br />

71) So der amerikanische Professor für englische Literatur und Ideengeschichte am Pitzer<br />

College (Claremont), Barry Sanders, in seinem Buch „Der Verlust der Sprachkultur“, zit. n.<br />

Gregor Dotzauer: Schwanengesänge. Macht die Multimedia-Gesellschaft dumm?, in: Wochenpost<br />

vom 12.10.1995, 43.<br />

72) Das Institut konstatiert einen „krassen Verlust an Intensität“ der Gespräche seit 1953, als<br />

es noch kaum einen Haushalt mit Fernseher gegeben habe; zit. n. GKP-Informationen<br />

VI/2000, 17.<br />

73) Emil Dovifat: Pressefreiheit und Schutz der Ehre und der Intimsphäre, in: Ders.: Die<br />

publizistische Persönlichkeit. Herausgegeben von Dorothee von Dadelsen. Mit einem Vorwort<br />

von Otto B. Roegele, Berlin/New York 1990, 90-107, 103.<br />

74) Siehe Bernhard Rude: Reality-TV ohne Realität, in: GKP-Informationen III/2001, 1.<br />

75) Oliver Gehrs/Thomas Tuma: Wahn und Wirklichkeit, in: Der Spiegel 6/2001, 134f.<br />

76) So eine Entscheidung des Europäischen Parlaments von 1996; vgl. Hans Mathias<br />

Kepplinger: Programmierte Gegenwehr. Kann eine elektronische Sperre den Bildschirm<br />

„kindgerecht“ machen?, in: Rheinischer Merkur vom 10.1.1997, 29.<br />

77) Vgl. Heinrich Oberreuter: Übermacht der Medien. Erstickt die demokratische Kommunikation?,<br />

Zürich 1982, 80.<br />

78) Max Weber: Politik als Beruf (1919), in: Ders.: Gesammelte Politische Schriften, hg. von<br />

Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, 505-560, 525f.<br />

79) Jochen Hörisch: Kultischer Kontext. Zur Leitwährung Prominenz (Vortrag bei den Mainzer<br />

Tagen der Fernseh-Kritik 2001), zit. n. epd medien Nr. 50 vom 27.6.2001, 14-19, 16f.<br />

80) Lehmann: Das christliche Menschenbild, 128.<br />

81) Vgl. Andreas Püttmann: Fragen des Glaubens im Gespräch mit Journalisten, in: Lebendige<br />

Katechese 1/1996 (18. Jg.), 37-40.<br />

Dr. phil. Andreas Püttmann, Bonn, ist Politikwissenschaftler und Referent für<br />

Begabtenförderung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.<br />

112


Ursula Nothelle Wildfeuer<br />

Der Streit um die Soziale Marktwirtschaft<br />

Ist die Soziale Marktwirtschaft, das Wirtschaftsmodell Ludwig Erhards aus der<br />

Zeit des Wirtschaftswunders, zukunftstauglich? Tauglich für das 21. Jahrhundert,<br />

das mit einer großen Zahl neuer Probleme für die Wirtschafts- und Sozialpolitik<br />

aufwartet? Unter dem Eindruck der unaufhaltsam und meist prima vista als bedrohlich<br />

wahrgenommenen Globalisierung, der immer weiter fortschreitenden<br />

Digitalisierung sowie unter dem Eindruck der auch immer wieder geäußerten<br />

Ängste von Bürgern, wird seit einiger Zeit die Debatte um die Zukunft der<br />

Sozialen Marktwirtschaft geführt und gefragt, ob angesichts all dieser Herausforderungen<br />

und der neuen Interdependenzen das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft<br />

nicht einen neuen Zuschnitt benötigt.<br />

Schon seit einiger Zeit wird diese Frage in der ökonomischen und sozialethischen<br />

Auseinandersetzung mit den anstehenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen<br />

und sozialen Problemen intensiv behandelt. Den konkreten Anstoß zur politisch-gesellschaftlichen<br />

Debatte gaben dann zum einen die parteiübergreifende<br />

Initiative neue Soziale Marktwirtschaft mit dem Titel, der in Abwandlung des<br />

Erhardschen Titels „Wohlstand für alle“ nun „Chancen für alle“ lautet, zum<br />

anderen die Initiative der CDU mit ihrem Diskussionspapier zur neuen Sozialen<br />

Marktwirtschaft vom 27. August 2001. Die Initiative „Chancen für alle“ erkennt<br />

u. a. auch auf der Basis der fehlenden Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft<br />

und der Zustimmung zu ihr in der Bevölkerung die Notwendigkeit zur Diskussion<br />

und Bewußtseinsbildung. So haben einer Allensbach-Umfrage zufolge bundesweit<br />

nur 43% aller Befragten eine gute Meinung von der Sozialen Marktwirtschaft.<br />

Nur 41% empfinden sie als menschlich, nur 43% als gerecht. Vor allem<br />

den Unternehmen begegnen immer mehr Menschen mit Mißtrauen. Auch mit<br />

den notwendigen Reformen werden von vorneherein sozialer Kahlschlag und<br />

Arbeitsplatzverluste verbunden.<br />

Zudem scheint die Soziale Marktwirtschaft, so, wie sie derzeit realiter als Wirtschafts-,<br />

Sozial- und Beschäftigungspolitik betrieben wird, nicht gerüstet zu sein<br />

für die entscheidenden Herausforderungen, vor denen sie sich zu Beginn des 21.<br />

Jahrhunderts zu bewähren hat. Als solche zentralen Herausforderungen sind zu<br />

nennen: 1. die Digitalisierung, die den Wandel von der Industrie- zur Informations-<br />

und Wissensgesellschaft, zur Medien- und Kommunikationsgesellschaft<br />

bedingt; 2. die Globalisierung, die zunehmend auf einen internationalen Ordnungsrahmen<br />

drängt, damit diese Entwicklung nicht auf weltweiter Ebene zu<br />

einem Rückfall in den Manchester-Kapitalismus führt; 3. die Individualisierung,<br />

die durch Ve ränderungen in den Wertehierarchien der Bürger fundamentale<br />

Konsequenzen für das Arbeits- und Privatleben der Menschen hat und schließlich<br />

4. das demographische Problem, das aufgrund der Überalterung der Gesell-<br />

113


schaft u. a. zu fundamentalen Problemen der Sozialversicherungen aufgrund der<br />

Konstruktion über den Generationenvertrag führt und auf eine Lösung drängt.<br />

Dabei geht es in den folgenden Ausführungen in keiner Weise um Parteipolitik,<br />

vielmehr geht es um die Frage nach einer zukunftsfähigen Wirtschaftsordnung<br />

prinzipiell. Wenn es sich bei der Sozialen Marktwirtschaft um ein Modell der<br />

Wirtschaftsordnung handelt, dessen Grundprinzipien zumindest „einen Komplex<br />

von zeit- und raumunabhängigen Regeln (bilden), denen jede marktwirtschaftliche<br />

Politik unterworfen ist“ (Schlecht 2001, 14), dann sind diese unter den gewandelten<br />

Vorzeichen neu zu bedenken. Die im Folgenden eingenommene sozialethische<br />

Perspektive analysiert nicht Detailprobleme hinsichtlich ihres Problemlösungswertes,<br />

sondern die Grundelemente sollen bedacht werden, um am<br />

Ende die Frage beantworten zu können: Brauchen wir tatsächlich für das 21.<br />

Jahrhundert eine neue Soziale Marktwirtschaft?<br />

1. These: Freiheit ist der erste Grundwert der Sozialen Marktwirtschaft. Diese<br />

ist zutreffend zu bestimmen als die Möglichkeitsbedingung der Realisierung von<br />

ökonomischer Freiheit unter den Bedingungen komplexer Wirtschaftsverhältnisse.<br />

Dies muß für jedes Wirtschaftskonzept gelten, das unter dem Markenzeichen<br />

„Soziale Marktwirtschaft“ firmiert.<br />

Im Verständnis ihrer geistigen Väter war das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft<br />

entscheidend dadurch charakterisiert, daß in spezifischer Weise die beiden<br />

entscheidenden Grundwerte Freiheit und sozialer Ausgleich resp. soziale<br />

Gerechtigkeit und die dem korrespondierenden Strukturelemente Markt und<br />

Gemeinwohlautorität miteinander verknüpft wurden: Nach Alfred Müller-<br />

Armack, der als Staatssekretär unter dem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard<br />

zugleich der Namensgeber des Konzepts war, kann der Begriff der Sozialen<br />

Marktwirtschaft definiert werden „als eine ordnungspolitische Idee“, „deren Ziel<br />

es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem<br />

gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt<br />

zu verbinden“ (Müller-Armack 1956, 390). Der Begriff der Freiheit, der den<br />

grundlegenden Zielwert Sozialer Marktwirtschaft darstellt und durch Markt und<br />

Wettbewerb realisiert wird, wird in einer Definition Ludwig Erhards, mit dessen<br />

Name das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weithin verbunden wird, noch<br />

einmal vor allem hinsichtlich seiner ethischen Implikationen präzisiert: „Freiheit<br />

darf nicht zu einem Götzendienst werden, ohne Verantwortung, ohne Bindung,<br />

ohne Wurzeln. Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf<br />

vielmehr der Ordnung.“ (Erhard 1961, zit.: nach Schlecht 2001, 18) Und noch<br />

einmal Ludwig Erhard: „Der tiefe Sinn der Sozialen Marktwirtschaft liegt darin,<br />

das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich und der<br />

sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber zu verbinden.“<br />

(zit. nach: Wünsche 2001, 2)<br />

Mit dieser klaren, aus ethischer Perspektive auch konstitutiven Einbindung des<br />

Grundwertes Freiheit in die Verantwortung und in die Dimension des Gemeinwohls<br />

der Gesellschaft hinein wird deutlich, daß der Terminus „Soziale Marktwirtschaft“<br />

niemals ein (reines) marktwirtschaftliches Konzept bezeichnet, zu<br />

dem wie die Sahne zum Capuccino das soziale Element hinzukommt, das aber<br />

114


auch bei Bedarf wieder weggelassen werden kann. Vielmehr bezeichnet der<br />

gesamte Terminus eine Einheit, die niemals nach der einen oder anderen Seite<br />

hin beschnitten oder gar aufgelöst werden kann.<br />

Der Begriffsbestandteil „Marktwirtschaft“ bezeichnet folglich nicht – wie heute,<br />

jede Differenzierung außer acht lassend, oftmals provokant behauptet wird –<br />

einen hemmungslosen Wettbewerb, einen unerbittlichen, nahezu sozialdarwinistischen<br />

Ausleseprozess, Kapitalismus pur, soziale Eiszeit. Das System einer<br />

sozial verantworteten Marktwirtschaft – so formuliert es der gegenwärtige Papst<br />

in seiner Sozialenzyklika „Centesimus annus“ – ist gerade nicht zu verwechseln<br />

mit einem Wirtschaftssystem, das „die absolute Vorherrschaft des Kapitals, des<br />

Besitzes der Produktionsmittel und des Bodens über die freie Subjektivität der<br />

Arbeit des Menschen festhalten will“ (CA 35,2) und gegen das dann im Namen<br />

der Gerechtigkeit anzugehen ist. Wohl aber ist unter Marktwirtschaft das System<br />

zu verstehen, „in dem in der Tat die Marktkräfte den Wirtschaftsablauf bestimmen,<br />

aber eingebettet in die Spielregeln des Rechtsstaates, mit Gesetzen, die<br />

Vertragsfreiheit und Eigentumsrechte garantieren.“ (Issing 2001, 1f)<br />

In ganz ähnlicher Weise lehnt Papst Johannes Paul II. in seiner Sozialenzyklika<br />

„Centesimus annus“ von 1991eine quasi wertfreie Marktwirtschaft ab, die die<br />

wirtschaftliche Freiheit „nicht in eine feste Rechtsordnung“ einbindet. Positiv<br />

sieht er allerdings den Kapitalismus, wenn darunter „ein Wirtschaftssystem (verstanden<br />

wird), das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des<br />

Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die<br />

Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft<br />

anerkennt“ (CA 42,2). Damit ist ganz klar auf die notwendige Ordnungsstruktur<br />

der Freiheit verwiesen.<br />

Der Grundwert der Freiheit mit seinen ethischen Implikationen der Verantwortung<br />

und der Gemeinwohlorientierung ist auch der eigentliche Kern der aktuellen<br />

gesellschaftlichen und politischen Debatte. Die anthropologische Problematik<br />

wird sehr deutlich, wenn man etwa darauf schaut, wie das CDU-Konzept der<br />

neuen Sozialen Marktwirtschaft hier argumentiert: Um diese Freiheit für das 21.<br />

Jahrhundert angemessen gestalten zu können, bietet es den Bürgern einen Ve rtrag<br />

zwischen Bürger und Staat resp. Politik an, der die Bildung der im Papier<br />

der CDU so bezeichneten „Wir-Gesellschaft“ anzielt (vgl. CDU 2001, 17).<br />

Grundlage dieses Vertrages ist – und das ist für die vorliegenden Überlegungen<br />

das Entscheidende – der „Gedanke der Gegenseitigkeit“ (ebd.) Die Orientierung<br />

an diesem Prinzip der Gegenseitigkeit signalisiert nun aber recht deutlich eine<br />

Reduzierung der anthropologischen und ethischen Grundlagen der Sozialen<br />

Marktwirtschaft, wird hier doch offensichtlich nicht mehr auf das Verhältnis von<br />

Freiheit und Verantwortung, von Einzelwohl und Gemeinwohl rekurriert, sondern<br />

ausschließlich ein Konzept des „do ut des“ proklamiert. Die Ordnung der<br />

Freiheit ist offensichtlich nur eine pragmatische Frage angemessen zu gestaltender<br />

Verträge, liegt aber nicht länger in der ethischen Konzeption von Freiheit<br />

selbst. Nicht mehr der Staat als Garant des Gemeinwohls und der Bürger als<br />

Träger des Gemeinsinns kommen in den Blick, sondern vielmehr beide nur noch<br />

115


als Partner eines Vertrags, in dem es um Verkehrsgerechtigkeit, um das formale<br />

Einhalten von Regeln und Gesetzen zu tun ist. (Vgl. Blüm 2001, 12)<br />

2. These: Das Prinzip „Markt“ ist ein ökonomisches, kein gesellschaftliches<br />

Strukturprinzip. Als solches ist es die notwendige Konsequenz der Realisierung<br />

von ökonomischer Freiheit, die ihre Grenze findet an den gleichberechtigten<br />

Ansprüchen des sozialen Ausgleichs und der Würde des Menschen.<br />

Das Verständnis von Marktwirtschaft, das dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft<br />

zugrunde liegt, geht zunächst von der Erkenntnis aus, daß das primäre Ziel<br />

jedes Wirtschaftens, nämlich die optimale Güterversorgung aller Menschen, nur<br />

zu realisieren ist durch die Freiheit der Wirtschaftssubjekte, durch ihre ökonomische<br />

Kreativität. Das Konzept basiert auf dem Grundsatz, daß alle Menschen<br />

aufgrund ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten verpflichtet sind,<br />

aber auch die Fähigkeit haben, einen Beitrag zu dieser optimalen Güterversorgung<br />

zu leisten. Mit dieser Betonung von Freiheit und Individualität, aber auch<br />

von Rechten und Pflichten jedes Einzelnen erweist sich das christlich-abendländische<br />

Menschenbild mit seinem Verständnis vom Menschen als Person als<br />

bleibendes Fundament des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft.<br />

Aus dieser anthropologischen Grundlage kann man mit Recht die Schlußfolgerung<br />

ziehen, daß die Soziale Marktwirtschaft von der „grundsätzliche(n) Zustimmung<br />

zur privatwirtschaftlichen Ordnung und zum Leistungswettbewerb“<br />

(Stegmann 1999, 700) lebt. Der Markt „als Ort des Tausches von miteinander<br />

konkurrierenden Wettbewerbern“ (Roos 1997b, 43) ist somit mit seinem entscheidenden<br />

Motor, dem Wettbewerb, in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft<br />

eines der beiden unverzichtbaren Strukturelemente.<br />

Dabei gilt es allerdings, sich unterschiedlichen Gefahren zu widersetzen, die in<br />

der gegenwärtigen Gesellschaft zunehmend virulent werden: Zum einen, daß die<br />

Forderung nach immer mehr Markt vergessen läßt, daß der Markt analog zur<br />

Freiheit einer entsprechenden Ordnung und des sozialen Ausgleichs als Gegenpol<br />

bedarf. Gerade die Erkenntnis, daß nicht der Markt allein in der Lage ist,<br />

soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist es, was die Soziale Marktwirtschaft<br />

vom marktwirtschaftlichen Konzept klassisch-liberaler Prägung unterscheidet.<br />

Zum anderen ist eine zweite Gefahr, daß die Ökonomie das entscheidende, wenn<br />

nicht sogar das einzige Leitsystem der modernen Gesellschaft wird (vgl. Höhn<br />

2000, 419). Es scheint so, als ginge man – fasziniert von der „Effizienzlogik von<br />

Markt und Wettbewerb“ und nach dem Wegfall des ideologischen Gegenparts –<br />

heute zunehmend dazu über, „auch andere Bereiche des sozialen Lebens dem<br />

Markt als Regulierungsprinzip zu öffnen und auf sein zentrales Instrument, den<br />

Wettbewerb, zu setzen.“ (Ebd., 421) Dieses Problem erkennt der ehemalige<br />

Arbeits- und Sozialminister und das „soziale Gewissen“ der C-Parteien Norbert<br />

Blüm im Konzept der neuen Sozialen Marktwirtschaft und formuliert vor diesem<br />

Hintergrund sehr deutliche Kritik, wirft er doch der Politik vor, sich um die Frage<br />

nach dem Menschen „gedrückt“ zu haben. „Als Nutzenmaximierer und Kalkulierer<br />

seiner Vorteile“, was soviel heißt wie als purer Marktteilnehmer „ist der<br />

Mensch unzureichend beschrieben. Einer christlichen Partei“, so formuliert er<br />

116


weiter, „stünde es gut an, dem Imperialismus der Verwirtschaftung des Lebens<br />

die Grenzen in der Würde des Menschen zu setzen. Die Würde entspringt keinem<br />

Vertrag, sondern ist gottgegeben.“ (Blüm 2001, 12)<br />

Schließlich ist natürlich – drittens – zumindest im Sinne eines Gegengewichts<br />

genauso darauf aufmerksam zu machen, daß aus der Perspektive einer christlichen<br />

Sozialethik es theologisch nicht sinnvoll und politisch nicht ratsam ist, mit<br />

einer naiv biblisch-prophetisch motivierten Total-Kritik (vgl. Höhn 2000, 418)<br />

„die Größen Markt und Mammon zu dämonisieren, auch wenn es richtig ist, jene<br />

zu kritisieren, die sie vergöttern.“ (ebd.)<br />

Prinzipiell ist also auch aus der Perspektive christlicher Ethik ein marktwirtschaftliches<br />

Modell zustimmungsfähig, unter der Kondition, daß der Markt „von<br />

den sozialen Kräften und vom Staat in angemessener Weise kontrolliert werde,<br />

um die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu gewährleisten.“<br />

(CA 35,2)<br />

Der Markt ist „jener Ort sozialer Interaktion, auf dem sich unter den (idealen)<br />

Bedingungen eines für alle offenen, rechtlich verfaßten Wettbewerbs der Tauschwert<br />

der von jedem einzelnen bereitgestellten wirtschaftlichen Güter und Dienstleistungen<br />

für die jeweils anderen zeigt. Hier setzt der einzelne seine wirtschaftliche<br />

Leistung dem vergleichenden Urteil seiner Mitmenschen aus.“ (Roos<br />

1997b, 44) Damit ist der Markt auch der Ort, der notwendig ist, um zentrale<br />

Grundrechte des Menschen wie etwa das der freien Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes<br />

und des selbstverantwortlichen Umgangs mit Eigentum realisieren<br />

zu können. Folglich muß man aus der Perspektive der Sozialethik sogar nicht nur<br />

formulieren, daß die Institution des Marktes prinzipiell zustimmungsfähig ist,<br />

sondern vielmehr, daß sie eine notwendige Institution und Konsequenz ist zur<br />

Realisierung von Freiheit als einer Grunddimension menschlichen Lebens. Sie<br />

erweist sich zur Realisierung konkreter Freiheit mithin als wirtschaftliches Korrelat<br />

der Demokratie (vgl. Roos 1997b, 44)<br />

3. These: Die Soziale Marktwirtschaft ist einer Kultur der Selbständigkeit verpflichtet.<br />

Sie hat sie zur Voraussetzung und soll sie gleichzeitig befördern. Ihre<br />

Ausprägung hat Maß zu nehmen an dem Prinzip der Subsidiarität und muß orientiert<br />

bleiben am Grundwert der sozialen Gerechtigkeit im Sinne der Beteiligungsgerechtigkeit.<br />

Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, daß ein überregulierender Staat die Entfaltung<br />

wirtschaftliche Freiheit und das Ergreifen unternehmerischer Initiative unterdrückt,<br />

wird die heute allenthalben laut werdende Forderung nach „weniger<br />

Staat und mehr Markt“ verständlich und richtig. Dies widerspricht auch nicht<br />

notwendig der oben ausgesprochenen Warnung vor einer Ideologisierung des<br />

Marktes, geht es doch hier nur um den klar umgrenzten Bereich ökonomischer<br />

Aktivitäten und deren Gestaltung. Ein schlanker und hinsichtlich seiner Befugnisse<br />

und Eingriffsmöglichkeiten reduzierter Staat wird dann auch in weitaus<br />

stärkerem Maße der subsidiären Funktion gerecht, die ihm ursprünglich zukommt.<br />

Die im Konzept einer neuen Sozialen Marktwirtschaft geforderte „neue<br />

117


Kultur der Selbstständigkeit“ findet im Subsidiaritätsprinzip ihre eigentliche sozialethische<br />

Begründung.<br />

Das Subsidiaritätsprinzip impliziert sowohl die Komponente der subsidiären<br />

Kompetenz mit der Betonung der Eigenverantwortung als auch die der subsidiären<br />

Assistenz mit der Betonung der Hilfe zur Selbsthilfe. Vor diesem Hintergrund<br />

sind nun wichtige Differenzierungen vorzunehmen: Auf der einen Seite ist<br />

damit offenkundig, daß die Entwicklung einer „Kultur der Selbstständigkeit“<br />

nicht – wie oftmals gefürchtet oder behauptet – die Aufgabe der gesellschaftlichen<br />

Solidarität bedeutet, sondern vielmehr auf eine stärkere „Bedürfnisorientierung<br />

und Zielgenauigkeit“ (Kersting 2000, 15) gesellschaftlicher und staatlicher<br />

Unterstützung abzielt.<br />

Auf der anderen Seite ergibt sich im Hinblick auf die Aufgabe der Gesellschaft<br />

und des politischen Handelns aus dem Subsidiaritätsprinzip ganz klar, daß es<br />

gerade nicht – wie eine weit verbreitete Mentalität noch immer meint –, darum<br />

geht, alle Bürger zu versorgen, sondern vielmehr alle zu befähigen, sich an diesem<br />

wirtschaftlichen Prozeß zu beteiligen, also eigenverantwortlich zu handeln<br />

und Verantwortung für andere zu übernehmen. Damit ist offenkundig, daß die in<br />

der neuen Sozialen Marktwirtschaft angezielte Kultur der Selbständigkeit keine<br />

ganz neue Dimension darstellt, wohl aber eine qualitativ höchst bedeutsame<br />

Dimension wieder bewußt macht und erneut ins Spiel bringt, die anknüpfen kann<br />

an der Tatsache, daß bereits bei Ludwig Erhard im klassischen Konzept der<br />

Sozialen Marktwirtschaft klar war, „daß Unternehmen und Selbstständige das<br />

Rückgrat der Sozialen Marktwirtschaft bilden.“ (Schlecht 2001, 50)<br />

Soziale Gerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit, als – wie neuere kirchliche<br />

Dokumente es formulieren – partizipative Gerechtigkeit kommt damit in den<br />

Blick. Soziale Gerechtigkeit, neben der Freiheit die zweite Säule der Sozialen<br />

Marktwirtschaft, meint eben nicht vorrangig die durch den Staat geleistete und<br />

gewährleistete möglichst weitgehende ökonomische Gleichheit und Absicherung<br />

aller Bürger. Vielmehr handelt es sich um die zentrale Aufgabe einer jeden politischen<br />

Gemeinschaft, „die es mit der Menschenwürde sowie mit den Freiheitsrechten<br />

und Mitwirkungsrechten ernst meint“, „sich auch um jene generell gültigen<br />

empirischen Voraussetzungen (zu) kümmern, ohne die man ein menschenwürdiges<br />

Leben gar nicht führen und ohne die man seine Freiheits- und Mitwirkungsrechte<br />

überhaupt nicht oder nur erschwert realisieren kann.“ (Baumgartner<br />

u. Wildfeuer 2001, 37 f) Daß hierin auch letztlich die entscheidende Begründung<br />

des Sozialstaates liegt, sei an dieser Stelle nur erwähnt.<br />

Vor diesem Hintergrund ergibt sich für den Staat die Notwendigkeit, Strukturen<br />

und Anreizsysteme zu schaffen, in denen Solidarität und Eigenverantwortung<br />

sich entfalten können. Vorrangige Aufgabe des Staates ist es also, ein „Klima“<br />

zu schaffen, das positiv und entwicklungsfördernd ist. Der Unternehmergeist<br />

muß durch derartige Anreize geweckt und die Innovationsbereitschaft gefördert<br />

werden, denn in erster Linie sind es in einer Sozialen Marktwirtschaft die Unternehmer,<br />

die die neuen Arbeitsplätze schaffen. Von daher erweist es sich als notwendig,<br />

daß etwa aufgrund von Innovation und technischer Neuerung entstehende<br />

junge Unternehmen spezielle und unkomplizierte Unterstützung in der Phase<br />

118


der Existenzgründung bekommen sollten. Von staatlicher Seite sollte die Regulierungsdichte<br />

abgebaut, Überregulierung vermieden werden, ohne daß Standards<br />

der Qualität und der Rechtssicherheit leiden oder gar zerstört werden.<br />

Gesellschaftliche Verantwortung könnte hier wahrgenommen werden z. B. durch<br />

einen entsprechend prüfend-wohlwollenden Umgang der Banken mit der Frage<br />

des Risikokapitals oder durch einen Senior-Experten-Service (One-Dollar-Men).<br />

Die Priorität des Faktors Wissen, die sich im Laufe der letzten Jahre entwickelt<br />

hat – wie sich u. a. auch in der Bezeichnung unserer Gesellschaft als „Wissensgesellschaft“<br />

andeutet – wird in Zukunft auch dazu führen, daß jeder in seinem<br />

Betrieb sehr viel selbständiger sein wird - auch dies also noch einmal ein Indiz<br />

für die sich herausbildende neue Kultur der Eigenständigkeit. Hierin liegt eine<br />

große Chance auch für den Mittelstand, der im Wettbewerb gegenüber großen<br />

Konglomeraten durchaus Vorteile haben kann. Diese Kultur der Eigenständigkeit<br />

wird es nun erneut und dringend notwendig machen, über die Beteiligung der<br />

Arbeitnehmer am Produktivkapital nachzudenken. Die Sozialpartnerschaft ist<br />

aus dieser Perspektive des Arbeitnehmers, der sowohl an der Wohlstandsentwicklung<br />

partizipiert als auch bis zu einem gewissen Umfang die Ris iken der<br />

Kapitalentwicklung mit trägt, neu zu definieren.<br />

4. These: Soziale Gerechtigkeit resp. sozialer Ausgleich als der zweite Grundwert<br />

im System der Sozialen Marktwirtschaft wird nur dann umfassend Wirklichkeit,<br />

wenn im Sinne der Solidarität und der „Option für die Benachteiligten“<br />

auch diejenigen im Blick bleiben, die aus eigenen Stücken am Marktgeschehen<br />

kaum, nur schwer oder gar nicht teilnehmen können.<br />

Der bereits zu einem Teil näher entfaltete Zielwert der sozialen Gerechtigkeit<br />

impliziert als eine weitere, spezifische Intention der Sozialen Marktwirtschaft<br />

den solidarischen Ausgleich zwischen allen Bürgern. Die christliche Perspektive<br />

mit ihrer „Option für die Benachteiligten“ lenkt den Blick in diesem Zusammenhang<br />

auf die, die aus sehr unterschiedlichen Gründen vom Marktgeschehen weitgehend<br />

ausgegrenzt sind. Die soziale Dimension menschlichen Personseins findet<br />

– in christlicher Perspektive – nicht bloß aus Nützlichkeitserwägungen Eingang<br />

in die Überlegungen. Gerade Instrumentalisierung der sozialen Dimension<br />

ist nicht gemeint, der zufolge Solidarität nur dazu diente, zu ermöglichen, die<br />

Menschen möglichst leistungsstark am Markt teilnehmen zu lassen. Richtig und<br />

umfaßend verstanden, ist die Solidarität vielmehr konstitutiv für das Gelingen<br />

menschlichen Lebens überhaupt. Gemäß ihrer Bestimmung ist allen Menschen<br />

Anteil an den Gütern der Erde zu geben. Um dieses Ziel zu erreichen, genügt<br />

aber die Institution des Marktes mit ihrer Garantie wirtschaftlicher Freiheit,<br />

Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit nicht. Ein Blick auf die „Marktschwachen“<br />

und „Marktpassiven“, also auf die, die noch nicht, nicht mehr oder<br />

überhaupt nicht am Markt teilnehmen können, macht eine wesentliche Implikation<br />

des hier angesprochenen Prinzips der Solidarität deutlich: nicht einfachhin<br />

völlige Nivellierung ist in der gegenwärtigen Situation der Sozialstaatsdebatte<br />

angesagt, sondern die Leistungsbereitschaft, Leistungsfähigkeit und tatsächliche<br />

Leistung der Marktaktiven ist notwendig, damit Solidarität realisiert werden<br />

kann. Zunächst müssen die Leistungsfähigen etwas leisten und auch leisten dür-<br />

119


fen, damit dann diejenigen, die auf die Solidarität und Unterstützung angewiesen<br />

sind, die Hilfe (als Hilfe zur Selbsthilfe) auch in Anspruch nehmen können.<br />

Wenn hier die Rede ist von den Marktpassiven, so sind – und das erweist sich<br />

auch als zentrales Anliegen der Konzeption der neuen Sozialen Marktwirtschaft<br />

– vor allem auch die in den Blick zu nehmen, die notgedrungen, aufgrund fehlender<br />

Arbeitsplätze und daraus folgend aufgrund der fehlenden materiellen<br />

Möglichkeiten der Partizipation, zur Marktpassivität verurteilt sind. Somit meint<br />

der solidarische Ausgleich im Blick auf die Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit<br />

auch speziell den Ausgleich zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen<br />

(vgl. Roos 1997b, 45). Der Staat ist nicht der erste Adressat, wenn es<br />

um die Frage nach Einrichtung neuer Arbeitsplätze geht. Vielmehr bedarf es<br />

einer gesamtgesellschaftlichen Initiative und Bereitschaft, durch die Errichtung<br />

neuer Beteiligungsmöglichkeiten auch soziale Gerechtigkeit zu schaffen.<br />

5. These: Der Sozialstaat ist Ausdruck einer Kultur der Solidarität und Subsidiarität<br />

und muß unter dem Druck der sichtbar gewordenen materiellen und moralischen<br />

Begrenzungen in diesem Sinne weder ab- noch einfachhin umgebaut, sondern<br />

neu bestimmt werden.<br />

Im Kontext des sozialen Ausgleichs ist das Konzept des Sozialstaates zu bedenken,<br />

ist es doch konstitutiv mit der Soziale Marktwirtschaft verbunden. Wilhelm<br />

Röpke und auch Ludwig Erhard gingen von einer Legitimation und Konzeption<br />

des Sozialstaates aus, die in ihm in der Tat eher eine Erste-Hilfe-Station zur<br />

Notlinderung sahen, wohingegen man ihn sozialethisch-systematisch nicht als<br />

möglichst durch „Wohlstand für alle“ zu überwindende Institution, sondern als<br />

Ausdruck einer Kultur der Solidarität versteht. (Vgl. Spieker 1993, ferner Nothelle-Wildfeuer<br />

1999, 250-262.)<br />

Daß der Sozialstaat an seine finanziellen Grenzen gekommen ist und daß folglich<br />

die dringende Notwendigkeit besteht, ihn zu reformieren, ist hinlänglich Gegenstand<br />

politischer und auch sozialethischer Erörterungen gewesen. Eine entscheidende<br />

Ursache für diese Entwicklung ist die weit verbreitete Mentalität, in jeder<br />

Lebenslage und bei allen Problemen sofort nach „Vater Staat“ zu rufen, den<br />

Sozialstaat also zu einem ausufernden Wohlfahrts- oder Fürsorgestaat werden zu<br />

lassen, der aber Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen in keiner<br />

Weise mehr gerecht wird und auf eine entmündigende und letztlich freiheitsberaubende<br />

Wirkung soziale Gerechtigkeit realisiert. Damit wird zugleich deutlich,<br />

daß der Sozialstaat auch an seine moralischen Grenzen gekommen ist: Wer in<br />

jeder intendierten Maßnahme zur Verhinderung von Mißbrauch sozialstaatlicher<br />

Unterstützung und zur Verbesserung der Zielgenauigkeit Herzlosigkeit und Mitleidslosigkeit<br />

wittert, begeht einen „effektvollen Kategorienfehler. Der Kritiker<br />

einer expansiven Wohlfahrtspolitik ist genauso wenig dem mitleidlosen Leviten<br />

und Kaufmann gleichzusetzen, der mit abgewandtem Gesicht an dem Ausgeraubten<br />

und Geschundenen im Straßengraben vorübergeht, wie der wohlfahrtsstaatliche<br />

Maximalist als guter Samariter gelten kann.“ (Kersting, 249)<br />

Zwar spielt das Solidaritätsprinzip eine wichtige, unverzichtbare Rolle für den<br />

Entstehungs- und Begründungszusammenhang des Sozialstaats, aber wird es<br />

isoliert und ausschließlich herangezogen, so führt das notwendig zu Mißbrauch<br />

120


und Aushöhlung des Sozialstaats. Des Menschen würdig ist nur ein Verständnis<br />

sozialer Gerechtigkeit, das zugleich seine Freiheit respektiert und einfordert, und<br />

damit also auch seine Selbstverantwortung und die der kleinen Gemeinschaften<br />

innerhalb der Gesellschaft ernstnimmt und beansprucht. Das Solidaritätsprinzip –<br />

und damit unterscheidet sich dieses Konzept auf der Basis des christlichen Menschenbildes<br />

sehr deutlich von anderen Deutungen – wird mithin nur durch das<br />

Subsidiaritätsprinzip richtig interpretiert; der wohlverstandene, subsidiäre Sozialstaat<br />

ist mithin notwendig angewiesen auf den einzelnen Menschen und die<br />

kleineren Einheiten, die ihre Freiheit wahrnehmen, Verantwortung ausüben,<br />

Initiativen, Anstrengungen und Leistungen einbringen. Damit ist dieser Sozialstaat<br />

dann auch das Ergebnis bewußter und verantworteter Solidarität.<br />

Im Blick auf die Frage nach der Zukunft des Sozialstaates macht eine Rückbesinnung<br />

auf dessen subsidiäre Struktur deutlich, daß es also auf der einen Seite<br />

nicht einfach um einen mehr oder minder deutlichen Abbau des Sozialstaates<br />

geht, auf der anderen Seite aber auch nicht um eine neu vorzunehmende Verteilung<br />

des für sozialstaatliche Maßnahmen ausreichend vorhandenen Geldes.<br />

Vielmehr geht es darum, die Reproduktionsfähigkeit des Solidarsystems zu erhalten.<br />

Mit dem Bezug auf das Personprinzip liegt ein unverzichtbarere Maßstab<br />

vor, aufgrund dessen im Blick auf die Leistungen des Sozialstaats differenziert<br />

über Solidarleistungen entschieden werden kann:<br />

1. Welche Solidarleistungen sind um der Würde und der damit zusammenhängenden<br />

sozialen Rechte willen unverzichtbar, hier sind als Beispiele zuerst die<br />

Sozialhilfe als Sicherung eines Lebens oberhalb des Existenzminimums zu nennen,<br />

ferner die fünf Säulen der Sozialversicherung, aber auch etwa zahlreiche<br />

familienpolitische Maßnahmen.<br />

2. Welche zusätzlichen Solidarleistungen sind von der sozialen Gerechtigkeit her<br />

gefordert? Auch hier ist der Bereich der Familie in den Blick zu nehmen, verwiesen<br />

sei hier nur auf die Frage nach dem Familienlasten- resp. -leistungsausgleich,<br />

nach der steuerlichen Entlastung für die Kosten, die im Zusammenhang mit der<br />

Erziehung und Betreuung von Kindern entstehen etc.<br />

3. ist schließlich zu fragen, welche bisherigen Leistungen des Sozialstaates sind<br />

(zumindest teilweise) durch zumutbare Eigenleistungen zu ersetzen? (vgl. Roos<br />

1997a, 90) Dabei geht es nicht um einen Abbau der bisherigen sozialen Sicherheit,<br />

basierend auf einem Ethos des Verzichts, das den Bürgern näher gebracht<br />

werden muß, sondern darum, Reformen so zu konzipieren, daß sie bereits auf<br />

den ersten Blick für alle Beteiligten Vorteile bringen und folglich Anreize zur<br />

Mitarbeit an der Reform und zur Übernahme eigener Ve rantwortung setzen. Im<br />

Bereich der Kranken- und Rentenversicherung könnte etwa über eine (einkommensabhängige)<br />

private Versicherungslösung nachgedacht werden, die den Arbeitgeber<br />

entlasten würde und dem Arbeitnehmer eine eigene Entscheidung über<br />

die Ausgestaltung des Teils der Versorgung in Krankheit oder Alter jenseits der<br />

Grundversorgung ermöglichen würde. Der Grundsatz müßte hier lauten: Von der<br />

Pflichtversicherung zur Versicherungspflicht (ähnlich der PKW-Versicherung),<br />

denn aufgrund der Ve rpflichtung würden die Bürger zur Kosteneffizienz erzogen<br />

121


und durch den Wettbewerb würden bürgernahe Lösungen gefunden werden mü ssen<br />

und können. (vgl. Starbatty 2000)<br />

In der Konzeption der neuen Sozialen Marktwirtschaft ist es ein klares, sogar<br />

absolute Priorität genießendes Ziel, Eigenverantwortung und -initiative zu stärken.<br />

Aus dem Grund findet sich auch das Erhard-Zitat als Motto allen Ausführungen<br />

vorangestellt: „Ich will mich aus eigener Kraft bewahren. Ich will das<br />

Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal verantwortlich sein.<br />

Sorge Du, Staat, dafür, daß ich dazu in der Lage bin.“ Wenn mit dem letzten Teil<br />

des Mottos Staat und Gesellschaft in die Solidaritäts- und Gemeinwohlpflicht<br />

genommen und zugleich deren angemessener Rahmen gekennzeichnet sein sollen,<br />

dann kann man auch aus sozialethischer Perspektive zustimmen, ansonsten<br />

aber würde man doch Norbert Blüm vertrauen können, der sagt, er kenne „(v)on<br />

Ludwig Erhard ... bessere Sätze als die, welche zum Leitmotiv der neuen Sozialen<br />

Marktwirtschaft ausgesucht wurden.“ (Blüm 2001)<br />

6. These: Die Stärkung und Förderung der Zivilgesellschaft erscheint in der<br />

gegenwärtigen wie zukünftigen Situation als eines der angemessensten Mittel,<br />

um die Soziale Marktwirtschaft sowohl im Sinne ihrer basalen Prinzipien zu<br />

erneuern als auch mit Blick auf die neuen Herausforderungen für die Bewährung<br />

im 21. Jahrhundert „fit“ zu machen.<br />

Brauchen wir für das 21. Jahrhundert eine neue Soziale Marktwirtschaft? Wir<br />

brauchen eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft. Die Grundelemente der Sozialen<br />

Marktwirtschaft haben sich in der Tat als raum- und zeitunabhängig erwiesen,<br />

gleichwohl sich – angesichts der konstatierten Fehlentwicklungen, die sich<br />

im Vergleich mit dem ursprünglichen Konzept im Verlauf der letzten Jahrzehnte<br />

herauskristallisiert haben – unter doppelter Rücksicht eine Erneuerung als notwendig<br />

darstellt: Zum einen im Sinne einer Rückkehr zu den Wurzeln des Konzepts<br />

der Sozialen Marktwirtschaft, von denen her viele gegenwärtige Forderungen<br />

(wie z. B. die der Kultur der Selbstständigkeit, die des Gemeinsinns, der<br />

Verantwortung für das Gemeinwohl etc.) angegangen werden können. Zum anderen<br />

gilt es natürlich angesichts des fundamentalen Wandelns, der unsere Gegenwart<br />

kennzeichnet, die Soziale Marktwirtschaft an die neuen Bedingungen<br />

anzupassen, sie im Kontext der anstehenden Herausforderungen adäquat zu verorten.<br />

Die Soziale Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts bedarf zur Realisierung von<br />

Freiheit und sozialer Gerechtigkeit notwendig der Zivilgesellschaft, denn soziale<br />

Gerechtigkeit in der Praxis bedeutet – so formuliert es etwa der amerikanische<br />

Theologe und Sozialwissenschaftler Michael Novak – nicht, den Staat noch mehr<br />

auszuweiten; im Gegenteil, es bedeutet, die Zivilgesellschaft zu stärken, d. h. die<br />

Freiheit und Verantwortung der Bürger ernst zu nehmen und zu aktivieren. Gefordert<br />

als Anstrengung aller ist folglich eine erneuerte Sozialkultur: Im Blick ist<br />

hierbei vor allem die Vielzahl an gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen,<br />

die einen eigenständigen Beitrag zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wohlfahrt<br />

leisten können. Hierzu gehören in erster Linie die Familien, aber auch gemeinnützige<br />

Einrichtungen etc. wie etwa Kirchen und Vereine, und Formen wechselseitiger<br />

Hilfe. Gefordert sind klare Regelungen der Verantwortlichkeiten, die,<br />

122


entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip auf der untersten, im Einzelfall adäquaten<br />

Ebene angesiedelt sind. Damit ist wiederum mehr Bürgernähe, mehr Zivilcourage<br />

und mehr bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt möglich. Die<br />

größere Nähe etwa auch der Erwerbsarbeit zu überschaubaren Lebensräumen,<br />

die Verankerung in einer „Heimat“ sind die notwendige Kehrseite der Globalisierung<br />

der Wirtschaftsordnung.<br />

Zudem trägt die Zivilgesellschaft dazu bei, eine Entwicklung vom Wohlfahrtsstaat<br />

zum zivilgesellschaftlich verantworteten Sozialstaat zu initiieren (vgl. Nothelle-Wildfeuer<br />

2000): Denn nicht länger darf der Staat in sozialethisch unverantwortbarer<br />

Weise der allein verantwortliche Akteur bei der Realisierung sozialer<br />

Gerechtigkeit sein, sondern vorrangig sollen dazu die humanen Ressourcen<br />

der Gesellschaft optimal gefördert und genutzt werden. Diesem Sozialkapital<br />

muß mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt werden, die Ressourcen<br />

der Gesellschaft müssen mobilisiert und aktiviert werden, um dann wirklich die<br />

öffentlichen Angelegenheiten zurückzuführen aus der Hand des Staates in die<br />

vielfältigen Hände der Gesellschaft.<br />

Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft rechnet von seinen Anfängen an nicht<br />

mit einer Hochleistungsmoral einiger weniger Bürger, sondern – in Konsequenz<br />

des christlichen Menschenbildes und im Wissen um die Fehlbarkeit des Menschen<br />

und um seine Möglichkeit, im Gebrauch der Freiheit auch zu scheitern –<br />

mit einer gesunden Portion Eigennutz, der ja auch allererst der Motor jedweden<br />

marktwirtschaftlichen Handelns ist. Um die optimale Güterversorgung für alle<br />

Menschen erreichen zu können, bedarf es also notwendig der entsprechenden<br />

Institutionen, die den Erfolg des wirtschaftlichen Handelns nicht koppeln an<br />

moralische Motive einzelner, sondern Anreize schaffen, die vorteilhafte Resultate<br />

für jeden in Aussicht stellen, so daß „auf die bereitwillige Mitarbeit aller gerechnet<br />

werden (kann).“ (Böhr 2000). Zugleich aber bedarf es eines subsidiärsolidarischen,<br />

gemeinwohlorientierten Ethos aller Gesellschaftsmitglieder, um<br />

nicht die Institutionen und ihre Regelungen egoistisch zu unterlaufen und auszuhöhlen.<br />

Literatur<br />

Baumgartner, H. M. u. Wildfeuer, A. G. (2001): Freiheit und soziale Gerechtigkeit: Die<br />

Verantwortung des Staates für Bildung und Erziehung, in: S. S. f. Kultus (Hrsg.), Nachdenken<br />

über Schule, Dresden, 33-57.<br />

Blüm, N. (2001): Mehr Obst, weniger Äpfel?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom<br />

5.9.2001, Nr. 206, 12.<br />

Böhr, C. (2000): Die Zukunft des Sozialstaates: Ansätze einer Reform, in: Die Neue Ordnung<br />

54, 68-73.<br />

CDU, D. (2001): Neue Soziale Marktwirtschaft. Diskussionspapier, Berlin.<br />

Erhard, L. (1961): Freiheit und Verantwortung. Ansprache vor dem Evangelischen Arbeitskreis<br />

der CDU, 2. Juni 1961.<br />

Höhn, H.-J. (2000): Markt ohne Grenzen? Thesen zum Profil christlicher Wirtschaftsethik,<br />

in: U. Nothelle-Wildfeuer u. N. Glatzel (Hrsg.), Christliche Sozialethik im Dialog.<br />

123


Zur Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag<br />

von Lothar Roos, Grafschaft, 417-433.<br />

Issing, O. (2001): Liberaler Kapitalismus und Soziale Marktwirtschaft. Vortrag auf dem<br />

Wirtschaftstag „Streit der Ordnungssysteme – New Economy, Soziale Marktwirtschaft,<br />

Staatlicher Dirigimus“, 28. Juni 2001.<br />

Kersting, W. (2000): Vorwort, in: W. Kersting (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats,<br />

Weilerswist, 11-16.<br />

Müller-Armack, A. (1956): Art.: Soziale Marktwirtschaft, in: (Hrsg.), Handwörterbuch<br />

der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart/Tübingen, 390-392.<br />

Nothelle-Wildfeuer, U. (1999): Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft, Paderborn.<br />

--- (2000): Vom Wohlfahrtsstaat zum zivilgesellschaftlichen Sozialstaat, in: W. Boloz u.<br />

G. Höver (Hrsg.), Die Einigung Europas als Herausforderung für die Kirche, Baden-<br />

Baden, 39-57.<br />

Roos, L. (1997a): Die Zukunft des Sozialstaats in sozialethischer Perspektive, in: H. Pompey<br />

u. L. Roos (Hrsg.), Caritas zwischen Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit, Würzburg,<br />

73-97.<br />

--- (1997b): Ethische Grundlagen und zukünftige Gestalt der Sozialen Marktwirtschaft, in:<br />

H.-J. Jaschke (Hrsg.), Auf dem Weg zum Heiligen Jahr 2000: Christen vor der Zukunft.<br />

Unsere Verantwortung für die Gesellschaft, Bonn, 40-63.<br />

Schlecht, O. (2001): Ordnungspolitik für eine zukunftsfähige Marktwirtschaft, Frankfurt<br />

a.M.<br />

Spieker, M. (1993): Menschenbild und Sozialstaat, in: A. Rauscher (Hrsg.), Christliches<br />

Menschenbild und soziale Orientierung (= Mönchengladbacher Gespräche 13), Köln, 95-<br />

120.<br />

Starbatty, J. (2000): „Eine Neue Soziale Marktwirtschaft?“ in: Handelsblatt v. 5. Dez.<br />

2000.<br />

Stegmann, F. J. (1999): Ansätze und Entwicklungen der modernen wirtschaftsethischen<br />

Fragestellung in den christlichen Kirchen, in: W. Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik.<br />

Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik, Gütersloh, 683-712.<br />

Wünsche, H. F. (2001): Was ist eigentlich „Soziale Marktwirtschaft“?, in: Orientierungen.<br />

PD Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Lehrstuhlvertreterin im Fach „Christliche<br />

Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie“ an der Katholisch-Theologischen<br />

Fakultät der Universität Bonn.<br />

124


Stefan Heid<br />

Der Umgang der frühen Kirche mit Tyrannenmord<br />

Zum Stand der Dinge<br />

Die Diskussion um den wenig bekannten Hitlerattentäter Georg Elser, wie sie<br />

jüngst nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch in der Presse zu verfolgen<br />

war, hat das Thema Tyrannenmord einmal neu nach oben gespült und in das Bewußtsein<br />

einer breiteren Öffentlichkeit gehoben. 1 Ist es – gar einem Christen –<br />

erlaubt, einen Tyrannen, d.h. einen Usurpator oder Schreckensherrscher 2 , als<br />

ultima ratio der Politik zu töten, zu morden? Tyrannenmord stellt je einen Not-<br />

und Sonderfall dar, in dem sich das Drama der Geschichte ungleich verdichtet.<br />

Wo sich das künftige Geschick unzähliger Menschen und Völker durch den Tod<br />

eines einzigen Menschen zu wenden scheint, stellen sich ganz neue Fragen an<br />

Akteure und Zuschauer und deren Moral. Es gibt viele Weisen, mit einem solchen<br />

Ereignis umzugehen: Die erinnernde Mahnung der Geschichtsschreibung<br />

ist die eine 3 , die reinigende Erschütterung des Dramas eine andere (man denke<br />

an Shakespeares „Julius Cäsar“, aber auch an Heinrich Manns Roman „Professor<br />

Unrat oder Das Ende eines Tyrannen“ 4 ). Daß auch die Theologie ihre Meinung<br />

dazu gebildet hat, kann angesichts ihrer 2000jährigen Geschichte kaum überraschen.<br />

In unserem Zusammenhang interessiert die Frage, ob der Tyrannenmord<br />

auch schon Thema frühchristlicher Verkündigung und gar frühchristlicher Kunst<br />

ist.<br />

Die spontane Reaktion geht doch wohl dahin zu meinen, der Tyrannenmord sei<br />

kein solch frühes Thema. Man erinnert sich an Paulus und den starken Einfluß,<br />

den sein Brief an die christliche Gemeinde Roms auf das frühchristliche Staatsdenken<br />

ausgeübt hat: „Ein jeder ordne sich der obrigkeitlichen Gewalt unter;<br />

denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott ist. Die bestehenden (Gewalten)<br />

sind von Gott angeordnet. Wer sich daher der Gewalt widersetzt, widersetzt sich<br />

der Anordnung Gottes“ (Röm 13,1f). Damit liegt Paulus ganz auf der Linie des<br />

Jesuswortes an Pilatus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht<br />

von oben gegeben wäre“ (Joh 19,11). Tatsächlich entspricht es dem Ethos der<br />

Märtyrer, trotz notwendigen Widerstands – Paulus selbst stirbt im Rom des Tyrannen<br />

Nero den Zeugentod! – aktive Gewaltmaßnahmen gegen die Obrigkeit<br />

abzulehnen. So durfte also Widerstand gegen den Tyrannen allein passiv geschehen:<br />

Allein Gott gebührt die Rache (Ps 94(93),1).<br />

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn die jüngere Forschung weithin<br />

annimmt, daß es in der frühen Kirche kein Nachdenken über den Tyrannenmord<br />

gegeben habe; in einschlägigen Lexika liest man darüber erst recht nichts.<br />

Gewiß, eine formalisierte „Lehre“, wie sie dann in der westlichen Scholastik seit<br />

den Ausführungen eines Johannes von Salisbury vorliegt, gibt es erst ab dem<br />

Mittelalter. Aber man darf doch einigermaßen erstaunt sein, daß die frühe Kir-<br />

125


che, vor allem auch die Kirche des Ostens, keineswegs achtlos an diesem Thema<br />

vorübergeht. Ihr Nachdenken entzündet sich auf einem Feld, wo man es am<br />

wenigsten erwarten möchte, nämlich in der Heiligenlegende (Hagiographie), und<br />

das ist nicht einfach „Kinderkram“, sondern eine damals durchaus ernstgemeinte<br />

und einflußreiche Weise kirchlicher Verkündigung.<br />

126<br />

Tyrannenmord durch Nichtchristen<br />

Natürlich wissen die frühen Christen ebenso wie ihre heidnischen Mitbürger, daß<br />

die „Tyrannoktonie“ bereits lange vor ihrer Zeit ausgiebig diskutiert wurde, was<br />

erst jüngst wieder angeheizt wurde durch die spektakuläre Ermordung Julius<br />

Cäsars (15. März 44 v.Chr.), die Cicero als heroische Tat der beiden tyrannoctoni<br />

Brutus und Cassius feiert. Euphorisch lobt Cicero, wie es ihm sein Staats- und<br />

Gerechtigkeitsbegriff gebietet, den Tyrannenmord als von allen herrlichen Taten<br />

die schönste. Solch markige Worte finden in den erregten Monaten nach Cäsars<br />

Ermordung Eingang in Ciceros „Pflichtenbuch“, eine Schrift von tiefgreifender<br />

Wirkung auf die christlichen Jahrhunderte. Das hier gebrauchte Wort „Tyrannoktonie“<br />

heißt eigentlich „Tyrannentötung“, trägt also nicht schon die moralische<br />

Disqualifizierung des „Mordes“ ein. Die Kirchenväter nehmen die Tyrannentötung<br />

hin als keineswegs unmoralisches Faktum der paganen Geschichte, und<br />

diese pagane Geschichte reicht für sie im Grunde genommen bis zu Konstantin.<br />

Um die Loyalität der Christen hervorzukehren, weist Tertullian von Karthago (†<br />

um 220) darauf hin, daß es immer Heiden und Römer waren, die die Kaiser gemordet<br />

haben, etwa ein Cassius den Cäsar. Deutlicher wird der Theologe Origenes<br />

von Alexandrien († 253) in seiner Schrift gegen den Heiden Kelsus, indem er<br />

rhetorisch fragt: „Würden nicht diejenigen richtig handeln, die heimliche Vereinbarungen<br />

treffen, um einen Tyrannen, der die Herrschaft im Staat usurpiert hat,<br />

zu töten?“ Zumindest der nichtchristlichen Gesellschaft konzediert Origenes also<br />

den Tyrannenmord als legitimes Mittel zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen<br />

Ordnung. Laktanz († 325) in seinem Buch über die Todesarten der Christenverfolger<br />

bejubelt die gottgefügte Ermordung der Tyrannen Nero, Domitian und<br />

Maximinus Daja; nachweislich ermordet von fremder Hand wurde freilich nur<br />

ein Domitian.<br />

Die Christen tun sich mit dem Thema Tyrannenmord verhältnismäßig leicht,<br />

weil sie um ihn auch als Teil jüdisch-biblischer Geschichte wissen. Der christliche<br />

Lehrer Klemens von Alexandrien († um 220) rühmt Judit, die mit Erlaubnis<br />

der Ältesten und unter Einsatz ihres Lebens den Tyrannen Holofernes seines<br />

Kopfes beraubt. Offenbar sieht Klemens hier in antiker Tradition einen legitimen<br />

Tyrannenmord vorliegen, wie er dann auch im selben Zusammenhang an die<br />

„klassischen“ Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton erinnert. Auch Origenes<br />

lobt die tapfere Judit. Ferner lobt Origenes Ehud, der „durch listige, aber<br />

doch lobenswerte Täuschung“ den moabitischen Tyrannen Eglon erstach (Ri<br />

3,17/22). Origenes versäumt es nicht, auch die geschickte Ausführung der Tat zu<br />

erwähnen, denn Ehud war Linkshänder und hatte nur einen kurzen Dolch im<br />

Gewande, mit dem er den überaus feisten Eglon mit einem gezielten Stich niederzustrecken<br />

verstand.


Die frühe christliche Apologetik macht sich also mit einer gewissen Zurückhaltung<br />

die positive Bewertung des Tyrannenmords in der Antike einschließlich<br />

des Alten Testaments zunutze, ohne allerdings für sich selbst eine solche ultima<br />

ratio ins Kalkül zu ziehen. Mit dieser Linie knüpft sie im übrigen an die jüdische<br />

Apologetik eines Philo von Alexandrien und Flavius Josephus (1. Jh.) an. Stets<br />

bleiben die Christen der ersten Jahrhunderte nur Zuschauer, bestenfalls Profiteure<br />

solcher Attentate. Aufgrund ihrer (ähnlich den Juden) unsicheren gesellschaftlichen<br />

Stellung sehen sie keinen Anlaß, über einen Tyrannenmord durch Christenhand<br />

nachzudenken, auch wenn sie die Überzeugung haben, daß sich im<br />

Ende eines Tyrannen stets ein Gottesurteil ausspricht.<br />

Tyrannenmord durch Christen<br />

Zu einem neuen Nachdenken führt die ‚Konstantinische Wende‘, was angesichts<br />

der damit verbundenen Veränderungen im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft<br />

nicht verwundern kann. Konstantin selber gibt den Anstoß, indem er den<br />

eindeutig negativ besetzten Begriff des Tyrannen in die politische Kampfpropaganda<br />

einführt: seine Gegner Maxentius und Licinius attackiert er als verabscheuungswürdige<br />

Tyrannen. Die Christen schmiegen sich diesem Gedanken insofern<br />

an, als der euphorische Anhänger des neuen Hoffnungsträgers Konstantin,<br />

der palästinische Bischof Eusebius von Cäsarea († 339), Christus selbst als „Tyrannenmörder“<br />

apostrophiert. Dabei denkt Eusebius zunächst an die Tyrannei<br />

des Teufels, den Christus getötet habe, wendet dies aber sogleich ins Politische:<br />

Denn der Teufel führt sein tyrannisches Regiment, indem er gewissermaßen<br />

gottlose Tyrannen wider die Christen anheuert. Damit wird also Christus indirekt<br />

auch als der Überwinder eines Diokletian, Maximian und Maxentius angesprochen.<br />

Folgerichtig spricht Eusebius auch Kaiser Konstantin den Titel des „Tyrannenmörders“<br />

zu, insofern dieser die Tyrannei des Maxentius beendet habe.<br />

Der Tyrannenmord macht also Konstantin und Christus untrennbar zu Erlösungs-<br />

und Befreiungshelden. Solche Szenarien im Graubereich zwischen Politik und<br />

Theologie sind gefährlich, denn sie können sich verselbständigen. Schon bald<br />

melden sich erste Stimmen zu Wort, die den Tyrannenmord auch für Christen<br />

nicht ausschließen. Nur wären es jetzt getaufte Kaiser, die dem Tyrannenschwert<br />

zum Opfer fielen.<br />

Tatsächlich thematisiert man den Fall der Apostasie des allerchristlichsten Herrschers<br />

und spielt dabei auch mit dem Gedanken des Tyrannenmords. Zu nennen<br />

ist der lateinische Bischof Lucifer von Cagliari auf Sardinien († 370). Als radikaler<br />

Anhänger des Glaubensbekenntnisses von Nizäa steht er im erbitterten<br />

Widerspruch zur arianerfreundlichen Politik des Kaisers Constantius II. In seinen<br />

Exilsschriften polemisiert er hemmungslos gegen den Tyrannen Constantius.<br />

Dafür zieht er die alttestamentlichen Tyrannenmorde heran, um dem Kaiser<br />

entgegenzuhalten, daß er, lebte er im Alten Bund, ohne weiteres mit dem<br />

Schwert getötet werden könnte (vgl. 2 Kö 22f; Num 25,7f; 1 Makk 2,24/6). Das<br />

Gebot des Paulus, der Obrigkeit untertan zu sein, habe nämlich nur gegenüber<br />

der heidnischen Obrigkeit gegolten. Was Lucifer da so von sich gibt, ist nichts<br />

127


anderes als die – wenn auch maulheldenhafte – Drohung mit dem Tyrannenmord.<br />

Eine solche Drohung gegen einen aus seiner Sicht apostatischen Kaiser mußte<br />

um so dringlicher werden, als wenig später Julian das Reichsszepter ergriff und<br />

offen als ‚Apostat‘ zum Heidentum zurückkehrte (361 bis 363). Kaiser Julian,<br />

obwohl getauft und christlich erzogen, wandte sich vom Christentum ab und versuchte<br />

im Rückwärtsgang, dem Heidentum seine alte Bedeutung wiedereinzuhauchen.<br />

Von den Christen war er deshalb nicht gut gelitten, war man doch überzeugt,<br />

daß er nach dem geplanten Persienfeldzug den Zimmermannsglauben auslöschen<br />

wollte. Die Bischöfe waren in höchster Alarmbereitschaft, so daß es<br />

ihnen wie ein Gottesurteil erscheinen mußte, daß Julian nur nach knappen drei<br />

Amtsjahren auf besagtem Feldzug im Schlachtengewühl starb, getroffen von<br />

einer Lanze. Man mühte sich nicht, seine Schadenfreude zu verbergen. Gregor<br />

von Nazianz († 390): „Der widerspenstige Tyrann wurde zur gerechten Strafe für<br />

seine Gottlosigkeit gestürzt.“ Daß hier die Fügung Gottes mitspielte, steht außer<br />

Diskussion. Bevor noch das Wort vom Tyrannenmord umgeht, gilt Julian den<br />

Christen als der Tyrann schlechthin, und das wahrscheinlich bereits zu Lebzeiten.<br />

Bald aber spricht man offen von einem christlichen Mörder Julians: Die Heiden<br />

setzen ein solches Gerücht in die Welt, die Christen greifen es geschmeichelt auf.<br />

Der griechische Historiker des 5. Jahrhunderts Sozomenós schildert zunächst den<br />

Tod Julians; dabei hält er sich an das, was der heidnische Rhetor und Julianfreund<br />

Libanius von Antiochien notiert hat: In vollem Galopp näherte sich ein<br />

rätselhafter Reiter dem Kaiser und verwundete ihn mit seiner Lanze tödlich.<br />

Einige, so immer noch Libanius, erkannten in diesem Reiter einen Perser, andere<br />

einen Araber, wieder andere einen römischen Soldaten, der sich für die fatale<br />

Kriegstaktik des Kaisers rächen wollte. Sozomenós zitiert des weiteren die persönliche<br />

Meinung des Libanius zu diesem Vorfall: Einer der eigenen Soldaten<br />

habe Julian umgebracht. Libanius insinuiert christliche Täterschaft, da er den<br />

Christen aus religionspolitischen Gründen ein Attentat zutraut. Die Indizien bündeln<br />

sich dahingehend, daß jene anonyme Gestalt des lanzenführenden Reiters<br />

ein christlicher Soldat im Heer Julians gewesen sei.<br />

Sozomenós schließt sich dieser Version an: Ja, Julian wurde womöglich von<br />

einem christlichen Soldaten gemordet, „da ja die Hellenen und alle Menschen bis<br />

heute die Tyrannenmörder von einst loben, weil sie sich für die Freiheit aller<br />

dem Tod ausgesetzt haben und bereitwillig den Bürgern, Verwandten und Freunden<br />

zur Seite standen. Zudem wird kaum jemand einen Menschen tadeln, der<br />

seine Tapferkeit in den Dienst Gottes und des von ihm erwünschten Gottesdienstes<br />

stellt.“ Auch ethisch trägt er keine Bedenken: Julian war ein Tyrann und<br />

starb als Tyrann, und sei es durch Christenhand. Schon Gregor von Nazianz hatte<br />

gesagt, wer immer Julian umgebracht habe, er habe eine „Heldentat“ vollbracht.<br />

Sozomenós nun führt für die Unbedenklichkeit des Tyrannenmords ein Traditionsargument<br />

an: Der Tyrannenmord zugunsten der Bürgerfreiheit wird seit<br />

Menschengedenken nicht nur von den Heiden (den Griechen), sondern auch von<br />

128


den Christen (nämlich allen Menschen) als eine lobenswerte Tat angesehen.<br />

Sozomenós übernimmt damit voll die antike Wertschätzung des Tyrannenmords.<br />

Vor diesem Hintergrund ist es nicht unwahrscheinlich, daß auch im Westen die<br />

Meinung aufkam, es sei einem Christen erlaubt, einen apostatischen Tyrannen zu<br />

töten. Das könnte nämlich die ablehnende Haltung des Bischofs Augustinus von<br />

Hippo († 430) erklären, der in seinem „Gottesstaat“ sagt, selbst Tyrannen vom<br />

Schlage eines Nero, Domitian und Julian übten kraft göttlicher Vorsehung ihre<br />

Herrschaft aus. Einen Schriftbeweis bleibt Augustinus nicht schuldig: Es stehe so<br />

in den Sprichwörtern (Spr 8,15 Itala und LXX): „Durch mich regieren die Könige,<br />

und die Tyrannen beherrschen durch mich die Erde“, und man solle nicht<br />

meinen, hier seien mit „Tyrannen“ nach dem älteren Sprachgebrauch nur allgemein<br />

Herrscher und nicht vielmehr Gewaltherrscher angesprochen.<br />

In der Zeit nach Konstantin ist also vereinzelten Stimmen zufolge der Tyrannenmord<br />

durch Christenhand sowohl im Osten als auch im Westen kein Tabu mehr,<br />

allerdings auch nicht mehr: Alle Äußerungen bleiben in einem irgendwie unverbindlichen,<br />

hypothetischen Raum. Man scheut vor der letzten Konsequenz zurück,<br />

hält aber an der aus der Antike überkommenen Legitimität des Tyrannenmords<br />

fest.<br />

Tyrannenmord durch Heilige<br />

Diese bislang wenig spektakulären Erörterungen erfahren eine überraschende<br />

Wendung. Der Tod des Tyrannen Julian beschäftigt nämlich die christlichen Ge -<br />

müter so sehr, daß aus der Kolportage des Libanius ein Geflecht von Legenden<br />

erwächst, in dem einzelne Heilige, vor allem aber der hl. Soldat Merkurius, als<br />

Mörder Julians ausgelobt werden. Mit anderen Worten: Die frühe Kirche kennt<br />

und verehrt heilige Tyrannenmörder. Die Ausbildung der Merkuriuslegende wird<br />

man nicht erst dem Mittelalter zuweisen, wie dies die ältere Forschung (J. Bidez)<br />

noch tut, sondern bereits dem 5./6. Jahrhundert. 5 Sie entsteht im kappadokischen<br />

Cäsarea, während andere Städte „ihren“ Heiligen eine Mitwirkung, und sei es<br />

auch nur durch das Gebet, beim Tod Julians zuschreiben. Die größte Popularität<br />

genießt freilich die Merkuriuslegende, die in Armenien, Syrien, Ägypten und im<br />

Westen Eingang findet und dabei so manche Modifikationen erfährt.<br />

Demnach war Merkurius römischer Soldat, der in einer armenischen Kohorte unter<br />

Kaiser Decius diente und für seinen Glauben den Martertod bereit war zu erdulden.<br />

Sein Kult entwickelte sich vornehmlich im kappadokischen Cäsarea.<br />

Dort, wo er das Martyrium erlitten haben soll, erhob sich ein seit der ersten Hälfte<br />

des 6. Jahrhunderts bezeugtes Martyrium, d.h. ein ihm geweihtes Gotteshaus.<br />

Zu dieser Zeit wird dort die Merkuriuslegende bereits ausgebildet gewesen sein,<br />

in welcher es neben der Passio eine weitere Episode gibt. Darin wird geschildert,<br />

wie Merkurius auf göttlichen Befehl den Tyrannen Julian mit seiner Lanze mordet.<br />

Es handelt sich um ein postumes Wunder: Der bereits selige Merkurius<br />

steigt vom Himmel herab, um nochmals als berittener Soldat aufzutreten und<br />

seine Lanze zum Ziel zu führen. Das ganze wird der Öffentlichkeit bekannt<br />

durch einen entsprechenden Traum des hl. Bischofs Basilius von Cäsarea. Jener<br />

129


anonyme christliche Soldat, den bereits Libanius als Mörder Julians ausgemacht<br />

haben will, ist somit gefunden: der himmlische Heilige Merkurius.<br />

Man kann sich fragen, ob damit die Ansätze der frühen Kirche, über Tyrannenmord<br />

durch Christenhand nachzudenken, nicht noch zweideutiger werden, ja geradezu<br />

der Sphäre menschlicher Verantwortlichkeit entrückt scheinen: Es sind<br />

nun nicht mehr Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Heilige, die den Tyrannen<br />

töten. Der moderne Betrachter erkennt darin eine Verflüchtigung. Doch wird<br />

für einen in das frühchristliche Weltbild verwobenen Menschen die umgekehrte<br />

Sicht zutreffen: Die Legende schafft für ihn eine größere Realitätsdichte. Denn<br />

sichtlich erteilt Gott selbst den Tötungsauftrag an jemanden, der diesen Befehl<br />

dann sehr handwerklich auffaßt: Eigens steigt Merkurius auf die Erde herab und<br />

benutzt noch einmal seine blutige Lanze. Das Gewicht der Legende liegt auf der<br />

göttlichen Legitimierung des Tyrannenmörders; sie intendiert nicht, die Härte<br />

eines irdischen Attentats wegzunehmen. Und alle Autokraten müssen fortan mit<br />

einem auch kirchlich abgesegneten Tyrannenmord rechnen. So konnte die Merkuriuslegende<br />

als starkes Argument für einen religiös motivierten Tyrannenmord<br />

durch Christenhand gewertet werden. Tatsächlich zieht dann im 12. Jahrhundert<br />

Johannes von Salisbury, der erstmals in seinem Policraticus eine umfassende<br />

Lehre und sittliche Rechtfertigung des Tyrannenmords entwickelt, neben den<br />

alttestamentlichen Gestalten Merkurius als Kronzeugen heran: Wenn schon Gott<br />

Tyrannen tötet oder durch einen Heiligen töten läßt, wieso dann nicht auch der<br />

Mensch: „Bosheit wird stets vom Herrn bestraft, jedoch nutzt er zuweilen seine<br />

eigene, zuweilen des Menschen Waffe, um die Gottlosen zu züchtigen.“<br />

Es zählt zu den Merkwürdigkeiten der Forschungsgeschichte, daß man diese<br />

scholastische Spur der Merkuriuslegende nie in die frühe Kirche zurückverfolgt<br />

hat. In der Kontroverse, die sich bis ins 20. Jahrhundert hinein an der protestantischen<br />

„Fabel“ entzündete, die Jesuiten seien Erfinder der Tyrannenmordlehre,<br />

haben die katholischen Apologeten alles darangesetzt, um nachzuweisen, daß die<br />

bedingte Erlaubtheit des Tyrannenmords längst vor den Jesuiten gelehrt wurde.<br />

Sie rekurrieren dabei stets auf den Scholasten Johannes von Salisbury. Aber<br />

nicht einmal die Jesuiten selbst kommen in dem Bemühen, ihren Orden reinzuwaschen,<br />

auf die Idee, die von Johannes zitierte Merkuriuslegende für älter als<br />

das Mittelalter zu halten; 6 es fehlten hierzu wohl noch die wissenschaftlichen<br />

Voraussetzungen. Denn gewußt haben sie von der Legende, vielleicht mehr, als<br />

es ihnen lieb war: In der Hochblüte barocker Volkspädagogik haben die Jesuiten<br />

der Bluttat des Merkurius eine Reihe von Theaterstücken dediziert! 7<br />

Was Johannes von Salisbury für den Westen formuliert, das findet seine Entsprechung<br />

im Osten bei Nikephoros Gregoras († 1359). In seiner Eloge auf den<br />

hl. Merkurius geht er so weit zu sagen, daß es die höchste Auszeichnung für<br />

Merkurius bedeutete, den Tyrannen töten zu dürfen. Nur weil er als Christ und<br />

Soldat mehr als andere seine psychische – und das heißt doch auch: moralische –<br />

Kraft im Kampf gegen sichtbare wie unsichtbare Feinde bewiesen hatte, wurde<br />

er dieser Aufgabe gewürdigt. So erwarb er sich durch sein tyrannenmordendes<br />

Schwert neue Ehren, die sich dann im Lob der Gottesdienstgemeinde fortsetzen:<br />

„Wenn es schon Gnaden und hohen Lohn erwirkt, einen einzigen Menschen aus<br />

130


der Gottlosigkeit zum Glauben zu führen, übersteigt es dann nicht jede Art von<br />

Lob, alle ... von der Gottlosigkeit eines Tyrannen zu befreien?“ Hier wird der<br />

Tyrannenmord gewissermaßen zum edelsten Mittel der Glaubensverbreitung erhoben.<br />

Eine solche Panegyrik ist zweifellos nicht unproblematisch. Sie kann als Ermächtigung<br />

zum Tyrannenmord aufgefaßt werden, ohne die notwendigen Differenzierungen<br />

einer solchen realen Möglichkeit zu liefern. Vielleicht zeichnet<br />

Nikephoros wie auch Johannes von Salisbury sein Bild so scharf, nicht weil er zu<br />

Mord und Verschwörung aufrufen möchte, sondern um den Herrschern und<br />

Machthabern seiner Zeit auf diese Art streng ins Gewissen zu reden. In jedem<br />

Fall ist das Thema der Tyrannei in Byzanz aufgrund des dortigen politischen<br />

Systems über die Jahrhunderte hinweg virulent. Nikephoros gibt auch die Hauptursache<br />

hierfür zu erkennen, nämlich die exzeptionelle Sakralität des byzantinischen<br />

Kaisertums, die die Absetzung eines zum Tyrannen mutierten Autokraten<br />

rechtfertigt. Da jeder Kaiser allein von Gottes Gnaden regiert, verwirkt er seine<br />

Vollmacht, sobald er dem orthodoxen Glauben zuwiderhandelt. Da also das<br />

Kaisertum nicht horizontal-dynastisch, sondern vertikal-theokratisch legitimiert<br />

ist, sind Umstürze und rasche Kaiserwechsel in Byzanz an der Tagesordnung.<br />

Ehrung und Verehrung von Tyrannenmördern<br />

Auf das alte Griechenland geht die Tradition zurück, Tyrannenmördern kraft Ge -<br />

setzes öffentliche Ehren zuteil werden zu lassen. So weit ging die Wertschätzung<br />

der Demokratie, daß man anfangs allein das Verdienst der Befreiung von einer<br />

Tyrannis der Ehre der Statuenerrichtung für wert befand. Angeblich haben die<br />

Athener sogar die flüchtigen Brutus und Cassius begeistert aufgenommen und<br />

ihnen Bronzestatuen errichtet. Noch in frühchris tlicher Zeit werden Bilder heidnischer<br />

Tyrannenmörder öffentlich aufgestellt. Und ein byzantinischer Aristoteles-Kommentar<br />

bezeichnet den Tyrannenmord als Heldentat, die durch die Aufstellung<br />

von Stelen und Bildern zu würdigen sei.<br />

Zu denken ist vor allem an die auch unter Christen nicht abreißende Erinnerung<br />

an die „Tyrannenmörder“ schlechthin: Harmodios und Aristogeiton. Sie sind die<br />

Protagonisten des berühmtesten Attentats der griechischen Geschichte. Obwohl<br />

ihr Anschlag im wesentlichen scheiterte, wurden die beiden als Befreier Athens<br />

und Stifter der Demokratie von Staats wegen geehrt. Eine Bronzegruppe besagter<br />

Tyrannenmörder (510 v. Chr.) ist „das erste Beispiel eines politischen Denkmals<br />

in Europa“ (H. Lamer/P. Kroh). Die ursprüngliche Gruppe ist zwar nicht erhalten,<br />

da sie vom Perserkönig Xerxes verschleppt wurde, wohl aber existieren im<br />

Nationalmuseum von Neapel und im Konservatorenpalast von Rom Kopien<br />

eines von Kritios und Nesiotes geschaffenen Ersatzdenkmals. Es wurde auf der<br />

Athener Agorá aufgestellt und erscheint öfters auf Münzen und Vasen dargestellt:<br />

zwei schwertbewehrte Männer im energischen Ausfallschritt, nackt und<br />

von athletischem Wuchs, der jüngere Harmodios bartlos, der ältere Aristogeiton<br />

bärtig. Der attackierte Tyrann selber, Hippias, ist nicht dargestellt.<br />

131


Anfänglich üben die Christen an solchen Denkmälern Kritik; sie erkennen darin<br />

die Sittenverwirrung der Heiden, die die Christen als Gesetzesübertreter verfolgen,<br />

ihren Tyrannenmördern aber Ehrenmäler aufstellen. Einige Jahrhunderte<br />

später hat sich die Situation vollständig gewandelt. Nun kommt bei den Christen<br />

ganz Entsprechendes auf, und zwar gerade deshalb, weil ihre Tyrannenmö rder<br />

Heilige waren, denen schon aufgrund ihrer Heiligkeit ehrendes Gedenken gebührte.<br />

Bereits die Merkuriuslegende selbst spricht im Kontext des Tyrannenmords<br />

von Ikonen, Fresken und Säulenbildern des Heiligen. Sie zeigt Merkurius<br />

als Reiter mit Lanze, ohne daß jedoch Julian dargestellt wäre. Die tatsächlich<br />

erhaltenen Buchillustrationen und Andachtsbilder gehen jedoch in der Regel<br />

weiter, indem sie den dramatischen Augenblick des Tyrannenmords selbst abbilden.<br />

Man darf annehmen, daß solche Bilder bereits im 6. Jahrhundert seit dem<br />

Aufkommen der entsprechenden Legenden im Osten verbreitet sind.<br />

Die wohl älteste und zugleich herausragende Abbildung findet sich in der griechischen<br />

Handschrift 510 der Pariser Nationalbibliothek (um 881). Im oberen<br />

Register zeigt sie Julian zu Pferd auf seinem Feldzug nach Persien. Im mittleren<br />

Register betet Bischof Basilius von Cäsarea vor einer Kirche um den Tod Julians.<br />

Im unteren Register ist dann der Tod Julians dargestellt. Wir lesen dort:<br />

Julian, getötet durch den heiligen Merkurius. Der kurzbärtige, in eine Tunika gekleidete<br />

Merkurius galoppiert mit wehendem Schultermantel von rechts nach<br />

links. Er hat mit seiner Lanze Julian von dem herrenlos weiterreitenden Pferd<br />

gestoßen. Julian stürzt rücklings, die Beine und den linken Arm reckt er nach<br />

oben, sich auf dem rechten Ellebogen abstützend. Mit seinem linken Fuß scheint<br />

er im Steigbügel hängen geblieben zu sein. Die Lanze trifft den Tyrannen an<br />

seiner empfindlichsten Stelle, wo ihn sein Brustpanzer nicht schützt: an der Kehle.<br />

Ab dem 10. Jahrhundert häufen sich im Osten entsprechende Darstellungen.<br />

Merkurius begegnet in der religiösen Klein- wie auch Monumentalkunst der<br />

Griechen, Kopten und Nubier. Die Georgier machen hingegen ihren Nationalheiligen,<br />

den hl. Georg, zum Tyrannentöter. Anderenorts ist es ein Theodor.<br />

Solche wild wuchernden Übertragungen und Vermischungen sind der Preis für<br />

die große Popularität dieses Legendenstoffs. Jedesmal aber trifft der Heilige,<br />

stolz und wohlgerüstet auf einem prachtvollen Pferd paradierend oder galoppierend,<br />

eine zuweilen zwergenhaft kleine, hilflos zu Boden gegangene Gestalt<br />

und verwundet sie mit seiner Lanze tödlich im Gesicht oder im Bauch.<br />

132<br />

Zeitgeschichtliche Nachgedanken<br />

Was bringt das alles für eine moderne Stellungnahme zum Tyrannenmord?<br />

Nimmt man die für den Westen bis heute wirksame Schere scholastischer Systematisierung<br />

aus dem Kopf, so besteht der Erkenntnisgewinn zunächst darin, daß<br />

sich die frühe Kirche sehr wohl Gedanken über den Tyrannenmord gemacht hat,<br />

aber auf eine Weise, die bislang weitgehend übersehen wurde, nämlich in der<br />

hagiographischen Literatur und Kunst, die in den Ostkirchen noch heute mittels<br />

der Liturgie von eminenter volkspädagogischer Bedeutung sind. Die moraltheo-


logische Dimension der frühen Hagiographie und Homiletik ist allerdings nicht<br />

einmal ansatzweise erforscht, so daß der fatale Eindruck entstehen könnte, als<br />

existiere verbindliche Moral eher in lateinischen Handbüchern als in orthodoxer<br />

Glaubenspraxis. Aber die privat wie liturgisch verehrten Ikonen heiliger Tyrannenmörder<br />

bedeuten keineswegs Rückzug der Gläubigen in anbetende Passivität.<br />

Solche Ikonen sind jedenfalls mehr als bloße Bilder: Sie sind, wie es die Merkuriuslegende<br />

zuweilen ausdrücklich sagt, Träger von Gotteskraft, wirkmächtiges<br />

Medium göttlicher Präsenz und somit selber hochaktiv im tyrannenmordenden<br />

Geschehen.<br />

Muß man sich nun betroffen darüber zeigen, daß die antike Belobigung des Tyrannenmords<br />

im christlichen Kleid der Heiligenlegende reüssiert? So sagt Max<br />

Lossen in seiner Festrede über den „Tyrannenmord in der christlichen Zeit“, gehalten<br />

in der königlich-bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München<br />

am 28. März 1894: „Die Meinung, daß es einem Christen jemals erlaubt sein<br />

könne, eigenmächtig einen Fürsten umzubringen, der sich widerrechtlich der<br />

Herrschaft bemächtigt hat, oder auch einen solchen, der eine rechtmäßig erlangte<br />

Herrschaft maßlos mißbraucht, – mit anderen Worten: die Meinung, der Tyrannenmord<br />

sei vereinbar mit der christlichen Sittenlehre –, wird jedem, der heute<br />

unbefangen die Schriften des Neuen Testamentes liest, geradezu als absurd erscheinen“.<br />

8 Der Redner zeigt des weiteren auf, wie trotzdem im Hohen Mittelalter<br />

Zeiten anbrechen, in denen sich die Mehrheit der Theologen und Politiker<br />

für die Erlaubtheit des Tyrannenmords ausspricht, wie er dann aber letztendlich<br />

„als eine geistige und sittliche Verirrung erkannt und verurteilt“ wird. 9<br />

Spätestens hier wird man Einspruch anmelden. Befreit man sich aus der allzu<br />

deutlichen Umklammerung eines Obrigkeitsdenkens, welches für das 19. Jahrhundert<br />

so bestimmend war, 10 daß es sich wie Mehltau auf die Überlegungen der<br />

deutschen Widerstandsbewegung im „Dritten Reich“ gelegt hat, 11 wird man angesichts<br />

des Attentats auf Hitler in der „Wolfsschanze“ am 20. Juli 1944 zu einer<br />

treffenderen Beurteilung des Tyrannenmords gelangen. Sicher, man wird über<br />

die Wege einer biblischen Rechtfertigung streiten. Man wird auch Respekt jenen<br />

entgegenbringen, die sich vor klaren Äußerungen scheuen; denn wir wissen etwa<br />

um aufrechte Katholiken, die für ihre bloß privat geäußerte Meinung zum Tyrannenmord,<br />

von Roland Freisler ans Licht gezerrt, mit dem Leben bezahlt haben. 12<br />

Auf keinen Fall aber wird man den Attentätern des 20. Juli unterstellen können,<br />

sie hätten womöglich, um mit Lossen zu sprechen, in geistiger und sittlicher<br />

Verwirrung gehandelt; genau das Gegenteil ist der Fall. Von hier aus wird man<br />

dann auch mit anderen Augen auf die frühe, frühbyzantinische und frühmittelalterliche<br />

Kirche schauen. Jedenfalls ginge es völlig am historischen Sachverhalt<br />

vorbei zu meinen, das blutige und oft genug tragische Geschäft des Tyrannenmords,<br />

wie es die Antike kannte, sei kraft christlicher Moralveredelung sogleich<br />

aus der Welt geräumt worden, um erst im ‚finsteren‘ katholischen Mittelalter<br />

wieder hervorgeholt zu werden. Das Mittelalter hat vielmehr wie in so vielen<br />

Bereichen frühchristlich-frühbyzantinische Denkanstöße wiederentdeckt, aufgegriffen<br />

und für seine Zeit neuformuliert.<br />

133


Angestoßen durch den „Fall Petit“ hat das Konzil von Konstanz lehramtlich zum<br />

Tyrannenmord Stellung bezogen. Sein Dekret Quilibet tyrannus aus dem Jahre<br />

1415 verurteilt die Lehre einer uneingeschränkten Legitimität des Tyrannenmords,<br />

gleich also, unter welchen Umständen er sich gegen einen Usurpator oder<br />

Schreckensherrscher richtet: Als glaubens- und sittenwidrig habe mithin die Meinung<br />

zu gelten, es sei jedermanns Pflicht, jedweden Tyrannen auf jedwede Weise<br />

zu töten. 13 Eine Generalerlaubnis für Tyrannenmord wäre in der Tat verheerend<br />

und moralisch unakzeptabel. Ein Attentat trägt keineswegs in sich selber<br />

jede moralische Legitimation, mit anderen Worten: Der Attentäter setzt sich<br />

nicht automatisch schon ins Recht, nur weil er einen Machthaber, den man als<br />

Tyrannen betrachtet, auf beliebige Weise zu Tode bringt. 14 Vielmehr sind selbst<br />

unter den Umständen einer Tyrannis alle legalen Mittel und Wege zu klären und<br />

in Anspruch zu nehmen, bevor ein solcher Schritt als Akt öffentlicher Notwehr<br />

angezeigt sein kann. Konstanz vertritt mithin die allenfalls bedingte, nur in engsten<br />

Grenzen gegebene Erlaubtheit des Tyrannenmords, ohne freilich eine solche<br />

Option positiv zu formulieren.<br />

Trotz ihrer begrifflichen Einschachtelung hat sich Konstanz angesichts des unausdenkbaren<br />

Tiefpunkts deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert bewährt. Dem<br />

widerspricht nicht die Analyse, die J. Fest zum 20. Juli gibt. Demnach sei der<br />

Entschluß zum Attentat angesichts seiner politischen Nutzlosigkeit letztlich eine<br />

Entscheidung „um jeden Preis“ gewesen, in der es nicht mehr um irgendwelche<br />

Abwägungen oder praktischen Zwecke ging: „Der Sinn des 20. Juli lag einzig in<br />

der Tat selber, sie trug ihre Rechtfertigung in sich“, 15 oder in den Worten Hennings<br />

von Tresckow: „Coûte, que coûte.“ 16 Also doch absoluter Tyrannenmord?<br />

Keineswegs! Zum einen waren alle denkbaren unblutigen Möglichkeiten gegen<br />

Hitler bereits ausgereizt. Zum anderen wird sich der Blick weniger auf die Bedingungen<br />

und Umstände des Attentats richten müssen. Denn soviel man auch<br />

über die Lauterkeit und den im höchsten Maße reflektierten und moralisch gerechtfertigten<br />

„langen Weg zum 20. Juli“ sagen kann, so liegt wahrscheinlich in<br />

den skrupulös bedachten Umständen nicht einmal die letzte Rechtfertigung des<br />

Attentats. Vielmehr muß ein Widerspruch zwischen Konstanz und dem 20. Juli<br />

im Tiefsten scheitern am ersten Wort des Konstanzer Dekrets, nämlich an jenem<br />

Quilibet: Hitler ist gerade nicht jeder Tyrann, sondern der eine, unerhörte „Vollstrecker<br />

des Bösen“ (H.-B. v. Haeftens) 17 , den zu töten die Edlen unternahmen.<br />

Die Attentäter des 20. Juli hätten sich, wäre ihnen die frühkirchliche Literatur<br />

und Kunst bekannt gewesen, eher bestärkt denn entmutigt fühlen dürfen. Es gibt<br />

sogar einen Fall bemerkenswerter Aktualität des hl. Merkurius. Der wohl bedeutendste<br />

zeitgenössische Vertreter religiöser Kunst in Griechenland, Phótes<br />

Kóntoglou (1896-1965), 18 fertigte nämlich im Jahre 1944 ein Fresko des Tyrannenmörders<br />

19 . Es befindet sich in der Kirche Zoodóchos Pegé bei Athen, also bei<br />

jenem Ort, in dem das erste Tyrannenbild der europäischen Geschichte, die Figurengruppe<br />

des Harmodios und Aristogeiton, aufgestellt worden war. Die Ausmalung<br />

der Kirche des „Himmelsquells“ stand, wie man annehmen darf, unter dem<br />

lebhaften Eindruck des von Partisanengefechten begleiteten Rückzugs deutscher<br />

Besatzungstruppen aus Griechenland, der sich bis zum 2. November 1944 hin-<br />

134


zog. Damit erhält das Fresko mit Blick auf den Tyrannen Hitler einen zeitgeschichtlichen<br />

Bezug und bestätigt die in der Ostkirche lebendige Überzeugung<br />

von der Kraft der Bilder. Der heilige Soldat Merkurius wird nämlich in verhaltener<br />

Weise als Tyrannenmörder vorgestellt mit einem Pfeil in der Hand, der<br />

gleichsam vom Himmel herab gegen jemanden auf der Erde gerichtet zu sein<br />

scheint. Darin folgt der Künstler dem syrischen Julianroman, welcher weiß, daß<br />

Merkurius einen von drei Pfeilen nahm, um den Tyrannen zu töten. 20 Der Tyrann<br />

selbst ist, wie schon bei der antiken Figurengruppe, nicht in Szene gesetzt. Der<br />

orthodoxe Gläubige mußte die politische Brisanz des Freskos sofort erkennen,<br />

ein deutscher Besatzer hingegen, der sich in die Kirche verlaufen mochte, konnte<br />

davon nichts ahnen.<br />

Anmerkungen<br />

1) P. Steinbach/J. Tuchel (Hrsg.), Lexikon des Widerstandes 1933-1945 (München² 1998)<br />

51f.; L. Fritze, in: F.A.Z., 14.1.2000, S. 58; R. Herzinger, in: Der Tagesspiegel, 16. 1.<br />

2000, S. 27. Journalistisch und nicht immer kritisch genug H.G. Haasis, „Den Hitler jag’<br />

ich in die Luft“. Der Attentäter Georg Elser (Berlin 1999), zu einigen kirchlichen Reaktionen<br />

ebd. 60/3.<br />

2) Man unterscheidet zwischen dem usurpatorischen tyrannus quoad titulum bzw. ex<br />

defectu tituli (ohne Amtsbefugnis) und dem gewissenlosen tyrannus quoad executionem<br />

bzw. ex parte exercitii (ungesetzliche Regierungsweise).<br />

3) Zu den historischen Fällen von Tyrannenmord unter Absehung von theoretischer Reflexion<br />

siehe F.L. Ford, Political murder. From tyrannicide to terrorism (Cambridge, Mass./<br />

London, GB 1985).<br />

4) Vgl. den Klappentext der Fischer-Taschenbuchausgabe (1998 8 ): „Was hier makabre<br />

Groteske ist, wurde 40 Jahre später beim Untergang der Tyrannen des Nazistaates millionenfach<br />

vergrößerte Wirklichkeit. Heinrich Mann hatte eine Vorahnung von der äußersten<br />

Enthemmung tollwütig gemachter Kleinbürger“ (A. Kantorowicz).<br />

5) T. Orlandi (Hrsg.), I miracula s. Mercurii. Testo Latino inedito da un manoscritto della<br />

Vallicelliana: Istituto Lombardo Accademia di Scienze e Lettere, Rendiconti Classe di<br />

Lettere e Scienze Morali e Storiche 101 (Milano 1967); T. Orlandi (Hrsg.), Studi Copti.<br />

Un encomio di Marco Evangelista. Le fonti copte della Storia dei Patriarchi di Alessandria.<br />

La leggenda di s. Mercurio = Testi e Documenti per lo Studio dell’Antichità 22 =<br />

Studi Copti 4 (Milano 1968); T. Orlandi/di Giuseppe Camaioni (Hrsg.), Passione e miracoli<br />

di s. Mercurio = Testi e Documenti per lo Studio dell’Antichitá, Serie Copta 54 (Milano<br />

1976).<br />

6) G. A. Deutsch, Die Jesuiten und ihre schändliche Moral, ihre „geheimen Instruktionen“,<br />

ihre Unterdrückung durch den Papst selbst, ihre scheußlichen Grundsätze: „Tyrannenmord“,<br />

„der Zweck heiligt die Mittel“ u.s.f. wahrheitsgetreu beleuchtet (Würzburg/<br />

Wien 1891) 12/5; B. Duhr, Fesuiten-Fabeln. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte (Freiburg 4<br />

1904) 694/721. Den breiten außerjesuitischen Strom der Tyrannenmordlehre in der Geschichte<br />

siehe auch Dokument XVI. Die Lehre vom Tyrannenmord: Dokumente zur Geschichte,<br />

Beurtheilung und Vertheidigung der Gesellschaft Jesu. XIV-XVI. Dokument<br />

(Regensburg 1842).<br />

7)E. M. Szarota (Hrsg.), Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet 2,1. Tugend- und<br />

Sündensystem (München 1980) 828f (Ingolstadt 1608); 841 (Wien 1635); 867 (Dillingen<br />

1699); 873 (München 1708); K. Philip, Julianus Apostata in der deutschen Literatur =<br />

Stoff- und Motivgeschichte der Deutschen Literatur 3 (Berlin/Leipzig 1929) 41. Zuweilen<br />

135


wird auch Artemios als Julianmörder verhandelt. Zur Mercuriuslegende im vorjesuitischen<br />

Drama siehe H.-G. Nesselrath, Zur Wiederentdeckung von Julian Apostata in der<br />

Renaissance. Lorenzo de’ Medici und Ammianus Marcellinus: Antike und Abendland 38<br />

(1992) 133/44, hier 137.<br />

8) M. Lossen, Die Lehre vom Tyrannenmord in der christlichen Zeit = Schriften (Festreden)<br />

der bayerischen Akademie der Wissenschaften 1894 (München 1894) 5.<br />

9) Ebd.<br />

10) Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer (Röm 12-16) = Ev.-Kath. Kommentar zum<br />

Neuen Testament 6,3 (Neukirchen-Vluyn 1982) 60/3.<br />

11) Vgl. J. Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli (Berlin 1997) 8. 325. 334.<br />

12) Ehrendes Angedenken gebührt Ludwig Frhr. von Leonrod und Kaplan Hermann Joseph<br />

Wehrle; H. Moll (Hrsg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20.<br />

Jahrhunderts 1/2 (Paderborn u. a.² 2000). Siehe auch Kardinal Josef Frings, Für die Menschen<br />

bestellt. Erinnerungen (Köln 1973) 38.<br />

13) Denzinger Nr. 1235; W. Brandmüller, Das Konzil von Konstanz 1414-1418, 1 (Paderborn<br />

u. a. 1991) 371/87. Vgl. Lossen 19f. Hundert Jahre später bestätigt Papst Paul V. die<br />

Sentenz von Konstanz in seiner Konstitution Cura dominici gregis (Bullarum, diplomatum<br />

et privilegiorum sanctorum Romanorum pontificum Tauriensis editio² 12 (Augustae<br />

Taurinorum 1867) 296f).<br />

14) Die moralischen Einwände, die allerdings L. Fritze (Leserbrief F.A.Z. vom 14.1.200,<br />

S. 58) gegen G. Elsers Attentat vom 8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller<br />

erhebt und die auf heftigen Widerstand in der Presse gestoßen sind, müßte er konsequenterweise<br />

auch auf das Attentat vom 20. Juli 1944 in der „Wolfsschanze“ anwenden: Dort<br />

fanden acht Menschen (weitgehend Nazis) den Tod; also auch hier wurde der Tod mutmaßlich<br />

unschuldiger Menschen in Kauf genommen.<br />

15) Fest, Staatsstreich 343.<br />

16) Fest aaO. 240 zitiert die berühmte Äußerung Hennings von Tresckow im Sommer<br />

1944: „Das Attentat auf Hitler muß erfolgen, coûte que coûte ... Denn es kommt nicht<br />

mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung<br />

vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden<br />

Wurf gewagt hat.“<br />

17) Fest, Staatsstreich 328.<br />

18) Vgl. B. Moustakes, Art. Kontoglou Photes: Threskeutike kai Ethike Enkyklopaideia 7<br />

(1965) 790/8; M. Prokurat u.a., Historical dictionary of the Orthodox Church = Religions,<br />

Philosophies and Movements 9 (Lanham, Md./London 1996) 189.<br />

19) Abbildung nach Ph. Kontoglou, Ekphrasis tes orthodoxou eikonographias 2. Pinakes<br />

(Athen 1960) Abb. 194.<br />

20) H. Gollancz, Julian the Apostate (Oxford / London 1928) 154. 197; Th. Nöldeke,<br />

Ueber den syrischen Roman von Kaiser Julian: Zeitschrift der Dt. Morgenländ. Gesell. 28<br />

(1874) 263/92, hier 273. 286f. Vgl. P. Peeters, Un miracle des SS. Serge et Théodore et la<br />

vie de S. Basile dans Fauste de Byzance: An Boll 39 (1921) 79f.<br />

PD Dr. Stefan Heid ist a.o. Professor am Päpstlichen Institut für Christliche<br />

Archäologie in Rom und Privatdozent für Alte Kirchengeschichte, Patrologie<br />

und Christliche Archäologie an der kath.-theol. Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität<br />

in Bonn.<br />

136


Henry Krause<br />

Repräsentation bei Carl Schmitt<br />

Kein politischer Denker des 20. Jahrhunderts hat zugleich soviel Interesse und<br />

Ablehnung erfahren wie Carl Schmitt. Seit seinem Tod 1985 entfaltet sich um<br />

sein Werk ein umfassender Deutungsbetrieb. Eines seiner publizitätsträchtigen<br />

Unterfangen bestand darin, die Herkunft zentraler staatstheoretischer und staatsrechtlicher<br />

Begriffe aus der Theologie nachzuweisen. Dabei ging es ihm nicht<br />

um die theologische Fundierung oder „Sakralisierung“ 1 bestimmter Staatsformen,<br />

sondern um das Aufzeigen einer „Struktur-Identität“ der Begriffe theologischer<br />

und juristischer Argumentationen und Erkenntnisse. Er übernahm Begriffe<br />

und Ordnungsvorstellungen aus dem Christentum; woraus er – die Aufklärung<br />

und ihre Folgen ignorierend – seine politischen Theorien entwickelte. Schmitts<br />

Denken ist ebenso eklektisch wie originell. Deshalb ist es unmöglich, ihn einer<br />

Schule oder Denktradition zuzuordnen. Schon früh bestritten namhafte katholische<br />

Intellektuelle und Theologen Carl Schmitts Verwurzlung im katholischen<br />

Denken; vor allem sein juridisches Kirchenverständnis ist stets kritisiert worden. 2<br />

Neuere Interpretationen bezeichnen den Katholizismus als Schlüssel seines Werkes.<br />

In der Tat lassen sich zentrale Anliegen des zeitgenössischen katholischen<br />

Denkens, wie die Behauptung des Religiösen, der Metaphysik und hierarchischer<br />

Ordnungen gegenüber dem Phänomen der Säkularisierung 3 , auch bei Schmitt<br />

feststellen.<br />

Die Schriften des Juristen greifen häufig über rechtliche Fragen weit hinaus und<br />

sind im Zusammenhang mit der in den zwanziger Jahren stattfindenden Auseinandersetzung<br />

der deutschen Staatsrechtslehre mit dem Rechtspositivismus und<br />

seiner philosophischen Grundlage, dem Neukantianismus zu sehen. Staatsrechtler<br />

wie Erich Kaufmann, Hermann Heller, Gerhard Leibholz, Rudolf Smend und<br />

Carl Schmitt versuchten auf unterschiedliche Weise, der positivistischen Trennung<br />

des Rechts von der Soziologie, der Politik, der Metaphysik und der Ethik<br />

entgegenzutreten. In seiner Verfassungslehre verspottete Schmitt Hans Kelsens<br />

Positivismus: „Etwas gilt, wenn es gilt und weil es gilt.“ Die ideen- bzw. geistesgeschichtliche<br />

Methode bestimmte auch Schmitts Herangehen an den Begriff<br />

der Repräsentation. Durch Repräsentation soll nicht prozeßhaft und funktional<br />

irgendein Wille transformiert und aggregiert werden, sondern es soll dargestellt<br />

und im Sinne Smends auch integriert werden. Unschwer ist zu erkennen, daß die<br />

Wurzeln dieses Repräsentationsverständnisses in die „formvollendete autokratische<br />

Struktur der katholischen Kirche“ 4 reichen. Diesen Wurzeln soll mit dieser<br />

Untersuchung nachgegangen sowie Schmitts Begriff der Repräsentation und<br />

dessen Bedeutung innerhalb seines „Gesamtkonzeptes“ einer politischen Ordnung<br />

untersucht werden. Da Schmitt seine Ziele häufig im Unklaren ließ und sich<br />

stattdessen auf Andeutungen beschränkte, ist eine Untersuchung ebenso reizvoll<br />

wie schwierig.<br />

137


138<br />

Eine scholastische Erwägung<br />

Rüdiger Altmann bemerkte in einer Diskussion über den „Römischen Katholizismus<br />

und politische Form“, daß es die Kirche, die Carl Schmitt dort beschrieb,<br />

zu seiner Zeit schon gar nicht mehr gegeben habe und er das auch gewußt hätte.<br />

Bernhard Willms fügte hinzu, daß es in der Schrift keineswegs um eine Zustandsbeschreibung<br />

ginge, sondern daß Schmitt den Katholizismus in seiner<br />

historischen Prägung und Dimension auf den Begriff bringen wollte. 5<br />

In seinem frühen ekklesiologischen Aufsatz über „Die Sichtbarkeit der Kirche“<br />

unternahm er „Eine scholastische Erwägung“, wie es im Untertitel heißt. Darin<br />

kennzeichnete er die wahre Sichtbarkeit der Kirche als unsichtbar. Das Unsichtbare<br />

ist die Idee bzw. Gott. Sichtbar werde die Kirche deshalb, weil sie in Raum<br />

und Zeit die Aufgabe der Vermittlung zu erfüllen habe. Vermittlung sei das Wesen<br />

der Kirche, so Schmitt, wobei der Vermittler Christus selber sei, der sich<br />

seines Mittels, der Kirche, bediene.<br />

Durch das Agieren in der historischen Realität entstehe eine „im landläufigen<br />

Sinne ‚offizielle‘ Kirche“ 6 , die nicht unbedingt mit der sichtbaren Kirche übereinstimmen<br />

muß. Das heißt, daß zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit immer<br />

eine Kluft besteht, die – je nach historischer Situation – größer oder kleiner sein<br />

kann. Ursache ist die menschliche Unvollkommenheit, die Sünde, welche die<br />

konkret-faktische Realität in einen Gegensatz zur Idee, in einen Konflikt mit dem<br />

Göttlichen bringen kann. Auf diesem, unter den entsprechenden Umständen<br />

recht großen Gegensatz beruhe auch die religiöse Möglichkeit des Protestantismus,<br />

der jedoch den entscheidenden Fehler mache, nicht zwischen der göttlichsichtbaren<br />

und der menschlich-konkreten Kirche zu unterscheiden. Die Scheidung<br />

müsse zwischen dem Wesen einer Sache und ihren Akzidentien ausgeführt<br />

werden.<br />

Die Kritik des Protestantismus richte sich im Grunde gegen das Konkret-Akzidentielle,<br />

wurde aber fälschlich der göttlich-sichtbaren Kirche zugerechnet.<br />

Über die Wirklichkeit der Kirche in der historischen Realität hinaus nahm der<br />

Protestantismus auch Anstoß an dem Ideal. Deshalb ist für Schmitt die Spaltung<br />

der Kirche auch nicht gerechtfertigt. Gerechtfertigt ist dagegen „die Macht des<br />

Einzelnen“ und seine Kritik an der menschlich-konkreten Kirche. Sobald der<br />

vermittelte Kontakt mit Gott da ist, entwickele sich eine revolutionäre Kraft, die<br />

„sogar der unfehlbaren Instanz gegenüber Geltung behält“. Hier erwächst dann<br />

die Kraft und die Legitimität der Reform, der Rückgang zum unversehrten Ursprung,<br />

der die konkret-faktische der göttlich-sichtbaren Kirche immer von neuem<br />

näher bringen kann.<br />

Die substanzhafte Ordnung<br />

In der Schrift „Römischer Katholizismus und politische Form“ versuchte Carl<br />

Schmitt, die politische Idee des Katholizismus und deren „Geheimnis“ herauszustellen.<br />

Dort taucht der Schlüsselbegriff der Form schon im Titel auf. Nach Thomas<br />

von Aquin wird Wesen wahrhaft und eigentlich nur an Substanzen angetrof-


fen. Es gibt einfache und zusammengesetzte Substanzen. Erstere bestehen aus<br />

reiner Form und letztere aus Form und Stoff. 7 Das Wesen einer Sache begreift<br />

Stoff (materia) und Form (forma) in sich ein. „Durch die Form nämlich, welche<br />

die Verwirklichung des Stoffes ist, wird der Stoff zu einem wirklich Seienden<br />

und zu diesem bestimmten Etwas.“ 8 Der Stoff für sich allein kann also zu keinem<br />

bestimmten Seienden gestaltet sein, erst durch die Form entsteht ein Wirkliches.<br />

Das Wirkliche ist das Sein (esse) und eine Aktualisierung des Wesens (essentia).<br />

Der Stoff birgt in sich die Möglichkeit und die Form ist die Verwirklichung. Der<br />

Stoff kann demnach nicht ohne Form sein, aber es ist möglich, daß eine Form<br />

ohne Stoff ist. 9<br />

Die protestantische Möglichkeit der Verwechslung von wesentlich und akzidentiell<br />

führt dazu, daß die materia prima des Protestantismus einen fundamentalen<br />

Fehler in sich trägt, der die Frage nach ihrer verwirklichenden Form eigentlich<br />

überflüssig macht. Im Protestantismus wird die Form durch eine „unsichtbare<br />

Innerlichkeit“ ersetzt, die folgerichtig dann auch keine Substanz ausbilden kann.<br />

Formlosigkeit bedeutet nämlich, folgt man Thomas von Aquin, Substanzlosigkeit.<br />

In der Spätschrift „Politische Theologie II“ findet sich ein Hinweis, daß<br />

Schmitt die Begriffe Substanz, Form und Stoff nicht im selben Sinn und Zusammenhang<br />

versteht, wie der Aquinate. Schmitt schreibt dort: „Die Substanzen<br />

müssen erst eine Form gefunden, sie müssen sich irgendwie formiert haben, ehe<br />

sie überhaupt als streitfähige Subjekte (...) einander entgegentreten können.“ 10<br />

Für Schmitt muß demnach nicht die Materie formiert werden, um zur Substanz<br />

zu werden, sondern die Substanz muß formiert werden, damit sie zur Instanz,<br />

etwa einer Institution wird.<br />

Die politische Idee des Katholizismus habe die „Kraft zu der dreifach großen<br />

Form: zur ästhetischen Form des Künstlerischen, zur juridischen Rechtsform und<br />

endlich zu dem ruhmvollen Glanz einer weltgeschichtlichen Machtform“. 11 Diese<br />

Kraft des Katholizismus zur Form wird zur formierenden Kraft und es entsteht<br />

eine „unfaßbare politische Macht“; damit wird der Katholizismus politisch: „Von<br />

der politischen Idee des Katholizismus aus betrachtet, liegt das Wesen der römisch-katholischen<br />

complexio oppositiorum in einer spezifisch formalen Überlegenheit<br />

über die Materie des menschlichen Lebens, wie sie bisher kein Imperium<br />

gekannt hat. Hier ist eine substantielle Gestaltung der historischen und sozialen<br />

Wirklichkeit gelungen, die trotz ihres formalen Charakters in der konkreten<br />

Existenz bleibt, lebensvoll und doch im höchsten Maße rational ist.“ 12<br />

Hier ist nun der Stoff (materia) benannt: die im Naturzustand formlose Materie<br />

des menschlichen Lebens; in Raum und Zeit verdunkelt von der Sünde, bedroht<br />

von dem „gefährlichen“ und „riskanten“ Menschen 13 und damit bestimmt von<br />

der Möglichkeit des Feindes. Diese Möglichkeit ist das Politische. Der chaotische<br />

Naturzustand schreit geradezu nach der Form, aus der eine substanzhafte<br />

Ordnung 14 erwachsen kann. Eine Formierung der Materie bzw. der Substanz<br />

wird durch die „spezifisch formale Überlegenheit“ des Katholizismus ermö glicht,<br />

die vor allem aus der Fähigkeit zur juristischen Form erwächst. Die juristische<br />

Form der katholischen Kirche ist gepaart mit dem spezifischen römischen<br />

Rationalismus, der das Amt unabhängig vom Charisma macht und „alle fanati-<br />

139


sche Wildheit eines zügellosen Prophetentums (...) durch eine solche Formierung<br />

fern gehalten“ hat. 15<br />

Schmitt schreibt der Kirche, wie auch anderen Institutionen, eine eigene rechtliche<br />

Substanz zu. 16 Diese besteht aber nicht aus Regeln und Normen, sondern es<br />

geht eine konkrete Ordnung oder Entscheidung vorher. Nicht Regeln oder Normen<br />

schaffen Institutionen und Ordnungen, sondern die Regeln erwachsen aus<br />

der bereits vorhandenen Ordnung. Selbst „die unfehlbare Entscheidung des Papstes<br />

begründet nicht die Ordnung und Institution der Kirche, sondern setzt sie<br />

voraus“. 17 Die konkrete Ordnung der Kirche entspringt einer Entscheidung Go ttes<br />

und ist in ihrem Wesen mittels Regeln und Normen nicht änderbar. In seinem<br />

Aufsatz „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“ unterscheidet<br />

Schmitt zwischen dem Regeln- und Gesetzesdenken, dem Entscheidungsdenken<br />

und dem konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken. Das germanische<br />

Rechtsempfinden sowie das aristotelisch-thomistische Naturrecht des Mittelalters<br />

seien „durch und durch konkretes Ordnungsdenken“ gewesen. 18 Das normativistische<br />

Denken werde dagegen von Völkern vertreten, „die ohne Boden, ohne<br />

Staat, ohne Kirche, nur im ‚Gesetz‘ existieren“. Schmitt beschwört die Gefahr,<br />

daß Ordnungen, Gemeinschaften und Institutionen durch den Funktionalismus<br />

einer Regelhaftigkeit oder geltende Normen aufgelöst werden könnten. Normen<br />

sind jedoch nicht an sich schlecht. Sie sollten aber aus einer konkreten Ordnung<br />

oder einer Entscheidung erwachsen. Daran hält Schmitt fest, obwohl er weiß, daß<br />

„der Weg der alten Metaphysik, die die Wahrheit durch die Ordnung des Seins<br />

garantiert sah, (...) nicht mehr gangbar ist“. 19<br />

140<br />

Kirche und Staat<br />

Die katholische Kirche ist das Urbild eines Ideals, sie tritt selbst als der ideale<br />

Staat, die civitas dei auf. 20 Schmitt wollte der Kirche die Gestaltung der sozialen<br />

und historischen Materie dennoch nicht allein übertragen. Das wäre nur denkbar,<br />

wenn der Staat dem ökonomischen Denken verhaftet bliebe und keine Kraft zur<br />

Repräsentation fände, was die Kirche zur „einzigen Trägerin politischen Denkens<br />

und politischer Form“ 21 machen würde. Doch nicht die Kirche sondern der<br />

Staat setze das Recht durch und gewährleiste damit die sittliche Ordnung. Mit<br />

einem solchen Staat wolle die Kirche „in der besonderen Gemeinschaft leben, in<br />

der zwei Repräsentationen sich als Partner gegenüberstehen“. 22 Dabei spielt es<br />

für Schmitt keine Rolle, ob der Partner eine Monarchie oder eine Demokratie ist.<br />

Voraussetzung sei vielmehr eine politische Einheit, an „deren Präsenz oder Repräsentation<br />

(sich) orientiert werden muß“ 23 . Die Begründung einer konkreten und<br />

substanzhaften Ordnung, die legitime Entscheidungen trifft, diese Entscheidungen<br />

selber interpretiert und die Kontrolle des Vollzuges in der Hand behält 24 ,<br />

erscheint als das Hauptanliegen des Staatsrechtlers. Die entscheidenden Elemente<br />

liefert dabei stets der Katholizismus: „Der katholischen Argumentation liegt<br />

eine besondere, an der normativen Leitung des sozialen menschlichen Lebens<br />

interessierte, mit spezifisch juristischer Logik demonstrierende Denkweise zugrunde.“<br />

25


Am Schluß seines Werkes „Legalität und Legitimität“ spricht sich Schmitt für<br />

eine Fortentwicklung des zweiten Teils der Weimarer Reichsverfassung und<br />

„ihren Versuch einer substanzhaften Ordnung“ aus. In der wenige Tage vor dem<br />

erdrutschartigen Sieg der NSDAP bei den Reichstagswahlen am 31.7.1932 abgeschlossenen<br />

Schrift sagt er voraus, daß es im „andern Fall (...) mit der Fiktion<br />

eines gegen Wert und Wahrheit gerichteten Mehrheitsfunktionalismus bald zu<br />

Ende“ 26 gehen würde. Mit Wert und Wahrheit meinte er die Grundrechte, die<br />

dem Staat vorausgehen und übergeordnet sind, so daß sie durch keine Mehrheitsentscheidung<br />

beschnitten oder abgeschafft werden können, wie das in der<br />

Weimarer Reichsverfassung möglich war. Daß dies im Grundgesetz der Bundesrepublik<br />

Deutschland ausgeschlossen ist, geht auch auf Carl Schmitt und seine<br />

Schüler zurück.<br />

Im „Wert des Staates“, einem seiner frühesten Werke, räumte Schmitt dem Recht<br />

das Primat über den Staat ein. „Der Staat (ist) nicht Schöpfer des Rechts, sondern<br />

das Recht Schöpfer des Staates (...); das Recht geht dem Staate vorher.“ 27 Er<br />

vermittle zwischen Recht und Wirklichkeit durch seine Autorität, die er aus der<br />

Form, eben dem Recht erhält. Vermittlung sei das Wesen des Staates wie auch<br />

der Kirche. Daß er seine Autorität von der Macht erhält, sei ein typisches liberales<br />

Mißverständnis, das den „Staat nicht als Erscheinung des Rechtsgedankens,<br />

sondern als Machtkomplex“ auffasse. 28 Die Autorität des Staates liege nicht in<br />

der Macht, sondern im Recht, das er zur Ausführung bringe. Deshalb war Gustav<br />

Gundlachs Kritik an Schmitt, er sähe den Staat nur als Machtstaat, während in<br />

Wahrheit im Wesen des Staates Macht und Recht untrennbar zusammengehörten,<br />

an dieser Stelle überflüssig. 29<br />

Repräsentation als Sichtbarmachung<br />

Der antike und frühmittelalterliche Gebrauch von repraesentatio und repraesentare<br />

hat wenig mit der neuzeitlichen Bedeutung der Repräsentation zu tun. Das<br />

Wort repraesentare wird etwa bei Tertullian im Sinne von sich einfinden bei<br />

einer Versammlung gebraucht. 30 Diese Ve rsammlungen hatten aber weder eine<br />

politische Bedeutung noch waren sie im heutigen Verständnis repräsentativ.<br />

Auch die Bedeutung rechtlicher Stellvertretung für repraesentatio war der Antike<br />

fremd und ist auch für das Frühmittelalter nicht nachweisbar. 31 Erst durch die<br />

mittelalterlichen theologisch-philosophischen Auseinandersetzungen um die<br />

Realpräsenz Christi im Sakrament der Eucharistie bekam der Begriff der Repräsentation<br />

eine neue Bedeutung: Christi Gegenwart in der Eucharistie ist keine<br />

bloße Einbildung (imago in visione) oder Erinnerung sondern Wirklichkeit (veritas<br />

in repraesentatione), eine echte Verkörperung. „Dem liegt die philosophische<br />

Vorstellung zugrunde, daß jedes Ding dieser Welt ein inneres unsichtbares Wesen,<br />

eine Substanz, in sich trägt, durch die es ist, was es ist. Gestalt, Aussehen<br />

usw. dagegen sind Akzidentien, das heißt, sie kommen zum innersten Wesen nur<br />

unwesentlich hinzu.“ 32<br />

Die Lehre von der Realpräsenz kann als Grundlage sämtlicher symbolischer<br />

Repräsentationsvorstellungen benannt werden. Immer geht es um das präsent<br />

141


machen des eigentlich Unsichtbaren. Eine Annäherung an die Bedeutung der<br />

Repräsentation als Willensbeziehung gab es erst im 15. Jahrhundert durch Nikolaus<br />

von Cusanus (1401-1464). Er entwickelte das „Modell der wechselseitigen<br />

Repräsentation, wonach die Amtsträger für das zu leitende Volk Gottes Christus<br />

repräsentieren und gleichzeitig als Gewählte in der Synode die Glaubensüberzeugung<br />

ihres Kirchenvolkes vertreten“. 33 Hier ist der Ursprung des Verständnisses<br />

der Repräsentation als Willensbeziehung, das in der französischen Aufklärung<br />

(vor allem durch Sieyès) zur vollen Entfaltung kam. Es gibt keine originäre,<br />

eindeutige und bleibende Bedeutung der Repräsentation in der Geschichte. Der<br />

Begriff ist amorph und steht den verschiedensten Bedeutungsgehalten und Definitionen<br />

offen.<br />

In seiner Verfassungslehre definierte Carl Schmitt Repräsentation als Sichtbarmachung<br />

und Vergegenwärtigung eines unsichtbaren Seins durch ein öffentlich<br />

anwesendes Sein. „Das Unsichtbare (wird) als abwesend vorausgesetzt und doch<br />

gleichzeitig anwesend gemacht.“ Nur eine gesteigerte Art von Sein, welches<br />

einer Existenz fähig ist, kann repräsentiert werden. Repräsentiert wird nicht im<br />

Privaten, sondern im Öffentlichen und hat deshalb auch nichts mit Interessenvertretung<br />

zu tun. Nicht eine „irgendwie zusammenlebende Menschengruppe“ 34<br />

kann repräsentiert werden, sondern nur ein als politische Einheit zusammenlebendes<br />

Volk. Die originärste Ausprägung dieses Repräsentationsverständnisses<br />

ist für Schmitt die katholische Kirche, deren Sichtbarkeit auf etwas Unsichtbaren<br />

beruhe. Das unsichtbare Sein ist Gott, „dessen Wesen sein Sein selbst ist“. 35<br />

Dieses Sein, zugleich Ursprung alles Seienden, tritt mit den Menschen in Ve rbindung.<br />

Der Gedanke gewönne zunächst im Wort seine Sichtbarkeit, um<br />

schließlich in Christus Fleisch zu werden. 36 Mit Gedanke ist nicht irgendein<br />

beliebiger Gedanke gemeint, sondern der Logos, nämlich Gott selbst. Der Logos<br />

steht am Anfang und ist, wie Joseph Ratzinger in seinen Vorlesungen ausführte,<br />

„die ursprunggebende und umgreifende Macht allen Seins“ 37 Das Sein ist Produkt<br />

des Gedankens und ist selbst in seiner innersten Struktur Gedanke. „Die<br />

gedankliche Struktur, die das Sein hat und die wir nachdenken können, (ist)<br />

Ausdruck eines schöpferischen Vordenkens“. Der Logos ist aber nicht nur erkennbar<br />

und nachdenkbar, wie von den antiken Philosophen, sondern er teilt sich<br />

mit, er offenbart sich im Wort und wird schließlich selbst Mensch.<br />

Da eine ständige Identität, also Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch im<br />

Diesseits nicht möglich ist, entsteht eine vermittelnde Instanz, deren Aufgabe es<br />

ist, das unsichtbare Sein fortlaufend sichtbar zu machen, eben zu repräsentieren.<br />

Das ist für Schmitt die katholische Kirche, deren Vermittlung niemand ignorieren<br />

dürfe. Sie repräsentiere den „regierenden, herrschenden, siegenden Christus“ und<br />

verbinde „den konkreten Vorgang der Menschwerdung Christi mit der konkreten<br />

Gegenwart“. 38 Der Vermittler, der schließlich selbst wieder in das Unsichtbare<br />

entrückt werde, mü sse nun repräsentiert werden. 39 Es versteht sich von selbst,<br />

daß eine derartige Repräsentation – so wie die Vermittlung zwischen Gott und<br />

Mensch von oben nach unten erfolgt – „konsequent von oben“ 40 geschieht.<br />

Sichtbarmachung bedeutet auch: Übergang von Relationen in einen festeren<br />

Aggregatzustand. Der festere Aggregatzustand sind für Schmitt die Rechtsbezie-<br />

142


hungen. Das Religiöse finde seine Form im Kirchlichen wie die Liebe in der<br />

Ehe. 41 Durch eine Formierung solcher Relationen gewinnen sie an Dauer; sie<br />

werden zur Substanz und sind selber in der Lage, die soziale und historische<br />

Wirklichkeit zu gestalten. Diese besonders dem Katholizismus eigene Formalität<br />

beruhe auf der strengen Durchführung des Prinzips der Repräsentation.<br />

Verwirklichung der Idee<br />

Michele Nicoletti hat festgestellt, daß der Begriff der „Säkularisierung“ bei<br />

Schmitt nicht einen Prozeß bezeichnet, in dem der „Bezug temporaler Realitäten<br />

auf sakrale Werte verloren geht, sondern vielmehr die dauernde Dynamik der<br />

Spannung einer Idee, sich zu verwirklichen, sich sichtbar zu machen, Fleisch zu<br />

werden“. 42 Die Fleisch- bzw. Menschwerdung des Gedankens ist das Prinzip der<br />

Sichtbarwerdung einer Idee. Dabei muß sich die Idee, um eine Wirkung zu entfalten,<br />

den Gegebenheiten der empirischen Welt anpassen. Erscheine eine Idee,<br />

dann kann sie Angst hervorrufen, da sie zunächst die Sekurität des status quo<br />

bedrohe und den Zeitgenossen als kulturelles oder soziales Nichts erscheint,<br />

schreibt Carl Schmitt im „Begriff des Politischen“. Alle Revolutionen, Reformationen<br />

und deren neue Eliten kämen aus Askese und Armut und häufig stellten<br />

sie eine Rückkehr zu den Prinzipien der „unversehrten, nicht korrupten Natur“<br />

dar. Wenn sie dann den „Augenblick glanzvoller Repräsentation“ erreichten, sei<br />

„jener Zusammenhang mit dem geheimen, unscheinbaren Anfang gefährdet“ 43 .<br />

Ein Beispiel liefert das Renaissance-Papsttum: einerseits ein Höhepunkt an<br />

glanzvoller Repräsentation, andererseits Verweltlichung und Politisierung des<br />

Amtes, was eine enorme Einbuße an moralischer Integrität bedeutete und die<br />

Reformatoren auf den Plan rief.<br />

Im Vorgang der Repräsentation verwirklicht und aktualisiert sich die Idee, durch<br />

die Form entsteht ein Wirkliches. Den Zusammenhang zwischen Idee, Form und<br />

Verwirklichung zeigt Schmitt am Recht: „Die Rechtsform wird beherrscht von<br />

der Rechtsidee und der Notwendigkeit, einen Rechtsgedanken auf einen konkreten<br />

Tatbestand anzuwenden, das heißt von der Rechtsverwirklichung im weitesten<br />

Sinne. Weil die Rechtsidee sich nicht selbst verwirklichen kann, bedarf es<br />

zu jeder Umsetzung in die Wirklichkeit einer besonderen Gestaltung und Formung.“<br />

44<br />

Das ökonomisch-technische Denken dagegen richte sich gegen die Idee und<br />

damit jede Form von Repräsentation. Indem es sich gegen die Idee richte, wende<br />

es sich auch gegen das Politische, den zum Politischen gehöre die Idee. Kein<br />

politisches System könne mit bloßer Technik der Machtbehauptung auch nur<br />

eine Generation überdauern, führt Schmitt in „Römischer Katholizismus und<br />

politische Form“ aus: „Solange nämlich ein Rest von Idee besteht, herrscht auch<br />

die Vorstellung, daß vor der gegebenen Wirklichkeit des Materiellen etwas präexistent<br />

ist, transzendent, und das bedeutet immer Autorität von oben.“ 45<br />

Hier vollführt der Staatsrechtler eine scharfe Scheidung zwischen der „realen<br />

Sache“ des ökonomischen Prozesses und der Sphäre des Geistigen, der Idee, die<br />

immer auch im Transzendenten wurzelt. Das ökonomische Denken befindet sich<br />

143


für ihn nicht nur im Gegensatz zur Idee und zum Politischen, sondern auch zum<br />

Christentum. Niemals werde es ein Bündnis von Büro und Altar geben. Die<br />

Fähigkeit der Repräsentation, welche die eine Seite hat und auf die die andere<br />

verzichtet, sei der entscheidende Unterschied zwischen der politischen Idee des<br />

Katholizismus und dem ökonomischen Denken, das sich die „Elektrifizierung<br />

der Erde“ zum Ziel gesetzt habe und dem politische und juristische Form gleichermaßen<br />

fremd seien. Dem ökonomischen Denken sei Anonymität und Privatheit<br />

zu eigen, Repräsentation dagegen geschehe in der Sphäre der Öffentlichkeit<br />

und sei „vom Gedanken persönlicher Autorität beherrscht“. „Repräsentieren<br />

im eminenten Sinne kann nur eine Person und zwar – zum Unterschiede von der<br />

einfachen ,Stellvertretung’ – eine autoritäre Person oder eine Idee, die sich, sobald<br />

sie repräsentiert wird, ebenfalls personifiziert.“ 46<br />

Gegenstand einer Repräsentation sind demnach für Schmitt entweder eine autoritäre<br />

Person oder eine Idee, und beides kann wiederum nur durch eine Person<br />

repräsentiert werden, die dadurch wiederum zur Autorität wird. Eine autoritäre<br />

Person ist nicht mit einem Tyrannen gleichzusetzen, da Autorität erst dadurch<br />

entsteht, daß sie freiwillig anerkannt, geglaubt und akzeptiert wird. Das treffendere<br />

Attribut wäre hier autoritativ. Eine Autorität ohne Idee kann es nicht geben.<br />

Die Idee kann – auch wenn sie ihren Urgrund stets im Transzendenten hat –<br />

indem sie sich säkularisiert, auch im politisch-weltlichen Bereich ihre Verwirklichung<br />

finden. Wenn die Abgeordneten nicht ihre Wähler, sondern die Gesamtheit<br />

des Volkes vertreten, dann findet eine Personifizierung des Volkes statt,<br />

oder man bezeichnet das Ganze des Volkes als eine Idee. Beides könne repräsentiert<br />

werden, indem das Parlament nicht eine Ansammlung unterschiedlicher<br />

Interessen sei, sondern eine Einheit darstelle. Das „ist repräsentativ und nicht<br />

ökonomisch gedacht“, so Carl Schmitt. 47 Seine Parlamentarismuskritik setzt da<br />

an, wo das Parlament in Interessengruppen und Parteiungen zerfällt und damit<br />

seine Autorität verspielt. Die Idee der politischen Einheit kann für Schmitt auch<br />

ein Monarch oder ein Präsident sichtbar machen. Repräsentieren könnte ebenfalls<br />

die Institution eines internationalen Gerichtshofes, „der unabhängig, das<br />

heißt nicht an politische Instruktionen, sondern nur an Rechtsgrundsätze gebunden<br />

wäre“ und damit „der Idee der Gerechtigkeit unmittelbar näher“ stünde. 48<br />

Eben dadurch, daß er unabhängig von den Staaten agieren könnte, bekäme er<br />

Autorität, die auf der unmittelbaren Repräsentation der Gerechtigkeit beruhen<br />

würde.<br />

144<br />

Die Entscheidung<br />

Der Vorgang der Repräsentation lasse nicht nur eine Autorität entstehen, er bringe<br />

gleichzeitig das Bedürfnis nach einer konkreten Entscheidung hervor. 49 Die<br />

konkreteste Entscheidung fällt eine unfehlbare Instanz. Die Kirche biete auch<br />

hier „ein Beispiel in typischer Reinheit“. Ihre „unendliche Vieldeutigkeit verbindet<br />

sich wiederum mit dem präzisesten Dogmatismus und einem Willen zur<br />

Dezision, wie er in der Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit kulminiert“ 50 .<br />

Die Entscheidung ist ein weiterer Schlüsselbegriff bei Carl Schmitt. Eine Ent-


scheidung schafft Recht, auch wenn sie nicht der Regel oder einer Norm entspricht.<br />

Notwendig wird eine Entscheidung vor allem im Ausnahmezustand,<br />

denn Chaos und völlige Unordnung kann nicht durch eine Norm, sondern nur<br />

durch eine Entscheidung in Gesetz und Ordnung verwandelt werden. Dabei „ist<br />

nicht der Befehl als Befehl, sondern die Autorität oder Souveränität einer letzten<br />

Entscheidung, die mit dem Befehl gegeben wird, die Quelle allen ‚Rechts‘, das<br />

heißt, aller folgenden Normen und Ordnungen“ 51 . Entscheidungen sind vor allem<br />

in Umbruchsituationen wie Revolutionen notwendig, aus ihnen kann die Ordnung<br />

der neuen politischen Einheit erwachsen. Wer entscheidet, muß über genügend<br />

Autorität und Souveränität verfügen, denn laut Schmitt ist souverän, wer<br />

über den Ausnahmezustand verfüge. 52<br />

Theologisch gesehen ist der oberste Souverän und die oberste Autorität Gott.<br />

Befiehlt Gott etwas, weil es gut ist, oder ist etwas gut, weil Gott es befiehlt? fragt<br />

Schmitt. 53 Da alle Gebote, Ordnungen und Werte einer Religion auf eine Entscheidung<br />

Gottes rückführbar sind, seien auch alle Normen einer „Rechtsordnung“<br />

von einer souveränen Entscheidung als letzten Rechtsgrund ableitbar.<br />

Auch eine Verfassung sei eine Entscheidung, die zu jeder konkreten politischen<br />

Existenz gehöre, denn vor jeder Normierung liege eine grundlegende politische<br />

Entscheidung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt. 54 Die Frage nach der<br />

Legitimität einer Entscheidung wird dabei von Schmitt ausgeklammert: „Legitimität<br />

für sich allein begründet weder Autorität noch Potestas noch Repräsentation.<br />

In der Zeit ihrer intensivsten politischen Existenz nannte sich die Monarchie<br />

absolut; das bedeutet legibus solutus, also gerade den Verzicht auf Legitimität.“<br />

55<br />

Wer also unter welchen Umständen die „richtigen“ Entscheidungen fällen soll,<br />

läßt Schmitt offen, was in der politischen Praxis zu verheerenden Konsequenzen<br />

führen kann, wie auch 1933 seine Konversion zum Nationalsozialismus zeigt.<br />

Ebensowenig wie während eines Ausnahmezustandes Autorität und Macht in<br />

eins fallen müssen, wäre in einem solchen Fall gewährleistet, daß die Autorität<br />

statt der Macht die Entscheidungen fällt. Und wenn irgendein Mensch eine Entscheidung<br />

fällt und die Macht hat, sie durchzusetzen, dann ist es eben noch lange<br />

nicht gut, nur weil er es befiehlt. Schmitt ignoriert das Problem allerdings nicht<br />

vollständig: „Denn vor der Auflösung der antiken und christlichen Weltordnungsvorstellungen<br />

durch die neue Naturwissenschaftlichkeit fließen stets Ordnungsvorstellungen<br />

als Voraussetzungen der Entscheidung in den Gedankengang<br />

ein. Dadurch wird die reine Nichts-als -Entscheidung bereits wieder vom Ordnungsdenken<br />

her eingeschränkt und einbezogen; sie wird Ausfluß einer vorausgesetzten<br />

Ordnung.“ 56<br />

Daß die mittelalterliche Ordnung mit ihren Prämissen nicht mehr existiert, ist für<br />

ihn kein Grund, auf den Ordnungsgedanken völlig zu verzichten. Immer geht es<br />

ihm um die Begründung einer konkreten Ordnung, deren Grundlage das Christentum<br />

sein möge. Insofern meint er auch nicht irgendeine, sondern die „anspruchsvolle<br />

moralische Entscheidung“ 57 , denn „aus der Kraft eines integren<br />

Wissens entsteht die Ordnung der menschlichen Dinge. Ab integro nascitur ordo.”<br />

58<br />

145


146<br />

Der Ernst des Lebens<br />

Leo Strauss hat gezeigt, daß die Bejahung des Moralischen und des Politischen<br />

bei Schmitt in eins fällt. Die Verneinung dieser Kategorien würde auch den<br />

„Ernst des Lebens“ verneinen; es wäre eine „Welt der Unterhaltung, eine Welt<br />

des Amüsements, eine Welt ohne Ernst“ 59 . Der Ernst des Lebens und sein Sinn<br />

für das einzelne Individuum besteht für Schmitt in der Erfüllung einer Aufgabe,<br />

in der es aufgeht und eine „gerechtfertigte Würde“ erhält. 60 Nur in einer solchen<br />

Sphäre seien Entscheidung und Repräsentation möglich. Die Würde erhalte der<br />

Einzelne durch seine Aufgabe oder sein Amt, welches repräsentativer Natur sein<br />

kann. Auch der Papst „ist nichts für seine eigene Person, ist nur Instrument,<br />

Statthalter Christi auf Erden, servus servorum Dei“ 61 . Repräsentiert werden<br />

Ideen, die zu Antriebskräften der Politik werden können. Ihre Aggregierung polarisiert<br />

und kann zu Assoziation und Dissoziation führen. Sie verlangen Entscheidungen.<br />

Wer diesen ausweicht, als Volk oder als Einzelner, ist keines existentiellen<br />

Seins fähig. Ideen wurzeln stets im Transzendenten. Urbild einer<br />

Sichtbarmachung einer Idee ist die Institution der katholischen Kirche. Ihre Fähigkeit<br />

zur Repräsentation geht zurück auf ihren Stifter, seine fortwährende Vermittlung<br />

in der Geschichte und ihrer Fähigkeit zur Form und zur Formierung, mit<br />

der sie frei flottierende Religiösität zu einem weltgeschichtlichen Faktor umformt.<br />

Das zweite höchstformierte Stellengefüge des „occidentalen Rationalismus“<br />

ist der ebenfalls zur Repräsentation fähige, von Schmitt als christlich<br />

vorausgesetzte Staat. Schmitts Repräsentationsbegriff ist der wichtigste Baustein<br />

eines christlichen Staates. Gemeinsam geben Staat und Kirche der menschlichen<br />

Materie, dem Individuum, einer „gänzlich zufälligen Einheit, einem zusammengewehten<br />

Haufen von Atomen, dessen Gestalt, Individualität und Einzigkeit<br />

keine andere sind, wie die des Staubes, der vom Wirbelwind zu einer Säule gefügt<br />

wird“ 62 , eine Form und damit Sinn.<br />

Anmerkungen<br />

1) Lenk, Kurt: Parlamentarismuskritik im Zeichen politischer Theologie. Carl Schmitts<br />

„Sakralisierung“ der Demokratie zum totalen Staat. In: APuZ 51/96, S. 22.<br />

2) Lönne, Karl-Egon: Carl Schmitt und der Katholizismus der Weimarer Republik, S. 28f.<br />

In: Wacker, Bernd (Hrg.): Die eigentlich katholische Verschärfung ... Konfession, Theologie<br />

und Politik im Werk Carl Schmitts. München 1994.<br />

3) a.a.O., S. 12.<br />

4) Rüthers, Bernd: Carl Schmitt als politischer Denker. In: Die Neue Ordnung, Heft 6,<br />

Dezember 2000, S. 435.<br />

5) Quaritsch, Helmut (Hrg.): Complexio oppositorum. Über Carl Schmitt. Berlin 1988, S.<br />

171f.<br />

6) Schmitt, Carl: Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung. In: Summa<br />

1917. Heft 2, S. 71-80, S. 76.<br />

7) Thomas von Aquin: Über das Sein und das Wesen. Köln und Olten 1953 2 . S.18 „...<br />

inde est quod essentia vere et proprie est in substantiis“.


8) a.a.O.; S. 21 „Per formam enim, quae est actus materiae, materia efficitur ens actu et<br />

hoc aliquid.“<br />

9) a.a.O., S. 45 „Et ideo impossibile est esse materium sine aliqua forma. Tamen non est<br />

impossibile esse aliquam formam sine materia.“<br />

10) Schmitt, Carl: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen<br />

Theologie. Berlin 1990 3 , S. 106.<br />

11) Römischer Katholizismus und politische Form. Stuttgart 1984, S. 36.<br />

12) a.a.O., S. 14.<br />

13) Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Berlin 1991 3 , S. 59.<br />

14) Schmitt, Carl: Legalität und Legitimität. Berlin 1988 4 , S. 98.<br />

15) Röm. Kath., S. 24.<br />

16) Schmitt, Carl: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. In: Seminar:<br />

Die juristische Methode im Staatsrecht. Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung.<br />

Hrg.: Koch, Hans-Joachim. Frankfurt/M. 1977, S. 379.<br />

17) a.a.O., S. 380.<br />

18) a.a.O., S. 368.<br />

19) Nicoletti, Michele: Die Ursprünge von Carl Schmitts „Politischer Theologie“. In:<br />

Complexio oppositorum, S. 111.<br />

20) Schmitt, Carl: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. Hellerau 1917,<br />

S. 45.<br />

21) Röm. Kath., S. 42.<br />

22) a.a.O., S. 42.<br />

23) Politische Theologie II, S. 58.<br />

24) a.a.O., S.4 0.<br />

25) Röm. Kath., S. 21.<br />

26) Legalität und Legitimität, S. 98.<br />

27) Der Wert des Staates, S. 48.<br />

28) a.a.O., S. 99.<br />

29) Gundlach, Gustav: Grundsätzliches über Partei und Parteien. In: Stimmen der Zeit<br />

124, 1932, S. 145-153, zit. nach Lönne, S. 31f.<br />

30) Hofmann, Hasso: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der<br />

Antike bis ins 19.Jahrhundert. Berlin 1974, S. 48.<br />

31) a.a.O., S. 118.<br />

32) Beinert, Wolfgang Hrg.: Lexikon der Katholischen Dogmatik. Leipzig 1989, S.433.<br />

33) a.a.O., Begriff: Repräsentation, S.306. Dieses Element der Willensbeziehung existiert<br />

heute im Begriff des Glaubenssinns (sensus fidei), welcher der Gesamtheit des Volkes<br />

Gottes verliehen sei und gegenüber dem sich auch das Lehramt der Kirche nicht in Widerspruch<br />

begeben darf, den es aber interpretieren muß.<br />

34) Verfassungslehre, S. 210.<br />

35) Thomas von Aquin, S. 53.<br />

36) Die Sichtbarkeit der Kirche, S. 79.<br />

37) Ratzinger, Joseph: Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische<br />

Glaubensbekenntnis. München 1990 2 , S. 115.<br />

38) Sichtbarkeit der Kirche, S. 76.<br />

39) Max Weber nennt diesen Vorgang Veralltäglichung des Charismas. Die Autorität des<br />

Herrn geht auf einen Nachfolger über. Staatssoziologie. Berlin 1956, S. 107.<br />

40) Röm. Kath., S. 43.<br />

41) Sichtbarkeit der Kirche, S. 79.<br />

42) Nicoletti, S. 120.<br />

43) Schmitt, Carl: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen. In: Der Begriff<br />

des Politischen. S. 93.<br />

147


44) Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin<br />

1990 5 , S. 39.<br />

45) Röm. Kath., S. 45.<br />

46) a.a.O., S. 36.<br />

47) a.a.O., S. 44.<br />

48) a.a.O., S. 51.<br />

49) Wert des Staates, S. 81.<br />

50) Röm. Kath., S. 14.<br />

51) Über die drei Arten..., S. 379.<br />

52) Politische Theologie, S. 11.<br />

53) Über die drei Arten..., S. 379.<br />

54) Verfassungslehre, S. 23.<br />

55) a.a.O., S. 212.<br />

56) Über die drei Arten..., S. 379.<br />

57) Politische Theologie, S. 83.<br />

58) Schmitt, Carl: Das Zeitalter der Neutralisierungen, S. 95.<br />

59) Strauss, Leo: Anmerkungen zu Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. In: Meier,<br />

Heinrich: Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog<br />

unter Abwesenden. Stuttgart 1988, S. 119.<br />

60) Wert des Staates, S. 108.<br />

61) a.a.O., S. 95.<br />

62) a.a.O., S. 102.<br />

Henry Krause ist Referent der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung<br />

in Dresden.<br />

148


Bericht und Gespräch<br />

Bernd Kettern<br />

Organisierte Caritas am Scheideweg?<br />

Gegenwärtig versucht eine Fülle von Veröffentlichungen die verschiedenen Spannungsfelder<br />

zu ergründen, in denen die organisierte Caritas heute ihren Weg finden<br />

muß. Daß diese eher tastenden Versuche notwendig sind angesichts der aktuellen<br />

Herausforderungen dürfte kaum in Frage stehen; daß diese Bemühungen zu einer<br />

Annäherung der bislang eher unverbunden nebeneinander existierenden christlichen<br />

Sozialethik und der verbandlich organisierten Caritas führen, darf bereits<br />

heute als sehr sinnvoll und bedeutsam gewertet werden. So gehört der Münsteraner<br />

Sozialethiker Karl Gabriel zu jenen Vertretern der christlichen Sozialethik, denen<br />

es ein Anliegen ist, die Kluft zwischen Sozialethik und verbandlicher Caritas allmählich<br />

zu schließen. Zwei Studien hat er als Herausgeber bzw. Mitherausgeber<br />

betreut, die sich dem Thema in jüngster Zeit widmen. Das Reizvolle an diesen<br />

Bänden ist es, auf durchaus ähnlich gelagerte Schlußfolgerungen bei zum Teil sehr<br />

unterschiedlicher wissenschaftlicher Position der verschiedenen Autoren zu stoßen:<br />

Werner Krämer/Karl Gabriel/Norbert Zöller (Hg.), Neoliberalismus als Leitbild<br />

für kirchliche Innovationsprozesse? Arbeitgeberin Kirche unter Marktdruck,<br />

Studien zur christlichen Gesellschaftsethik Bd. 3, LIT, Münster 2000,<br />

232 S.<br />

Karl Gabriel (Hg.), Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände.<br />

Perspektiven im Spannungsfeld von Wertbindung, Ökonomie und Politik,<br />

Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft Bd. 25, Duncker<br />

& Humblot, Berlin 2001, 201 S.<br />

Innerhalb des Deutschen Caritasverbandes findet die These immer mehr Anhänger,<br />

daß die Konturen sozialpolitischen Handelns immer schwerer zu greifen sind.<br />

Vielleicht hängt dies nicht zuletzt an dem Umstand, daß eine tatsächliche Neubesinnung<br />

auf die Zielsetzung der Sozialpolitik nach wie vor aussteht. Einzig die<br />

Kritik an der desolaten Verfaßtheit des Sozialstaates scheint ein Kontinuum in den<br />

verschiedenen Positionen darzustellen. Analysiert man scheinbar pragmatische<br />

Spardiskussionen näher, so die zentrale These des ersten Sammelbandes, erweisen<br />

sie sich zunehmend stärker orientiert an den Grundsätzen neoliberaler Gesellschafts-<br />

und Wohlfahrtsreformen. Diese lauten: Der Sozialstaat ist unbezahlbar. Er<br />

verteilt zu großzügig Sozialleistungen. Er verschlingt zu viel für Sozialversicherungen,<br />

kassiert zu viel an Steuern. Er schädigt damit die unternehmerische Wert-<br />

149


schöpfung sowie die private zahlungsfähige Nachfrage. Die Therapie: Einzig durch<br />

die Verfolgung individueller bzw. einzelwirtschaftlicher Interessen sowie über<br />

deren Vermittlung durch anonyme Märkte ergebe sich ein gesellschaftliches Wohlstandsoptimum.<br />

Kirchliche sozial-caritative Arbeit habe sich deshalb den Notwendigkeiten<br />

der Ökonomisierung des Sozialen anzupassen. Konsequenterweise seien<br />

die Marktgesetzlichkeiten in kirchlichen Einrichtungen zu beachten, eine Flexibilisierung<br />

und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse das Gebot der Stunde.<br />

Der Rezensent verhehlt nicht, daß die Beachtung elementarer volks- und betriebswirtschaftlicher<br />

Erkenntnisse zum alltäglichen Rüstzeug der beruflichen Praxis gehört.<br />

Sie sind zur sachgerechten Problemanalyse und Lösungsfindung unverzichtbar.<br />

Die Gefahr besteht jedoch, daß Markt und Konkurrenz zum dominierenden<br />

Leitbild kirchlicher Reform- und Innovationsprozesse werden sollen, die der komplexen<br />

Wirklichkeit personennaher Dienste nicht gerecht werden. Darauf deutlich<br />

hinzuweisen gehört zu den Verdiensten von Gabriel und seinen Mitstreitern.<br />

Rudolf Hickel skizziert im ersten Sammelband die Grundposition des Neoliberalismus<br />

als das gegenwärtig übermächtig wirkende Paradigma in Wirtschaft, Politik<br />

und Gesellschaft. Deutlich unterscheidet er zwischen dem scheinbaren Vorbild<br />

Adam Smith und heutigen Ansätzen. Vollzog bei Smith 1776 das Marktmodell<br />

seine harmonisierende Gestaltungskraft in einem Klima der Sympathie und barg<br />

ausgesprochen emanzipatorische weil antifeudalistische Absichten in sich, so fehle<br />

solches heute völlig. Neoliberale Ansätze isolieren den „homo oeconomicus“ und<br />

lösen ihn aus seinen gesellschaftlichen Bezügen. Dabei handelt es „sich um die<br />

Fiktion eines letztlich hybriden und arroganten Individuums, das keines Schutzes<br />

durch politisch gesellschaftliche Vorgaben bedarf, weil es Probleme wie Arbeitslosigkeit,<br />

aber auch Einkommensschwäche aus eigener Kraft zu vermeiden bzw. zu<br />

überwinden weiß.“ (13 f.) Fehlentwicklungen werden ausschließlich durch das<br />

Instrument Markt gelöst. Gesellschaft und Politik werden aus ihrer Zuständigkeit<br />

für Korrekturen weitgehend entlassen. Der Neoliberalismus vertritt demzufolge<br />

konsequent ein Programm der Deregulierung, unterliegt jedoch nach Hickel dem<br />

Fehler einer vollständigen Überschätzung des Individuums bei der Lösung der bei<br />

diesem abgelagerten gesellschaftlichen Probleme.<br />

Hickel verkennt nicht die Reformbedürftigkeit des Sozialstaates, aber er benennt<br />

die gegenwärtigen „Bauarbeiten“ als radikalen Abbau und nicht als einen Umbau.<br />

Warum ist dieses neoliberale Paradigma für viele heute so attraktiv? Warum verlieren<br />

Werte wie gesellschaftliche Solidarität derart an Wertschätzung? Einerseits<br />

nutze der Neoliberalismus die berechtigte Sehnsucht des emanzipatorischen Liberalismus<br />

aus, die die individuelle Entscheidungssouveränität durch den Abbau von<br />

Abhängigkeit zur erlangen bzw. auszuweiten sucht. Andererseits täusche er über<br />

eher wachsende Abhängigkeiten hinweg. Diese vorhandenen Abhängigkeiten<br />

würden zum Spielball der Interessen. In verschiedenen Schritten versucht Hickel,<br />

das Versagen neoliberaler Modelle und Vorstellungen nachzuweisen, so etwa im<br />

Hinblick auf die Erklärung und Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit durch<br />

die Gegenstrategie einer Wiederbelebung von gesamtwirtschaftlichem Denken und<br />

Handeln – hier erweist sich Hickel als Vertreter des Keynesianismus. Es gelte, die<br />

durch Märkte erzeugten zyklischen Krisen im Rahmen einer politischen Regulie-<br />

150


ung antizyklisch zu korrigieren. Dabei würde prinzipiell nicht die Bedeutung und<br />

Funktion von Märkten verkannt, sondern erzeugte Fehlentwicklungen durch politische<br />

Gegenmaßnahmen therapiert und vermieden. Statt einer eisernen Finanzpolitik<br />

der Ausgabenkürzungen empfiehlt Hickel eine Agenda einer Beschäftigungspolitik<br />

für Arbeit und Umwelt. Ziel sei es, nachhaltige Entwicklung zu konzipieren,<br />

die dem Abbau von Arbeitslosigkeit, der Schaffung von sozialer Gerechtigkeit<br />

sowie einer höheren Beachtung der ökologischen Zusammenhänge im Wirtschaften<br />

diene. Die Herstellung sozialer und ökologischer Zukunftsfähigkeit sei das<br />

Leitbild, das es gegen eine Entfesselung der Marktkräfte zu entfalten gelte, wie es<br />

der Neoliberalismus favorisiere. Ob man Hickel in die Einzelheiten seines Reformpaketes<br />

folgen möchte, wäre eigens zu untersuchen. Der Intention des Bandes hätte<br />

es entsprochen, wenn der Autor zumindest angedeutet hätte, wo und wie Kirche in<br />

die Gefahr neoliberaler Deutungsmuster verfällt.<br />

Hier wird Friedhelm Hengsbach SJ deutlicher. Die Ökonomisierung des kirchlichen<br />

Dienstes, wie sie sich fast als zwangsläufige Folge der Abhängigkeit von<br />

neoliberalen Gedankengängen ergebe, führe letztlich dazu, daß sich Kirche in einer<br />

Staats- und Marktfalle wiederfinde. Hengsbach spricht von einer „mutwilligen und<br />

fahrlässigen Demontage des Sozialstaates“ (35). Die caritativen, pädagogischen<br />

und medizinischen Einrichtungen der Kirche geraten „auch als Agenturen des Sozialstaates“<br />

unter erheblichen Druck (36). Angesichts solcher Entwicklungen wird<br />

es für alle traditionellen Wohlfahrtsverbände, aber insbesondere für die kirchlichen,<br />

zu einer unaufgebbaren Notwendigkeit, ein klares und unterscheidbares Profil<br />

zu gewinnen. Kritisch muß sich Kirche deshalb auch mit den betriebswirtschaftlichen<br />

Steuerungsmodellen auseinandersetzen, die in der neuesten Entwicklung<br />

quasi als Allheilmittel vorgestellt werden. Im Zuge des neugefaßten § 93 BSHG<br />

wird sich die Finanzierung und Organisation von Diensten und Einrichtungen erheblich<br />

verändern. „Der Verwaltungsakt einer Gewährung von Zuwendungen ist<br />

abgelöst worden durch vertragliche Vereinbarungen, die den Austausch von Leistungen<br />

und Gegenleistungen präzise definieren. An die Stelle einer kostenbezogenen<br />

Zuwendungsfinanzierung sind differenzierte Vertragswerke getreten, die den<br />

Inhalt, den Umfang, die Qualität der Leistung sowie deren Vergütung einschließlich<br />

der Kontrolle ihrer Wirtschaftlichkeit und Qualität festlegen.“(40)<br />

Ein neues Management ist dienstleistungsorientiert, kundenfreundlich und qualitätsbewußt.<br />

Diese Entwicklung wird im Zuge der Schaffung einer wünschenswerten<br />

Transparenz sozialer Arbeit durchaus von vielen Vertretern des Caritasverbandes<br />

begrüßt. Sie warnen jedoch davor, daß die Vorstellung neuer Steuerungstechniken<br />

oft mit einer vagen und diffusen Begriffsverwendung einhergehe. Welche<br />

Bedeutung, welche Konturen erhält zum Beispiel in diesem Zusammenhang der<br />

Begriff der Qualität oder des Qualitätsmanagements? Wie wird die Qualität sozialer<br />

Arbeit hinreichend erfaßt? Die Inflation des Qualitätsbegriffes zeigt für viele<br />

Kritiker sehr deutlich auf, daß hinter den neuen Steuerungsmodellen konkrete<br />

Inhalte noch zu wenig faßbar sind. Oder wie verhält es sich mit der Einbeziehung<br />

der Mitarbeiterschaft in diese Veränderungsprozesse? Hengsbach verwendet in<br />

dieser Hinsicht viel Mühe darauf, die einheitliche Dienstgemeinschaft innerhalb<br />

des kirchlichen Dienstes zu erhalten, sein Beitrag liest sich in weiten Passagen als<br />

151


ein klares Plädoyer für den „Dritten Weg“. Er kritisiert in diesem Zusammenhang<br />

insbesondere Vorstellungen der sogenannten „großen Träger“, die einen Ausstieg<br />

aus den geltenden Arbeitsvertragsrichtlinien des Deutschen Caritasverbandes beabsichtigen,<br />

ohne jedoch konkret zu benennen, was ihnen als neue Inhalte von arbeitsvertraglichen<br />

Regelungen genau vorschwebt. Hengsbachs Ausführungen können<br />

als ein Plädoyer gegen die Schaffung eines Unternehmensverbandes gelesen<br />

werden, der an die Stelle des bisherigen freigemeinnützigen Caritasverbandes tritt.<br />

„Indem die großen überregionalen Träger sich am Markterfolg orientieren, sich im<br />

Wettbewerb mit anderen frei gemeinnützigen und den privat gewerblichen Anbietern<br />

behaupten, ihre Produktivität erhöhen, ihre Leistungen rationieren und die<br />

Arbeitsabläufe rationalisieren, vertiefen sie zum einen die Spaltung unter den Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern genau an der Nahtstelle zwischen dem privaten und<br />

öffentlichen Sektor, zwischen hoch qualifizierten und niedrig qualifizierten Mitarbeitern,<br />

die ausgelagert werden, und zwischen hauptamtlichen und ehrenamtlichen<br />

Mitarbeiterinnen. Zum anderen verdampft vor der ‚Diktatur des Rotstifts‘ sowie<br />

der Dominanz der Finanz- und Verwaltungsdirektoren die religiöse Dimension, die<br />

angeblich die Einheitlichkeit des kirchlichen Dienstes gewährleistet. Der Abstand<br />

zwischen dem kirchlichen Anspruch und der betriebswirtschaftlichen Kalkulation<br />

wird zunehmend größer, während man das religiös-soziale Engagement der Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter als Ressource höherer Effizienz und Rentabilität unerbittlich<br />

auszuschöpfen sucht.“(47)<br />

Hengsbach ist in dieser Einschätzung zuzustimmen, denn es liegt in der Automatik<br />

und Konsequenz einer Marktorientierung, daß dann bei der Neuorganisation kirchlicher<br />

Dienste nicht-marktfähige Bereiche zunehmend an Bedeutung verlieren<br />

müssen und in den Hintergrund treten. Die „großen Träger“ dürften mittlerweile<br />

das gefährliche Spaltungspotential ihrer „Caritas I“- und „Caritas II“-Modelle erkannt<br />

haben (vgl. die entsprechende innerverbandliche Diskussion in: neue caritas<br />

101/2000 bzw. 102/2001). Hengsbachs Vorschläge zur Überwindung dieser<br />

Staats- und Marktfalle gipfeln in einer Neubewertung des religiös-sozialen Engagements<br />

im Rahmen der christlichen Caritas, in einer Ethik der Beteiligung des<br />

Interessensausgleichs sowie in einer Ethik der Wertschöpfung personennaher<br />

Dienste. Insbesondere der letzte Begriff scheint dem Rezensenten geeignet, die<br />

Diskussion über die Neuorientierung der organisierten christlichen Caritas voranzubringen.<br />

Gilt es doch, auf diese Weise nicht nur sprachlich und begrifflich eine<br />

Abgrenzung zu finden, die die Anderswertigkeit des sozialen Beratungs- und Hilfegeschehens<br />

prägnant benennt. Selbstverständlich muß der Deutsche Caritasverband<br />

auch unternehmerische Aspekte beachten, da er sich in der professionellen<br />

Führung der Dienste und Einrichtungen marktwirtschaftlichen Grundgegebenheiten<br />

nicht entziehen kann. Dennoch bedeutet dies nicht, daß er zugunsten einer<br />

zunehmenden Marktorientierung seine Identität als eine der christlichen Nächstenliebe<br />

verpflichtete Institution preisgeben darf (vgl. auch den Beitrag von Wolfgang<br />

Klein, Marktorientierte Sozialarbeit?).<br />

Karl Gabriel verweist in seinem Beitrag „Optionen verbandlicher Caritas im Streit<br />

um die Zukunft sozialer Dienste“ darauf, daß die Caritas und ihre Einrichtungen im<br />

System sozialer Dienste eine wichtige Zwischenstellung einnehmen. Weder der<br />

152


Sphäre des öffentlich-staatlichen Handelns zugehörig noch den Prinzipien eines<br />

gewinnorientierten Marktanbieters unterworfen, habe sie weitere Zwischenstellungen<br />

zu beachten. Sie überschreitet den Bereich des Helfens von Mensch zu<br />

Mensch in Familie und informellen Gruppenbezügen, hat jedoch andererseits ihre<br />

Wurzeln und ihre Grundlagen in der Nächstenliebe und in der christlich motivierten<br />

unmittelbaren Hilfe von Einzelnen und Gruppen bzw. Pfarrgemeinden. Als<br />

breit gefächerter Dienstleister reicht sie durchaus jedoch wiederum in die Sphären<br />

von Staat und Markt hinein. Ihr spezifisches Profil gewinnt sie dadurch, daß sie die<br />

Prinzipien des solidarischen Helfens in das System sozialer Dienstleistung einbringt.<br />

Die verbandliche Caritas ist gekennzeichnet durch horizontale und vertikale<br />

Vermittlungsleistungen. Als Akteur des dritten Sektors ist sie zu einer wichtigen<br />

intermediären Institution geworden mit einer komplexen internen Struktur sowie<br />

schwierigen externen Vermittlungsleistungen. Alle diese Vermittlungsleistungen<br />

sind in sich durchaus konfliktreich. Dies betrifft auch die gewachsene Spannungslinie<br />

zwischen Kirche und Gesellschaft. Gegenwärtig bemüht sich Caritas, die<br />

Grenzen und Folgeprobleme des Marktes zu benennen: Dort, wo es um Dienste<br />

und Aufgaben geht, die sich einer glatten, verrechenbaren Lösung entziehen, wo<br />

sich die Einrichtungen die kaufkräftigen und risikoarmen Kunden herauspicken,<br />

wo der Markt gerade zum Ausschluß jener Gruppe führt, die soziale Dienstleistung<br />

besonders dringend benötigt, sie aber nicht adäquat entlohnen kann, wo der Markt<br />

die Fiktion hervorbringt und stützt, die Risiken moderner Lebensexistenz ließen<br />

sich von Einzelnen und ohne solidarisches Füreinander-Einstehen bewältigen. Hier<br />

zeigt sich für Gabriel die sozialethische Leitorientierung kirchlich-sozialer Dienste:<br />

die Option für die universelle Anerkennung der Würde des Menschen, die Option<br />

für Freiheit und Befreiung, die Option für eine größere Gerechtigkeit sowie<br />

die Option für die Armen und Verletzlichen. Weiterhin entwickelt Gabriel Optionen<br />

verbandlicher Caritas im Kontext von Anwaltschaft und Dienstleistungen: die<br />

Option für die Erhaltung und Förderung der Sozialkultur in der deutschen Gesellschaft,<br />

die Option für den Vorrang von Person und Interaktion, die Option für eine<br />

anwaltliche Politik und für die Einheit von Anwaltschaft und Dienstleistung, die<br />

Option für eine vorrangige Stärkung der Handlungspotenziale der Betroffenen,<br />

ihrer Zusammenschlüsse untereinander und mit den informellen Helfern, die Option<br />

für die Vermittlung zwischen lebensweltlicher informeller Hilfe und dem formellen<br />

Hilfesystem, die Option für die subsidiäre Förderung und Entwicklung<br />

gemeindlicher Caritas, die Option für eine Kultur des Unverfügbaren. Insgesamt<br />

gelingt dem Autor eine beeindruckende Darstellung der Spannungsfelder sozialcaritativen<br />

Handelns und Herausforderungen, wie sie sich dem Caritasverband<br />

stellen.<br />

Der Band wird abgerundet durch Beiträge von Rainer Müller und Bernhard Braun<br />

zu den Widersprüchen zwischen gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnissen und<br />

politischer Spardiskussion. Mit Nachdruck wird eine Neuorientierung der gesundheitspolitischen<br />

Zielsetzungen eingefordert. Neuorientierung lautet auch der Bezugspunkt<br />

des Beitrages des Direktors des Diözesan-Caritasverbandes Limburg,<br />

Hejo Manderscheid. Ihm geht es um die fällige Modernisierung kirchlicher Caritas<br />

mittels einer Beschreibung der Schwachstellen kirchlicher Sozialarbeit. Diese<br />

153


treten auf, wenn notwendige Veränderungsprozesse nur zögerlich angegangen<br />

werden. Im Kern beschreibt er die Problemlage als ein Kreisen um Symptomlösungen,<br />

weil die Kraft fehle, entsprechende zukunftsweisende konzeptionelle Neubesinnungen<br />

anzustellen. Die Folge solch symptomatischer Lösungsansätze ist ihre<br />

lediglich kurzfristige Tragfähigkeit sowie ihre Unterworfenheit unter das Diktat<br />

von Sachzwängen. In diesem Zusammenhang werden Defizite der Diskussion über<br />

die Rolle der Sozialarbeit aus den 70er Jahren aufgegriffen, die eben nicht zu einer<br />

konsequenten Weiterentwicklung geführt hat: die Betonung individueller Zuschreibung<br />

von Armut anstatt strukturelle Ursachen von Armut in den Blick zu nehmen;<br />

die Konfrontation von Expertentum einerseits, Selbsthilfe, Ehrenamt und bürgerschaftlichem<br />

Engagement andererseits; das Verharren in Konkurrenzbeziehungen<br />

der Verbände, anstatt auf Kooperation zu setzen; vor allem aber das Ausblenden<br />

des Wahlrechts und der Perspektive der Hilfeberechtigten; schließlich die Konfrontation<br />

zwischen Fachlichkeit in der sozialen Arbeit und Kirchlichkeit einer caritativen<br />

Einrichtung auf der anderen Seite. All dies sind Modernisierungshemmnisse<br />

kirchlicher Caritas. Manderscheid plädiert für eine Entmystifizierung des Neuorientierungsprozesses.<br />

Mit Nachdruck wehrt er sich gegen Märtyrerhaltungen, wie<br />

sie bisweilen bei kirchlich Verantwortlichen über die widrigen Zeitumstände anzutreffen<br />

sind. Der Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung ist aktiv mitzugestalten<br />

und zwar, wie Manderscheid mit Bezug auf Ulrich Beck formuliert, in einer entzauberten<br />

Atmosphäre. Es gilt, die tatsächlich vorhandenen Probleme anzusprechen.<br />

Wirtschaftlichkeit, neue Steuerung, Budgetierung, Wettbewerb markieren<br />

nur die Spitze eines Problemeisberges, in dessen Bauch sich erhebliche, nicht angesprochene<br />

Problempotenziale finden. So zum Beispiel die existenziellen Identitätsängste<br />

im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Wandels: „Diese Angst und<br />

Bedrohungsgefühle unterdrücken wir und klagen umso mehr über die Ökonomisierung.“<br />

(177) Interessant sind die von Manderscheid gebotenen praktischen Hinweise<br />

auf konkrete neue Perspektiven. Anstelle des Rufes nach weiteren Pflegeheimen<br />

sei der mühsamere Weg der Gewinnung von Ve rtrauenspersonen und des<br />

Aufbaus von Beziehungsnetzwerken zu beschreiten, die Unterstützung von Wohnungslosen<br />

durch Kirchengemeinden zu aktivieren, die Neustrukturierung sozialpädagogischer<br />

Familienhilfe als Integration in soziale Netzwerke zu organisieren,<br />

die Vereinspartnerschaft mit gewaltbereiten Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten<br />

zu initiieren, die Stiftung von Solidarität statt Organisation von Fürsorge zu<br />

leisten. All dies mündet für ihn in ein Umbauprogramm für den Sozialstaat, das<br />

tatsächlich den Modernisierungserfordernissen angemessen ist.<br />

Gegenüber den bisherigen Ausführungen fällt auf, daß der Beitrag von Georg<br />

Rüter, aus der Sicht der kirchlichen „Unternehmensleitungen“ solche Anpassungsprozesse<br />

zu analysieren, weniger systematisch angelegt ist, die Lektüre enttäuscht,<br />

da man sich Konkreteres gewünscht hätte. Es scheint so, als hinke die Praxis hinter<br />

der Theorie her bzw. als passe sich die Praxis eher fraglos den neoliberalen Erfordernissen<br />

an, anstatt die Kraftanstrengung zur Neuorientierung aufzubringen. In<br />

einem Buch, das um den Begriff des Marktes immer wieder kreist, darf die Perspektive<br />

des Kunden nicht fehlen. In dieser Hinsicht kann der Aufsatz des Mediziners<br />

und Journalisten Till Bastian sehr empfohlen werden, der über das Verhältnis<br />

154


von Neoliberalismus und Gesundheitswesen sowie die sich daraus ergebenden<br />

Veränderungen aus Sicht des Kunden reflektiert. Er beschreibt das Dilemma des<br />

Kunden, insbesondere innerhalb des Medizinsystems der letzten Jahrzehnte. Der<br />

Kunde wird im Grunde angesichts des immer unübersichtlicheren Dschungels<br />

sowie der unübersehbaren Zahl derjenigen, die sich als Führer und Pfadfinder<br />

anbieten, immer unsicherer, was er denn tatsächlich als seine eigenen Bedürfnisse<br />

erkennen soll/muß. Für Bastian wird die Fiktion des Kunden zum ironischen Bild<br />

des armen Narren, der der eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht im Grunde nicht<br />

mehr Herr werden kann. Er sieht sich einem zunehmenden Handlungs- und Entscheidungsdruck<br />

ausgesetzt, der die Möglichkeiten des Individuums überfordert.<br />

Der zweite Sammelband ist von der Thematik umfassender angelegt. Er enthält<br />

Studien zur Genese der „Sozialkirche“ in Katholizismus (Michael N. Ebertz) und<br />

Protestantismus (Jochen-Christoph Kaiser), plädiert für partizipative Organisationsformen<br />

innerhalb der sozialreligiösen Strukturen (Friedrich Fürstenberg), Gabriel<br />

selbst bereichert die Diskussion um die anwaltschaftliche Funktion des Caritasverbandes<br />

durch eine Untersuchung kirchlicher Wohlfahrtsverbände als Bewegungsorganisationen.<br />

Konrad Hilpert formuliert Aspekte des neuen Rollenverständnisses<br />

der Caritas – in unserem Zusammenhang ist sein Hinweis von besonderer<br />

Bedeutung, daß die Optimierung der Kosten im Sozialleistungssektor mittels<br />

Einführung marktwirtschaftlicher Komponenten unumgänglich sei und auch nicht<br />

als unangemessen für gemeinwohlorientierte Institutionen tabuisiert werden dürfe.<br />

„Aber darüber darf unter keinen Umständen das Wohl der Hilfsbedürftigen ins<br />

Hintertreffen geraten; Minimalisierung der Kosten und erst recht Profitorientierung<br />

dürfen nicht die obersten Ziele sein, wenn dabei die Humanität der Hilfe in Gestalt<br />

der Erhaltung eines Höchstmaßes an Autonomie, von menschlicher Zuwendung,<br />

Raum für Anteilnahme und seelischen Beistand ‚geopfert‘ werden müssen. Solche<br />

Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, gibt es aber auch in dem, was<br />

Mitarbeitern abverlangt oder an Arbeitsbedingungen zugemutet werden kann.<br />

Nach beiden Richtungen hin verlangt das Personalitätsprinzip der katholischen<br />

Soziallehre der Ökonomisierung Schranken zu setzen bzw. drängt darauf, beim Bemühen<br />

um Minimalisierung der Kosten durch institutionelle Vo rkehrungen auch<br />

die Lebensqualität der Hilfesuchenden und der Helfenden zu berücksichtigen.<br />

Auch ein funktionierender Markt, wenn er denn im Bereich sozialer Dienstleistungen<br />

überhaupt je konsequent stattfinden würde bzw. dürfte, legt sich solche Zügel<br />

nicht von selbst an.“ (87)<br />

Anhand des Krankenhauses in kirchlicher Trägerschaft hinterfragt Volkhard Krech<br />

die religiöse Programmatik solcher Einrichtungen und zeigt auf, daß der Weg zu<br />

einer neuen Identitätsgewinnung bzw. -vergewisserung erst anfanghaft beschritten<br />

worden ist – trotz der vielfältigen Leitbildprozesse. Es steht aus Sicht der betroffenen<br />

Einrichtungen zudem zu befürchten, daß die umfassende Neuregelung der<br />

Krankenhausfinanzierung in den kommenden Jahren dieses Thema erneut wieder<br />

in den Hintergrund treten läßt. Krech konnte diesen Prozeß bei der Verfassung<br />

seines Beitrages, der wie die anderen auf 1998 gehaltene Vorträge in der Sektion<br />

für Soziologie der Görres-Gesellschaft zurückgeht, noch nicht erkennen. Nach<br />

Auffassung des Rezensenten muß es im Zuge dieser überaus komplexen Verhand-<br />

155


lungen gelingen, neben dem dominierenden Kostenaspekt und der Fixierung standardisierter<br />

Verfahren auch spezifische Trägerinteressen im Sinne der Eigenprofilierung<br />

anzusprechen. Dieter Grunow stellt deshalb die Frage nach der sinnvollen<br />

Selbstbeschränkung des kirchlich-sozialen Engagements. Joachim Wiemeyer ergänzt<br />

dies durch eine kritische Analyse des ökonomischen Verhaltens kirchlicher<br />

Wohlfahrtsverbände. Auch wenn für viele Einrichtungen die beschriebenen Managementdefizite<br />

in den letzten Jahren kräftig abgebaut wurden, sind die Beispiele<br />

ökonomischen Fehlverhaltens, wie sie in den Medien immer wieder präsentiert<br />

werden, nach wie vor erschreckend. Wiemeyer vertritt dennoch die Auffassung,<br />

daß kirchliche Wohlfahrtsverbände aus ökonomischer Sicht nach wie vor ein sinnvolles<br />

institutionelles Arrangement darstellen, mit dessen Hilfe die Erstellung<br />

bestimmter Leistungen besser erfolgen kann (vgl. 137-141). Die von ihm formulierten<br />

16 Thesen zur Präzisierung ökonomischer Perspektiven (gegliedert in die<br />

Bestimmung der exakten Marktsituation, der Aufgabenzuweisung der Verbände,<br />

der Unternehmensphilosophie sozialer Einrichtungen) seien allen Verantwortlichen<br />

in den Verbänden empfohlen. Sie vermeiden sowohl die vollständige Angleichung<br />

an die Privatwirtschaft als auch den tabuisierenden Rückzug auf vermeintliche<br />

„christliche Wertvorstellungen“. Mit 2 Thess 5,21 heißt es: „Prüfet alles, und das<br />

Gute behaltet“. Eine Ergänzung hätte sich der Rezensent gewünscht, da in der<br />

gängigen Aufzählung (Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Kindergärten,<br />

Sozialstationen) auch bei Wiemeyer die vielfältigen Beratungsdienste der verbandlichen<br />

Caritas/Diakonie nicht explizit mitaufgeführt werden – für diese Dienste<br />

stellt sich das Thema „Ökonomisierung“ mit ganz spezifischen Problemen in eigener<br />

Weise.<br />

In den Ausführungen von Manfred Hermanns sei besonders auf die Abschnitte<br />

verwiesen, in denen er organisationsanalytisch auf die Leitbilddiskussion des Caritasverbandes<br />

mit ihren Auswirkungen auf eine Mitarbeiterschaft zwischen Wirtschaftlichkeit<br />

und Wertevergewisserung eingeht. Im übrigen unterstreicht auch<br />

dieser Autor ebenso wie Wiemeyer die Notwendigkeit einer Rückbindung der verbandlichen<br />

Caritas an die pfarrliche Carritas, ein in der Praxis oftmals sehr schwieriges<br />

Unterfangen, da auch pfarrgemeindliche Strukturen derzeit in einem sehr<br />

problematischen Umwandlungsprozess begriffen sind. Zum Gelingen dieses Vo rhabens<br />

gibt es jedoch keine Alternative, verlöre ansonsten die verbandliche Caritas<br />

ihre kirchliche wie gesellschaftliche Legitimität. Abschließend widmet sich Josef<br />

Schmid den Herausforderungen, wie sie die europäische Integration an die zukünftige<br />

Rolle der kirchlichen Wohlfahrtspflege stellt. Ein bloßes Beharren auf hergebrachten<br />

Rechtspositionen wird keine Lösung darstellen, eher wird vermu tlich ein<br />

allmählicher Abbau von Sonderregelungen und neokorporatistischen Regulierungsmechanismen<br />

eintreten. Dennoch dürften, vorausgesetzt der Prozeß einer<br />

transparenteren Profilierung gelingt, beachtliche Gestaltungs- und Einwirkungsmöglichkeiten<br />

den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden auch für die Zukunft mö glich<br />

sein.<br />

Dr. Bernd Kettern ist Direktor des Caritasverbandes für die Region Trier e.V.<br />

und Mitglied der Redaktion „Die Neue Ordnung“.<br />

156


Christoph Böhr<br />

Ökonomische Ethik - Ethik der Ökonomie<br />

Ethik hat derweil Konjunktur. Spätestens die neu entbrannte Diskussion über<br />

Gentechnik und Lebensschutz hat nicht nur die Unverzichtbarkeit ethischer Orientierung<br />

einer breiten Öffentlichkeit wieder bewußtgemacht, sondern auch -<br />

wenig überraschend - manche absonderliche Antwort laut werden lassen: Allüberall<br />

genießen Ethikkommissionen auf einmal hohes Ansehen, und wo sie<br />

nicht aus ihrem bisherigen Schattendasein herausgetreten sind, sprießen sie, neu<br />

berufen, wie Pilze nach einem warmen Sommerregen aus dem Boden. Der Bundeskanzler<br />

persönlich, bisher kaum hervorgetreten als kenntnisreicher Förderer<br />

einer ethischen Standortbestimmung, verleiht dem Unterfangen eine staatstragende<br />

Bedeutung, indem er einen Ethikrat beruft - einen nationalen Ethikrat<br />

selbstredend - in der Hoffnung, es mit dem kanonischen Recht zu halten und die<br />

Sache ein für allemal zu Ende bringen zu können, ganz nach dem Grundsatz:<br />

cancellarius locutus, causa finita.<br />

Nun liegt es in der Natur der Sache, daß der ethische Diskurs nie ein für allemal<br />

abgeschlossen werden kann, jedenfalls so lange nicht, wie die menschliche Ve rnunft<br />

sich der Spannung zwischen Sein und Sollen bewußt bleibt. Da ist es wohltuend,<br />

weit abgelegen von aller modischen Aufgeregtheit und jenseits politisierter<br />

Kommissionen auf einen Diskussionsbeitrag zu stoßen, der Grundfragen der<br />

Ethik nicht nur sachkundig aufgreift, sondern zudem auch auf eine gewinnbringende<br />

Weise beleuchtet und zu einer weiterführenden Einsicht findet. Andreas<br />

Suchanek, ein junger Wissenschaftler aus der Schule Karl Homanns und selbst<br />

Dozent für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Katholischen Universität<br />

Eichstätt, hat jetzt eine „Ökonomische Ethik“ vorgelegt, die alle Beachtung verdient.<br />

Die Untersuchung<br />

Andreas Suchanek, Ökonomische Ethik. J.C.B. Mohr (Uni-Taschenbuch<br />

2195), Tübingen 2001.<br />

zeigt - ganz in Übereinstimmung mit dem Bemühen seines akademischen Lehrers<br />

Homann -, wie wenig zutreffend die Vorstellung ist, ethische Maximen<br />

könnten so ohne weiteres auf die unterschiedlichsten Sachprobleme bezogen<br />

werden. Eine ethische Richtungsweisung mißlingt, wenn sie auf dem Wege einer<br />

nachträglichen Überprüfung zur Geltung gebracht werden soll. Auf diesem irreführenden<br />

Wege sind in jüngster Vergangenheit allerlei Bindestrichethiken entstanden:<br />

eine Wirtschafts-Ethik, eine Bio-Ethik, eine Unternehmens- und Umwelt-Ethik,<br />

eine Medizin-Ethik und wie dergleichen Wortungetüme heißen mögen.<br />

Sie alle kranken daran, daß ethische Überzeugungen nachträglich in einen<br />

Handlungszusammenhang eingepflanzt und im Ergebnis den jeweils an einer<br />

Interaktion Beteiligten aufgezwungen werden, sich oft genug gegen deren eigene<br />

Nutzenerwartungen richten. Damit ist der Konflikt unausweichlich: Die Prinzi-<br />

157


pien der Ethik widerstreiten - einmal mehr, einmal weniger - den aus Sachzusammenhängen<br />

abgeleiteten Handlungserwartungen. Der Mensch, dem eine Entscheidung<br />

abverlangt wird, gerät zwischen die Mühlsteine zweier widerstreitender<br />

Normen; eine friedliche Auflösung des Widerstreites kann es nicht geben.<br />

Suchanek beschreitet einen anderen Weg. Er unternimmt den Versuch, unsere<br />

moralischen Überzeugungen mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, „und<br />

das bedeutet insbesondere: Moral nicht gegen das Eigeninteresse in Stellung zu<br />

bringen, sondern das Eigeninteresse in den Dienst der Moral zu nehmen“ (S.<br />

VIII).<br />

An dieser Stelle soll der Verführung widerstanden werden, die lange Tradition<br />

eines der deutschen Philosophie liebsten Kindes auch nur anzudeuten: Kaum ein<br />

Satz ist im moralischen Empfinden der Deutschen so tief verwurzelt wie die<br />

Überzeugung von der prinzipiellen Entgegensetzung moralischer, also altruistischer<br />

Prinzipien einerseits, und egoistischer, also unmoralischer Prinzipien andererseits.<br />

Nur am Rande sei bemerkt: Vielleicht fällt es uns bis heute so schwer zu<br />

begreifen, was Soziale Marktwirtschaft bedeutet, da diese Wirtschaftsordnung<br />

im Kern nichts anderes will, als Eigeninteresse und Gemeinnutz miteinander zu<br />

versöhnen.<br />

Zurück zu Suchanek: Keinesfalls bestreitet der Autor, daß Eigeninteresse und<br />

Moral oft miteinander im Streit liegen. Eben hier, ausgehend von dieser Tatsache,<br />

setzt seine Reflexion ein: „Das Programm der ökonomischen Ethik lautet“:<br />

„Wann immer Konflikte zwischen Eigeninteresse und Moral auftreten, ist systematisch<br />

nach Wegen zu suchen, beides (wieder) miteinander verträglich - besser<br />

noch: füreinander fruchtbar zu machen.“ (S. 1)<br />

Wie kann das gelingen? Die Antwort ist einfacher, als zunächst erwartet: Menschen<br />

müssen im eigenen Interesse in die Zusammenarbeit zum gegenseitigen<br />

Vorteil investieren. Suchanek nennt das die Goldene Regel der ökonomischen<br />

Ethik. Jeder Mensch ist ständig auf andere angewiesen, um seine eigenen Zwekke<br />

verwirklichen zu können. Es ist also sein ureigenes Interesse, die Grundlagen<br />

der Zusammenarbeit mit anderen zu pflegen. Mit anderen Worten: Wettbewerb<br />

und Zusammenarbeit sind keine gegensätzlichen Verhaltensmuster, sondern zwei<br />

Seiten einer Medaille. Von dieser - ganz und gar nicht neuen - Einsicht geleitet,<br />

hat sich eine leistungsfähige Struktur unterschiedlicher Institutionen - wie<br />

Rechtsstaat und Marktwirtschaft - entwickelt, deren Ziel es ist, zur gesellschaftlichen<br />

Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil beizutragen.<br />

Das klingt simpel, ist es aber doch nicht. Und wie der Alltag zeigt, prägen oft<br />

Mißverständnisse mehr als Einsichten die öffentliche Diskussion. Mit einer Reihe<br />

solcher Mißverständnisse sucht der Verfasser aufzuräumen - beispielsweise<br />

mit der Vorstellung, moderne Gesellschaften seien stabil, wenn eine ausreichende<br />

Mehrheit in ihren Wertvorstellungen umfassend übereinstimmt. Moderne<br />

Gesellschaften vollbringen ihre Integrationsleistung nämlich mitnichten über die<br />

gemeinschaftliche Übereinstimmung in Wertüberzeugungen, sondern sie sind<br />

regelintegriert. Die wichtigsten dieser Regeln, die von jedem einzelnen uneinge-<br />

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schränkte Anerkennung verlangen, sind im Recht als verbindliche Vorschrift<br />

festgeschrieben.<br />

So richtig und wichtig diese Vorstellung ist, so beachtet Suchanek doch zu wenig,<br />

daß auch diese Regeln, die in einer pluralistischen Gesellschaft Zusammenhalt<br />

herstellen und aufrechterhalten, nicht unabhängig von der Übereinstimmung<br />

in Wertüberzeugungen gesehen werden können. Dieser Einwand stellt jedoch<br />

keinesfalls das Programm einer ökonomischen Ethik in Frage, da diese sich eben<br />

gerade nicht im Streit über ausreichend mehrheitsfähige Wertvorstellungen aufreiben<br />

will, sondern an den Anfang ihrer Überlegungen den Satz stellt: Die Menschen<br />

müssen sich selbst und gemeinsam die Spielregeln ihres Zusammenlebens<br />

geben. (S. 19)<br />

Individualethische Überlegungen mögen (und werden) dem vorangehen. Sie<br />

verdichten sich zu institutionenethischen Überlegungen, also Aussagen über die<br />

Spielregeln als Handlungsbedingungen, die gleichermaßen für mich selbst und<br />

für alle anderen gelten.<br />

Die Ökonomik ist zu diesem Zeitpunkt schon längst im Spiel - als Wissenschaft<br />

einer allgemeinen Theorie sozialer Handlungszusammenhänge. Weil menschliches<br />

Handeln - wie die Ökonomik es beschreibt - immer ein interaktives Handeln<br />

ist, bedarf es der Institutionen, die das Handeln der Akteure miteinander<br />

koordinieren und auf diese Weise erst die Voraussetzung für gelingendes Handeln<br />

im Zusammenspiel mit anderen Menschen schaffen. Ökonomik in diesem<br />

Sinne ist die Wissenschaft von den Chancen und Problemen der Zusammenarbeit<br />

zum wechselseitigen Vorteil auf der Basis individueller Vorteils - und Nachteils -<br />

Kalkulationen.<br />

Ökonomik und Ethik gehen damit eine Verbindung ein. Gemeinsam geht es<br />

ihnen um die Regeln menschlichen Austausches - Regeln, die das Eigeninteresse<br />

eines jeden soweit wie mö glich in Einklang bringen mit dem Eigeninteresse des<br />

anderen. (S. 36) Diese erwünschte Vereinbarkeit wird erreicht, wenn Moral und<br />

Eigeninteresse durch geeignete Investitionen in die eigene und zugleich allgemeine<br />

Besserstellung anderer Menschen miteinander verbunden werden. Auf<br />

diese Weise wird das Eigeninteresse als Handlungsmotiv und Handlungsanreiz<br />

zwar nicht ausgeschaltet, aber im Ergebnis überformt: Denn das aufgeklärte<br />

Eigeninteresse zielt immer auch auf die Interessen der anderen. So wie es um die<br />

eigene Besserstellung geht, steht immer auch die Besserstellung der anderen -<br />

und das heißt: aller - in der Gesellschaft im Mittelpunkt.<br />

Dieser Gedanke ist mehr als nur eine Erinnerung an Adam Smith. Die Besserstellung<br />

der anderen ist keine zufällig sich ergebende Nebenabsicht. Es geht auch<br />

nicht um die mit den eigenen Interessen zugleich mitverfolgte Absicht der Besserstellung<br />

einiger weniger anderer. Es geht um die Besserstellung aller in der<br />

Gesellschaft. Deshalb trägt die ökonomische Ethik ihren Namen zu Recht: Der<br />

ethische Impuls kommt darin zum Tragen, daß die Idee der Besserstellung universalis<br />

iert wird. Anders, in den Worten des Autors formuliert: Regulative Idee<br />

der ökonomischen Ethik ist die Besserstellung aller. (S. 39)<br />

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Soweit die - zugegebenerweise abstrakte - Beschreibung des Programms der<br />

ökonomischen Ethik. Suchanek beläßt es jedoch nicht bei dieser Skizze. Auf<br />

rund hundert Seiten erläutert er, wie ein solches Programm in eine institutionelle<br />

Reform einfließen kann. Denn nicht durch noch so gutgemeinte Appelle, sondern<br />

nur durch institutionelle Handlungsbedingungen kann sichergestellt werden, daß<br />

Menschen ihren eigenen Vorteil auf eine Weise verfolgen, die zugleich zur Besserstellung<br />

aller anderen Menschen führt. Und deshalb lautet die Goldene Regel<br />

der ökonomischen Ethik: Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen<br />

Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vo rteil.<br />

Suchaneks Ethik hat ein Programm formuliert, das nicht nur aller Beachtung<br />

wert ist, sondern das auch die weitere Beschäftigung lohnt - und dies in doppelter<br />

Hinsicht: Manches in Suchaneks Programmskizze wird noch weiter zu bedenken<br />

sein, nicht zuletzt im Blick auf Argumente der philosophischen Ethik<br />

und deren Umgang mit dem Eigeninteresse des Menschen als handlungsleitendes<br />

Motiv. Vor allem aber wird man Suchaneks Buch als Grundlage für weiterführende,<br />

sozialphilosophische und gesellschaftspolitische Überlegungen nehmen,<br />

um zu Konkretisierungen zu finden, die dem Autor wohl selbst schon vor Augen<br />

stehen.<br />

Suchaneks ökonomische Ethik ist ein Buch, mit dem der Autor weitgehend Neuland<br />

betritt und einen bisher nur in seinen Umrissen auf der Landkarte verzeichneten<br />

Kontinent erkundet und erschließt. Von welchem Buch kann man das<br />

schon sagen? Deshalb sei der Hinweis gestattet: Wer sich mit Gesellschaftspolitik,<br />

mit politischen Handlungsblockaden und gesellschaftlichen Reformanreizen<br />

beschäftigt, ist gut beraten, Suchaneks Buch zur Hand zu nehmen.<br />

Dr. Christoph Böhr ist Landesvorsitzender der CDU Rheinland-Pfalz und Vorsitzender<br />

der CDU-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz.<br />

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