DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi
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<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />
<strong>ORDNUNG</strong><br />
begründet von Laurentius Siemer OP<br />
und Eberhard Welty OP<br />
Nr. 2/2002 April 56. Jahrgang<br />
Editorial<br />
Wolfgang Ockenfels, Laster der Korruption –<br />
Tugend des Klüngels<br />
Alexander Saberschinsky, Menschenrechte<br />
und christliches Menschenbild<br />
Andreas Püttmann, Der Mensch im Zerrspiegel<br />
der Medien<br />
Ursula Nothelle-Wildfeuer, Der Streit um die<br />
Soziale Marktwirtschaft<br />
Stefan Heid, Der Umgang der frühen Kirche<br />
mit Tyrannenmord<br />
Henry Krause, Repräsentation<br />
bei Carl Schmitt<br />
Bericht und Gespräch<br />
Bernd Kettern, Organisierte Caritas am<br />
Scheideweg?<br />
Christoph Böhr, Ökonomische Ethik – Ethik<br />
der Ökonomie<br />
82<br />
84<br />
96<br />
113<br />
125<br />
137<br />
149<br />
157<br />
Herausgeber:<br />
Institut für<br />
Gesellschaftswissenschaften<br />
Walberberg e.V.<br />
Redaktion:<br />
Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />
Heinrich Basilius Streithofen OP<br />
Bernd Kettern<br />
Redaktionsbeirat:<br />
Stefan Heid<br />
Martin Lohmann<br />
Edgar Nawroth OP<br />
Herbert B. Schmidt<br />
Günter Triesch<br />
Rüdiger von Voss<br />
Redaktionsassistenz:<br />
Andrea und Hildegard Schramm<br />
Druck und Vertrieb:<br />
Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />
53708 Siegburg<br />
Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />
Die Neue Ordnung erscheint alle<br />
2 Monate<br />
Bezug direkt vom Institut<br />
oder durch alle Buchhandlungen<br />
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Einzelheft 5,- €<br />
zzgl. Versandkosten<br />
ISSN 09 32 – 76 65<br />
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(BLZ 380 500 00)<br />
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Anschrift der<br />
Redaktion und des Instituts:<br />
Simrockstr. 19<br />
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Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />
Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />
Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />
Haftung<br />
Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />
geben nicht unbedingt<br />
die Meinung der Redaktion wieder.<br />
Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />
Vervielfältigung nur mit<br />
besonderer<br />
Genehmigung der Redaktion<br />
81
Editorial<br />
82<br />
Laster der Korruption - Tugend des Klüngels<br />
„Überall gibt es jeweils eigentümliche Weisen der Korruption durch Privatinteressen.<br />
Das stillschweigende Wissen aller Beteiligten läßt sie bestehen. Bei der<br />
Publizität eines Falls wird Lärm gemacht, der bald wieder aufhört in dem dunklen<br />
Bewußtsein, nur ein Symptom getroffen zu haben. Keiner übernimmt wahrhaft<br />
Verantwortung; man hat die Haltung, nicht allein entscheiden zu können. Instanzen,<br />
Kontrollen, Kommissionsbeschlüsse - einer schiebt es auf den anderen.“<br />
Diese Sätze mögen uns seltsam vertraut vorkommen und auf unsere Gegenwart<br />
bezogen. Sie stammen aber aus dem Jahr 1931 und finden sich in der berühmten<br />
kleinen Schrift von Karl Jaspers über „Die geistige Situation der Zeit“.<br />
Ein übler Nachgeschmack von Weimar verdirbt einem auch in der „Berliner Republik“<br />
den politischen Appetit, liefert immer neue Alibis für „Politikverdrossenheit“<br />
und ruft linke wie rechte Fanatiker auf den Plan, die sich als politische<br />
Saubermänner und -frauen aufspielen. Anders verhält sich katholisch-mediterrane<br />
Gelassenheit: Sie vermag es, sich sogar in einer zum Dauerzustand geronnenen<br />
Krise wohnlich einzurichten und ein gewisses Maß an Korruption für erträglicher<br />
zu halten als ein Übermaß an Korruptionsbekämpfung, das neue und noch<br />
schlimmere Gefahren heraufbeschwört.<br />
Diesmal hat es besonders die SPD erwischt. Daß so etwas gerade in den besten<br />
politischen Familien vorkommt, für die sich die Sozialdemokraten halten, hat<br />
etwas makaber Beruhigendes. Denn ihre heuchlerischen, an die CDU gerichteten<br />
Korruptionsvorwürfe fallen nun auf sie selber zurück. Hochmut kommt vor dem<br />
Fall. Dieser Rollenwechsel vom hochmütigen Ankläger zum gefallenen Angeklagten<br />
mag dann auch eine pädagogische Wirkung entfalten, die keine Moralpredigt<br />
erreicht.<br />
Wie zu Zeiten Jaspers bildet auch heute das, was als Korruption bezeichnet und<br />
beklagt wird, nur einen Bestandteil dessen, was als Gesamtkrisenbild der Gegenwart<br />
wahrgenommen wird. Korruption erscheint dabei lediglich als Symptom<br />
einer tiefergreifenden und umfassenderen Krise, deren Wurzeln nicht an der<br />
Oberfläche offenliegen und ohne weiteres empirisch greifbar sind. Das Ceterum<br />
censeo lautet zunächst: Wenn sich die religiöse Verankerung der allgemeinen<br />
Moral lockert, wird das Eigeninteresse oder der persönliche Nutzen zur moralischen<br />
Norm erhoben. Dann scheint alles käuflich zu sein, sogar Bundesratsentscheidungen.<br />
Man darf sich nur nicht erwischen lassen.<br />
Bei dem Versuch, das schillernde Phänomen der zeitgenössischen Korruption<br />
bewertend zu analysieren und auch sozialstrategisch in den Griff zu bekommen,<br />
dürften historische Befunde besonders anregend sein, weil sie den realistischen<br />
Blick für Möglichkeiten und Machbarkeiten innerhalb bestimmter Epochen und<br />
Systeme schärfen und Vergleiche zwischen ihnen zulassen. Jede Zeit und Kultur<br />
scheint die ihr gemäße Form von Korruption hervorgebracht zu haben, was einen
Theologen kaum erstaunen kann, der bereits in der menschlichen Natur Korruption<br />
am Werke sieht. Die natura corrupta des Menschen wird seit Paulus,<br />
den Kirchenvätern, besonders Augustinus, mit dem Sündenfall Adams (die Rolle<br />
der Eva tritt hier merkwürdigerweise zurück) in einen kausalen Zusammenhang<br />
gebracht. Die Erbsündenlehre wurde in der frühscholastischen Theologie des<br />
Hugo von St. Viktor zu einem Lasterkatalog entfaltet, der sich bis heute zur Erhellung<br />
korruptiver Motivlagen bestens eignet und auch als Filmstoff schon Verwertung<br />
fand. Und zwar in dem amerikanischen Thriller „Seven“ von 1995, in<br />
dem die sieben Hauptlaster oder Todsünden nacheinander dramatisch aufgeführt<br />
werden: Hochmut, Neid, Zorn, Maßlosigkeit, Habsucht, Wollust und Trägheit.<br />
Die sozialethische Korruptionsproblematik läßt sich freilich nicht allein auf der<br />
Laster- und Tugendebene abhandeln. Bereits in den heiligen Schriften des Alten<br />
Testamentes sowie in vielen anderen Kulturzeugnissen werden bestechliche<br />
Richter und ungetreue Verwalter nicht nur moralisch kritisiert, sondern auch<br />
strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen. Antikorruptionsvorschriften sind vielfältig<br />
bezeugt, so die Strafbestimmungen in der Gesetzessammlung des Hammurapi.<br />
Berichte aus der ägyptischen Pharaonenzeit und des Konfuzius lassen<br />
auf eine weitverbreitete Praxis der Korruption schließen. Ähnliches gilt für die<br />
griechischen Stadtstaaten und das alte Rom.<br />
Auch das europäische Mittelalter ist voll von Korruption, aber auch reich an<br />
kritischen Reaktionen und Gegenbewegungen. 1396 wurde die als korrupt empfundene<br />
Adelsherrschaft in Köln beendet und durch eine demokratische Herrschaft<br />
der Handwerkerzünfte abgelöst. Das entsprechende Verfassungsdokument,<br />
der sogenannte Verbundbrief, enthält für die Übernahme eines Stadtratsmandats<br />
die strenge Bestimmung, keineswegs „irgendwelche Gabe, Geld, wertvollen<br />
Gegenstand, Lohn, Liebesgabe oder Geschenk“ in Empfang zu nehmen.<br />
Aus der Betrachtung von vornherein auszuschließen sind Phänomene wie Klüngel<br />
und Trinkgeld. Letzteres fällt schon wegen Geringfügigkeit aus dem Rahmen<br />
der Korruption heraus - und Trinkgeldzahlungen mit ihr gleichzustellen, liefe auf<br />
eine grobe Beleidigung körperlich hart arbeitender Menschen hinaus. Und was<br />
den Klüngel betrifft, so muß ein überzeugter Rheinländer in Solidarität mit dem<br />
Kölner Generalvikar Norbert Feldhoff, der es ja wissen muß und deshalb ein<br />
kompetentes Büchlein darüber geschrieben hat, mit großer Entrüstung auch den<br />
entferntesten Verdacht zurückweisen, Klüngel habe auch nur annäherungsweise<br />
etwas mit Korruption zu tun. Denn Klüngel, speziell der Kölner, bewegt sich<br />
strikt im Rahmen der Legalität. Und er verfährt dabei lediglich nach dem Legitimierungsprinzip<br />
der Freundschaft und des Vertrauens, das übersetzt lautet:<br />
„Wir kennen uns, wir helfen uns“. Das öffnet Türen, erleichtert Eingang und<br />
Umgang, beschleunigt den Fortgang einer Sache, vermeidet Umwege, verkürzt<br />
Dienstwege, bewirkt Verständigung. Kurzum: Die Tugend des Klüngels hilft,<br />
das Laster der Korruption zu vermeiden. Diese Tugend ist ökonomisch sinnvoll,<br />
denn mit ihr spart man Zeit und Geld. Darum glaubt der Kölner nicht, daß der<br />
Klüngel je ausstürbe. Eher glaubt er an einen Klüngel - auch nach dem Tode.<br />
Wolfgang Ockenfels<br />
83
84<br />
Alexander Saberschinsky<br />
Menschenrechte und christliches Menschenbild<br />
Menschenrechte haben Hochkonjunktur. Beinahe allabendlich zeigt die Tagesschau,<br />
wie gerne Politiker und Medien Menschenrechte als Urteilsmaßstab für<br />
die große Weltpolitik bemühen. Angesichts der hochbrisanten Konflikte, etwa in<br />
der zerfallenen Sowjetunion, in Afrika, China und im Nahen Osten, scheint dies<br />
auch berechtigt. Offensichtlich glaubt man in einer Welt, die verstärkt von der<br />
Globalisierung geprägt ist, zunehmend in den Menschenrechten jenen ethischen<br />
Grundbestand zu entdecken, ohne den ein Gemeinwesen – insbesondere aber das<br />
globale Gemeinwesen von heute – tatsächlich nicht auskommen kann. Und so<br />
richten sich die Hoffnungen auf die Menschenrechte als die normative Grundwährung<br />
im weltweiten, politischen Geschäft, als die Basis für das Weltethos im<br />
neuen Millennium, im dritten Jahrtausend.<br />
Angesichts des hohen Kurses, in dem Menschenrechte stehen, sieht sich die<br />
katholische Sozialethik mit der Frage konfrontiert, ob die Menschenrechte nicht<br />
auch als das Fundament der christlichen Gesellschaftslehre zu nehmen seien.<br />
Damit würde man, so scheint es, nicht nur breite Zustimmung in der Öffentlichkeit<br />
finden und eine Gesprächsbasis über den kirchlichen Raum hinaus schaffen,<br />
sondern müßte auch nicht länger den für viele in Mißkredit geratenen Naturrechtsbegriff<br />
bemühen, um die eigene ethische Position zu begründen. Diese<br />
Frage stellt sich um so drängender, als die Katholische Soziallehre den Anspruch<br />
erhebt, aus Sachgründen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu sein, also für<br />
„alle Menschen guten Willens“ und nicht nur für Christen zu gelten. Sollte, ja<br />
müßte die Katholische Soziallehre nicht gerade angesichts dieses Selbstverständnisses<br />
sich die Menschenrechtsidee zu eigen machen, um in der aktuellen Diskussion<br />
sozusagen mit am Ball zu bleiben?<br />
Damit stellen sich zwei miteinander zusammenhängende Fragen. Grundsätzlich<br />
ist zu fragen: Was sagt die Katholische Soziallehre zum Anspruch der Menschenrechte<br />
auf Allgemeingültigkeit? Von der Antwort darauf hängt die Lösung<br />
der zweiten Frage ab: In welchem Sinn können Menschenrechte relevant sein für<br />
ein weltweites Ethos? Diesem Zusammenhang soll in den folgenden, zwangsläufig<br />
kurzen Überlegungen nachgegangen werden; und zwar in einer Weise, die<br />
nicht nur das bestätigt, was man weitgehend ohnehin schon als selbstverständlich<br />
erachten, nämlich die Bedeutung der Menschenrechte. Statt dessen soll hier diese<br />
Selbstverständlichkeit kritisch angefragt werden, um dann jedoch mit um so<br />
besseren Gründen für die Menschenrechte eintreten zu können. Dies geschieht<br />
zunächst, indem ein kurzer Blick in die Geschichte geworfen wird, näherhin auf<br />
die ersten kirchlichen Reaktionen auf die Formulierung moderner Menschenrechte.<br />
Dabei geht es nicht um chronologische Vollständigkeit, sondern um eine<br />
erste Differenzierung des Sachverständnisses des Begriffes „Menschenrechte“<br />
im Blick auf die heutigen Fragestellungen.
I. „Wir sehen wahrhaftig den Höllenpfuhl offen“<br />
Es mag erstaunen, daß die Kirche der Menschenrechtsbewegung anfänglich sehr<br />
ablehnend gegenüberstand, denn die Menschenrechte scheinen zunächst dem<br />
christlichen Menschenbild Rechnung zu tragen und sind wohl auch ursprünglich<br />
von ihm her motiviert. Viele Elemente, die leitend für die Menschenrechte sind,<br />
finden sich im christlichen Menschenbild: „die Einheit des Menschengeschlechts,<br />
(...) die Gleichheit aller, (...) die Einmaligkeit jedes einzelnen Menschen,<br />
(...) seine Personalität und Eigenverantwortung“. 1<br />
Heute steht die Position der Kirche zu den Menschenrechten längst nicht mehr in<br />
Frage: Schon in seiner Antrittsenzyklika Redemptor hominis (1979) hat Johannes<br />
Paul II. nicht mehr zur Diskussion stellen müssen, wie sehr sich die Kirche<br />
das Anliegen der Menschenrechte zu eigen gemacht hat (vgl. RH 17). Und in<br />
seiner Sozialenzyklika Centesimus annus (1991) sieht er sogar den Beitrag der<br />
Kirche zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte als entscheidend an<br />
für die gewaltigen Umwälzungen des Jahres 1989 (vgl. CA 22). Bei einem Besuch<br />
in Frankreich hat der Papst 1980 sogar ausdrücklich seine Achtung vor den<br />
Idealen der Französischen Revolution von 1789 ausgedrückt, vor Freiheit,<br />
Gleichheit und Brüderlichkeit. 2 Welch geradezu gewaltige Entwicklung dem<br />
vorausgeht, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, daß 1791 Pius VI. in<br />
seinem Breve Quod aliquantum genau diese neuen Freiheitsgedanken als „absurd“<br />
bezeichnet und demgemäß verurteilt hat (UvG XXVI 13).<br />
Die Reihe päpstlicher Äußerungen gegen die Menschenrechtsideen reicht in der<br />
Folgezeit von Gregor XVI. mit der Enzyklika Mirari vos (1832) über Pius IX.<br />
mit der Enzyklika Quanta cura (1864) bis hin zum Syllabus aus dem gleichen<br />
Jahr. Stellvertretend sei hier ein Zitat aus Mirari vos angeführt, das die kirchliche<br />
Position jener Zeit verdeutlichen mag: „Aus der Quelle dieser verderblichen<br />
(religiösen) Gleichgültigkeit fließt jene törichte und irrige Meinung, oder noch<br />
besser jener Wahnsinn, es solle für jeden die Freiheit des Gewissens verkündet<br />
und erkämpft werden. Diesem seuchenartigen Irrtum bereitet jene übervolle und<br />
maßlose Freiheit der Meinungen den Weg, welche zum Schaden der kirchlichen<br />
und bürgerlichen Sache sich weit herum verbreitet. (...) Denn wenn der Zügel<br />
zerrissen ist, mit dem die Menschen auf den Pfaden der Wahrheit gehalten werden,<br />
dann stürzt ihre ohnehin zum Bösen geneigte Natur rasend schnell in den<br />
Abgrund, und Wir sehen wahrhaftig den Höllenpfuhl offen (...). Die Erfahrung<br />
bezeugt es und seit uralter Zeit weiß man es: Staatswesen, die in Reichtum,<br />
Macht und Ruhm blühten, fielen durch dieses eine Übel erbärmlich zusammen,<br />
nämlich durch zügellose Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Neuerungssucht.“ (UvG<br />
II 14)<br />
Diese Aussagen, die an Deutlichkeit nichts vermissen lassen, sind jedoch ohne<br />
den Kontext, in den sie hineingesprochen wurden, nicht wirklich verständlich.<br />
Der Papst verurteilt hier einen Liberalismus, wie er im Gefolge der Französischen<br />
Revolution vertreten wurde, und schließt dabei den Menschenrechtsgedanken<br />
nicht aus, der zunächst von den konkreten politischen Ereignissen nicht<br />
zu trennen ist. 3 Dieser Zusammenhang führt den renommierten Staatskirchen-<br />
85
echtler Josef Isensee zu einer, wenn auch nicht ganz unproblematischen, so<br />
doch interessanten und bedenkenswerten Einschätzung der damaligen lehramtlichen<br />
Position: Nach Isensee sind nicht die Menschenrechte als solche Thema der<br />
päpstlichen Lehrschreiben, es sind vielmehr eigentlich und direkt die sogenannt<br />
liberalen Ideologien, und die Menschenrechte hingegen nur indirekt, und zwar<br />
insofern sie diesen Ideologien entstammen. 4 Erst die spätere Entwicklung hin zur<br />
weltanschaulichen Neutralität des Staates ermöglichte es auch der Kirche mit der<br />
Zeit, die Ebenen zu entflechten und eine bejahende Position zu den Menschenrechten<br />
einzunehmen. 5 Zunächst wurden also die Menschenrechte von der Kirche<br />
nur unter den Vorzeichen des Säkularismus, Indifferentismus, Egalitarismus<br />
sowie totalitären und antiklerikalen Laizismus wahrgenommen und mußten so<br />
beinahe zwangsläufig als mit dem Selbstverständnis der Kirche unvereinbar<br />
gelten. Diese Einschätzung wird noch einmal gestützt durch die Tatsache, daß<br />
Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit im 19. Jahrhundert nicht nur als<br />
Schutzrechte verstanden wurden, sondern auch als gezielte Demonstrationsrechte<br />
v.a. gegen die Kirche. Insofern die kirchenpolitischen Beschlüsse z.B. der Nationalversammlung<br />
in Frankreich auch Fragen der innerkirchlichen Organisation<br />
betrafen, ist die kirchliche Absage an die Religionsfreiheit auch als Abwehr<br />
dieser Maßnahmen und als eine Verteidigung der kirchlichen Unabhängigkeit zu<br />
sehen. 6<br />
Unabhängig von der möglicherweise doch allzu positiven Einschätzung der lehramtlichen<br />
Haltung zur Moderne und von einer Unterschätzung der Provokation<br />
der antikirchlichen Haltung durch die Kirche selbst weist Isensee nicht ganz zu<br />
Unrecht darauf hin, daß damals die liberalen Freiheitsrechte nicht nur gegen die<br />
Kirche, sondern letztlich gegen sich selbst gerichtet waren. Indem die Kirche<br />
bekämpft und in ihrem Wirken beeinträchtigt wurde, wurde die Religionsfreiheit,<br />
selbst ein fundamentales Freiheitsrecht, eingeschränkt. 7 Insofern ist die Gleichsetzung<br />
der Menschenrechte mit dem liberalen Freiheitsverständnis der Aufklärung<br />
in der Tat kritisch zu hinterfragen.<br />
Bemerkenswerterweise setzt die erste Phase der Annäherung der Kirche an die<br />
Freiheitsrechte mit Leo XIII. ein. Durch dessen gründliche Auseinandersetzung<br />
mit dem Liberalismus, so etwa in der Enzyklika Libertas praestantissimum<br />
(1888), gelangt er nicht nur zu einer differenzierten Beurteilung des Liberalismus,<br />
sondern auch der Freiheitsrechte. 8 So spricht sich Leo XIII. beispielsweise<br />
gegen das liberalistische Modell des Nachtwächterstaates aus, der nur die äußeren<br />
Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Leben schafft, ohne selbst eine<br />
korrektive Funktion auszuüben und Härten abzumildern. Damit die Freiheitsrechte<br />
sich nicht gegen den Menschen richten, fordert der Papst vom Staat Engagement<br />
in der Sozialpolitik. Leitmotiv muß die Sorge um das Gemeinwohl sein.<br />
Daher betont Leo XIII. in der ersten Sozialenzyklika Rerum novarum (1891) den<br />
sozialen Kontext der Menschenrechte. Das aber heißt: Der Ort der Rezeption des<br />
neuzeitlichen Menschenrechtsgedankens ist für das Lehramt die kirchliche Soziallehre,<br />
d.h., die Menschenrechte werden im Horizont der christlichen Gesellschaftslehre<br />
wahrgenommen und so mit den Prinzipien des christlichen Menschenbildes<br />
verknüpft. Wenn zunächst in den päpstlichen Schreiben auch nicht<br />
86
ausdrücklich von Menschenrechten gesprochen wird, so werden diese der Sache<br />
nach doch – nämlich unter Rückgriff auf die thomistische Naturrechtslehre – als<br />
vorstaatliche, subjektive Rechte des Menschen verstanden. Was folgt nun daraus<br />
für den Anspruch der Menschenrechtsideen auf Allgemeingültigkeit? Was sagt<br />
also die katholische Soziallehre? Lehnt sie diesen Anspruch am Ende doch ab<br />
oder macht sie ihn sich zu eigen? Und wenn ja, dann in welchem Sinne?<br />
II. Gemeinwohlorientierte Menschenrechte<br />
Als historische Erkenntnis kann aus dem Blick in die Geschichte festgehalten<br />
werden: Liberale Freiheitsrechte sind der Gefahr ausgesetzt, sich gegen sich<br />
selbst zu kehren, wenn ihnen die soziale Bindung fehlt. Dieser Einsicht entspricht<br />
das christliche Menschenbild, das der Katholischen Soziallehre zugrunde<br />
liegt. Es besagt nämlich: Zum Wesen des Menschen gehören von seiner originären<br />
Natur her gleichursprünglich Individualität und Sozialität. D.h., der Mensch<br />
ist nicht primär Individuum und erst sekundär auf Gemeinschaft angelegt. Daher<br />
können einseitig der Individualität verpflichtete liberale Freiheitsrechte nicht die<br />
letzte Norm in der Menschenrechtsfrage bilden und können aus der Idee der<br />
Menschenwürde keine uneingeschränkten Freiheitsrechte gefolgert werden. Vielmehr<br />
bedürfen individuelle Menschenrechte der Vermittlung mit der sozialen<br />
Dimension des Menschen. Die gängige Auffassung, daß die eigene Freiheit dort<br />
aufhöre, wo die des anderen beginnt, ist ein Reflex dieser Erkenntnis, allerdings<br />
ein schwacher, weil hier nur eine negative Abgrenzung der Individuen voneinander<br />
vorgenommen, nicht aber die positive Zuordnung von Individuum und Gemeinschaft<br />
geleistet wird.<br />
Die Frage, die hier angeschnitten ist, betrifft die Katholische Soziallehre in ihrem<br />
Kern, insofern diese die Beziehung zwischen einzelnem und Gemeinschaft zu<br />
ihrem spezifischen Gegenstand hat. Es geht also um die Frage nach dem Recht<br />
des einzelnen und dem Wohl aller, um das Verhältnis von Menschenrechten und<br />
Gemeinwohl. Die Alternativen im Ansatz lauten: Ist das Gemeinwohl lediglich<br />
das Ergebnis des Wohls aller – etwas salopp formuliert: Wenn jeder an sich<br />
denkt, ist doch an alle gedacht? Oder ist das Gemeinwohl ein neuer Wert, besser:<br />
ein eigenes Prinzip, das nicht auf das Wohl der einzelnen reduziert werden kann?<br />
Auf die Diskussion dieser Frage innerhalb der katholischen Soziallehre kann hier<br />
nicht näher eingegangen werden. Sie ist auf der einen Seite wesentlich mit den<br />
Namen Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning verbunden, die die<br />
Soziallehre vom Individuum her entwickeln und Gesellschaft als Interaktion zwischen<br />
den Individuen verstehen. Erstgenannter beschreibt bezeichnenderweise<br />
die Gesellschaft nicht als Größe an sich, sondern sagt:<br />
„Das Soziale als das ,Eine in den Mehreren‘ ist nicht zuerst ihre Integration in<br />
einem Ganzen, sondern ihre innerlich begründete, personale Ko-Existenz, nämlich<br />
das in der endlich-unendlichen Intentionalität menschlicher Person begründete<br />
Zueinander und Gegenüber der Mehreren, das sie auf gegenseitige Mitteilung<br />
einstellt innerhalb der durch das Menschsein (humanitas) und seine Wertfülle<br />
abgesteckten Dimension personaler Selbstverwirklichung.“ 9<br />
87
Nach G. Gundlach ist die menschliche Gesellschaft von den einzelnen Personen<br />
her aufgebaut und auf sie ausgerichtet. An anderer Stelle charakterisiert er den<br />
Menschen als „Person“ und „unteilbaren Selbstand“ und schreibt ihm „völlig<br />
positive Individualität“ zu. 10 Gesellschaft wird konsequenterweise nicht als eine<br />
Größe an sich verstanden und ist nicht zuerst die „Integration in einem Ganzen“,<br />
sondern Gesellschaft entsteht aus dem „Zueinander und Gegenüber der Mehreren“,<br />
d.h., die Personen bleiben je für sich, und nur das Beziehungsgeflecht unter<br />
diesen Einzelpersonen konstituiert Gesellschaft. Dies meint „personale Ko-<br />
Existenz“. Gesellschaft ist Ergebnis des solidarischen Handelns der Personen.<br />
Die Konsequenz, die sich damit für das Gemeinwohl ergibt, ist diejenige, daß<br />
das Gemeinwohl – nicht anders als die Gemeinschaft selbst auch – keine überindividuelle<br />
Größe an und für sich ist, sondern erst aus dem Zusammenwirken der<br />
einzelnen erwächst. Ziel auch des Gemeinwohls ist die Entfaltung der Person des<br />
einzelnen.<br />
Demgegenüber wählt der Dominikaner Arthur F. Utz einen anderen Ansatz: An<br />
der Sichtweise der beiden genannten Jesuiten kritisiert er, daß hier das Überindividuelle<br />
nur in der Teilnahme des einzelnen am gemeinsamen Geschehen bestehe.<br />
Daraus ergibt sich nach Utz im Hinblick auf die Gesellschaft und das Gemeinwohl<br />
die Schwierigkeit, die soziale Dimension nicht wirklich begründen zu<br />
können. Bei seinem Versuch, dies zu tun, greift Utz auf Thomas von Aquin zurück.<br />
Er geht nicht von der empirischen Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen<br />
aus, sondern beginnt mit Thomas bei der allgemeinen und gleichen, also alle Menschen<br />
von Grund auf verbindenden Natur und schließt daraus zunächst auf das<br />
Gemeinwohl, von dem ausgehend er die Selbstverwirklichung des einzelnen versteht.<br />
Im Original bei Thomas heißt es: „Es ist nun offensichtlich, daß das Gut des<br />
Teils wegen des Gutes des Ganzen da ist. Darum liebt ein jedes Einzelwesen<br />
auch im natürlichen Streben oder Lieben sein eigenes Gut um des Gemeingutes<br />
des ganzen Weltalls willen, (...)“ (STh I-II 109,3)<br />
Hier kommt nach Utz der Kern des Menschenbildes des Thomas zur Geltung,<br />
nach dem der Mensch nicht neben seiner vorrangigen Individualität auch sekundär<br />
,sozial‘, sondern wesentlich sozial ist. Daher ist die Beziehung zwischen den<br />
Menschen in der Gesellschaft nicht die zwischen autarken Einzelwesen, sondern<br />
erst durch die wesentliche Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen gelangen die<br />
Menschen zu ihrer Vervollkommnung, also auch zu ihren genuinen Rechten. Das<br />
Eingebundensein in eine Gesellschaft – z.B. auch in Gestalt von Pflichten – ist<br />
für den einzelnen nicht äußeres Mittel zum Zweck und eine sekundäre Belastung,<br />
sondern entspricht seinem Wesen. 11<br />
Für die Bestimmung des Gemeinwohlbegriffs bedeutet dies, daß das Gemeinwohl<br />
zwar dem einzelnen dienen soll, doch nicht dem einzelnen für sich genommen,<br />
sondern als Teil einer Gemeinschaft. In dieser Perspektive ist der<br />
Dienst des Gemeinwohls am Einzelwohl bereits immanent im Gemeinwohl enthalten.<br />
Das Einzelwohl ist hier eine Teilfunktion des Gemeinwohls. 12 Als zusammenfassende<br />
Definition kann man daher formulieren: „Das Gemeinwohl<br />
besteht in der individuellen Vollkommenheit oder im individuellen Wohlergehen<br />
aller als aufeinander bezogener Personen“. 13<br />
88
Was bedeutet dies nun für die Frage nach den Menschenrechten? Die Einsicht in<br />
die grundlegend soziale Natur des Menschen führt zu der Konsequenz, daß die<br />
Begründung der Menschenrechte nicht einseitig bei den Rechten des Individuums<br />
ansetzen kann. Die unverzichtbare und grundlegende soziale Dimension<br />
des Menschen gerät aus dem Blick, wenn Menschenrechte einseitig als Freiheitsrechte<br />
des einzelnen gedeutet werden. Die Schwierigkeit in der aktuellen Diskussion,<br />
neben den Rechten des Menschen auch dessen Pflichten zu begründen, ist<br />
ein Beleg hierfür. Keineswegs geht es darum, die Bedeutung oder die Geltung<br />
derjenigen Menschenrechte zu schmälern, die sich als Freiheitsrechte äußern,<br />
doch muß die Freiheit als Freiheit aller im Rahmen des Gemeinwohls verstanden<br />
werden. 14 Auf einen kurzen Nenner gebracht: „Ohne (...) Bezug zum Gemeinwohl<br />
gibt es keine Einzelrechte.“ 15<br />
So wie das Einzelwohl nicht auf Kosten des Wohls der Gemeinschaft erreicht<br />
werden kann, sondern das Gemeinwohl nur dann im Wohlergehen der einzelnen<br />
zu finden ist, wenn die einzelnen als in einem Ganzen aufeinander bezogene<br />
Individuen verstanden werden, so müssen auch die Menschenrechte im Hinblick<br />
auf das Gemeinwohl gedeutet werden, d.h., sie können nicht als vom Gemeinwesen<br />
losgelöste Freiheitsrechte interpretiert werden. Statt dessen müssen Menschenrechte<br />
proportional zum Gemeinwohl bestimmt werden.<br />
III. Die Rechte des über sich selbst hinausverwiesenen Menschen<br />
Mit dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, welchen entscheidenden<br />
Einfluß das zugrundeliegende Menschenbild auf das Verständnis der Menschenrechte<br />
hat. Doch gerade deshalb kann christliche Soziallehre nicht dabei stehenbleiben,<br />
die Sozialnatur des Menschen gegenüber einem einseitigen Individualismus<br />
lediglich zu postulieren. Dies bedarf seinerseits der Begründung. Letztlich<br />
ist der entscheidende Grund für dieses Individualität und Sozialität vermittelnde<br />
Menschenverständnis des Christentums die Lehre vom Menschen als imago Dei,<br />
als Abbild Gottes. Dabei handelt es sich keineswegs um ein bloßes Theologumenon,<br />
das nur aus der Offenbarung geglaubt werden könnte, sondern um ein sachlich<br />
begründetes Verständnis des Menschen. Bei der gewiß nicht zuletzt biblischen<br />
Vorstellung vom Menschen als „Bild Gottes“ geht es in der Sache, auf<br />
rationaler Ebene, um die theonome Autonomie des Menschen, ohne welche es<br />
kaum möglich sein dürfte, überhaupt vom Menschen als endlicher Person mit<br />
unendlicher Würde, also auch von Menschenrechten zu sprechen.<br />
Tatsächlich hat die kirchliche Sozialverkündigung die Menschenrechte unter<br />
Berufung auf die Gottebenbildlichkeit, also mit der eingeborenen Würde des<br />
Menschen als Person begründet. Wiederholt beruft sich v.a. Pius XII. darauf, daß<br />
der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist (vgl. UGr 27, 362). Als Person<br />
ist der Mensch Ebenbild Gottes (vgl. UGr 4103). Gerade in der gegenwärtigen<br />
Diskussion um die Würde des Menschen ist es m.E. eine der Hauptaufgaben<br />
Katholischer Soziallehre, dies als rational begründetes Menschenverständnis in<br />
den öffentlichen Diskurs einzubringen und sich nicht in die Ecke einer nicht<br />
verallgemeinerbaren ‚Glaubensideologie‘ abdrängen zu lassen. Der philoso-<br />
89
phisch entscheidende Punkt, ein wesentliches Sachargument also ist, daß hier<br />
von einem Menschenbild ausgegangen wird, das den Menschen nicht als ‚unhintergehbare<br />
Letztgegebenheit‘, sondern von Grund auf relational und dialogisch<br />
versteht, nämlich in Relation und im Dialog mit allem, was von Gott kommt, und<br />
schließlich zu seinem letzten Grund, theologisch gesprochen: zu Gott selbst.<br />
Damit unterscheidet sich das christliche Menschenbild von jener Auffassung, für<br />
die z.B. am Beginn der Neuzeit Descartes steht, der einseitig das in sich verschlossene<br />
Subjekt als „unhintergehbaren“ Ausgangspunkt, als „denkendes<br />
Ding“ verstanden hat, als letztlich unerklärbares Faktum, das als solches keinen<br />
Bezug zu einem letzten Grund aufweist, gewissermaßen also in der Luft hängt. 16<br />
Es liegt nur in der Konsequenz dieses Ansatzes, daß der so verstandene Mensch<br />
in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt ist, sich selbst absolut zu setzen und<br />
sich selbst als ‚Letztgegebenheit‘ sowie als Träger quasi-absoluter Denkakte<br />
sozusagen aufzuspielen. Aber gerade damit verspielt er seine individuelle Würde,<br />
ebenso seine Sozialität. So erweist sich dieser Weg, und es handelt sich um<br />
nicht weniger als um den Weg neuzeitlich-gottlosen Denkens, als Sackgasse:<br />
Jeder Versuch, den Menschen absolut in dem Sinne zu setzen, daß er nicht mehr<br />
hinterfragt werden kann und er sich gewissermaßen aus sich selbst heraus begründen<br />
muß, scheitert zwangsläufig, weil er das Unmögliche probiert. Und<br />
gerade an diesem Punkt zeigt sich der enge Zusammenhang mit der aktuellen<br />
Menschenrechtsfrage der Gegenwart. Denn was ist die Hochkonjunktur – um<br />
nicht zu sagen der Boom – der Menschenrechte anderes als der Versuch, den<br />
Menschen als unverfügbar zu erklären, indem man seine Unhinterfragbarkeit und<br />
Absolutheit beteuert, also postuliert, aber nicht wirklich begründet? So erklärt<br />
sich nicht nur die Tendenz, Menschenrechte zur letzten Begründungsinstanz zu<br />
erheben, sondern auch die „‚Hypertrophie‘ der Menschenrechte“, 17 die sich sowohl<br />
dadurch äußert, daß man sich im öffentlichen Diskurs zu passender und<br />
unpassender Gelegenheit inflationär auf Menschenrechte beruft, als auch daran<br />
abzulesen ist, daß man immer neue Menschenrechte fordert und erfindet.<br />
Anders argumentiert die Berufung auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen:<br />
Die Würde und damit die Rechte des Menschen sind nicht deshalb unverfügbar,<br />
weil der Mensch als letztgegeben nicht mehr hinterfragt werden kann. Es gilt<br />
vielmehr: Weil er zu Gott als seinem metaphysischen Grund in Beziehung steht,<br />
ist der Mensch und sind seine Rechte menschlicher Verfügung entzogen. Kurz<br />
gesagt: Weil hinter jedem Menschen Gott steht, ist er von absoluter Würde. Daraus<br />
folgen letztlich ineins alle Rechte und Pflichten des Menschen.<br />
90<br />
IV. Menschenrechte und Naturrecht<br />
Aufgabe christlicher Soziallehre ist es, diese zunächst theologisch klingende und<br />
gewiß ihre theologische Herkunft nicht leugnende Auffassung rational zu fassen<br />
und argumentativ in den Diskurs um den Menschen, seine Rechte und Pflichten<br />
einzubringen. Dazu bedient sich die Katholische Soziallehre der naturrechtlichen<br />
Argumentation.
Das Naturrecht wird dabei als Vernunftrecht verstanden. Dies meint nach Thomas<br />
von Aquin, daß der Mensch durch seine Vernunft Anteil am Ewigen Gesetz<br />
hat. Naturrecht wird folglich als jener Bereich verstanden, in dem die menschliche<br />
Vernunft grundsätzlich am göttlichen Gesetz und damit am Heilsplan Gottes<br />
teilnimmt. Erst diese Teilnahme der Vernunft am göttlichen Gesetz konstituiert<br />
nach Thomas das Naturrecht. Das Naturrecht besteht also nicht einfach aus der<br />
Vernunft vorgegebenen Geboten, die diese nur noch ablesen muß.<br />
Hier liegt der entscheidende Unterschied zum essentialistischen Naturrechtsdenken.<br />
Letzteres geht vom empirisch Seienden aus und begründet auf dieser<br />
Grundlage Naturrecht. Dazu setzt es bei jenen konkreten Umständen und Bedingungen<br />
an, die den Menschen in vielfältiger Weise bedingen und von denen er<br />
abhängig ist. Allerdings besteht das Naturrecht im Sinne des Thomas von Aquin<br />
darin, nicht die faktischen Bedingungen zum Begründungsprinzip zu erheben,<br />
indem sie metaphysisch verlängert werden, sondern vom Menschen als seinem<br />
eigenen Prinzip, das nicht in den diversen Abhängigkeiten aufgeht, auszugehen<br />
und auf diese Weise die Welt mit ihren Bedingtheiten transzendieren zu können<br />
auf das eigentlich Unbedingte hin.<br />
Ohne dies hier auch nur in Ansätzen weiter entfalten zu können, sei im Blick auf<br />
die Fragestellung hier soviel gesagt: Nach dem lex-Traktat des Thomas von<br />
Aquin ist das Naturrecht kein Katalog einzelner Bestimmungen, die nebeneinander<br />
stehen und für alle gleich lauten. Vielmehr enthält es allgemeine Prinzipien,<br />
die aus der Natur des Menschen folgen. Auch für Thomas ist der Mensch grundlegend<br />
als imago Dei zu begreifen. Nur die daraus abgeleiteten und ableitbaren<br />
allgemeinen Prinzipien gelten für alle Menschen, während die konkreten Schlußfolgerungen<br />
aus den allgemeinen Prinzipien variieren und unterschiedlich sein<br />
können (vgl. STh I-II 94,4f.). 18 Sie müssen sogar variieren, da der Mensch sich<br />
im praktischen Bereich mit unterschiedlichen Lebensumständen konfrontiert<br />
sieht, die konkrete und diesen Umständen angemessene singuläre Handlungen<br />
erfordern. Für solche Handlungen steckt das Naturrecht selbst nur den normativen<br />
Rahmen ab, beinhaltet aber keine konkreten Handlungsanweisungen für die<br />
unterschiedlichen Situationen. Daher ist Naturrecht kein endgültig festgelegtes<br />
Kompendium „normativer Einzelaussagen“, sondern „das oberste Koordinatensystem“,<br />
das die Vernunft unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten Situation<br />
„zu einem konkreten Ethos entfaltet, das sich in einzelnen, geschichtlich<br />
wandelbaren Tugenden manifestiert“. 19<br />
Aus diesem Ansatz ergibt sich aber: Ebensowenig wie es generell möglich ist,<br />
eine konkrete, für alle Zeiten gültige und unwandelbare Aufzählung von Handlungsanweisungen<br />
vorzulegen, ist es möglich, einen endgültigen Katalog von<br />
konkreten und unveränderlichen Menschenrechten zusammenzustellen. Menschenrechte<br />
können nur als geschichtlich wandelbare, jeweilige Konkretisierungen<br />
der unwandelbaren Menschenwürde verstanden werden. 20<br />
Es ist also festzuhalten, daß nicht alle Rechte, die als Menschenrechte bezeichnet<br />
und auch als solche gedeutet werden, in dem Sinne als Naturrechte verstanden<br />
werden können, daß sie unwandelbare Rechte des Menschen sind, die die Ve rnunft<br />
als Bestandteil eines Ewigen Gesetzes erkennt. Dennoch sind Menschen-<br />
91
echte naturrechtlich begründbar. Hier ist eine Unterscheidung hilfreich, die die<br />
katholische Naturrechtstradition kennt, nämlich zwischen primärem und sekundärem<br />
Naturrecht. Die Begriffswahl ‚primär‘ und ‚sekundär‘ bringt dabei keine<br />
Abwertung des sekundären Naturrechts gegenüber dem primären zum Ausdruck,<br />
vielmehr soll damit gesagt sein, daß das sekundäre Naturrecht konkrete, situationsbezogene<br />
Normen enthält, während das sogenannte primäre Naturrecht sich<br />
strikt darauf beschränkt, allgemeine Prinzipien zu formulieren. Daher gehören<br />
Menschenrechte, insofern sie sich auf geschichtlich konkrete Situationen beziehen,<br />
eher in den Bereich des sekundären Naturrechts, wobei freilich immer sehr<br />
genau zu differenzieren ist, genauer jedenfalls als dies weithin geschieht, wenn<br />
bestimmte, oftmals sehr konkrete Forderungen mit dem Verweis auf sogenannte<br />
Menschenrechte gestellt werden.<br />
92<br />
V. Fazit<br />
Wie ist also auf die eingangs aufgeworfene Frage zu antworten, ob die Katholische<br />
Soziallehre nicht die Menschenrechte zu ihrem Fundament nehmen sollte?<br />
Es dürfte aus dem Gesagten genügend deutlich hervorgehen, daß der Begriff<br />
„Menschenrechte“ schon aufgrund seiner Geschichte, aber auch aufgrund der<br />
unterschiedlichen Sachebenen und Dimensionen, die er enthält, nicht ohne weiteres<br />
als Fundament für eine Gesellschaftsethik genommen werden kann, sogar<br />
eher ungeeignet erscheint. Damit wird die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte<br />
für ein menschenwürdiges Zusammenleben in keiner Weise in Abrede<br />
gestellt, im Gegenteil: Um der Geltung der Menschenrechte willen dürfen<br />
diese weder abgetan noch überzogen werden, was letztlich beides zu ihrer Unwirksamkeit<br />
führen würde. 21<br />
Daraus aber ergibt sich die Antwort auf die zweite Frage, nämlich ob ein heute<br />
global geltendes Ethos auf die Idee der Menschenrechte gegründet werden kann.<br />
Zwar ist gewiß ein Ethos ohne Menschenrechte nicht denkbar, dies gilt auch für<br />
ein globales Ethos, aber Menschenrechte zur Grundlage einer universellen Sozialethik<br />
zu erheben, scheitert aufgrund der spannungsvollen Differenziertheit des<br />
Begriffs der Menschenrechte nicht zuletzt schon an praktischen Schwierigkeiten:<br />
Die Menschenrechtsvorstellungen sind disparat, je kontext - und horizontbezogen<br />
im Hinblick auf Situation, Kultur, Geistesgeschichte u.a.m. Insofern hier in der<br />
Regel die Dimension der „sekundären Naturrechte“ in den Blick genommen<br />
wird, ist dies auch nicht nur kaum vermeidlich, sondern geradezu zwangsläufig.<br />
Es ergibt sich somit: Menschenrechte selbst bedürfen, um praktisch gelten zu<br />
können, der ethischen Begründung. Sie sind nicht Prinzipien, sondern Konsequenzen<br />
ethischer Prinzipien. Dementsprechend sind nicht Menschenrechte die<br />
Basis für eine Sozialethik der Zukunft, vielmehr muß eine wirklich begründete<br />
Sozialethik das Fundament einer Kultur der Menschenrechte sein. So gesehen ist<br />
die christliche Soziallehre mit ihrem Anspruch, als Naturrechtsethik eine letztbegründete<br />
Ethik zu sein, nämlich eine Ethik auf der Basis eines in Gott gegründeten<br />
Menschenbildes, in besonderer Weis e herausgefordert, und offensichtlich<br />
aber auch mehr denn je vonnöten.
Anmerkungen<br />
1) Josef Isensee, Die katholische Kirche und das verfassungsstaatliche Erbe der Aufklärung,<br />
in: Moderne als Problem des Katholizismus, hrsg. von Urs Altermatt u.a. (= Eichstätter<br />
Beiträge, Bd. 28; Abteilung Philosophie und Theologie, Bd. 6), Regensburg 1995,<br />
S. 51-91, Zitat: S. 66. Vgl. ebd., Anm. 33 mit Literaturangaben.<br />
2) „Que n’ont pas fait les fils et les filles de votre nation pour la connaissance de<br />
l’homme, pour exprimer l’homme par la formulation de ses droits inaliénables! On sait la<br />
place que l’idée de liberté, d’égalité et de fraternité tient dans votre culture, dans votre<br />
histoire. Au fond, ce sont-là des idées chrétiennes. Je le dis tout en ayant bien conscience<br />
que ceux qui ont formulé ainsi, les premiers, cet idéal, ne se référaient pas à l’alliance de<br />
l’homme avec la sagesse éternelle. Mais ils voulaient agir pour l’homme.“ Johannes Paul<br />
II., In aëronavium portu „Le Bourget“ prope Lutetiam Parisiorum ad Christifideles ibidem<br />
congregatos habita, zitiert nach: Acta Apostolicae Sedis 72 (1980), S. 716-723, Zitat: n. 5.<br />
Übersetzung: „Was haben nicht die Söhne und Töchter ihrer Nation alles für die Kenntnis<br />
des Menschen getan, um den Menschen durch die Formulierung seiner unveräußerlichen<br />
Rechte zu beschreiben. Man kennt den Platz, den der Gedanke der Freiheit, der Gleichheit<br />
und der Brüderlichkeit in eurer Kultur und Geschichte einnimmt. Im Grunde sind dies<br />
christliche Ideen. Ich sage dies ganz in dem Bewußtsein, daß diejenigen, die in dieser Art<br />
als erste dieses Ideal formuliert haben, sich nicht auf die Verbindung des Menschen mit<br />
der ewigen Weiheit bezogen. Aber sie wollten für den Menschen handeln.“ A.S.<br />
3) „Außerhalb des päpstlichen Blickfeldes lag der (protestantisch dominierte) angelsächsische<br />
Kulturkreis: damit die Erfahrung staatlicher Stabilität, innerhalb deren sich die Liberalisierung<br />
und die Demokratisierung vollzogen, sowie die pragmatische Sicht der<br />
Menschenrechte, die den Streitstoff philosophischer Grundsätzlichkeit beiseite ließ.“ Josef<br />
Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts<br />
an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschrift der<br />
Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 73 (1987), S. 296-336,<br />
Zitat: S. 304.<br />
4) Vgl. ebd., S. 301.<br />
5) Vgl. Jozef Punt, Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und<br />
ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung (= Abhandlungen zur<br />
Sozialethik, Bd. 26), Paderborn u.a. 1987, S. 209-214.<br />
6) Vgl. ebd., S. 175-177, sowie J. Isensee, Keine Freiheit für den Irrtum, a.a.O., S. 302:<br />
„Die Lehrschreiben haben ihre konkreten Anlässe und zeitbezogenen Ziele. Das gilt schon<br />
für die erste thematisch einschlägige Äußerung des Papstes, das Breve ,Quod aliquantum‘<br />
Pius’ VI. von 1791. Dieses Schreiben an jene Erzbischöfe und Bischöfe Frankreichs, die<br />
der Nationalversammlung angehörten, war die Reaktion auf die kirchenpolitischen Beschlüsse<br />
der Versammlung, die Constitution civile du clergé. Es ging um die Abwehr<br />
dieser Maßnahmen. Die Absage an die Religionsfreiheit und an die Gleichheit war nicht<br />
mehr als ein Argument zur Verteidigung der kirchlichen Unabhängigkeit gegen den<br />
Zugriff des Staates, also nur ein obiter dictum. Detailfragen der Kirchenorganisation, der<br />
innerkirchlichen Disziplin, der Kirchengüter, nicht zuletzt die Verurteilung des Bischofs<br />
von Autun (Talleyrand) erfuhren umfangreichere Behandlung als die Themen von Freiheit<br />
und Gleichheit. – Selbst die prinzipiell und abstrakt gehaltenen Äußerungen der Enzyklika<br />
,Mirari vos‘ zur Meinungs-, Presse- und Gewissensfreiheit, zum Bücherverbot und zur<br />
Trennung von Kirche und Staat hatten ihre persönlichen Adressaten. Diese wurden freilich<br />
nicht beim Namen genannt (...).“<br />
7) „Die Schizophrenie des realen Liberalismus wurde denn auch von Leo XIII. nachgewiesen,<br />
wenn er feststellte, dessen Anhänger dehnten die Freiheit für sich und das Staatswesen<br />
so weit aus, daß sie bedenkenlos jeder verkehrten Meinung Tür und Tor öffneten,<br />
93
daß sie andererseits der Kirche vielfache Hindernisse in den Weg legten und ihre Freiheit<br />
weitestmöglich einschränkten, obwohl die Lehre der Kirche keinerlei Nachteil für das<br />
Gemeinwesen, im Gegenteil: nur Nutzen nach sich ziehe.“ J. Isensee, Keine Freiheit für<br />
den Irrtum, ebd., S. 304.<br />
8) Vgl. ebd., S. 298f.<br />
9) Gustav Gundlach, Art. Sozialphilosophie, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft,<br />
Bd. 7, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Freiburg i.Br. 6 1962, Sp. 337-346. Wiederveröffentlicht<br />
in: Gustav Gundlach, Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, hrsg.<br />
von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, Bd. 1,<br />
Köln 1964, S. 57-65, Zitat: S. 62.<br />
10) Vgl. ebd.<br />
11) A.F. Utz bringt es wie folgt auf den Punkt: „Aus dem Verhältnis von Wesensnatur<br />
und individueller Ausprägung ergibt sich vor der empirischen Feststellung der Ergänzungsbedürftigkeit<br />
des Individuums die wesenhaft soziale Natur jedes Menschen und damit<br />
der an jedes Individuum gestellte Auftrag, mit den Mitmenschen zu kooperieren, um<br />
die reiche Potentialität der menschlichen Natur zu aktuieren durch Erstellung und Verwirklichung<br />
eines naturkonformen Gemeinwohls, in dem naturgemäß auch die individuelle<br />
Eigenverantwortlichkeit der Person ihren Platz hat.“ Arthur F. Utz, Johannes Messners<br />
Konzeption der Sozialphilosophie. Die Definition der Sozialnatur und der Gesellschaft,<br />
in: ders., Ethik des Gemeinwohls. Gesammelte Aufsätze 1983-1997, hrsg. von Wolfgang<br />
Ockenfels, Paderborn u.a. 1998, S. 186-219, Zitat: S. 209f.<br />
12) Vgl. Arthur F. Utz, Sozialethik, Bd. 1: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre (=<br />
Sammlung Politeia, Bd. 10/1), Heidelberg-Löwen 2 1964, S. 144f.<br />
13) Ebd., S. 145.<br />
14) Vgl. Arthur F. Utz, Von der Erfahrung zum klassischen Naturrecht, in: ders., Ethik<br />
des Gemeinwohls, a.a.O., S. 37-41, hier: S. 38.<br />
15) Ebd.<br />
16) Med. II, 8; vgl. auch zuvor Med. II, 6.<br />
17) Menschenrechte – eine Herausforderung der Kirche, hrsg. von Johannes Schwartländer<br />
(= Entwicklung und Frieden, Materialien, Bd. 119), München-Mainz 1979, S. 25.<br />
18) Eberhard Schockenhoff, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer<br />
geschichtlichen Welt, Mainz 1996, S. 159f.: „Ebenso verhält es sich nach Thomas nun<br />
auch mit den ersten Prinzipien der praktischen Vernunft, die zugleich die obersten Grundsätze<br />
der lex naturalis sind. Wir können hinsichtlich ihrer nicht irren, da wir sie in jedem<br />
praktischen, auf die Verwirklichung des Guten zielenden Urteil immer schon voraussetzen.<br />
Die Gültigkeit der obersten Urteilsformen der praktischen Vernunft beruht allein auf<br />
der ersten Ureinsicht in den Sinn des Guten, der jedem vernünftig denkenden Menschen<br />
vertraut ist. (...) Er drückt den gerundivischen Charakter ihrer Sätze aus, die das Sein-<br />
Sollen des Guten näherhin konkretisieren. Das Grundgebot bonum faciendum, malum<br />
vitandum fächert sich gewissermaßen in die allgemeinen Prinzipien der praktischen Vernunft<br />
auf, von denen Thomas immer nur andeutungsweise und in unvollständiger Aufzählung<br />
spricht. (...) Die Formulierung dieser obersten Prinzipien bleibt also noch weitgehend<br />
inhaltsleer und steckt gewissermaßen nur den Bereich ab, innerhalb dessen die moralische<br />
Grunddifferenz von Gut und Böse entsprechend dem obersten Gebot des sittlichen Gesetzes<br />
zur Geltung gebracht werden soll.“<br />
19) Ebd., S. 178f. Vgl. auch ebd., S. 181: „Da diese notwendigen Ergänzungen jedoch geschichtlich<br />
geworden sind und weiteren Veränderungen unterliegen, kommt das natürliche<br />
Gesetz, obwohl seine allgemeinen Gebote in sich unveränderlich sind, immer nur in einer<br />
wandelbaren Gestalt zu geschichtlicher Geltung. Ein schlechthin unveränderliches Sittengesetz<br />
wäre dagegen für Thomas schon von seinem Begriff her ein Unding.“<br />
94
20) E. Schockenhoff bringt es auf den Punkt: „Jeder Katalog von Menschenrechten enthält<br />
deshalb einen Vorgriff auf die Idee eines Ganzen, das sich nie vollständig erfassen<br />
läßt und dennoch in jedem Versuch der historischen Annäherung vorausgesetzt ist. Zwischen<br />
der ‚Natur‘ des Menschen und ihren historischen Realisierungsformen waltet so<br />
eine dialektische Beziehung, die nicht auflösbar ist. Für die Entwicklung unseres Menschenrechtsethos<br />
bedeutet dies, daß der Begriff eines ‚von Natur aus‘ Rechten nur in Gestalt<br />
einzelner Menschenrechte verwirklicht werden kann, wohingegen alle einzelnen<br />
Menschenrechte diesen Begriff auch in ihrer Gesamtheit nicht vollständig erfassen.“ Ebd.,<br />
S. 197.<br />
21) „Wenn man, wie es häufig geschieht, unter dem Etikett der Menschenrechte jede Art<br />
von sozialer und politischer Zielvorstellung unterbringen will, wird der Menschenrechtsgedanke<br />
überdehnt und verliert seine politische Effektivität.“ Theodor Herr, Johannes<br />
Paul II. und die Menschenrechte. Neue Wege der katholischen Soziallehre? (= Kirche und<br />
Gesellschaft, Nr. 90), Köln 1982, S. 13.<br />
Dr. Alexander Saberschinsky arbeitet als Sozialethiker und Liturgiewissenschaftler<br />
in Trier.<br />
95
96<br />
Andreas Püttmann<br />
Der Mensch im Zerrspiegel der Medien<br />
„Die Epoche der Weltanschauungsdebatten ist vorbei. Es hat die Epoche der Menschenanschauungsdebatten<br />
begonnen“, konstatiert Joachim Kardinal Meisner im<br />
Juni 2001 im kritischen Blick auf die „Folgen einer Entwicklung, die den Menschen<br />
nicht als Geschöpf Gottes, sondern von seiner Entstehung an bis zu seinem Tod als<br />
herstellbares und verfügbares Objekt menschlicher Technik begreift“. 1 Bei diesem<br />
Epochenwechsel handelt es sich aber wohl nur um eine Akzentverschiebung innerhalb<br />
eines unauflösbaren Ideen- und Wirkungszusammenhangs. Von jeher beruhen<br />
Konzeptionen von Gesellschaft und Staat, ihre Wirkungsmacht, Persistenz oder ihr<br />
Scheitern auf Menschenbildern. Deren Pluralität erwächst aus der Schwierigkeit,<br />
„durch alle geschichtlichen Ablagerungen und wechselnden Interpretamente hindurch<br />
auf so etwas wie ein stets gleichbleibendes Wesen zu kommen“. 2 Die Frage<br />
nach der Natur des Menschen „stößt bekanntlich auf den Zirkel, daß derjenige, der<br />
die Frage stellt, auch der ist, nach dem gefragt wird“; diese Selbstreferenz „provoziert<br />
entweder die Suche nach einem gültigen Wesen des Humanen innerhalb des<br />
Zirkels oder die Frage nach denjenigen Instanzen, die außerhalb seiner der Repräsentation<br />
des Menschen dienen“. 3 Zu diesen gehören heute zuvörderst die Massenmedien,<br />
in denen wir dem Menschen gleich in drei Positionen begegnen: als dem,<br />
den die Medien zeigen; als dem, der die Medien nutzt, und als dem, der den Blick<br />
der Medien steuert. Welche Rolle spielen also die Massenkommunikationsmittel für<br />
unser anthropologisches Wissen und Meinen? Welches Menschenbild vermitteln<br />
sie?<br />
Das Thema kann hier nur fragmentarisch behandelt werden. Denn einer Reihe von<br />
inhaltsanalytischen Studien über die mediale Darstellung von soziodemographischen<br />
Gruppen – Männer und Frauen, Alte und Jugendliche, Ausländer oder einzelne<br />
Völker – steht eine tabula rasa in der Grundfrage gegenüber, welches Bild des<br />
Menschen Inhalte, Nutzung und Macher von Medien heute insgesamt vermitteln.<br />
Gibt es das Menschenbild der Medien nicht oder ist es mangels empirischer Studien<br />
schwerlich zu skizzieren, so liegt es nahe, die Frage auf die Prämisse jener (noch)<br />
weithin akzeptierten Grundaussagen über den Menschen zu fokussieren, die uns als<br />
„christliches Menschenbild“ überliefert sind und auch unsere Verfassungsordnung<br />
prägen: Das Bundesverfassungsgericht betont in religiös gefärbter Diktion, „daß der<br />
Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenständigen Wert besitzt und Freiheit<br />
und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind“. 4 In der Genese<br />
der Menschenbildformel 5 des Gerichts ist „eine eindeutige Verbindungslinie zur<br />
katholischen Soziallehre“ nachweisbar: Sein damaliger Präsident Josef Wintrich<br />
„übernimmt aus ihr wesentliche Elemente für sein Menschenbild“, ohne dieses<br />
„ausdrücklich auf die christliche Auffassung von der Gottesebenbildlichkeit des<br />
Menschen zu gründen“. 6
Wurde unsere Kultur und Rechtsordnung nachhaltig vom Christentum und seinem<br />
Menschenbild inspiriert, dann ergeben sich aus der Fragestellung auch Perspektiven<br />
auf die Zukunft unseres Gemeinwesens. Ein „richtiges“, realistisches Bild des Menschen<br />
gehört zu jenen vielbeschworenen Voraussetzungen, von denen der demokratische<br />
Verfassungsstaat lebt, ohne sie garantieren zu können. Seine geistige Pflege<br />
und „Übersetzung“ in die jeweilige zivilisatorische Situation hinein kann insofern<br />
als „Verfassungserwartung“ 7 an jene gesellschaftlichen Potenzen begriffen werden,<br />
welche die geistige und sittliche Orientierung im Lande beeinflußen. Dazu gehören<br />
schon rein quantitativ die Massenmedien, wenn man bedenkt, daß der Deutsche<br />
durchschnittlich sechs Stunden täglich mit Medienkonsum verbringt 8 und daß ein<br />
14jähriger Schüler in seinem Leben mehr Zeit vor dem Fernseher als im Klassenzimmer<br />
oder im Gespräch mit seinen Eltern verbracht hat. Josef Isensee bezeichnet<br />
die Medien daher in Übereinstimmung mit neueren Befunden der Medienwirkungsforschung<br />
als „die großen Erzieher der heutigen Gesellschaft“ 9 . Kann aber ein erheblicher<br />
Einfluß von Massenmedien für unsere Wirklichkeitswahrnehmung, Meinungsbildung<br />
und Verhaltensbereitschaft angenommen werden, so ist dies Grund,<br />
dem/den in den Medien vermittelten Menschenbild/ern unter der Perspektive einer<br />
Affirmation oder Destruktion der christlichen Auffassung vom Menschen nachzuforschen.<br />
I. Die religiöse Dimension: ignoriert, reduziert, karikiert<br />
Die Idee der Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Fundament<br />
des christlichen Menschenbildes wird man als theologische Denk- und<br />
Sprachfigur schwerlich explizit in den Medien finden; sie könnte aber durch den<br />
Stellenwert religiöser Bezüge des Menschen im Programmangebot sowie durch eine<br />
angemessene Art der Darstellung von Glaube und Kirche dort vermittelt werden.<br />
„Das christliche Menschenbild ist die direkte Konsequenz des christlichen Gottesbildes.<br />
Wem das nicht klar ist, dem ist auch das christliche Menschenbild nicht<br />
klar“ 10 , hat Joachim Kardinal Meisner gegen Tendenzen betont, im öffentlichen<br />
Leben eine Art christliche Anthropologie ohne Gott zur Geltung bringen zu wollen.<br />
Kommt der „Gottesbezug“ des Menschen also – wie in der Verfassung – auch in der<br />
Medienwirklichkeit vor?<br />
Ausgehend von einer Umfrage, bei der die ersten drei der Zehn Gebote als die unwichtigsten<br />
eingestuft wurden, kommentierte kürzlich der Leiter der katholischen<br />
Journalistenschule: „Wir kennen und lehren vom Glauben fast nur noch die Ausführungsbestimmungen,<br />
und bei den Verboten sind wir uns am sichersten. Vom Gott,<br />
der Himmel und Erde und alles Getier und Gemensch erschuf, schweigen wir, und<br />
langweilen die Menschen mit unserem ewigen Moralisieren, dessen Basis, den<br />
lebendigen Gott nämlich, wir weitgehend aus dem Blick verloren haben“. 11 Ein<br />
Reflex des Blicks in Zeitung und Fernsehen? Jedenfalls ergab eine Inhaltsanalyse<br />
der Printmedien Der Spiegel, Focus, Die Woche, Süddeutsche Zeitung, Tageszeitung,<br />
Berliner Zeitung und Stuttgarter Zeitung im Erscheinungszeitraum von April<br />
2000 bis April 2001, „daß sich bei allen Blättern nur rund ein Prozent der Beiträge<br />
mit religiösen Themen befaßt. Ihre Schlagzeilen stürzen sich mit Vorliebe – bei den<br />
Tageszeitungen zu 70 bis 80 Prozent – auf die Amtsträger in der Kirche (...). Inhalt-<br />
97
liche Renner sind noch ,Ehe, Scheidung, Ehebruch, wiederverheiratete Geschiedene‘<br />
und ,Schwangerschaft, Abtreibung, Konfliktberatung‘ (...). Die veröffentlichte<br />
Meinung ist demnach auch nicht so ganz dicht dran am Geheimnis des Glaubens“. 12<br />
Gleiches ergaben Inhaltsanalysen von TV-Nachrichtenmagazinen. 13<br />
Die Kirche, immerhin Organisation von Zweidritteln der Menschen und zweitgrößter<br />
Arbeitgeber in Deutschland mit globaler Präsenz, lokaler Verankerung und 7<br />
Millionen Gottesdienstbesuchern wöchentlich, genügt in ihren zentralen Botschaften<br />
offenbar nicht den Aufmerksamkeitsregeln der Medienmacher. So berichtet der<br />
frühere Kulturchef und stellvertretende Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks:<br />
„Als vor einer Reihe von Jahren in einer anderen Redaktion ein Film über die<br />
Wallfahrt zum bayerischen Marienwallfahrtsort Altötting gemacht werden sollte,<br />
wollte es mir nicht in den Sinn, daß wir dieses Thema nicht schon mehrmals behandelt<br />
haben sollten. Aber es stimmte: Wir hatten die vielen Hunderttausende von<br />
Pilgern, auch von jungen Menschen, die jedes Jahr auf stundenlangen Märschen zur<br />
Muttergottes in Altötting pilgern, überhaupt nicht wahrgenommen. Aber zur gleichen<br />
Zeit haben wir jeden Protestmarsch von zwanzig oder fünfzig Leuten durch<br />
die Münchner Innenstadt selbstverständlich aufgenommen und noch am gleichen<br />
Abend gesendet. (...) Kommt die eine Wirklichkeit deshalb eher in den Blick, weil<br />
sie der Lebenswirklichkeit der Redakteure eher entspricht?“ 14 Die Antwort geben<br />
Journalistenumfragen: Tatsächlich ist diese Berufsgruppe weit überdurchschnittlich<br />
konfessionslos und kirchendistanziert, bis hin zum vollständigen religiösen Analphabetismus.<br />
15 Die prekären Konsequenzen für die Hüter und Verkünder der chris tlichen<br />
Botschaft hat Josef Isensee auf die plastische Formel gebracht: „Deutsche<br />
Bischöfe fürchten nicht den Bundeskanzler, sondern den Fernsehjournalisten“. 16<br />
Die eindimensionale Abflachung des christlichen Profils im Fremdverständnis säkularer<br />
Medien zeigt sich in der Nachrichtenselektion. Wenn in Predigten der hohen<br />
Feste – die (etwa Weihnachten oder Pfingsten) das christliche Menschenbild besonders<br />
gut verdeutlichen können – nicht eine politisch verwertbare Aussage vorkommt,<br />
sinkt der Nachrichtenwert erheblich. Bischöfe wundern sich, „daß eine<br />
Nachricht am Rande einer Bischofskonferenz zur einzigen Hauptsache wird und die<br />
Relationen und Proportionen der einzelnen Themen einer Veranstaltung verzerrt.<br />
Nicht selten kommt einem als Teilnehmer einer solchen Veranstaltung (z. B. auch<br />
Katholikentage, Kirchentage) der Eindruck, man sei bei der so in der Berichterstattung<br />
gespiegelten Veranstaltung gar nicht gewesen“. 17 Allerdings hat man auch bei<br />
mancher chris tlichen Verkündigungssendung bis hin zum „Wort zum Sonntag“ eher<br />
den Eindruck, in einer brandenburgischen LER-Stunde zu sitzen als einer kirchlich<br />
verantworteten Veranstaltung beizuwohnen. Und zu mancher durchaus seriösen<br />
Sendung der Medien treten eingeladene Kirchenführer erst gar nicht an. Als Sabine<br />
Christiansen im Juni 2001 eine höchst Menschenbild-relevante Talkrunde zum<br />
Thema Prostitution zusammenstellte, fand sich kein deutscher Bischof bereit, dort<br />
die christliche Auffassung von der Würde des Menschen vor einem Millionenpublikum<br />
zu erläutern.<br />
Auch im Unterhaltungsprogramm scheinen sich Marginalisierung und Deformation<br />
christlicher Religiosität zu mehren. Zwar fanden Pfarrer- und Nonnenserien in öffentlich-rechtlichen<br />
wie privaten Programmen auch in den achtziger und neunziger<br />
98
Jahren ein beachtliches Publikum und vermochten es, „das Bild von weltoffenen,<br />
erdverbundenen Pfarrern und Gemeinden (...) und christliche Grundhaltungen auf<br />
unterhaltsame Weise zu vermitteln“ 18 , doch blieb der Transzendenzbezug von Pater<br />
Βrowns und Don Camillos Nachfolgern vage bis unkenntlich. 19 Und viel interessanter<br />
als der Mensch als Wesen der Transzendenz erscheint zeitgenössischen Filmemachern<br />
offenbar der Kleriker als sexuelles Wesen („Der Priester“, „Der Kardinal“).<br />
Das krasseste Signal der Mißachtung christlicher, keineswegs aber jüdischer oder<br />
moslemischer „Ehrfurcht vor Gott“ sind die sich häufenden Fälle von Blasphemie<br />
und Kirchenschmähung in den Medien. Dabei geht für konservative wie für liberale<br />
Kirchenführer nicht nur die „zunehmende Hetze“ (Karl Kardinal Lehmann) gegen<br />
die Kirche inzwischen „über alles erträgliche Maß hinaus“ (Joachim Kardinal<br />
Meisner). Bei der Jagd nach Quoten und Aufmerksamkeit werde selbst das Heiligste<br />
zum Gegenstand von Spott und Hohn, beklagt Peter Hahne, ZDF-Hauptstadtkorrespondent<br />
und EKD-Ratsmitglied; es sei „schizophren“, daß nach fremdenfeindlichen<br />
Übergriffen stets die Bedeutung des Religionsunterrichts für die Wertorientierung<br />
betont werde, zugleich aber Glaubensüberzeugungen und religiöse<br />
Symbole in den Medien immer wieder zum Gegenstand dümmsten Spotts erhoben<br />
würden, ohne daß dies Folgen habe. 20 In den „publizistischen Grundsätzen (Pressecodex)“<br />
des Deutschen Presserates heißt es zwar: „Veröffentlichungen in Wort und<br />
Bild, die das sittliche oder religiöse Empfinden einer Personengruppe nach Form<br />
und Inhalt wesentlich verletzen können, sind mit der Verantwortung der Presse<br />
nicht zu vereinbaren“ (Ziff. 10), doch dies hinderte Journalisten zum Beispiel nicht<br />
daran, nach dem Bundesverfassungsgerichtsbeschluß zum Schulkreuz 1995 das<br />
Kruzifix als Klorollenhalter („Spielt Jesus noch eine Rolle?“) zu präsentieren oder<br />
im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu spotten: „2000 Jahre Rumhängen sind ja<br />
auch kein Vorbild für die Jugend“. 21<br />
II. Medienpranger und Menschenzoo: Die verletzte Würde<br />
Wie zur Bestätigung der These vom unauflöslichen Zusammenhang zwischen Go ttesbild<br />
und Menschenbild treten mit der zunehmenden Verletzung des religiösen<br />
Empfindens in den Medien auch vermehrt gegen die Würde der Person gerichtete<br />
Tabubrüche auf. Hierbei mag man zunächst an die „Preisgabe des Ehrenschutzes<br />
und der Menschenwürde an eine exzessiv verstandene Meinungs- und Kunstfreiheit<br />
(,Alle Soldaten sind Mörder‘)“ 22 denken oder an die Skrupellosigkeit, mit der inkriminierte<br />
Personen öffentlich vorverurteilt werden. Nachdem der sachsen-anhaltinische<br />
Ministerpräsident Werner Münch, als vermeintlicher „Raffke“ samt dreier<br />
Minister in der sogenannten Gehälter-Affäre 1993 mit Schimpf und Schande aus<br />
dem Amt gejagt, schließlich von Verwaltungs- und Strafgerichtsbarkeit für unschuldig<br />
befunden worden war, kam dies, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
titelte, nur noch einem „Freispruch nach der Hinrichtung“ gleich. Wie Poesie liest<br />
sich da Ziffer 13 des Pressekodex: „Die Berichterstattung über schwebende Ermittlungs-<br />
und Gerichtsverfahren muß frei von Vorurteilen erfolgen. Die Presse vermeidet<br />
deshalb vor Beginn und während der Dauer eines solchen Verfahrens in<br />
Darstellung und Überschrift jede einseitige oder präjudizierende Stellungnahme.<br />
99
Ein Verdächtiger darf vor einem gerichtlichen Urteil nicht als Schuldiger hingestellt<br />
werden“. In einem Kommentar hat der Rechtsanwalt und Professor Rüdiger Zuck<br />
nach einer eindrücklichen Schilderung seiner – bis zu Handgreiflichkeiten reichenden<br />
– Erfahrungen in der CDU-Spendenaffäre 23 kürzlich das bittere Fazit gezogen:<br />
„Freiwild ist man eben für die Medien, und sonst nichts. Nun geht es mir aber gar<br />
nicht in erster Linie um die Manieren, sondern darum, mit welcher Selbstverständlichkeit<br />
und Gleichgültigkeit gegenüber der Person man für Medienzwecke in Anspruch<br />
genommen, instrumentalisiert und zum Objekt gemacht wird. Die Medien<br />
gehen offenbar dabei davon aus, wir hätten alle dieselbe Mentalität: Sieht das Publikum<br />
eine Kamera, winkt es. Offenbar wird angenommen, es habe sich zu den bekannten<br />
Trieben ein weiterer hinzuentwickelt, die Mediengeilheit, die jeden von den<br />
Medien Befragten in einen adrenalingesteuerten Taumel versetzt“. 24<br />
Damit ist der Blick auf jene mediale Herausforderung des christlichen Menschenbildes<br />
gelenkt, bei welcher die Würde der Person nicht mehr als Schutznorm gegen<br />
Angriffe Dritter, sondern als Schranke der freien Selbstbestimmung geltend zu<br />
machen wäre. Angesichts der Tendenz der Rechtsprechung, einen Schutz des autonom-freiwillig<br />
Handelnden gegen sich selbst nach dem Grundgesetz abzulehnen 25 ,<br />
ist es aber illusionär, im Grundgesetz „ein Bollwerk zu sehen, das der Unterbietung<br />
des Menschen durch den Menschen wirksam wehrt. Vielmehr erweist sich der<br />
Rechtsstaat ziemlich hilflos in der Pflege seiner eigenen sittlichen Voraussetzungen,<br />
wo „die Verlockung, auf dem Bildschirm zu erscheinen, häufig größer ist, als die<br />
Selbstachtung, als die Scham, sich auch noch bei intimsten Gedanken und Handlungen<br />
zu zeigen“. 26 Beispiel „Big Brother“: Am 1. März 2000 zogen fünf Männer und<br />
fünf Frauen für 100 Tage in einen von der Außenwelt isolierten Wohncontainer ein,<br />
in dem 28 Kameras und 47 Mikrophone täglich 24 Stunden lang alle Aktionen der<br />
Bewohner im gesamten Haus optisch und akustisch aufzeichneten. Eine unbeobachtete<br />
Stunde täglich, die man den Teilnehmern unter dem Druck von Öffentlichkeit<br />
und Zensurbehörden zugestand, wollten diese gar nicht haben. Aus dem Filmmaterial<br />
stellte die Redaktion täglich eine ca. 50minütige Sendung (mit zwei Werbeunterbrechungen)<br />
zusammen, die einen Tag später im Privatsender RTL 2 ausgestrahlt<br />
wurde. Nominiert von der Wohngruppe und abgewählt von den Zuschauern, wurde<br />
alle zwei Wochen ein Bewohner des Hauses verwiesen; der Gewinner des Spiels<br />
verließ nach 100 Tagen mit einer Prämie von 250.000 DM den Container. Das<br />
zynische Motto der Reality-soap, die inzwischen mehrere Folgestaffeln und ähnliche<br />
Sendungen („Girlscamp“, „House of Love“ u. a.) nach sich gezogen hat: „Du<br />
bist nicht allein“. Die Tages- und Wochenaufgaben, wie etwa eine Kletterwand oder<br />
circensische Vorführungen im Garten, erinnerten an eine Beschäftigungstherapie für<br />
gefangene Tiere im Zoo; wie dort bildeten in den Sendungsausschnitten die Bereiche<br />
Nahrungsaufnahme, Paarungsverhalten und wechselseitige Spiele die zentralen<br />
Attraktionsfaktoren der Beobachtung. 27 Der Ausscheidungskampf der „Aufmerksamkeitsgladiatoren“<br />
28 erfolgte unter Einsatz eines ansonsten in der Gesellschaft<br />
geächteten Sozialverhaltens („mobbing“) und war unverkennbar von einem „ökonomischen<br />
Imperativ“ überlagert 29 : „Es war auffällig, daß vor allem diejenigen<br />
Kandidaten aus der Sendung genommen wurden, die sich zu diesem Zeitpunkt<br />
besonders gut vermarkten ließen. Zlatko brachte außerhalb des Containers mehr<br />
100
Einnahmen für die Produktionsfirma Endemol, die mit 50% an seinen Einnahmen<br />
beteiligt ist, als durch sein weiteres Bleiben.“ 30 „Das Endergebnis der medialen<br />
Selbstinszenierung sind menschliche Markenartikel, die unter dem ,Big Brother‘-<br />
Label verkauft werden.“ 31 „Zlatko ist das Produkt eines medialen Labors, in dem<br />
die Marktgängigkeit von Versuchspersonen erprobt und gleichzeitig hergestellt<br />
wird. Es ist ein Warentest (...).“ 32 Schon diese wenigen Formulierungen aus der<br />
einschlägigen Sekundärliteratur machen deutlich, wie würdelos das hier millionenfach<br />
verbreitete Menschenbild ist – von der Gefahr psychischer (und physischer)<br />
Schädigung der Probanden dieser und ähnlicher „sozialanthropologischer Kulinarien“<br />
33 ganz zu schweigen.<br />
III. Trieb- und Affektstereotypen<br />
Der „Big Brother“-Sieger „verkörpert das derzeitige gesellschaftliche Ideal des<br />
,Ego-Taktikers‘ (Klaus Hurrelmann), der kommunikativ ist, sich schnell verändernden<br />
Anforderungen anpaßt und sie zur Optimierung der eigenen Situation zu nutzen<br />
weiß“ 34 . Bildung ist bei diesem Erfolgsrezept nicht gefragt, eher sogar hinderlich:<br />
„Wer auf irgendeine Weise den Eindruck erweckt, er habe eine differenziertere<br />
Meinung (...), ist bei den eingefleischten Show-Fans nicht länger wohlgelitten.<br />
Entsprechend schnell avancierte gerade der BB-Protagonist Zlatko zu einem Medienstar“;<br />
er besticht durch seine „Eindimensionalität: Ihm ist Shakespeare unbekannt,<br />
was ihn nicht weiter bekümmert, sondern ihm (Zitat:) ,scheißegal‘ ist. Er<br />
protzt, stöhnt demonstrativ bei seinen Fitneßübungen, lästert, schimpft, gibt peinliche<br />
Weisheiten zum besten (...) und hat zu jedem Thema eine feststehende, unumstößliche<br />
Meinung (Zitat: ,Schwule sind Scheiße‘)“. 35 Inzwischen gibt es selbstverständlich<br />
ein „Best of Zlatko Sprüche Buch“, und – trotz völliger Sangesuntauglichkeit<br />
– gelangte Zlatko in die nationale Vorauswahl für den Europäischen Schlagerwettbewerb.<br />
Jürgen Bräunlein hat in seinem Buch: „Schön blöd“ eine Fülle von<br />
Beispielen für den „unheimlichen Medienerfolg der Untalentierten“ zusammengetragen<br />
und systematisiert. Sein Fazit: „Heute noch nach einem verbindlichen kulturellen<br />
Bildungskanon zu suchen ist vergeblich. Schon das Wort Kanon ist ein Frevel.<br />
(...) Bildung und Stilsicherheit sind sehr schön, aber ,bad taste‘ ist lebensfroher<br />
und lustiger. (...) Vermutlich haben Gebildete schon immer in diesen Gefilden des<br />
Verbotenen gewildert, aber sie haben es bisher nicht zugeben können, haben sich<br />
dafür geschämt. Doch jetzt ist das unsichtbare Gängelband der Hochkultur schlaff<br />
geworden: Lese statt Adorno lieber Porno!“ 36<br />
Das Verblassen des Menschen als geistiges Wesen in der audiovisuellen Medienwirklichkeit<br />
findet seine Entsprechung im Körperkult. 37 „Zu Zeiten von Marilyn<br />
Monroe war Pin-up zu sein vielleicht der Start zu einer Karriere, niemals aber deren<br />
Fortsetzung. Heute ist es umgekehrt. (...) Was früher den Ruf ruinierte, festigt ihn<br />
jetzt. (...) Bevor Anna Nowak, Freunden der ,Lindenstraße‘ als Urzula bekannt, für<br />
den ,Playboy‘ alle Hüllen fallen ließ, philosophierte sie über den ,Geist der Nacktheit‘:<br />
,Es ist eine große Herausforderung, meine Haut als Kostüm zu benutzen.‘<br />
Eine Herausforderung, die alle spüren und die meisten bewältigen“. 38 Nach einem<br />
EU-Bericht über das Bild der Frau in den Medien liegt zwar bei Werbesendungen<br />
der Schwerpunkt „deutlicher auf dem Körper der Frau“ 39 ; doch deuteten die weni-<br />
101
gen Studien zur Darstellung von Männern darauf hin, „daß sich ihr Bild im Wandel<br />
befindet, da sie nunmehr häufiger als Väter oder sensible Menschen oder als begehrenswerte<br />
Körper dargestellt werden“; in Mittel- und Osteuropa hätten sich die<br />
Medieninhalte „westlichen Normen angepaßt, so daß nach Auffassung der Forscherinnen<br />
in einigen dieser Staaten das Frauenbild nun stärker stereotypisiert ist als<br />
vor dem Umbruch, vor allem im Hinblick auf die Sexualisierung und Ausbeutung<br />
des weiblichen Körpers“. 40 Im Westen erfolgte die „Erotisierung“ der Medieninhalte<br />
in drei Etappen: Zunächst wurde der weibliche Körper vermehrt in Zeitschriften<br />
„oben ohne“ oder nackt dargestellt – etwa auf 43 Prozent der Titelseiten des STERN<br />
(1960-88) –, dann kam es zu Beginn der achtziger Jahre mit der Verbreitung von<br />
Videorecordern zu einem erheblichen Anwachsen von pornographischen Produktionen<br />
(bis zu 25 Prozent Marktanteil in den Videotheken); nach der Einführung<br />
privater Fernsehprogramme wurde Sex in Filmen, Spielshows und Magazinen direkt<br />
auf den Bildschirm gebracht – als „Türöffner“ für „bislang obstinate Zuschauergruppen“<br />
sowie als begehrtes Umfeld für Werbekunden. 41 Die öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunkanstalten zogen mit eigenen Erotikangeboten, „oftmals jedoch<br />
kulturell oder künstlerisch verbrämt“, nach. 42<br />
Solche Camouflage brauchte RTL für seine bahnbrechende Spielshow nicht: „Der<br />
Eindruck, daß wir es bei den Eurogirls und Früchtchen eher mit Objekten der Begierde<br />
und mit Konsumartikeln denn mit Frauen zu tun haben, wird auch dadurch<br />
noch verstärkt, daß – vergleichbar einem Warensortiment im Supermarkt – immer<br />
mehr von ihnen bereitstehen als letztendlich ausgewählt werden. (...) Tutti Frutti<br />
und Konsorten präsentieren uns eine funktionslose Aneinanderreihung dieses Endproduktes<br />
,Frau‘ en masse. Jugendlich, makellos, fast schon geistesabwesend teilen<br />
die Frauen in solchen Sendungen miteinander ihre eigene Objektivierung. Ihre Bewegungen<br />
wirken mechanisch, gleichförmig, keine ,tanzt‘ aus der Reihe. Sie sind<br />
beliebig und austauschbar“. 43 Ein Indiz für die Wirkung solcher Medienbotschaften<br />
auf die Lebenswirklichkeit mag man schon darin sehen, daß die Nachfrage nach<br />
halterlosen Strümpfen nach jeder Tutti Frutti-Sendung rapide stieg, wobei die Käufer<br />
überwiegend männlichen Geschlechts waren. 44 Daß die zunehmende Sexualisierung<br />
in den Medien nicht einfach gesellschaftliche Wirklichkeit widerspiegelt, läßt<br />
schon eine Inhaltsanalyse deutscher Fernsehprogramme im Jahr 1990 erahnen: Von<br />
den in Sendungen mit Spielhandlung vorkommenden sexuellen Beziehungen fallen<br />
37 Prozent in die Kategorie „dauerhaft“; ein insgesamt größerer Anteil verteilt sich<br />
auf „eine Nacht“ (20%), „feste und zusätzliche“ (12%), „mehrere gleichzeitig“<br />
(4%), „mehrere nacheinander“ (3%) und sonstiges (4%); bei einem Viertel war die<br />
Dauer nicht erkennbar. 45 In Umfragen über das tatsächliche Sexualverhalten der<br />
Deutschen gaben jedoch 89 Prozent der Frauen und 77 Prozent der Männer an, in<br />
den letzten 12 Monaten nur einen oder keinen Geschlechtspartner gehabt zu haben.<br />
Selbst bei Annahme einer „Dunkelziffer“ von Falschantworten läßt sich die Lebensrealität<br />
schlechterdings nicht mit dem Medienbild zur Deckung bringen.<br />
Die Reduktion des Menschen auf seine Triebe und Affekte ist weiterhin besonders<br />
augenfällig bei Sendungen, in denen pure Gewalt bar jeden Kontextes und die „nur<br />
fiktionale“ Vernichtung von Menschen gezeigt wird, sowie bei „Beschimpfungs-,<br />
Spott-, Demaskierungs-, Erniedrigungs-, Bloßstellungs-, Brüll- sowie Dreinhau-<br />
102
Shows“ 46 , wie sie vorwiegend von privaten TV-Veranstaltern angeboten werden.<br />
Das Ausreizen der Trieb-Stereotypen, die offenkundig das Menschenbild der Medienmacher<br />
prägen, droht bei den Rezipienten eine innere Leere, ein Sinn-Vakuum<br />
zu hinterlassen, das seinerseits nach immer intensiverem Medienkonsum mit immer<br />
extremeren Emotionen verlangt, um überdeckt zu werden. Die „Katharsis“-These<br />
einer Entlastung vom Trieb- oder Spannungsstau hat die Wirkungsforschung längst<br />
aufgegeben zugunsten der „Risiko-These“ (oder „Doppelte-Dosis -Theorie“), wonach<br />
mediale Gewaltdarstellungen zwar nicht regelmäßig, jedoch in Verbindung<br />
mit familiären und milieuspezifischen Belastungen sowie entwicklungspsychologischen<br />
Krisen gewaltauslösend sein können. Der Zusammenhang von Gewalt-<br />
Computerspielen und der Abstumpfung des Mitleidsempfindens ist erwiesen. 47<br />
Wenn gewalttätige Actionhelden zu Idolen der Kinder avancieren und in deutschen<br />
Fernsehprogrammen wöchentlich 4000 Leichen – darunter schon ein Großteil im<br />
Vorabendprogramm –„produziert“ werden 48 , verwundern spektakuläre Nachahmungstaten<br />
sowie ein starker Anstieg der Kinder- und Gewaltkriminalität jedenfalls<br />
nicht. Schließlich spiegeln sich Medieneinflüsse auch in der größeren Angst von<br />
„Vielfernsehern“ wider, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden: Fiktion und<br />
Realität verschwimmen. 49<br />
Die Sorge um den Schutz der Würde der Person betrifft auch das Medienbild älterer<br />
Menschen. Wenn diese im Durchschnitt aller Sendungen etwa 10 Prozent der auftretenden<br />
Personen darstellen, ist dies nicht einmal die Hälfte des realen Bevölkerungsanteils<br />
der über 60jährigen. 50 Neben dieser Unterrepräsentanz fällt insbesondere<br />
in der Werbung eine Stereotypisierung auf: Als häufigster Typ (mit etwa 30 Prozent)<br />
„tritt uns hier der Clown entgegen. Der Clowntypus, der sowohl weibliche,<br />
überwiegend aber männliche Protagonisten kennt, soll lustig wirken, hat aber oft<br />
einen lächerlichen Touch. Morphologisch wird dieses Bild bestimmt von Auffälligkeiten<br />
wie Fettleibigkeit, großer und/oder schiefer Nase, Doppelkinn, abstehenden<br />
Ohren, fehlenden Zähnen. Dieses Bild wird verstärkt durch die Verwendung von<br />
Accessoires wie unangemessene Kleidung, Handschuhe, Hüte und Schmuck in<br />
grellen Farben. Motorisch und non-verbal wird das Auftreten dieses Typus noch<br />
weiter unterstrichen durch übertriebene Gestik und Mimik“. 51<br />
In Nachrichten und Magazinsendungen erscheint „der alte Mensch – neben dem<br />
verhungernden Kind mit den großen traurigen Augen – als Symbol für Siechtum<br />
und Elend. Das Sickness-Modell dominiert“; und in Gesprächen werden die Antworten<br />
älterer Menschen – insbesondere bei Widerspruch – „erheblich kürzer gehalten<br />
als diejenigen von jüngeren“, während affirmative Äußerungen auffällig oft vom<br />
Interviewer wiederholt werden – „ein Ansatz zu einer Entmündigung“ 52 . Man muß<br />
sich die Feststellung eines „ageism“ 53 , eines Altersrassismus, angesichts durchaus<br />
divergierender Forschungsbefunde 54 in ihrer Drastik nicht zu eigen machen; doch ist<br />
vor dem Hintergrund des grassierenden Jugend- und Körperkultes, der Ablösung<br />
ethischer durch ästhetische Leitbilder, der zunehmenden Finanzierungsprobleme<br />
von Kranken- und Rentenversicherung sowie der Tendenzen zur aktiven Sterbehilfe<br />
besondere Wachsamkeit beim Schutz der Würde alter Menschen auch in den Medien<br />
angebracht.<br />
103
104<br />
IV. Deformation des Menschen als sittliches und soziales Wesen<br />
Zum christlichen Menschenbild gehört auch die Realität des Bösen. Die Würde des<br />
Menschen in seiner Freiheit und Befähigung zur sittlichen Selbstverantwortung<br />
schließt sowohl die Möglichkeit ein, schuldig zu werden als auch mit dieser Schuld<br />
angemessen umzugehen. Heute scheint eher Andy Warhols Diktum zu gelten: „Es<br />
gibt kein Böses; gut ist alles, was in die Presse kommt“ 55 . So werden in diversen<br />
Talkshows schon nachmittags „Menschen vorgeführt, die mit ihren Verfehlungen,<br />
ihrem menschlichen Versagen, ihren sittlichen Defiziten auch noch angeben und<br />
sich wichtig tun. (...) Inzwischen sind immer weniger Beteiligte und Zuschauer<br />
dieses Spiels entsetzt, wenn einstige Grenzen überschritten werden, wenn Mitspieler<br />
Niedertracht und Bosheit wichtigtuerisch, manchmal auch naiv preisgeben, wenn<br />
sie das, was Menschen einst peinlich war, zum Vergnügen anderer ausbreiten“. 56 Im<br />
medialen Voyeurismus werden Schuld, Reue und Scham „nicht mehr als existentiell,<br />
sondern als akzidentiell erlebt“. 57 Inzwischen verfolgen medienkritische Publikationen<br />
das Schicksal von Talkshow-Gästen, die sich vom veranstaltenden Sender<br />
vorgeführt, aufgehetzt, enttäuscht oder fallen gelassen fühlen, und verhelfen ihnen<br />
zu einer neuen Identität als Opfer, obwohl sie sich doch selbst exhibitionistisch als<br />
Figuren dem Spiel der Medien angeboten haben. 58 Der Kontrast zu jenen Helden<br />
und Heiligen, an denen sich früher (nicht nur) Heranwachsende die „Überbietung<br />
des Menschen durch den Menschen“ veranschaulichten, ist kraß und kann auf Dauer<br />
nicht ohne Folgen bleiben.<br />
Bevorzugtes Thema von Talkshows und Daily Soaps, in denen Jugendliche nach<br />
empirischen Studien „Lehrweisheiten für das Leben“ und „soziale Spielregeln“ für<br />
ein angemessenes Rollenverhalten suchen 59 , sind Familienkonflikte, Freundschaftskrisen<br />
und (wechselnde) intime Beziehungen. Empathisch zuhörende oder ungeduldig<br />
penetrierende Moderatoren laden einfache, oft nur begrenzt artikulationsfähige<br />
Menschen zur öffentlichen Vorstellung ihrer zwischenmenschlichen Probleme und<br />
gescheiterten Lebensprojekte ein, öffnen mehr oder weniger behutsam die Schamgrenzen<br />
und provozieren zum Teil erbitterte Angriffe auf ehemalige Liebespartner,<br />
verhaßte Eltern oder ungeliebte Geschwister („Ich halte es nicht mehr aus: Mein<br />
Vater schlägt meine Mutter!“; „Meine beste Freundin hat mich betrogen!“ u. ä.),<br />
begleitet von johlender, hämischer, mitleidiger oder empörter Anteilnahme des Publikums.<br />
60 Die soziale Beziehungswirklichkeit, die hier gezeichnet wird, ist überwiegend<br />
trostlos und ermutigt nicht gerade zu einem Zusammenleben in Ve rtrauen und<br />
Treue. Auch in Fernsehfilmen und -spielen wird die Familie „selten als positive,<br />
dem Einzelnen Rückhalt bietende Intimsphäre dargestellt, sondern vorrangig als<br />
Schauplatz von Ehe- und Familienkrisen. (...) Erotik und Sex treten vorwiegend in<br />
nichtehelichen Zusammenhängen auf“. 61 Insgesamt dominiert durch die einseitige<br />
Konfliktorientierung „ein durch Fatalismus bestimmtes Menschenbild“. 62 Durch<br />
den Aufmerksamkeit heischenden Zwang zur Dramatik entstehen geradezu unglaubliche<br />
Biographien: In einem Fernsehjahr hatte eine Figur aus dem „Marienhof“<br />
eine Fehlgeburt, eine Krebsoperation, einen Mordanschlag und eine Scheidung<br />
hinter sich zu bringen. „Das Frappierende an den Soaps ist, daß die massiven<br />
Schicksalsschläge, die die Figuren ereilen, schon nach wenigen Folgen abgehakt
sind. (...) Schicksal als etwas, das dem Menschen bleibend nachgeht und an dem der<br />
einzelne zerbrechen kann, kommt in den Soaps nicht vor. Die Sinnfrage wird nicht<br />
gestellt. Religiöse Dimensionen von Schicksal und Schuld spielen im Soap-Umfeld<br />
keine Rolle“. 63 Auch suggeriert die dominierende Kurzfristigkeit, daß Freundschaften<br />
und intime Beziehungen sich schnell entwickeln und zwischenmenschliche<br />
Probleme sich „im Spielfilmlängen-Zeittakt“ lösen lassen, unrealistische Erwartungen<br />
hinsichtlich des beharrlichen Einsatzes, der Anstrengung und Geduld, die es<br />
erfordert, tragfähige menschliche Beziehungen aufzubauen und zu erhalten. 64<br />
Das dominante Jugendbild der „Ichbewußten“, das fast alle Medien durchdringt, „ist<br />
das eines jungen Menschen, der sich intensiv mit sich selbst beschäftigt. Alles was<br />
er wahrnimmt, auch seine Umwelt, sieht er durch seine höchst individuelle Brille.<br />
Er ist sich dieser mehr emotionalen als rationalen Sichtweise durchaus bewußt (...).<br />
Es geht primär darum zu leben, ,Fun‘ zu haben. (...) Der eigene Lebensentwurf wird<br />
als ,feeling‘ artikuliert, dem ,feeling‘ der anderen gegenübergestellt. Die ichbewußten<br />
Jugendlichen betonen selbstsicher ihr Anderssein und verlangen dessen Achtung“.<br />
65 Ein vom Aufmerksamkeitsbonus für die jeweils rabiateren Protestformen<br />
und Tabubrüche genährter „medialer Narzißmus“ verstärkt die Tendenz zu Abweichungen<br />
von der Normalität und von sozialverträglichem Verhalten: Rechtsradikale<br />
Jugendliche, die ein Asylantenheim „abfackeln“ oder Hooligans, die einen Polizisten<br />
verprügeln, verschaffen sich „so etwas wie Anerkennung, selbst wenn die<br />
Rückmeldung negativ ist; denn auch negative Anerkennung bedeutet Identität. (...)<br />
Die narzißtische Dimension liegt im Bewußtsein des Gesehen- und Beachtetwerdens,<br />
das häufig ein unbewußtes ist“. 66<br />
Daß charakteristische Züge des Narziß besonders in den Kommunikationsweisen<br />
des Internet wiederzufinden sind, hat Wolfgang Bergmann in seinem Buch „Abschied<br />
vom Ge wissen. Die Seele in der digitalen Welt“ 67 dargelegt: Hier herrsche<br />
ein Ve rsorgtwerden und Ich-Passivität vor, Bindungslosigkeit bis an die Grenze der<br />
Leugnung des Anderen – Ist der Andere im Netz wirklich der, als der er sich beim<br />
,chat‘ ausgibt? 68 –, eine ruhelose Suche nach etwas, das ,hinter dem Möglichen‘<br />
liegt, ,hinter dem Horizont‘. Im Netz kann ich unbehelligt von Ansprüchen innerer<br />
oder äußerer Instanzen meine im realen Leben festgezimmerte Identität umstoßen,<br />
spielerisch aufheben, ergänzen, austauschen und der sein, der ich sein will. Die<br />
schmale Pforte der Wirklichkeit, deren Zugang für die infantilen Bedürfnisse durch<br />
Zensur und Verbote geregelt ist, die Maß und Aufschub verordnen, sie wird im Netz<br />
magisch aufgerissen. Hier gibt es keine einzige kritische Instanz und kein konkretes<br />
Gegenüber, das mich dazu zwingen könnte, jene Anteile von mir, die mir oder meiner<br />
Umgebung inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen und anzuerkennen. Das Du<br />
ist eine reine Funktion, auf die Beiläufigkeit reduziert, mit der ich es im Netz antreffe.<br />
Ein Mausklick, eine Bewegung der Fingerspitzen genügt, und es verschwindet,<br />
ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Keine Erinnerung an Gesichtsausdruck,<br />
körperliche Begegnung, Rituale von Begrüßung und Abschied. Mein digitales Du<br />
ist nur ein möglicher Kontakt in einer Reihe vieler möglicher Kontakte, die ich alle<br />
beliebig und in schneller Folge aufrufen kann. Ich brauche den anderen nicht.<br />
Entfällt die prinzipielle Unversöhnbarkeit von narzißtischem Anspruch und Erlebnisrealität,<br />
dann kann die Folge nur eine Schwächung der Gewissensinstanz sein.<br />
105
Das Gewissen mit seiner Mahnung ans Soziale, an Mitgefühl und Rücksicht, mit<br />
seinen Gehorsamsforderungen, mit seinen strengen Vorschriften, die es dem Ich<br />
aufbürden will, wird leiser. Was bedeutet Verantwortung, wenn, wie in den Chats,<br />
gar kein stabiles und erkennbares Gegenüber da ist? Im Fall der Tamagotchis war es<br />
mit der Mode des Umsorgens und des Mitgefühls urplötzlich vorbei; „Chicken<br />
rösten“ lautete auf einmal die Variante des weltweiten Spiels, mit einer Reihe von<br />
Tötungsarten für das zuvor so umsorgte Küken. Schon durch den bloßen Zeitaufwand<br />
für das Surfen im Cyberspace werden gemeinschaftliche Situationen, konzentrierte<br />
gemeinsame Aktivitäten, soziale Spiele seltener, Normen nicht mehr auf<br />
eine tiefgreifende, verhaltensprägende Weise vermittelt. Moralisches Verhalten<br />
kann zwar in Erwägung gezogen, aber schon bei geringfügigen Konflikten wieder<br />
aufgegeben werden. Was gesagt und gefühlt wird, schwindet wie die Gestalten und<br />
Landschaften in einem Computerspiel. Fazit: „Das neuzeitlich-abendländische Ich<br />
(...) steht, was seine Fähigkeit angeht, in einer sozialen Gemeinsamkeit zu überleben,<br />
vor einer Bewährungsprobe mit ungewissem Ausgang“. 69<br />
Der anglikanische Erzbischof von York, David Hope, geißelte das Internet als „Hexerei“,<br />
da es einer seelenlosen Gesellschaft Vorschub leiste; die Nutzer sässen zu<br />
Hause fest und verlören ihre sozialen Kontakte. 70 Man muß diesem düsteren Szenario<br />
nicht uneingeschränkt folgen, doch erscheint es im Blick auf ein gestörtes Lern-<br />
und Sozialverhalten einer wachsenden Zahl von „minderjährigen Soziopathen“ 71<br />
gerade in den informationstechnisch fortgeschrittensten Ländern durchaus nicht<br />
abwegig. Ist Kommunikation die Schnittstelle zwischen Individualität und Sozialität<br />
des Menschen und entscheidendes Mittel seiner Entfaltung in Gemeinschaft, dann<br />
hat die Verbreitung eines neuen Kommunikationsmittels selbstverständlich auch<br />
soziale Implikationen. Beispielsweise hat sich nach einer Untersuchung des Allensbacher<br />
Instituts für Demoskopie die Verbreitung des Fernsehens negativ auf das Ge -<br />
sprächsverhalten von Eheleuten ausgewirkt. 72 Noch nie aber hat sich ein neues<br />
Medium so rasch ausgebreitet wie das Internet. Es wird wachsam zu beobachten<br />
sein, welche Einflüsse auf den Menschen als sittliches und soziales Wesen die neuen<br />
Kommunikationstechniken ausüben und wie unerwünschte „Risiken und Nebenwirkungen“<br />
vermieden oder behandelt werden können.<br />
106<br />
V. Gegenkräfte: Nutzerethik, Medienkritik, Politik, Erziehung<br />
„Neben all dem Guten, das sie tun und zu dem sie imstande sind, vermögen die<br />
Massenmedien, die so wirksame Werkzeuge für Einheit und Verständigung sein<br />
können, zuweilen auch zu Werkzeugen einer entstellten Sicht des Lebens, der Familie,<br />
Religion und Moral zu werden – eine Sicht, die die wahre Würde und Bestimmung<br />
der menschlichen Person nicht achtet“, warnte 1992 die Pastoralinstruktion<br />
„Aetatis Novae“ des Päpstlichen Rats für die Sozialen Kommunikationsmittel.<br />
Quod erat demonstrandum! Angesichts dieses Resümees in Resignation zu verfallen,<br />
würde dem christlichen Menschenbild allerdings ebenso wenig gerecht wie<br />
dessen hier aufgezeigte Verzerrungen durch destruktive Medieneinflüsse. Menschliche<br />
Kreativität, Anstrengung, Tapferkeit und Beharrlichkeit sind gefragt, um die<br />
Voraussetzungen menschenwürdigen Lebens in der privaten wie in der öffentlichen<br />
Sphäre zu schützen.
Dazu gehört zunächst, die vielen Möglichkeiten von Kritik und Kontrolle zu nutzen.<br />
Im Kontext unseres Themas könnte man zugespitzt formulieren: Wer sich nicht<br />
wehrt, wird entehrt. Das Handlungsrepertoire mündiger Medienkonsumenten reicht<br />
von den in ihrer Wirkung oft unterschätzten Leserbriefen über Beschwerden bei<br />
Herausgebern und Chefredaktionen, Rundfunkräten, Landesmedienanstalten und<br />
Deutschem Presserat bis hin zur Unterstützung medienkritischer Initiativen und<br />
Publikationen. Wo sich (un-)verantwortliche Medienmacher uneinsichtig zeigen,<br />
muß „das Bewußtsein, um nicht zu sagen, das Gewissen der Öffentlichkeit geweckt<br />
und eine kritische Stimmung von der Nachfrage her entwickelt werden“. 73 Eine<br />
kleine Kirchengemeinde im Landkreis Darmstadt-Dieburg machte es vor: Über 650<br />
Gemeindemitglieder und Fernsehzuschauer beteiligten sich eine Woche lang an<br />
einem freiwilligen Fernsehboykott einschlägiger Privatsender, aus Protest gegen die<br />
menschenverachtenden „Reality-Soaps“ – und machten damit auch Schlagzeilen. 74<br />
Die kritische Bewußtseinsbildung in der Öffentlichkeit mag ihren Anteil an der<br />
Trendwende gehabt haben, die „Der Spiegel“ schließlich konstatierte: „Die Fernsehmacher<br />
haben sich mit ihrer Reality-Offensive verkalkuliert. Die Zuschauer reagieren<br />
verschreckt: Auf einmal gibt es alles zu häufig, zu schnell, zu schamlos“.<br />
Das Erfolgsrezept „Hose runter, Quote rauf“ sei „natürlich Quatsch. Die Rechnung<br />
konnte nicht aufgehen. Reality-TV ist eben doch nicht die billige Gelddruckmaschine,<br />
an die seit ,Big Brother‘ viele glaubten (...). Anfangs war all die vermeintliche<br />
Authentizität ein Ereignis, das ,Event-TV‘ genannt wurde. Nun ist es eine Inflation,<br />
die Trend heißt, sich aber bereits selbst kannibalisiert. Der Voyeurismus, den die<br />
Sender noch bieten, ist ein Mißverständnis. Der Exhibitionismus, zu dem die Kandidaten<br />
bereit sind, ebenso. Mißverstanden fühlt sich vor allem der Zuschauer, der<br />
seit ,Girlscamp‘ nicht mal mehr ab-, sondern gar nicht erst einschaltet. Vielleicht<br />
entdeckt er das eigene Leben wieder. Kommt übrigens echt gut – garantiert Realtime<br />
und in 3-D-Qualität“. 75<br />
Die stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Maria<br />
Böhmer, die auch Mitglied des ZDF-Fernsehrates ist, rief 1994 eine Kampagne<br />
„Rote Karte für TV“ ins Leben: Mit roten Postkarten sollten Zuschauer gegen Sendungen<br />
mit Gewalt und Pornographie bei den Anstalten protestieren. Ihre Fraktion<br />
brachte kürzlich im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Änderung des („Gotteslästerungs“-)Paragraphen<br />
166 des Strafgesetzbuchs ein, wonach die Beschimpfung<br />
des Bekenntnisses, der Einrichtungen und der Gebräuche der Religionsgemeinschaften<br />
generell und nicht mehr nur dann bestraft werden soll, wenn „sie geeignet<br />
ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Schon allein die Initiative dürfte dazu beitragen,<br />
das öffentliche Problembewußtsein zu schärfen. Aufgabe der Politik müßte<br />
es weiterhin sein, eine strengere Normierung von Sendungen mit Gewalt-, Sex- oder<br />
Vulgärgehalt im Sinne der Jugendschutzes durchzusetzen, zumindest aber, die Anbieter<br />
zur Kennzeichnung solcher Angebote und alle Hersteller von Fernsehgeräten<br />
zu deren Ausstattung mit „technischen Vorrichtungen zur Filterung von Programmen“<br />
76 zu veranlassen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muß erhalten, dann aber<br />
auch in seinen Inhalten von einer Anpassung an die verflachten, informationsarmen<br />
privaten Sender abgehalten werden. Schließlich kann die Politik dafür Sorge tragen,<br />
daß im Bildungssektor – vom Kindergarten bis zur Universität – ein verantwortlich-<br />
107
kritischer Umgang mit den Medien gelernt wird. „Medienerziehung“ – Schulfach in<br />
Sachsen – sollte in allen Bundesländern zumindest als fächerübergreifendes Prinzip<br />
in die Curricula eingearbeitet werden. Damit sind die Eltern allerdings nicht aus<br />
ihrer vorrangigen erzieherischen Ve rantwortung entlassen. Diese erschöpft sich<br />
keineswegs in der Einübung bzw. Durchsetzung einer „information diet“ (Neil Postman)<br />
oder „geistigen Müllabfuhr“ (Heinz-Joachim Fischer), sondern besteht viel<br />
grundlegender in einer von Zuwendung, Prägewillen und Vorbild getragenen Erziehung<br />
zur gefestigten Persönlichkeit, die äußeren Einflüssen jeder Art und Güte<br />
etwas entgegenzusetzen hat.<br />
„Was für Journalisten ein Volk hervorbringt, das ist heute ein wesentliches Moment<br />
seines Schicksals“ (Karl Jaspers). Daher ist die kritische Reflexion der eigenen<br />
Wirkungsmacht und berufsethischer Standards für Journalisten und andere Medienmacher<br />
dringlich. Die Entwicklung entsprechender Aus- und Fortbildungsangebote<br />
steht jedermann frei. Besonders die Befunde der empirischen Medien(wirkungs)forschung<br />
müßten den Praktikern transparenter gemacht werden, schärfen sie<br />
doch vielleicht mehr als der moralische Zeigefinger das Bewußtsein für die eigene<br />
Verantwortung. Soll der „Vermittler geistiger Güter“ (Otto Groth) 77 im Journalismus<br />
nicht weiter hinter jenen Typus Redakteur zurücktreten, der „die Spreu vom<br />
Weizen trennt und die Spreu sendet“ (Didi Hallervorden), so ist beim Berufszugang<br />
die akademische Bildung als Kombination von „Wissen und Haltung“ (Hermann<br />
Lübbe) stärker zu gewichten – beispielsweise durch das Angebot journalistischer<br />
Ausbildungszweige im studienbegleitenden Seminarprogramm von Begabtenförderungswerken,<br />
in denen mit öffentlichen Geldern besonders intelligente, leistungswillige,<br />
gemeinwohlorientierte und persönlich integere Studierende auf gesellschaftliche<br />
Führungsaufgaben vorbereitet werden sollen. Daß eigentlich die in diesem<br />
Sinne „Besten“ für den Journalismus gewonnen werden müßten, folgt schon aus<br />
Max Webers Einschätzung, „daß eine wirklich gute journalistische Leistung mindestens<br />
soviel ,Geist‘ beansprucht wie irgendeine Gelehrtenleistung – vor allem infolge<br />
der Notwendigkeit, sofort, auf Kommando hervorgebracht zu werden und: sofort<br />
wirken zu wollen, bei freilich ganz anderen Bedingungen der Schöpfung“. 78<br />
Sollte sich das doppelsinnige Wort „Kanal“ weiterhin in Richtung einer Verähnlichung<br />
seiner beiden Bedeutungen entwickeln, ist durchaus über einen intensiveren<br />
Einsatz und eine erweiterte Wirkungsmacht von „Kanal- und Schleusenwächtern“<br />
zur „Klärung“ der angeschwemmten Medieninhalte nachzudenken. „Es ist ein eigenartiger<br />
Weise nur selten bedachter und öffentlich diskutierter Umstand, daß sich<br />
demokratische Gesellschaften einen mit erheblichen Vollmachten ausgestatteten<br />
Zentralbankrat leisten, der so gut wie völlig unabhängig von Wahlen, öffentlichen<br />
Stimmungen, ja selbst von demokratischer Kontrolle ist. Seine Sitzungen, auf denen<br />
Entscheidungen von großer volkswirtschaftlicher Tragweite getroffen werden, finden<br />
wie ein Papstkonklave unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Kein gewählter<br />
Politiker (...) kann diesem Rat dazwischenreden. All das zu einem einzigen Zweck,<br />
zu verhindern, daß sich Greshams Gesetz bewährt, um also dafür zu sorgen, daß<br />
gutes Geld nicht von schlechtem Geld verdrängt wird. Nun gilt dieses Gesetz offensichtlich<br />
auch für die Massenmedien: Schlechte Sendungen verdrängen weitgehend<br />
108
gute Sendungen. Kein dem Zentralbankrat an Kompetenzen auch nur entfernt vergleichbarer<br />
Medien-Aufsichtsrat sorgt für eine anti-inflationäre Medienpolitik“. 79<br />
Gerade angesichts der Erosion christlicher Wertorientierung und der nicht unerheblichen<br />
Rolle, welche die überdurchschnittlich kirchenfernen Medienmacher dabei<br />
spielen, kommt es für die Verteidiger des christlichen Menschenbildes darauf an,<br />
„in vielen, möglichst allen Medien durch überzeugte katholische Publizisten, die je<br />
an ihrem beruflichen Ort ihr selbständiges Zeugnis geben, gegenwärtig zu sein“. 80<br />
Kirchliche Pastoral und Sozialethik werden den Journalisten und ihrer Schlüsselfunktion<br />
in Zukunft wohl größere Aufmerksamkeit widmen müssen. 81 So haben die<br />
Kirchen allen Grund, über die Einrichtung eines eigenen TV-Kanals nachzudenken.<br />
Unabhängig davon müssen sie ihre journalistische Nachwuchsförderung mit sorgfältiger<br />
Personalauswahl, großzügigem Mitteleinsatz und ethischem Profil betreiben.<br />
Anmerkungen<br />
1) Joachim Kardinal Meisner: Es geht nicht um eine katholische Sonderethik, sondern um den<br />
rechten Gebrauch der Vernunft, in: Die Tagespost vom 23.6.2001, 6.<br />
2) Karl Lehmann: Das christliche Menschenbild – Orientierung in einer pluralistischen Gesellschaft,<br />
in: Communicatio Socialis 2/1994 (27. Jg.), 118-133, 119f.<br />
3) Annette Keck/Nicolas Pethes: Das Bild des Menschen in den Medien. Einleitende Bemerkungen<br />
zu einer Medienanthropologie, in: Dies. (Hg.): Mediale Anatomien: Menschenbilder<br />
als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 12.<br />
4) BVerfGE 2,1 (12) (SRP-Urteil).<br />
5) „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums;<br />
das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der<br />
Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne<br />
dabei deren Eigenwert anzutasten“; BVerfGE 4,7 (15f) (Investitionshilfe-Entscheidung).<br />
6) Ulrich Becker: Das ,Menschenbild des Grundgesetzes‘ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />
(Schriften zum Öffentlichen Recht 708), Berlin 1996, 68 bzw. 66.<br />
7) Zu dem von Herbert Krüger geprägten Begriff siehe Isensee: Grundrechtsvoraussetzungen<br />
und Verfassungserwartungen, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, §115 (436ff).<br />
8) Im einzelnen sind dies 206 Minuten Radio, 185 Fernsehen, 30 Zeitung, 18 Bücher und 13<br />
Internet – insgesamt 62 Prozent mehr Zeit als vor 20 Jahren; siehe Christa-Maria Ridder/Bernhard<br />
Engel: Massenkommunikation 2000: Images und Funktionen der Massenmedien<br />
im Vergleich, in: Media Perspektiven 3/2001, 102-125, 105.<br />
9) Interview in: Rheinischer Merkur vom 20.11.1992, 24.<br />
10) Joachim Kardinal Meisner: Mit dem Herzen sehen. Chance und Auftrag der Kirche zu<br />
Beginn des dritten Jahrtausends. Ein Gespräch mit Stefan Rehder, Aachen 2000, 100. „Daß<br />
das Menschenbild des Verfassungsstaates traditionell mit einem Gottesbild korreliert“, betont<br />
auch Peter Häberle: Das Menschenbild im Verfassungsstaat (Schriften zum Öffentlichen<br />
Recht 540), Berlin 1988, 12.<br />
11) Roger Gerhardy: Notizblock, in: transparent 2/2001, 3.<br />
12) Ebd.; gestützt auf eine Recherche Simone Ehmigs vom Mainzer Institut für Publizistik<br />
mittels der Datenbank Reuters Business Briefing.<br />
13) Nämlich Programmanteile zwischen 1% (ZDF) und 0,3% (RTL-Aktuell); idea-spektrum<br />
vom 21.2.1996, 16f.<br />
14) Walter Flemmer: Das Unheil nicht erfindungsreich vermehren. Die Wirklichkeit, die wir<br />
ihnen auf dem Bildschirm zeigen, in: Hermann Boventer (Hg.): Medien und Moral. Unge-<br />
109
schriebene Regeln des Journalismus (Journalismus. Schriftenreihe der Stiftervereinigung der<br />
Presse, 27), Konstanz 1988, 55-70, 60f.<br />
15) Zusammenfassung und Diskussion empirischer Befunde sowie Beispiele entsprechender<br />
journalistischer Fehlleistungen bei Andreas Püttmann: Auf Vermittler angewiesen. Wie entsteht<br />
öffentliche Meinung über die Kirche (Kirche und Gesellschaft hrsg. von der Katholischen<br />
Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, 229), Köln 1996, 6ff; Ders.:<br />
Kirche im Zerrspiegel der Medien. Zur Verantwortung der Katholiken für die öffentliche<br />
Meinung über ihren Glauben, in: Katholische Presse oder: Die Scheidung der Geister. Festschrift<br />
zum 50jährigen Bestehen der Deutschen Tagespost, Würzburg 1998, 153-185.<br />
16) Isensee: Verfassungsstaatliche Erwartungen, 115.<br />
17) Karl Lehmann: Kirchliche Konflikte in der Öffentlichkeit, in: Ders.: Glauben bezeugen,<br />
Gesellschaft gestalten. Reflexionen und Positionen, Freiburg/Basel/Wien 1993, 475-480, 476.<br />
18) Martin Thull: Sakralisierung des Profanen. Wie Religion und Kirchen im Fernsehen<br />
vorkommen, in: Herder-Korrespondenz 6/1994 (48. Jg.), 300-304, 302.<br />
19) Vgl. Andreas Püttmann: Don Camillos Enkeln fehlt der Draht nach oben. Seelenhirten<br />
avancieren zu Serienhelden – für Christen ein Grund zur Freude?, in: Rheinischer Merkur<br />
vom 7.9.1990, 30.<br />
20) Zit.n.: Informationen VII-VIII/2001, hg. von der Gesellschaft Katholischer Publizisten, 9.<br />
21) Titelbild der Satirezeitschrift „Titanic“ (10/1995) und Friedrich Küppersbusch in „ZAK“<br />
(ARD).<br />
22) Josef Isensee: Am Ende der Demokratie – oder am Anfang? (Wirtschaftspolitische Kolloquien<br />
der Adolf-Weber-Stiftung 20), Berlin 1995, 47; vgl. Ders.: Grundrecht auf Ehre, in:<br />
Festschrift für Martin Kriele, hg. von Burkhardt Ziemske u. a., München 1977, 5-48.<br />
23) Zu diesem Beispiel auch Wolfgang Bergsdorf: Die Medien: Aufdecker der Regelverletzung<br />
und Betreiber des Skandals, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft<br />
2000, 47-58.<br />
24) Rüdiger Zuck: Glanz und Elend der deutschen Justizberichterstattung, in: Neue Juristische<br />
Wochenschrift 1/2001 (54. Jg.), 40-42, 40.<br />
25) Siehe Wolfgang Schulz: „Menschenwürde“ im Konzept der Regulierung medialer Gewaltdarstellungen.<br />
Symbolischer Gebrauch, Fehlgebrauch und Mißbrauch eines Rechtsbegriffs,<br />
in: Medien & Kommunikationswissenschaft 3/2000 (48. Jg.), 354-370, 365; vgl. Christian<br />
Hillgruber: Der Schutz des Menschen vor sich selbst, Berlin 1992.<br />
26) Flemmer: Das Unheil, 68.<br />
27) Joan Kristin Bleicher: Zwischen Menschenzoo, Panoptikum und Dauertheater. Inszenierungsstrategien<br />
im „Big Brother“-Container und ihre gesellschaftlichen Funktionen, in:<br />
Medien & Kommunikationswissenschaft 4/2000 (48. Jg.), 518-536, 532.<br />
28) Ebd., 534.<br />
29) Thomas Bohrmann: Big Brother. Medienethische Überlegungen zu den Grenzen von<br />
Unterhaltung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41-42/2000 (50. Jg.), 3-10, 9.<br />
30) Bleicher: Menschenzoo, 523.<br />
31) Ebd., 534.<br />
32) Martin Altmeyer: Das neue Subjekt entsteht im Auge der Kamera. „Big Brother“ und<br />
andere Inszenierungen von postmoderner Identität, in: Kommune 6/2000 (18. Jg.), 44-49, 45.<br />
33) Ebd., 47.<br />
34) Bleicher: Menschenzoo, 533.<br />
35) Klaus Neumann-Braun/Axel Schmidt: Nichts ist authentischer als die Suche nach Authentizität.<br />
Real-People-Formate in Fernsehen und Internet, in: psychosozial IV/2000 (23. Jg.,<br />
Nr. 82), 65-80, 71f.<br />
36) Jürgen Bräunlein: Schön blöd. Vom unheimlichen Erfolg der Untalentierten, Berlin 1999,<br />
31f.<br />
110
37) Zur Paradoxie von gleichzeitiger Körperaufwertung und -auflösung im digitalen Zeitalter:<br />
Gabriele Klein: Die Würde des Körpers in Mediengesellschaften, in: Deutscher Evangelischer<br />
Kirchentag Frankfurt 2001. Dokumente. Hrsg. von Christoph Quarch, Gütersloh 2001, S.<br />
601-607.<br />
38) Bräunlein: Schön blöd, 128.<br />
39) Dazu Ephraim Kishon: „Wir leben in einer Epoche der Sexualität, die bis zum Absurden<br />
aufgeblasen worden ist. Sie sehen im Fernsehen eine fast nackte, junge Frau mit den Hüften<br />
wackeln, tatsächlich aber will man eine hydraulische Presse verkaufen. Eine schamlose Ausnutzung<br />
der männlichen Schwäche. Es ist auch Terror, aber legal“; zit. n. idea-spektrum<br />
26/2001, 7.<br />
40) Europäische Gemeinschaften: Das Bild der Frau in den Medien. Ein Bericht über bestehende<br />
Untersuchungen in der Europäischen Union, Luxemburg 1999, 27.<br />
41) Kirsten Küsters/Stefani Mälzer: Tutti Frutti und Konsorten. Zur Erotisierung unserer<br />
Medieninhalte und was wir Frauen davon haben, in: Romy Fröhlich (Hg.): Der andere Blick.<br />
Aktuelles zur Massenkommunikation aus weiblicher Sicht (Frauen und Massenmedien 1, hg.<br />
von Christina Holtz-Bacha), Bochum 1992, 159-164, 159.<br />
42) Hans-Bernd Brosius: Sex und Pornographie in den Massenmedien. Eine Analyse ihrer<br />
Inhalte, ihrer Nutzung und ihrer Wirkung, in: Fröhlich: Der andere Blick, 139-158, 141.<br />
43) Küsters/Mälzer: Tutti Frutti, 161,163.<br />
44) Siehe Die Zeit vom 27.7.1990, 28.<br />
45) Siehe Monika Weiderer: Das Frauen- und Männerbild im Deutschen Fernsehen. Eine<br />
inhaltsanalytische Untersuchung der Programme von ARD, ZDF und RTL plus (Medienforschung<br />
4, hg. von Helmut Lukesch), Regensburg 1993, 176.<br />
46) Heinrich Anker: Blinder Fleck. Das Menschenbild in den Medien: Freiheit zur Verantwortung,<br />
7. In den USA gibt es sogar explizit Hass vorführende „hate-shows“.<br />
47) Siehe GKP-Informationen II/2001, 21.<br />
48) Laut einer Untersuchung von Jo Groebel (1991), zit. n. Dieter Stammler: Verzerrte Bilder.<br />
Gegen die Gewalt in den Medien, in: Evangelische Kommentare 3/1994 (27. Jg.), 136-139,<br />
137.<br />
49) Siehe Die Welt vom 20.2.1998, 11: „UNESCO-Studie zu Mediengewalt und Alltag“.<br />
50) Hans W. Jürgens: Zum Bild älterer Menschen in den elektronischen Medien, in: Bundesministerium<br />
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Das Alter in den Medien.<br />
Muß es ein Zerrbild sein? Dokumentation einer Fachtagung für Journalisten vom 20. bis<br />
22.5.1996 in der Evangelischen Akademie Tutzing, Bonn 1997, 57-61, 57.<br />
51) Ebd., 58.<br />
52) Ebd., 60.<br />
53) Ebd., 61.<br />
54) Reinhard Dierl: Zwischen Altenpflegeheim und Seniorenstudium. Alter und Alte als<br />
Zeitungsthema (KDA-Forum, 11), Köln 1989, 12.<br />
55) Zit. n. Bräunlein: Schön blöd, 117.<br />
56) Rainald Merkert: Auf dem Bildschirm: Die Unterbietung des Menschen durch den Menschen,<br />
in: Funkkorrespondenz 51-52/2000 (48. Jg.), 24.<br />
57) Kathrin Lenzer: Triumph der Schamlosigkeit, in: Rheinische Post vom 10.2.2001.<br />
58) Siehe Altmeyer: Das neue Subjekt, 49.<br />
59) GKP-Informationen I/2001, 19 unter Bezug auf eine Studie des Münchener Instituts für<br />
Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JF) im Auftrag der Bayerischen Landeszentrale<br />
für Neue Medien (BLM); vgl. Udo Göttlich/Friedrich Krotz/Ingrid Paul-Haase (Hg.): Daily<br />
Soaps und Daily Talks im Alltag von Jugendlichen (Schriftenreihe Medienforschung der<br />
Landesanstalt für Rundfunk, 38), Opladen 2001.<br />
60) Vgl. Altmeyer: Das neue Subjekt, 45.<br />
111
61) So eine Untersuchung des Medienforschers Udo Krüger über das Bild der deutschen<br />
Familie in Fernsehspielen, zit. n. Flemmer: Das Unheil, 63.<br />
62) Marianne Wünsch/Jan-Oliver Decker/Hans Krah: Das Wertesystem der Familienserien<br />
im Fernsehen (Themen. Thesen. Theorien, hrsg. von der Unabhängigen Landesanstalt für das<br />
Rundfunkwesen), Bd. 9, Kiel 1996, 118.<br />
63) Elisabeth Hurth: Fehlgeburt, Krebsoperation, Scheidung. Jede Menge Schicksal – die<br />
Welt der Daily Soaps, in: zeitzeichen 3/2001 (2. Jg.), 50f.<br />
64) Vgl. GKP-Informationen III/1999, 16, unter Bezug auf die Zeitschrift Psychologie heute<br />
2/1999 (26. Jg.).<br />
65) Bernd Schorb/Natasa Basic/Helga Theunert: Ab(zieh)bilder. Wie Medien Jugendliche<br />
präsentieren. Eine Analyse von Print-, Hörfunk- und Fernsehprodukten, München 1996, 137f.<br />
66) Altmeyer: Das neue Subjekt, 48.<br />
67) Asendorf 2000. Der Autor ist Psychologe, Kindertherapeut und Chefredakteur der Deutschen<br />
Lehrer-Zeitung. Im folgenden Absatz wird sein Gedankengang durch redigierte<br />
Textzitate wiedergegeben.<br />
68) Vgl. Klaus Müller: Verdoppelte Realität – virtuelle Wahrheit? Erkenntnistheoretische,<br />
sozialphilosophische und anthropologische Konsequenzen der „Neuen Medien“, in: Rüdiger<br />
Funiok/Udo Schmälzle/ Christoph Werth (Hg.): Medienethik – die Frage der Verantwortung,<br />
Bonn 1999, 75-92, 87.<br />
69) Bergmann: Abschied vom Gewissen, 221.<br />
70) Zit. n. idea-spektrum 18/2000, 9.<br />
71) So der amerikanische Professor für englische Literatur und Ideengeschichte am Pitzer<br />
College (Claremont), Barry Sanders, in seinem Buch „Der Verlust der Sprachkultur“, zit. n.<br />
Gregor Dotzauer: Schwanengesänge. Macht die Multimedia-Gesellschaft dumm?, in: Wochenpost<br />
vom 12.10.1995, 43.<br />
72) Das Institut konstatiert einen „krassen Verlust an Intensität“ der Gespräche seit 1953, als<br />
es noch kaum einen Haushalt mit Fernseher gegeben habe; zit. n. GKP-Informationen<br />
VI/2000, 17.<br />
73) Emil Dovifat: Pressefreiheit und Schutz der Ehre und der Intimsphäre, in: Ders.: Die<br />
publizistische Persönlichkeit. Herausgegeben von Dorothee von Dadelsen. Mit einem Vorwort<br />
von Otto B. Roegele, Berlin/New York 1990, 90-107, 103.<br />
74) Siehe Bernhard Rude: Reality-TV ohne Realität, in: GKP-Informationen III/2001, 1.<br />
75) Oliver Gehrs/Thomas Tuma: Wahn und Wirklichkeit, in: Der Spiegel 6/2001, 134f.<br />
76) So eine Entscheidung des Europäischen Parlaments von 1996; vgl. Hans Mathias<br />
Kepplinger: Programmierte Gegenwehr. Kann eine elektronische Sperre den Bildschirm<br />
„kindgerecht“ machen?, in: Rheinischer Merkur vom 10.1.1997, 29.<br />
77) Vgl. Heinrich Oberreuter: Übermacht der Medien. Erstickt die demokratische Kommunikation?,<br />
Zürich 1982, 80.<br />
78) Max Weber: Politik als Beruf (1919), in: Ders.: Gesammelte Politische Schriften, hg. von<br />
Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1988, 505-560, 525f.<br />
79) Jochen Hörisch: Kultischer Kontext. Zur Leitwährung Prominenz (Vortrag bei den Mainzer<br />
Tagen der Fernseh-Kritik 2001), zit. n. epd medien Nr. 50 vom 27.6.2001, 14-19, 16f.<br />
80) Lehmann: Das christliche Menschenbild, 128.<br />
81) Vgl. Andreas Püttmann: Fragen des Glaubens im Gespräch mit Journalisten, in: Lebendige<br />
Katechese 1/1996 (18. Jg.), 37-40.<br />
Dr. phil. Andreas Püttmann, Bonn, ist Politikwissenschaftler und Referent für<br />
Begabtenförderung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.<br />
112
Ursula Nothelle Wildfeuer<br />
Der Streit um die Soziale Marktwirtschaft<br />
Ist die Soziale Marktwirtschaft, das Wirtschaftsmodell Ludwig Erhards aus der<br />
Zeit des Wirtschaftswunders, zukunftstauglich? Tauglich für das 21. Jahrhundert,<br />
das mit einer großen Zahl neuer Probleme für die Wirtschafts- und Sozialpolitik<br />
aufwartet? Unter dem Eindruck der unaufhaltsam und meist prima vista als bedrohlich<br />
wahrgenommenen Globalisierung, der immer weiter fortschreitenden<br />
Digitalisierung sowie unter dem Eindruck der auch immer wieder geäußerten<br />
Ängste von Bürgern, wird seit einiger Zeit die Debatte um die Zukunft der<br />
Sozialen Marktwirtschaft geführt und gefragt, ob angesichts all dieser Herausforderungen<br />
und der neuen Interdependenzen das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft<br />
nicht einen neuen Zuschnitt benötigt.<br />
Schon seit einiger Zeit wird diese Frage in der ökonomischen und sozialethischen<br />
Auseinandersetzung mit den anstehenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen<br />
und sozialen Problemen intensiv behandelt. Den konkreten Anstoß zur politisch-gesellschaftlichen<br />
Debatte gaben dann zum einen die parteiübergreifende<br />
Initiative neue Soziale Marktwirtschaft mit dem Titel, der in Abwandlung des<br />
Erhardschen Titels „Wohlstand für alle“ nun „Chancen für alle“ lautet, zum<br />
anderen die Initiative der CDU mit ihrem Diskussionspapier zur neuen Sozialen<br />
Marktwirtschaft vom 27. August 2001. Die Initiative „Chancen für alle“ erkennt<br />
u. a. auch auf der Basis der fehlenden Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft<br />
und der Zustimmung zu ihr in der Bevölkerung die Notwendigkeit zur Diskussion<br />
und Bewußtseinsbildung. So haben einer Allensbach-Umfrage zufolge bundesweit<br />
nur 43% aller Befragten eine gute Meinung von der Sozialen Marktwirtschaft.<br />
Nur 41% empfinden sie als menschlich, nur 43% als gerecht. Vor allem<br />
den Unternehmen begegnen immer mehr Menschen mit Mißtrauen. Auch mit<br />
den notwendigen Reformen werden von vorneherein sozialer Kahlschlag und<br />
Arbeitsplatzverluste verbunden.<br />
Zudem scheint die Soziale Marktwirtschaft, so, wie sie derzeit realiter als Wirtschafts-,<br />
Sozial- und Beschäftigungspolitik betrieben wird, nicht gerüstet zu sein<br />
für die entscheidenden Herausforderungen, vor denen sie sich zu Beginn des 21.<br />
Jahrhunderts zu bewähren hat. Als solche zentralen Herausforderungen sind zu<br />
nennen: 1. die Digitalisierung, die den Wandel von der Industrie- zur Informations-<br />
und Wissensgesellschaft, zur Medien- und Kommunikationsgesellschaft<br />
bedingt; 2. die Globalisierung, die zunehmend auf einen internationalen Ordnungsrahmen<br />
drängt, damit diese Entwicklung nicht auf weltweiter Ebene zu<br />
einem Rückfall in den Manchester-Kapitalismus führt; 3. die Individualisierung,<br />
die durch Ve ränderungen in den Wertehierarchien der Bürger fundamentale<br />
Konsequenzen für das Arbeits- und Privatleben der Menschen hat und schließlich<br />
4. das demographische Problem, das aufgrund der Überalterung der Gesell-<br />
113
schaft u. a. zu fundamentalen Problemen der Sozialversicherungen aufgrund der<br />
Konstruktion über den Generationenvertrag führt und auf eine Lösung drängt.<br />
Dabei geht es in den folgenden Ausführungen in keiner Weise um Parteipolitik,<br />
vielmehr geht es um die Frage nach einer zukunftsfähigen Wirtschaftsordnung<br />
prinzipiell. Wenn es sich bei der Sozialen Marktwirtschaft um ein Modell der<br />
Wirtschaftsordnung handelt, dessen Grundprinzipien zumindest „einen Komplex<br />
von zeit- und raumunabhängigen Regeln (bilden), denen jede marktwirtschaftliche<br />
Politik unterworfen ist“ (Schlecht 2001, 14), dann sind diese unter den gewandelten<br />
Vorzeichen neu zu bedenken. Die im Folgenden eingenommene sozialethische<br />
Perspektive analysiert nicht Detailprobleme hinsichtlich ihres Problemlösungswertes,<br />
sondern die Grundelemente sollen bedacht werden, um am<br />
Ende die Frage beantworten zu können: Brauchen wir tatsächlich für das 21.<br />
Jahrhundert eine neue Soziale Marktwirtschaft?<br />
1. These: Freiheit ist der erste Grundwert der Sozialen Marktwirtschaft. Diese<br />
ist zutreffend zu bestimmen als die Möglichkeitsbedingung der Realisierung von<br />
ökonomischer Freiheit unter den Bedingungen komplexer Wirtschaftsverhältnisse.<br />
Dies muß für jedes Wirtschaftskonzept gelten, das unter dem Markenzeichen<br />
„Soziale Marktwirtschaft“ firmiert.<br />
Im Verständnis ihrer geistigen Väter war das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft<br />
entscheidend dadurch charakterisiert, daß in spezifischer Weise die beiden<br />
entscheidenden Grundwerte Freiheit und sozialer Ausgleich resp. soziale<br />
Gerechtigkeit und die dem korrespondierenden Strukturelemente Markt und<br />
Gemeinwohlautorität miteinander verknüpft wurden: Nach Alfred Müller-<br />
Armack, der als Staatssekretär unter dem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard<br />
zugleich der Namensgeber des Konzepts war, kann der Begriff der Sozialen<br />
Marktwirtschaft definiert werden „als eine ordnungspolitische Idee“, „deren Ziel<br />
es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem<br />
gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt<br />
zu verbinden“ (Müller-Armack 1956, 390). Der Begriff der Freiheit, der den<br />
grundlegenden Zielwert Sozialer Marktwirtschaft darstellt und durch Markt und<br />
Wettbewerb realisiert wird, wird in einer Definition Ludwig Erhards, mit dessen<br />
Name das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weithin verbunden wird, noch<br />
einmal vor allem hinsichtlich seiner ethischen Implikationen präzisiert: „Freiheit<br />
darf nicht zu einem Götzendienst werden, ohne Verantwortung, ohne Bindung,<br />
ohne Wurzeln. Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf<br />
vielmehr der Ordnung.“ (Erhard 1961, zit.: nach Schlecht 2001, 18) Und noch<br />
einmal Ludwig Erhard: „Der tiefe Sinn der Sozialen Marktwirtschaft liegt darin,<br />
das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem sozialen Ausgleich und der<br />
sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber zu verbinden.“<br />
(zit. nach: Wünsche 2001, 2)<br />
Mit dieser klaren, aus ethischer Perspektive auch konstitutiven Einbindung des<br />
Grundwertes Freiheit in die Verantwortung und in die Dimension des Gemeinwohls<br />
der Gesellschaft hinein wird deutlich, daß der Terminus „Soziale Marktwirtschaft“<br />
niemals ein (reines) marktwirtschaftliches Konzept bezeichnet, zu<br />
dem wie die Sahne zum Capuccino das soziale Element hinzukommt, das aber<br />
114
auch bei Bedarf wieder weggelassen werden kann. Vielmehr bezeichnet der<br />
gesamte Terminus eine Einheit, die niemals nach der einen oder anderen Seite<br />
hin beschnitten oder gar aufgelöst werden kann.<br />
Der Begriffsbestandteil „Marktwirtschaft“ bezeichnet folglich nicht – wie heute,<br />
jede Differenzierung außer acht lassend, oftmals provokant behauptet wird –<br />
einen hemmungslosen Wettbewerb, einen unerbittlichen, nahezu sozialdarwinistischen<br />
Ausleseprozess, Kapitalismus pur, soziale Eiszeit. Das System einer<br />
sozial verantworteten Marktwirtschaft – so formuliert es der gegenwärtige Papst<br />
in seiner Sozialenzyklika „Centesimus annus“ – ist gerade nicht zu verwechseln<br />
mit einem Wirtschaftssystem, das „die absolute Vorherrschaft des Kapitals, des<br />
Besitzes der Produktionsmittel und des Bodens über die freie Subjektivität der<br />
Arbeit des Menschen festhalten will“ (CA 35,2) und gegen das dann im Namen<br />
der Gerechtigkeit anzugehen ist. Wohl aber ist unter Marktwirtschaft das System<br />
zu verstehen, „in dem in der Tat die Marktkräfte den Wirtschaftsablauf bestimmen,<br />
aber eingebettet in die Spielregeln des Rechtsstaates, mit Gesetzen, die<br />
Vertragsfreiheit und Eigentumsrechte garantieren.“ (Issing 2001, 1f)<br />
In ganz ähnlicher Weise lehnt Papst Johannes Paul II. in seiner Sozialenzyklika<br />
„Centesimus annus“ von 1991eine quasi wertfreie Marktwirtschaft ab, die die<br />
wirtschaftliche Freiheit „nicht in eine feste Rechtsordnung“ einbindet. Positiv<br />
sieht er allerdings den Kapitalismus, wenn darunter „ein Wirtschaftssystem (verstanden<br />
wird), das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des<br />
Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die<br />
Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft<br />
anerkennt“ (CA 42,2). Damit ist ganz klar auf die notwendige Ordnungsstruktur<br />
der Freiheit verwiesen.<br />
Der Grundwert der Freiheit mit seinen ethischen Implikationen der Verantwortung<br />
und der Gemeinwohlorientierung ist auch der eigentliche Kern der aktuellen<br />
gesellschaftlichen und politischen Debatte. Die anthropologische Problematik<br />
wird sehr deutlich, wenn man etwa darauf schaut, wie das CDU-Konzept der<br />
neuen Sozialen Marktwirtschaft hier argumentiert: Um diese Freiheit für das 21.<br />
Jahrhundert angemessen gestalten zu können, bietet es den Bürgern einen Ve rtrag<br />
zwischen Bürger und Staat resp. Politik an, der die Bildung der im Papier<br />
der CDU so bezeichneten „Wir-Gesellschaft“ anzielt (vgl. CDU 2001, 17).<br />
Grundlage dieses Vertrages ist – und das ist für die vorliegenden Überlegungen<br />
das Entscheidende – der „Gedanke der Gegenseitigkeit“ (ebd.) Die Orientierung<br />
an diesem Prinzip der Gegenseitigkeit signalisiert nun aber recht deutlich eine<br />
Reduzierung der anthropologischen und ethischen Grundlagen der Sozialen<br />
Marktwirtschaft, wird hier doch offensichtlich nicht mehr auf das Verhältnis von<br />
Freiheit und Verantwortung, von Einzelwohl und Gemeinwohl rekurriert, sondern<br />
ausschließlich ein Konzept des „do ut des“ proklamiert. Die Ordnung der<br />
Freiheit ist offensichtlich nur eine pragmatische Frage angemessen zu gestaltender<br />
Verträge, liegt aber nicht länger in der ethischen Konzeption von Freiheit<br />
selbst. Nicht mehr der Staat als Garant des Gemeinwohls und der Bürger als<br />
Träger des Gemeinsinns kommen in den Blick, sondern vielmehr beide nur noch<br />
115
als Partner eines Vertrags, in dem es um Verkehrsgerechtigkeit, um das formale<br />
Einhalten von Regeln und Gesetzen zu tun ist. (Vgl. Blüm 2001, 12)<br />
2. These: Das Prinzip „Markt“ ist ein ökonomisches, kein gesellschaftliches<br />
Strukturprinzip. Als solches ist es die notwendige Konsequenz der Realisierung<br />
von ökonomischer Freiheit, die ihre Grenze findet an den gleichberechtigten<br />
Ansprüchen des sozialen Ausgleichs und der Würde des Menschen.<br />
Das Verständnis von Marktwirtschaft, das dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft<br />
zugrunde liegt, geht zunächst von der Erkenntnis aus, daß das primäre Ziel<br />
jedes Wirtschaftens, nämlich die optimale Güterversorgung aller Menschen, nur<br />
zu realisieren ist durch die Freiheit der Wirtschaftssubjekte, durch ihre ökonomische<br />
Kreativität. Das Konzept basiert auf dem Grundsatz, daß alle Menschen<br />
aufgrund ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten verpflichtet sind,<br />
aber auch die Fähigkeit haben, einen Beitrag zu dieser optimalen Güterversorgung<br />
zu leisten. Mit dieser Betonung von Freiheit und Individualität, aber auch<br />
von Rechten und Pflichten jedes Einzelnen erweist sich das christlich-abendländische<br />
Menschenbild mit seinem Verständnis vom Menschen als Person als<br />
bleibendes Fundament des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft.<br />
Aus dieser anthropologischen Grundlage kann man mit Recht die Schlußfolgerung<br />
ziehen, daß die Soziale Marktwirtschaft von der „grundsätzliche(n) Zustimmung<br />
zur privatwirtschaftlichen Ordnung und zum Leistungswettbewerb“<br />
(Stegmann 1999, 700) lebt. Der Markt „als Ort des Tausches von miteinander<br />
konkurrierenden Wettbewerbern“ (Roos 1997b, 43) ist somit mit seinem entscheidenden<br />
Motor, dem Wettbewerb, in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft<br />
eines der beiden unverzichtbaren Strukturelemente.<br />
Dabei gilt es allerdings, sich unterschiedlichen Gefahren zu widersetzen, die in<br />
der gegenwärtigen Gesellschaft zunehmend virulent werden: Zum einen, daß die<br />
Forderung nach immer mehr Markt vergessen läßt, daß der Markt analog zur<br />
Freiheit einer entsprechenden Ordnung und des sozialen Ausgleichs als Gegenpol<br />
bedarf. Gerade die Erkenntnis, daß nicht der Markt allein in der Lage ist,<br />
soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist es, was die Soziale Marktwirtschaft<br />
vom marktwirtschaftlichen Konzept klassisch-liberaler Prägung unterscheidet.<br />
Zum anderen ist eine zweite Gefahr, daß die Ökonomie das entscheidende, wenn<br />
nicht sogar das einzige Leitsystem der modernen Gesellschaft wird (vgl. Höhn<br />
2000, 419). Es scheint so, als ginge man – fasziniert von der „Effizienzlogik von<br />
Markt und Wettbewerb“ und nach dem Wegfall des ideologischen Gegenparts –<br />
heute zunehmend dazu über, „auch andere Bereiche des sozialen Lebens dem<br />
Markt als Regulierungsprinzip zu öffnen und auf sein zentrales Instrument, den<br />
Wettbewerb, zu setzen.“ (Ebd., 421) Dieses Problem erkennt der ehemalige<br />
Arbeits- und Sozialminister und das „soziale Gewissen“ der C-Parteien Norbert<br />
Blüm im Konzept der neuen Sozialen Marktwirtschaft und formuliert vor diesem<br />
Hintergrund sehr deutliche Kritik, wirft er doch der Politik vor, sich um die Frage<br />
nach dem Menschen „gedrückt“ zu haben. „Als Nutzenmaximierer und Kalkulierer<br />
seiner Vorteile“, was soviel heißt wie als purer Marktteilnehmer „ist der<br />
Mensch unzureichend beschrieben. Einer christlichen Partei“, so formuliert er<br />
116
weiter, „stünde es gut an, dem Imperialismus der Verwirtschaftung des Lebens<br />
die Grenzen in der Würde des Menschen zu setzen. Die Würde entspringt keinem<br />
Vertrag, sondern ist gottgegeben.“ (Blüm 2001, 12)<br />
Schließlich ist natürlich – drittens – zumindest im Sinne eines Gegengewichts<br />
genauso darauf aufmerksam zu machen, daß aus der Perspektive einer christlichen<br />
Sozialethik es theologisch nicht sinnvoll und politisch nicht ratsam ist, mit<br />
einer naiv biblisch-prophetisch motivierten Total-Kritik (vgl. Höhn 2000, 418)<br />
„die Größen Markt und Mammon zu dämonisieren, auch wenn es richtig ist, jene<br />
zu kritisieren, die sie vergöttern.“ (ebd.)<br />
Prinzipiell ist also auch aus der Perspektive christlicher Ethik ein marktwirtschaftliches<br />
Modell zustimmungsfähig, unter der Kondition, daß der Markt „von<br />
den sozialen Kräften und vom Staat in angemessener Weise kontrolliert werde,<br />
um die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu gewährleisten.“<br />
(CA 35,2)<br />
Der Markt ist „jener Ort sozialer Interaktion, auf dem sich unter den (idealen)<br />
Bedingungen eines für alle offenen, rechtlich verfaßten Wettbewerbs der Tauschwert<br />
der von jedem einzelnen bereitgestellten wirtschaftlichen Güter und Dienstleistungen<br />
für die jeweils anderen zeigt. Hier setzt der einzelne seine wirtschaftliche<br />
Leistung dem vergleichenden Urteil seiner Mitmenschen aus.“ (Roos<br />
1997b, 44) Damit ist der Markt auch der Ort, der notwendig ist, um zentrale<br />
Grundrechte des Menschen wie etwa das der freien Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes<br />
und des selbstverantwortlichen Umgangs mit Eigentum realisieren<br />
zu können. Folglich muß man aus der Perspektive der Sozialethik sogar nicht nur<br />
formulieren, daß die Institution des Marktes prinzipiell zustimmungsfähig ist,<br />
sondern vielmehr, daß sie eine notwendige Institution und Konsequenz ist zur<br />
Realisierung von Freiheit als einer Grunddimension menschlichen Lebens. Sie<br />
erweist sich zur Realisierung konkreter Freiheit mithin als wirtschaftliches Korrelat<br />
der Demokratie (vgl. Roos 1997b, 44)<br />
3. These: Die Soziale Marktwirtschaft ist einer Kultur der Selbständigkeit verpflichtet.<br />
Sie hat sie zur Voraussetzung und soll sie gleichzeitig befördern. Ihre<br />
Ausprägung hat Maß zu nehmen an dem Prinzip der Subsidiarität und muß orientiert<br />
bleiben am Grundwert der sozialen Gerechtigkeit im Sinne der Beteiligungsgerechtigkeit.<br />
Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, daß ein überregulierender Staat die Entfaltung<br />
wirtschaftliche Freiheit und das Ergreifen unternehmerischer Initiative unterdrückt,<br />
wird die heute allenthalben laut werdende Forderung nach „weniger<br />
Staat und mehr Markt“ verständlich und richtig. Dies widerspricht auch nicht<br />
notwendig der oben ausgesprochenen Warnung vor einer Ideologisierung des<br />
Marktes, geht es doch hier nur um den klar umgrenzten Bereich ökonomischer<br />
Aktivitäten und deren Gestaltung. Ein schlanker und hinsichtlich seiner Befugnisse<br />
und Eingriffsmöglichkeiten reduzierter Staat wird dann auch in weitaus<br />
stärkerem Maße der subsidiären Funktion gerecht, die ihm ursprünglich zukommt.<br />
Die im Konzept einer neuen Sozialen Marktwirtschaft geforderte „neue<br />
117
Kultur der Selbstständigkeit“ findet im Subsidiaritätsprinzip ihre eigentliche sozialethische<br />
Begründung.<br />
Das Subsidiaritätsprinzip impliziert sowohl die Komponente der subsidiären<br />
Kompetenz mit der Betonung der Eigenverantwortung als auch die der subsidiären<br />
Assistenz mit der Betonung der Hilfe zur Selbsthilfe. Vor diesem Hintergrund<br />
sind nun wichtige Differenzierungen vorzunehmen: Auf der einen Seite ist<br />
damit offenkundig, daß die Entwicklung einer „Kultur der Selbstständigkeit“<br />
nicht – wie oftmals gefürchtet oder behauptet – die Aufgabe der gesellschaftlichen<br />
Solidarität bedeutet, sondern vielmehr auf eine stärkere „Bedürfnisorientierung<br />
und Zielgenauigkeit“ (Kersting 2000, 15) gesellschaftlicher und staatlicher<br />
Unterstützung abzielt.<br />
Auf der anderen Seite ergibt sich im Hinblick auf die Aufgabe der Gesellschaft<br />
und des politischen Handelns aus dem Subsidiaritätsprinzip ganz klar, daß es<br />
gerade nicht – wie eine weit verbreitete Mentalität noch immer meint –, darum<br />
geht, alle Bürger zu versorgen, sondern vielmehr alle zu befähigen, sich an diesem<br />
wirtschaftlichen Prozeß zu beteiligen, also eigenverantwortlich zu handeln<br />
und Verantwortung für andere zu übernehmen. Damit ist offenkundig, daß die in<br />
der neuen Sozialen Marktwirtschaft angezielte Kultur der Selbständigkeit keine<br />
ganz neue Dimension darstellt, wohl aber eine qualitativ höchst bedeutsame<br />
Dimension wieder bewußt macht und erneut ins Spiel bringt, die anknüpfen kann<br />
an der Tatsache, daß bereits bei Ludwig Erhard im klassischen Konzept der<br />
Sozialen Marktwirtschaft klar war, „daß Unternehmen und Selbstständige das<br />
Rückgrat der Sozialen Marktwirtschaft bilden.“ (Schlecht 2001, 50)<br />
Soziale Gerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit, als – wie neuere kirchliche<br />
Dokumente es formulieren – partizipative Gerechtigkeit kommt damit in den<br />
Blick. Soziale Gerechtigkeit, neben der Freiheit die zweite Säule der Sozialen<br />
Marktwirtschaft, meint eben nicht vorrangig die durch den Staat geleistete und<br />
gewährleistete möglichst weitgehende ökonomische Gleichheit und Absicherung<br />
aller Bürger. Vielmehr handelt es sich um die zentrale Aufgabe einer jeden politischen<br />
Gemeinschaft, „die es mit der Menschenwürde sowie mit den Freiheitsrechten<br />
und Mitwirkungsrechten ernst meint“, „sich auch um jene generell gültigen<br />
empirischen Voraussetzungen (zu) kümmern, ohne die man ein menschenwürdiges<br />
Leben gar nicht führen und ohne die man seine Freiheits- und Mitwirkungsrechte<br />
überhaupt nicht oder nur erschwert realisieren kann.“ (Baumgartner<br />
u. Wildfeuer 2001, 37 f) Daß hierin auch letztlich die entscheidende Begründung<br />
des Sozialstaates liegt, sei an dieser Stelle nur erwähnt.<br />
Vor diesem Hintergrund ergibt sich für den Staat die Notwendigkeit, Strukturen<br />
und Anreizsysteme zu schaffen, in denen Solidarität und Eigenverantwortung<br />
sich entfalten können. Vorrangige Aufgabe des Staates ist es also, ein „Klima“<br />
zu schaffen, das positiv und entwicklungsfördernd ist. Der Unternehmergeist<br />
muß durch derartige Anreize geweckt und die Innovationsbereitschaft gefördert<br />
werden, denn in erster Linie sind es in einer Sozialen Marktwirtschaft die Unternehmer,<br />
die die neuen Arbeitsplätze schaffen. Von daher erweist es sich als notwendig,<br />
daß etwa aufgrund von Innovation und technischer Neuerung entstehende<br />
junge Unternehmen spezielle und unkomplizierte Unterstützung in der Phase<br />
118
der Existenzgründung bekommen sollten. Von staatlicher Seite sollte die Regulierungsdichte<br />
abgebaut, Überregulierung vermieden werden, ohne daß Standards<br />
der Qualität und der Rechtssicherheit leiden oder gar zerstört werden.<br />
Gesellschaftliche Verantwortung könnte hier wahrgenommen werden z. B. durch<br />
einen entsprechend prüfend-wohlwollenden Umgang der Banken mit der Frage<br />
des Risikokapitals oder durch einen Senior-Experten-Service (One-Dollar-Men).<br />
Die Priorität des Faktors Wissen, die sich im Laufe der letzten Jahre entwickelt<br />
hat – wie sich u. a. auch in der Bezeichnung unserer Gesellschaft als „Wissensgesellschaft“<br />
andeutet – wird in Zukunft auch dazu führen, daß jeder in seinem<br />
Betrieb sehr viel selbständiger sein wird - auch dies also noch einmal ein Indiz<br />
für die sich herausbildende neue Kultur der Eigenständigkeit. Hierin liegt eine<br />
große Chance auch für den Mittelstand, der im Wettbewerb gegenüber großen<br />
Konglomeraten durchaus Vorteile haben kann. Diese Kultur der Eigenständigkeit<br />
wird es nun erneut und dringend notwendig machen, über die Beteiligung der<br />
Arbeitnehmer am Produktivkapital nachzudenken. Die Sozialpartnerschaft ist<br />
aus dieser Perspektive des Arbeitnehmers, der sowohl an der Wohlstandsentwicklung<br />
partizipiert als auch bis zu einem gewissen Umfang die Ris iken der<br />
Kapitalentwicklung mit trägt, neu zu definieren.<br />
4. These: Soziale Gerechtigkeit resp. sozialer Ausgleich als der zweite Grundwert<br />
im System der Sozialen Marktwirtschaft wird nur dann umfassend Wirklichkeit,<br />
wenn im Sinne der Solidarität und der „Option für die Benachteiligten“<br />
auch diejenigen im Blick bleiben, die aus eigenen Stücken am Marktgeschehen<br />
kaum, nur schwer oder gar nicht teilnehmen können.<br />
Der bereits zu einem Teil näher entfaltete Zielwert der sozialen Gerechtigkeit<br />
impliziert als eine weitere, spezifische Intention der Sozialen Marktwirtschaft<br />
den solidarischen Ausgleich zwischen allen Bürgern. Die christliche Perspektive<br />
mit ihrer „Option für die Benachteiligten“ lenkt den Blick in diesem Zusammenhang<br />
auf die, die aus sehr unterschiedlichen Gründen vom Marktgeschehen weitgehend<br />
ausgegrenzt sind. Die soziale Dimension menschlichen Personseins findet<br />
– in christlicher Perspektive – nicht bloß aus Nützlichkeitserwägungen Eingang<br />
in die Überlegungen. Gerade Instrumentalisierung der sozialen Dimension<br />
ist nicht gemeint, der zufolge Solidarität nur dazu diente, zu ermöglichen, die<br />
Menschen möglichst leistungsstark am Markt teilnehmen zu lassen. Richtig und<br />
umfaßend verstanden, ist die Solidarität vielmehr konstitutiv für das Gelingen<br />
menschlichen Lebens überhaupt. Gemäß ihrer Bestimmung ist allen Menschen<br />
Anteil an den Gütern der Erde zu geben. Um dieses Ziel zu erreichen, genügt<br />
aber die Institution des Marktes mit ihrer Garantie wirtschaftlicher Freiheit,<br />
Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit nicht. Ein Blick auf die „Marktschwachen“<br />
und „Marktpassiven“, also auf die, die noch nicht, nicht mehr oder<br />
überhaupt nicht am Markt teilnehmen können, macht eine wesentliche Implikation<br />
des hier angesprochenen Prinzips der Solidarität deutlich: nicht einfachhin<br />
völlige Nivellierung ist in der gegenwärtigen Situation der Sozialstaatsdebatte<br />
angesagt, sondern die Leistungsbereitschaft, Leistungsfähigkeit und tatsächliche<br />
Leistung der Marktaktiven ist notwendig, damit Solidarität realisiert werden<br />
kann. Zunächst müssen die Leistungsfähigen etwas leisten und auch leisten dür-<br />
119
fen, damit dann diejenigen, die auf die Solidarität und Unterstützung angewiesen<br />
sind, die Hilfe (als Hilfe zur Selbsthilfe) auch in Anspruch nehmen können.<br />
Wenn hier die Rede ist von den Marktpassiven, so sind – und das erweist sich<br />
auch als zentrales Anliegen der Konzeption der neuen Sozialen Marktwirtschaft<br />
– vor allem auch die in den Blick zu nehmen, die notgedrungen, aufgrund fehlender<br />
Arbeitsplätze und daraus folgend aufgrund der fehlenden materiellen<br />
Möglichkeiten der Partizipation, zur Marktpassivität verurteilt sind. Somit meint<br />
der solidarische Ausgleich im Blick auf die Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit<br />
auch speziell den Ausgleich zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen<br />
(vgl. Roos 1997b, 45). Der Staat ist nicht der erste Adressat, wenn es<br />
um die Frage nach Einrichtung neuer Arbeitsplätze geht. Vielmehr bedarf es<br />
einer gesamtgesellschaftlichen Initiative und Bereitschaft, durch die Errichtung<br />
neuer Beteiligungsmöglichkeiten auch soziale Gerechtigkeit zu schaffen.<br />
5. These: Der Sozialstaat ist Ausdruck einer Kultur der Solidarität und Subsidiarität<br />
und muß unter dem Druck der sichtbar gewordenen materiellen und moralischen<br />
Begrenzungen in diesem Sinne weder ab- noch einfachhin umgebaut, sondern<br />
neu bestimmt werden.<br />
Im Kontext des sozialen Ausgleichs ist das Konzept des Sozialstaates zu bedenken,<br />
ist es doch konstitutiv mit der Soziale Marktwirtschaft verbunden. Wilhelm<br />
Röpke und auch Ludwig Erhard gingen von einer Legitimation und Konzeption<br />
des Sozialstaates aus, die in ihm in der Tat eher eine Erste-Hilfe-Station zur<br />
Notlinderung sahen, wohingegen man ihn sozialethisch-systematisch nicht als<br />
möglichst durch „Wohlstand für alle“ zu überwindende Institution, sondern als<br />
Ausdruck einer Kultur der Solidarität versteht. (Vgl. Spieker 1993, ferner Nothelle-Wildfeuer<br />
1999, 250-262.)<br />
Daß der Sozialstaat an seine finanziellen Grenzen gekommen ist und daß folglich<br />
die dringende Notwendigkeit besteht, ihn zu reformieren, ist hinlänglich Gegenstand<br />
politischer und auch sozialethischer Erörterungen gewesen. Eine entscheidende<br />
Ursache für diese Entwicklung ist die weit verbreitete Mentalität, in jeder<br />
Lebenslage und bei allen Problemen sofort nach „Vater Staat“ zu rufen, den<br />
Sozialstaat also zu einem ausufernden Wohlfahrts- oder Fürsorgestaat werden zu<br />
lassen, der aber Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen in keiner<br />
Weise mehr gerecht wird und auf eine entmündigende und letztlich freiheitsberaubende<br />
Wirkung soziale Gerechtigkeit realisiert. Damit wird zugleich deutlich,<br />
daß der Sozialstaat auch an seine moralischen Grenzen gekommen ist: Wer in<br />
jeder intendierten Maßnahme zur Verhinderung von Mißbrauch sozialstaatlicher<br />
Unterstützung und zur Verbesserung der Zielgenauigkeit Herzlosigkeit und Mitleidslosigkeit<br />
wittert, begeht einen „effektvollen Kategorienfehler. Der Kritiker<br />
einer expansiven Wohlfahrtspolitik ist genauso wenig dem mitleidlosen Leviten<br />
und Kaufmann gleichzusetzen, der mit abgewandtem Gesicht an dem Ausgeraubten<br />
und Geschundenen im Straßengraben vorübergeht, wie der wohlfahrtsstaatliche<br />
Maximalist als guter Samariter gelten kann.“ (Kersting, 249)<br />
Zwar spielt das Solidaritätsprinzip eine wichtige, unverzichtbare Rolle für den<br />
Entstehungs- und Begründungszusammenhang des Sozialstaats, aber wird es<br />
isoliert und ausschließlich herangezogen, so führt das notwendig zu Mißbrauch<br />
120
und Aushöhlung des Sozialstaats. Des Menschen würdig ist nur ein Verständnis<br />
sozialer Gerechtigkeit, das zugleich seine Freiheit respektiert und einfordert, und<br />
damit also auch seine Selbstverantwortung und die der kleinen Gemeinschaften<br />
innerhalb der Gesellschaft ernstnimmt und beansprucht. Das Solidaritätsprinzip –<br />
und damit unterscheidet sich dieses Konzept auf der Basis des christlichen Menschenbildes<br />
sehr deutlich von anderen Deutungen – wird mithin nur durch das<br />
Subsidiaritätsprinzip richtig interpretiert; der wohlverstandene, subsidiäre Sozialstaat<br />
ist mithin notwendig angewiesen auf den einzelnen Menschen und die<br />
kleineren Einheiten, die ihre Freiheit wahrnehmen, Verantwortung ausüben,<br />
Initiativen, Anstrengungen und Leistungen einbringen. Damit ist dieser Sozialstaat<br />
dann auch das Ergebnis bewußter und verantworteter Solidarität.<br />
Im Blick auf die Frage nach der Zukunft des Sozialstaates macht eine Rückbesinnung<br />
auf dessen subsidiäre Struktur deutlich, daß es also auf der einen Seite<br />
nicht einfach um einen mehr oder minder deutlichen Abbau des Sozialstaates<br />
geht, auf der anderen Seite aber auch nicht um eine neu vorzunehmende Verteilung<br />
des für sozialstaatliche Maßnahmen ausreichend vorhandenen Geldes.<br />
Vielmehr geht es darum, die Reproduktionsfähigkeit des Solidarsystems zu erhalten.<br />
Mit dem Bezug auf das Personprinzip liegt ein unverzichtbarere Maßstab<br />
vor, aufgrund dessen im Blick auf die Leistungen des Sozialstaats differenziert<br />
über Solidarleistungen entschieden werden kann:<br />
1. Welche Solidarleistungen sind um der Würde und der damit zusammenhängenden<br />
sozialen Rechte willen unverzichtbar, hier sind als Beispiele zuerst die<br />
Sozialhilfe als Sicherung eines Lebens oberhalb des Existenzminimums zu nennen,<br />
ferner die fünf Säulen der Sozialversicherung, aber auch etwa zahlreiche<br />
familienpolitische Maßnahmen.<br />
2. Welche zusätzlichen Solidarleistungen sind von der sozialen Gerechtigkeit her<br />
gefordert? Auch hier ist der Bereich der Familie in den Blick zu nehmen, verwiesen<br />
sei hier nur auf die Frage nach dem Familienlasten- resp. -leistungsausgleich,<br />
nach der steuerlichen Entlastung für die Kosten, die im Zusammenhang mit der<br />
Erziehung und Betreuung von Kindern entstehen etc.<br />
3. ist schließlich zu fragen, welche bisherigen Leistungen des Sozialstaates sind<br />
(zumindest teilweise) durch zumutbare Eigenleistungen zu ersetzen? (vgl. Roos<br />
1997a, 90) Dabei geht es nicht um einen Abbau der bisherigen sozialen Sicherheit,<br />
basierend auf einem Ethos des Verzichts, das den Bürgern näher gebracht<br />
werden muß, sondern darum, Reformen so zu konzipieren, daß sie bereits auf<br />
den ersten Blick für alle Beteiligten Vorteile bringen und folglich Anreize zur<br />
Mitarbeit an der Reform und zur Übernahme eigener Ve rantwortung setzen. Im<br />
Bereich der Kranken- und Rentenversicherung könnte etwa über eine (einkommensabhängige)<br />
private Versicherungslösung nachgedacht werden, die den Arbeitgeber<br />
entlasten würde und dem Arbeitnehmer eine eigene Entscheidung über<br />
die Ausgestaltung des Teils der Versorgung in Krankheit oder Alter jenseits der<br />
Grundversorgung ermöglichen würde. Der Grundsatz müßte hier lauten: Von der<br />
Pflichtversicherung zur Versicherungspflicht (ähnlich der PKW-Versicherung),<br />
denn aufgrund der Ve rpflichtung würden die Bürger zur Kosteneffizienz erzogen<br />
121
und durch den Wettbewerb würden bürgernahe Lösungen gefunden werden mü ssen<br />
und können. (vgl. Starbatty 2000)<br />
In der Konzeption der neuen Sozialen Marktwirtschaft ist es ein klares, sogar<br />
absolute Priorität genießendes Ziel, Eigenverantwortung und -initiative zu stärken.<br />
Aus dem Grund findet sich auch das Erhard-Zitat als Motto allen Ausführungen<br />
vorangestellt: „Ich will mich aus eigener Kraft bewahren. Ich will das<br />
Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal verantwortlich sein.<br />
Sorge Du, Staat, dafür, daß ich dazu in der Lage bin.“ Wenn mit dem letzten Teil<br />
des Mottos Staat und Gesellschaft in die Solidaritäts- und Gemeinwohlpflicht<br />
genommen und zugleich deren angemessener Rahmen gekennzeichnet sein sollen,<br />
dann kann man auch aus sozialethischer Perspektive zustimmen, ansonsten<br />
aber würde man doch Norbert Blüm vertrauen können, der sagt, er kenne „(v)on<br />
Ludwig Erhard ... bessere Sätze als die, welche zum Leitmotiv der neuen Sozialen<br />
Marktwirtschaft ausgesucht wurden.“ (Blüm 2001)<br />
6. These: Die Stärkung und Förderung der Zivilgesellschaft erscheint in der<br />
gegenwärtigen wie zukünftigen Situation als eines der angemessensten Mittel,<br />
um die Soziale Marktwirtschaft sowohl im Sinne ihrer basalen Prinzipien zu<br />
erneuern als auch mit Blick auf die neuen Herausforderungen für die Bewährung<br />
im 21. Jahrhundert „fit“ zu machen.<br />
Brauchen wir für das 21. Jahrhundert eine neue Soziale Marktwirtschaft? Wir<br />
brauchen eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft. Die Grundelemente der Sozialen<br />
Marktwirtschaft haben sich in der Tat als raum- und zeitunabhängig erwiesen,<br />
gleichwohl sich – angesichts der konstatierten Fehlentwicklungen, die sich<br />
im Vergleich mit dem ursprünglichen Konzept im Verlauf der letzten Jahrzehnte<br />
herauskristallisiert haben – unter doppelter Rücksicht eine Erneuerung als notwendig<br />
darstellt: Zum einen im Sinne einer Rückkehr zu den Wurzeln des Konzepts<br />
der Sozialen Marktwirtschaft, von denen her viele gegenwärtige Forderungen<br />
(wie z. B. die der Kultur der Selbstständigkeit, die des Gemeinsinns, der<br />
Verantwortung für das Gemeinwohl etc.) angegangen werden können. Zum anderen<br />
gilt es natürlich angesichts des fundamentalen Wandelns, der unsere Gegenwart<br />
kennzeichnet, die Soziale Marktwirtschaft an die neuen Bedingungen<br />
anzupassen, sie im Kontext der anstehenden Herausforderungen adäquat zu verorten.<br />
Die Soziale Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts bedarf zur Realisierung von<br />
Freiheit und sozialer Gerechtigkeit notwendig der Zivilgesellschaft, denn soziale<br />
Gerechtigkeit in der Praxis bedeutet – so formuliert es etwa der amerikanische<br />
Theologe und Sozialwissenschaftler Michael Novak – nicht, den Staat noch mehr<br />
auszuweiten; im Gegenteil, es bedeutet, die Zivilgesellschaft zu stärken, d. h. die<br />
Freiheit und Verantwortung der Bürger ernst zu nehmen und zu aktivieren. Gefordert<br />
als Anstrengung aller ist folglich eine erneuerte Sozialkultur: Im Blick ist<br />
hierbei vor allem die Vielzahl an gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen,<br />
die einen eigenständigen Beitrag zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wohlfahrt<br />
leisten können. Hierzu gehören in erster Linie die Familien, aber auch gemeinnützige<br />
Einrichtungen etc. wie etwa Kirchen und Vereine, und Formen wechselseitiger<br />
Hilfe. Gefordert sind klare Regelungen der Verantwortlichkeiten, die,<br />
122
entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip auf der untersten, im Einzelfall adäquaten<br />
Ebene angesiedelt sind. Damit ist wiederum mehr Bürgernähe, mehr Zivilcourage<br />
und mehr bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt möglich. Die<br />
größere Nähe etwa auch der Erwerbsarbeit zu überschaubaren Lebensräumen,<br />
die Verankerung in einer „Heimat“ sind die notwendige Kehrseite der Globalisierung<br />
der Wirtschaftsordnung.<br />
Zudem trägt die Zivilgesellschaft dazu bei, eine Entwicklung vom Wohlfahrtsstaat<br />
zum zivilgesellschaftlich verantworteten Sozialstaat zu initiieren (vgl. Nothelle-Wildfeuer<br />
2000): Denn nicht länger darf der Staat in sozialethisch unverantwortbarer<br />
Weise der allein verantwortliche Akteur bei der Realisierung sozialer<br />
Gerechtigkeit sein, sondern vorrangig sollen dazu die humanen Ressourcen<br />
der Gesellschaft optimal gefördert und genutzt werden. Diesem Sozialkapital<br />
muß mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt werden, die Ressourcen<br />
der Gesellschaft müssen mobilisiert und aktiviert werden, um dann wirklich die<br />
öffentlichen Angelegenheiten zurückzuführen aus der Hand des Staates in die<br />
vielfältigen Hände der Gesellschaft.<br />
Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft rechnet von seinen Anfängen an nicht<br />
mit einer Hochleistungsmoral einiger weniger Bürger, sondern – in Konsequenz<br />
des christlichen Menschenbildes und im Wissen um die Fehlbarkeit des Menschen<br />
und um seine Möglichkeit, im Gebrauch der Freiheit auch zu scheitern –<br />
mit einer gesunden Portion Eigennutz, der ja auch allererst der Motor jedweden<br />
marktwirtschaftlichen Handelns ist. Um die optimale Güterversorgung für alle<br />
Menschen erreichen zu können, bedarf es also notwendig der entsprechenden<br />
Institutionen, die den Erfolg des wirtschaftlichen Handelns nicht koppeln an<br />
moralische Motive einzelner, sondern Anreize schaffen, die vorteilhafte Resultate<br />
für jeden in Aussicht stellen, so daß „auf die bereitwillige Mitarbeit aller gerechnet<br />
werden (kann).“ (Böhr 2000). Zugleich aber bedarf es eines subsidiärsolidarischen,<br />
gemeinwohlorientierten Ethos aller Gesellschaftsmitglieder, um<br />
nicht die Institutionen und ihre Regelungen egoistisch zu unterlaufen und auszuhöhlen.<br />
Literatur<br />
Baumgartner, H. M. u. Wildfeuer, A. G. (2001): Freiheit und soziale Gerechtigkeit: Die<br />
Verantwortung des Staates für Bildung und Erziehung, in: S. S. f. Kultus (Hrsg.), Nachdenken<br />
über Schule, Dresden, 33-57.<br />
Blüm, N. (2001): Mehr Obst, weniger Äpfel?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom<br />
5.9.2001, Nr. 206, 12.<br />
Böhr, C. (2000): Die Zukunft des Sozialstaates: Ansätze einer Reform, in: Die Neue Ordnung<br />
54, 68-73.<br />
CDU, D. (2001): Neue Soziale Marktwirtschaft. Diskussionspapier, Berlin.<br />
Erhard, L. (1961): Freiheit und Verantwortung. Ansprache vor dem Evangelischen Arbeitskreis<br />
der CDU, 2. Juni 1961.<br />
Höhn, H.-J. (2000): Markt ohne Grenzen? Thesen zum Profil christlicher Wirtschaftsethik,<br />
in: U. Nothelle-Wildfeuer u. N. Glatzel (Hrsg.), Christliche Sozialethik im Dialog.<br />
123
Zur Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag<br />
von Lothar Roos, Grafschaft, 417-433.<br />
Issing, O. (2001): Liberaler Kapitalismus und Soziale Marktwirtschaft. Vortrag auf dem<br />
Wirtschaftstag „Streit der Ordnungssysteme – New Economy, Soziale Marktwirtschaft,<br />
Staatlicher Dirigimus“, 28. Juni 2001.<br />
Kersting, W. (2000): Vorwort, in: W. Kersting (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats,<br />
Weilerswist, 11-16.<br />
Müller-Armack, A. (1956): Art.: Soziale Marktwirtschaft, in: (Hrsg.), Handwörterbuch<br />
der Sozialwissenschaften, Bd. 9, Stuttgart/Tübingen, 390-392.<br />
Nothelle-Wildfeuer, U. (1999): Soziale Gerechtigkeit und Zivilgesellschaft, Paderborn.<br />
--- (2000): Vom Wohlfahrtsstaat zum zivilgesellschaftlichen Sozialstaat, in: W. Boloz u.<br />
G. Höver (Hrsg.), Die Einigung Europas als Herausforderung für die Kirche, Baden-<br />
Baden, 39-57.<br />
Roos, L. (1997a): Die Zukunft des Sozialstaats in sozialethischer Perspektive, in: H. Pompey<br />
u. L. Roos (Hrsg.), Caritas zwischen Menschlichkeit und Wirtschaftlichkeit, Würzburg,<br />
73-97.<br />
--- (1997b): Ethische Grundlagen und zukünftige Gestalt der Sozialen Marktwirtschaft, in:<br />
H.-J. Jaschke (Hrsg.), Auf dem Weg zum Heiligen Jahr 2000: Christen vor der Zukunft.<br />
Unsere Verantwortung für die Gesellschaft, Bonn, 40-63.<br />
Schlecht, O. (2001): Ordnungspolitik für eine zukunftsfähige Marktwirtschaft, Frankfurt<br />
a.M.<br />
Spieker, M. (1993): Menschenbild und Sozialstaat, in: A. Rauscher (Hrsg.), Christliches<br />
Menschenbild und soziale Orientierung (= Mönchengladbacher Gespräche 13), Köln, 95-<br />
120.<br />
Starbatty, J. (2000): „Eine Neue Soziale Marktwirtschaft?“ in: Handelsblatt v. 5. Dez.<br />
2000.<br />
Stegmann, F. J. (1999): Ansätze und Entwicklungen der modernen wirtschaftsethischen<br />
Fragestellung in den christlichen Kirchen, in: W. Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik.<br />
Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik, Gütersloh, 683-712.<br />
Wünsche, H. F. (2001): Was ist eigentlich „Soziale Marktwirtschaft“?, in: Orientierungen.<br />
PD Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Lehrstuhlvertreterin im Fach „Christliche<br />
Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie“ an der Katholisch-Theologischen<br />
Fakultät der Universität Bonn.<br />
124
Stefan Heid<br />
Der Umgang der frühen Kirche mit Tyrannenmord<br />
Zum Stand der Dinge<br />
Die Diskussion um den wenig bekannten Hitlerattentäter Georg Elser, wie sie<br />
jüngst nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch in der Presse zu verfolgen<br />
war, hat das Thema Tyrannenmord einmal neu nach oben gespült und in das Bewußtsein<br />
einer breiteren Öffentlichkeit gehoben. 1 Ist es – gar einem Christen –<br />
erlaubt, einen Tyrannen, d.h. einen Usurpator oder Schreckensherrscher 2 , als<br />
ultima ratio der Politik zu töten, zu morden? Tyrannenmord stellt je einen Not-<br />
und Sonderfall dar, in dem sich das Drama der Geschichte ungleich verdichtet.<br />
Wo sich das künftige Geschick unzähliger Menschen und Völker durch den Tod<br />
eines einzigen Menschen zu wenden scheint, stellen sich ganz neue Fragen an<br />
Akteure und Zuschauer und deren Moral. Es gibt viele Weisen, mit einem solchen<br />
Ereignis umzugehen: Die erinnernde Mahnung der Geschichtsschreibung<br />
ist die eine 3 , die reinigende Erschütterung des Dramas eine andere (man denke<br />
an Shakespeares „Julius Cäsar“, aber auch an Heinrich Manns Roman „Professor<br />
Unrat oder Das Ende eines Tyrannen“ 4 ). Daß auch die Theologie ihre Meinung<br />
dazu gebildet hat, kann angesichts ihrer 2000jährigen Geschichte kaum überraschen.<br />
In unserem Zusammenhang interessiert die Frage, ob der Tyrannenmord<br />
auch schon Thema frühchristlicher Verkündigung und gar frühchristlicher Kunst<br />
ist.<br />
Die spontane Reaktion geht doch wohl dahin zu meinen, der Tyrannenmord sei<br />
kein solch frühes Thema. Man erinnert sich an Paulus und den starken Einfluß,<br />
den sein Brief an die christliche Gemeinde Roms auf das frühchristliche Staatsdenken<br />
ausgeübt hat: „Ein jeder ordne sich der obrigkeitlichen Gewalt unter;<br />
denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott ist. Die bestehenden (Gewalten)<br />
sind von Gott angeordnet. Wer sich daher der Gewalt widersetzt, widersetzt sich<br />
der Anordnung Gottes“ (Röm 13,1f). Damit liegt Paulus ganz auf der Linie des<br />
Jesuswortes an Pilatus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht<br />
von oben gegeben wäre“ (Joh 19,11). Tatsächlich entspricht es dem Ethos der<br />
Märtyrer, trotz notwendigen Widerstands – Paulus selbst stirbt im Rom des Tyrannen<br />
Nero den Zeugentod! – aktive Gewaltmaßnahmen gegen die Obrigkeit<br />
abzulehnen. So durfte also Widerstand gegen den Tyrannen allein passiv geschehen:<br />
Allein Gott gebührt die Rache (Ps 94(93),1).<br />
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn die jüngere Forschung weithin<br />
annimmt, daß es in der frühen Kirche kein Nachdenken über den Tyrannenmord<br />
gegeben habe; in einschlägigen Lexika liest man darüber erst recht nichts.<br />
Gewiß, eine formalisierte „Lehre“, wie sie dann in der westlichen Scholastik seit<br />
den Ausführungen eines Johannes von Salisbury vorliegt, gibt es erst ab dem<br />
Mittelalter. Aber man darf doch einigermaßen erstaunt sein, daß die frühe Kir-<br />
125
che, vor allem auch die Kirche des Ostens, keineswegs achtlos an diesem Thema<br />
vorübergeht. Ihr Nachdenken entzündet sich auf einem Feld, wo man es am<br />
wenigsten erwarten möchte, nämlich in der Heiligenlegende (Hagiographie), und<br />
das ist nicht einfach „Kinderkram“, sondern eine damals durchaus ernstgemeinte<br />
und einflußreiche Weise kirchlicher Verkündigung.<br />
126<br />
Tyrannenmord durch Nichtchristen<br />
Natürlich wissen die frühen Christen ebenso wie ihre heidnischen Mitbürger, daß<br />
die „Tyrannoktonie“ bereits lange vor ihrer Zeit ausgiebig diskutiert wurde, was<br />
erst jüngst wieder angeheizt wurde durch die spektakuläre Ermordung Julius<br />
Cäsars (15. März 44 v.Chr.), die Cicero als heroische Tat der beiden tyrannoctoni<br />
Brutus und Cassius feiert. Euphorisch lobt Cicero, wie es ihm sein Staats- und<br />
Gerechtigkeitsbegriff gebietet, den Tyrannenmord als von allen herrlichen Taten<br />
die schönste. Solch markige Worte finden in den erregten Monaten nach Cäsars<br />
Ermordung Eingang in Ciceros „Pflichtenbuch“, eine Schrift von tiefgreifender<br />
Wirkung auf die christlichen Jahrhunderte. Das hier gebrauchte Wort „Tyrannoktonie“<br />
heißt eigentlich „Tyrannentötung“, trägt also nicht schon die moralische<br />
Disqualifizierung des „Mordes“ ein. Die Kirchenväter nehmen die Tyrannentötung<br />
hin als keineswegs unmoralisches Faktum der paganen Geschichte, und<br />
diese pagane Geschichte reicht für sie im Grunde genommen bis zu Konstantin.<br />
Um die Loyalität der Christen hervorzukehren, weist Tertullian von Karthago (†<br />
um 220) darauf hin, daß es immer Heiden und Römer waren, die die Kaiser gemordet<br />
haben, etwa ein Cassius den Cäsar. Deutlicher wird der Theologe Origenes<br />
von Alexandrien († 253) in seiner Schrift gegen den Heiden Kelsus, indem er<br />
rhetorisch fragt: „Würden nicht diejenigen richtig handeln, die heimliche Vereinbarungen<br />
treffen, um einen Tyrannen, der die Herrschaft im Staat usurpiert hat,<br />
zu töten?“ Zumindest der nichtchristlichen Gesellschaft konzediert Origenes also<br />
den Tyrannenmord als legitimes Mittel zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen<br />
Ordnung. Laktanz († 325) in seinem Buch über die Todesarten der Christenverfolger<br />
bejubelt die gottgefügte Ermordung der Tyrannen Nero, Domitian und<br />
Maximinus Daja; nachweislich ermordet von fremder Hand wurde freilich nur<br />
ein Domitian.<br />
Die Christen tun sich mit dem Thema Tyrannenmord verhältnismäßig leicht,<br />
weil sie um ihn auch als Teil jüdisch-biblischer Geschichte wissen. Der christliche<br />
Lehrer Klemens von Alexandrien († um 220) rühmt Judit, die mit Erlaubnis<br />
der Ältesten und unter Einsatz ihres Lebens den Tyrannen Holofernes seines<br />
Kopfes beraubt. Offenbar sieht Klemens hier in antiker Tradition einen legitimen<br />
Tyrannenmord vorliegen, wie er dann auch im selben Zusammenhang an die<br />
„klassischen“ Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton erinnert. Auch Origenes<br />
lobt die tapfere Judit. Ferner lobt Origenes Ehud, der „durch listige, aber<br />
doch lobenswerte Täuschung“ den moabitischen Tyrannen Eglon erstach (Ri<br />
3,17/22). Origenes versäumt es nicht, auch die geschickte Ausführung der Tat zu<br />
erwähnen, denn Ehud war Linkshänder und hatte nur einen kurzen Dolch im<br />
Gewande, mit dem er den überaus feisten Eglon mit einem gezielten Stich niederzustrecken<br />
verstand.
Die frühe christliche Apologetik macht sich also mit einer gewissen Zurückhaltung<br />
die positive Bewertung des Tyrannenmords in der Antike einschließlich<br />
des Alten Testaments zunutze, ohne allerdings für sich selbst eine solche ultima<br />
ratio ins Kalkül zu ziehen. Mit dieser Linie knüpft sie im übrigen an die jüdische<br />
Apologetik eines Philo von Alexandrien und Flavius Josephus (1. Jh.) an. Stets<br />
bleiben die Christen der ersten Jahrhunderte nur Zuschauer, bestenfalls Profiteure<br />
solcher Attentate. Aufgrund ihrer (ähnlich den Juden) unsicheren gesellschaftlichen<br />
Stellung sehen sie keinen Anlaß, über einen Tyrannenmord durch Christenhand<br />
nachzudenken, auch wenn sie die Überzeugung haben, daß sich im<br />
Ende eines Tyrannen stets ein Gottesurteil ausspricht.<br />
Tyrannenmord durch Christen<br />
Zu einem neuen Nachdenken führt die ‚Konstantinische Wende‘, was angesichts<br />
der damit verbundenen Veränderungen im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft<br />
nicht verwundern kann. Konstantin selber gibt den Anstoß, indem er den<br />
eindeutig negativ besetzten Begriff des Tyrannen in die politische Kampfpropaganda<br />
einführt: seine Gegner Maxentius und Licinius attackiert er als verabscheuungswürdige<br />
Tyrannen. Die Christen schmiegen sich diesem Gedanken insofern<br />
an, als der euphorische Anhänger des neuen Hoffnungsträgers Konstantin,<br />
der palästinische Bischof Eusebius von Cäsarea († 339), Christus selbst als „Tyrannenmörder“<br />
apostrophiert. Dabei denkt Eusebius zunächst an die Tyrannei<br />
des Teufels, den Christus getötet habe, wendet dies aber sogleich ins Politische:<br />
Denn der Teufel führt sein tyrannisches Regiment, indem er gewissermaßen<br />
gottlose Tyrannen wider die Christen anheuert. Damit wird also Christus indirekt<br />
auch als der Überwinder eines Diokletian, Maximian und Maxentius angesprochen.<br />
Folgerichtig spricht Eusebius auch Kaiser Konstantin den Titel des „Tyrannenmörders“<br />
zu, insofern dieser die Tyrannei des Maxentius beendet habe.<br />
Der Tyrannenmord macht also Konstantin und Christus untrennbar zu Erlösungs-<br />
und Befreiungshelden. Solche Szenarien im Graubereich zwischen Politik und<br />
Theologie sind gefährlich, denn sie können sich verselbständigen. Schon bald<br />
melden sich erste Stimmen zu Wort, die den Tyrannenmord auch für Christen<br />
nicht ausschließen. Nur wären es jetzt getaufte Kaiser, die dem Tyrannenschwert<br />
zum Opfer fielen.<br />
Tatsächlich thematisiert man den Fall der Apostasie des allerchristlichsten Herrschers<br />
und spielt dabei auch mit dem Gedanken des Tyrannenmords. Zu nennen<br />
ist der lateinische Bischof Lucifer von Cagliari auf Sardinien († 370). Als radikaler<br />
Anhänger des Glaubensbekenntnisses von Nizäa steht er im erbitterten<br />
Widerspruch zur arianerfreundlichen Politik des Kaisers Constantius II. In seinen<br />
Exilsschriften polemisiert er hemmungslos gegen den Tyrannen Constantius.<br />
Dafür zieht er die alttestamentlichen Tyrannenmorde heran, um dem Kaiser<br />
entgegenzuhalten, daß er, lebte er im Alten Bund, ohne weiteres mit dem<br />
Schwert getötet werden könnte (vgl. 2 Kö 22f; Num 25,7f; 1 Makk 2,24/6). Das<br />
Gebot des Paulus, der Obrigkeit untertan zu sein, habe nämlich nur gegenüber<br />
der heidnischen Obrigkeit gegolten. Was Lucifer da so von sich gibt, ist nichts<br />
127
anderes als die – wenn auch maulheldenhafte – Drohung mit dem Tyrannenmord.<br />
Eine solche Drohung gegen einen aus seiner Sicht apostatischen Kaiser mußte<br />
um so dringlicher werden, als wenig später Julian das Reichsszepter ergriff und<br />
offen als ‚Apostat‘ zum Heidentum zurückkehrte (361 bis 363). Kaiser Julian,<br />
obwohl getauft und christlich erzogen, wandte sich vom Christentum ab und versuchte<br />
im Rückwärtsgang, dem Heidentum seine alte Bedeutung wiedereinzuhauchen.<br />
Von den Christen war er deshalb nicht gut gelitten, war man doch überzeugt,<br />
daß er nach dem geplanten Persienfeldzug den Zimmermannsglauben auslöschen<br />
wollte. Die Bischöfe waren in höchster Alarmbereitschaft, so daß es<br />
ihnen wie ein Gottesurteil erscheinen mußte, daß Julian nur nach knappen drei<br />
Amtsjahren auf besagtem Feldzug im Schlachtengewühl starb, getroffen von<br />
einer Lanze. Man mühte sich nicht, seine Schadenfreude zu verbergen. Gregor<br />
von Nazianz († 390): „Der widerspenstige Tyrann wurde zur gerechten Strafe für<br />
seine Gottlosigkeit gestürzt.“ Daß hier die Fügung Gottes mitspielte, steht außer<br />
Diskussion. Bevor noch das Wort vom Tyrannenmord umgeht, gilt Julian den<br />
Christen als der Tyrann schlechthin, und das wahrscheinlich bereits zu Lebzeiten.<br />
Bald aber spricht man offen von einem christlichen Mörder Julians: Die Heiden<br />
setzen ein solches Gerücht in die Welt, die Christen greifen es geschmeichelt auf.<br />
Der griechische Historiker des 5. Jahrhunderts Sozomenós schildert zunächst den<br />
Tod Julians; dabei hält er sich an das, was der heidnische Rhetor und Julianfreund<br />
Libanius von Antiochien notiert hat: In vollem Galopp näherte sich ein<br />
rätselhafter Reiter dem Kaiser und verwundete ihn mit seiner Lanze tödlich.<br />
Einige, so immer noch Libanius, erkannten in diesem Reiter einen Perser, andere<br />
einen Araber, wieder andere einen römischen Soldaten, der sich für die fatale<br />
Kriegstaktik des Kaisers rächen wollte. Sozomenós zitiert des weiteren die persönliche<br />
Meinung des Libanius zu diesem Vorfall: Einer der eigenen Soldaten<br />
habe Julian umgebracht. Libanius insinuiert christliche Täterschaft, da er den<br />
Christen aus religionspolitischen Gründen ein Attentat zutraut. Die Indizien bündeln<br />
sich dahingehend, daß jene anonyme Gestalt des lanzenführenden Reiters<br />
ein christlicher Soldat im Heer Julians gewesen sei.<br />
Sozomenós schließt sich dieser Version an: Ja, Julian wurde womöglich von<br />
einem christlichen Soldaten gemordet, „da ja die Hellenen und alle Menschen bis<br />
heute die Tyrannenmörder von einst loben, weil sie sich für die Freiheit aller<br />
dem Tod ausgesetzt haben und bereitwillig den Bürgern, Verwandten und Freunden<br />
zur Seite standen. Zudem wird kaum jemand einen Menschen tadeln, der<br />
seine Tapferkeit in den Dienst Gottes und des von ihm erwünschten Gottesdienstes<br />
stellt.“ Auch ethisch trägt er keine Bedenken: Julian war ein Tyrann und<br />
starb als Tyrann, und sei es durch Christenhand. Schon Gregor von Nazianz hatte<br />
gesagt, wer immer Julian umgebracht habe, er habe eine „Heldentat“ vollbracht.<br />
Sozomenós nun führt für die Unbedenklichkeit des Tyrannenmords ein Traditionsargument<br />
an: Der Tyrannenmord zugunsten der Bürgerfreiheit wird seit<br />
Menschengedenken nicht nur von den Heiden (den Griechen), sondern auch von<br />
128
den Christen (nämlich allen Menschen) als eine lobenswerte Tat angesehen.<br />
Sozomenós übernimmt damit voll die antike Wertschätzung des Tyrannenmords.<br />
Vor diesem Hintergrund ist es nicht unwahrscheinlich, daß auch im Westen die<br />
Meinung aufkam, es sei einem Christen erlaubt, einen apostatischen Tyrannen zu<br />
töten. Das könnte nämlich die ablehnende Haltung des Bischofs Augustinus von<br />
Hippo († 430) erklären, der in seinem „Gottesstaat“ sagt, selbst Tyrannen vom<br />
Schlage eines Nero, Domitian und Julian übten kraft göttlicher Vorsehung ihre<br />
Herrschaft aus. Einen Schriftbeweis bleibt Augustinus nicht schuldig: Es stehe so<br />
in den Sprichwörtern (Spr 8,15 Itala und LXX): „Durch mich regieren die Könige,<br />
und die Tyrannen beherrschen durch mich die Erde“, und man solle nicht<br />
meinen, hier seien mit „Tyrannen“ nach dem älteren Sprachgebrauch nur allgemein<br />
Herrscher und nicht vielmehr Gewaltherrscher angesprochen.<br />
In der Zeit nach Konstantin ist also vereinzelten Stimmen zufolge der Tyrannenmord<br />
durch Christenhand sowohl im Osten als auch im Westen kein Tabu mehr,<br />
allerdings auch nicht mehr: Alle Äußerungen bleiben in einem irgendwie unverbindlichen,<br />
hypothetischen Raum. Man scheut vor der letzten Konsequenz zurück,<br />
hält aber an der aus der Antike überkommenen Legitimität des Tyrannenmords<br />
fest.<br />
Tyrannenmord durch Heilige<br />
Diese bislang wenig spektakulären Erörterungen erfahren eine überraschende<br />
Wendung. Der Tod des Tyrannen Julian beschäftigt nämlich die christlichen Ge -<br />
müter so sehr, daß aus der Kolportage des Libanius ein Geflecht von Legenden<br />
erwächst, in dem einzelne Heilige, vor allem aber der hl. Soldat Merkurius, als<br />
Mörder Julians ausgelobt werden. Mit anderen Worten: Die frühe Kirche kennt<br />
und verehrt heilige Tyrannenmörder. Die Ausbildung der Merkuriuslegende wird<br />
man nicht erst dem Mittelalter zuweisen, wie dies die ältere Forschung (J. Bidez)<br />
noch tut, sondern bereits dem 5./6. Jahrhundert. 5 Sie entsteht im kappadokischen<br />
Cäsarea, während andere Städte „ihren“ Heiligen eine Mitwirkung, und sei es<br />
auch nur durch das Gebet, beim Tod Julians zuschreiben. Die größte Popularität<br />
genießt freilich die Merkuriuslegende, die in Armenien, Syrien, Ägypten und im<br />
Westen Eingang findet und dabei so manche Modifikationen erfährt.<br />
Demnach war Merkurius römischer Soldat, der in einer armenischen Kohorte unter<br />
Kaiser Decius diente und für seinen Glauben den Martertod bereit war zu erdulden.<br />
Sein Kult entwickelte sich vornehmlich im kappadokischen Cäsarea.<br />
Dort, wo er das Martyrium erlitten haben soll, erhob sich ein seit der ersten Hälfte<br />
des 6. Jahrhunderts bezeugtes Martyrium, d.h. ein ihm geweihtes Gotteshaus.<br />
Zu dieser Zeit wird dort die Merkuriuslegende bereits ausgebildet gewesen sein,<br />
in welcher es neben der Passio eine weitere Episode gibt. Darin wird geschildert,<br />
wie Merkurius auf göttlichen Befehl den Tyrannen Julian mit seiner Lanze mordet.<br />
Es handelt sich um ein postumes Wunder: Der bereits selige Merkurius<br />
steigt vom Himmel herab, um nochmals als berittener Soldat aufzutreten und<br />
seine Lanze zum Ziel zu führen. Das ganze wird der Öffentlichkeit bekannt<br />
durch einen entsprechenden Traum des hl. Bischofs Basilius von Cäsarea. Jener<br />
129
anonyme christliche Soldat, den bereits Libanius als Mörder Julians ausgemacht<br />
haben will, ist somit gefunden: der himmlische Heilige Merkurius.<br />
Man kann sich fragen, ob damit die Ansätze der frühen Kirche, über Tyrannenmord<br />
durch Christenhand nachzudenken, nicht noch zweideutiger werden, ja geradezu<br />
der Sphäre menschlicher Verantwortlichkeit entrückt scheinen: Es sind<br />
nun nicht mehr Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Heilige, die den Tyrannen<br />
töten. Der moderne Betrachter erkennt darin eine Verflüchtigung. Doch wird<br />
für einen in das frühchristliche Weltbild verwobenen Menschen die umgekehrte<br />
Sicht zutreffen: Die Legende schafft für ihn eine größere Realitätsdichte. Denn<br />
sichtlich erteilt Gott selbst den Tötungsauftrag an jemanden, der diesen Befehl<br />
dann sehr handwerklich auffaßt: Eigens steigt Merkurius auf die Erde herab und<br />
benutzt noch einmal seine blutige Lanze. Das Gewicht der Legende liegt auf der<br />
göttlichen Legitimierung des Tyrannenmörders; sie intendiert nicht, die Härte<br />
eines irdischen Attentats wegzunehmen. Und alle Autokraten müssen fortan mit<br />
einem auch kirchlich abgesegneten Tyrannenmord rechnen. So konnte die Merkuriuslegende<br />
als starkes Argument für einen religiös motivierten Tyrannenmord<br />
durch Christenhand gewertet werden. Tatsächlich zieht dann im 12. Jahrhundert<br />
Johannes von Salisbury, der erstmals in seinem Policraticus eine umfassende<br />
Lehre und sittliche Rechtfertigung des Tyrannenmords entwickelt, neben den<br />
alttestamentlichen Gestalten Merkurius als Kronzeugen heran: Wenn schon Gott<br />
Tyrannen tötet oder durch einen Heiligen töten läßt, wieso dann nicht auch der<br />
Mensch: „Bosheit wird stets vom Herrn bestraft, jedoch nutzt er zuweilen seine<br />
eigene, zuweilen des Menschen Waffe, um die Gottlosen zu züchtigen.“<br />
Es zählt zu den Merkwürdigkeiten der Forschungsgeschichte, daß man diese<br />
scholastische Spur der Merkuriuslegende nie in die frühe Kirche zurückverfolgt<br />
hat. In der Kontroverse, die sich bis ins 20. Jahrhundert hinein an der protestantischen<br />
„Fabel“ entzündete, die Jesuiten seien Erfinder der Tyrannenmordlehre,<br />
haben die katholischen Apologeten alles darangesetzt, um nachzuweisen, daß die<br />
bedingte Erlaubtheit des Tyrannenmords längst vor den Jesuiten gelehrt wurde.<br />
Sie rekurrieren dabei stets auf den Scholasten Johannes von Salisbury. Aber<br />
nicht einmal die Jesuiten selbst kommen in dem Bemühen, ihren Orden reinzuwaschen,<br />
auf die Idee, die von Johannes zitierte Merkuriuslegende für älter als<br />
das Mittelalter zu halten; 6 es fehlten hierzu wohl noch die wissenschaftlichen<br />
Voraussetzungen. Denn gewußt haben sie von der Legende, vielleicht mehr, als<br />
es ihnen lieb war: In der Hochblüte barocker Volkspädagogik haben die Jesuiten<br />
der Bluttat des Merkurius eine Reihe von Theaterstücken dediziert! 7<br />
Was Johannes von Salisbury für den Westen formuliert, das findet seine Entsprechung<br />
im Osten bei Nikephoros Gregoras († 1359). In seiner Eloge auf den<br />
hl. Merkurius geht er so weit zu sagen, daß es die höchste Auszeichnung für<br />
Merkurius bedeutete, den Tyrannen töten zu dürfen. Nur weil er als Christ und<br />
Soldat mehr als andere seine psychische – und das heißt doch auch: moralische –<br />
Kraft im Kampf gegen sichtbare wie unsichtbare Feinde bewiesen hatte, wurde<br />
er dieser Aufgabe gewürdigt. So erwarb er sich durch sein tyrannenmordendes<br />
Schwert neue Ehren, die sich dann im Lob der Gottesdienstgemeinde fortsetzen:<br />
„Wenn es schon Gnaden und hohen Lohn erwirkt, einen einzigen Menschen aus<br />
130
der Gottlosigkeit zum Glauben zu führen, übersteigt es dann nicht jede Art von<br />
Lob, alle ... von der Gottlosigkeit eines Tyrannen zu befreien?“ Hier wird der<br />
Tyrannenmord gewissermaßen zum edelsten Mittel der Glaubensverbreitung erhoben.<br />
Eine solche Panegyrik ist zweifellos nicht unproblematisch. Sie kann als Ermächtigung<br />
zum Tyrannenmord aufgefaßt werden, ohne die notwendigen Differenzierungen<br />
einer solchen realen Möglichkeit zu liefern. Vielleicht zeichnet<br />
Nikephoros wie auch Johannes von Salisbury sein Bild so scharf, nicht weil er zu<br />
Mord und Verschwörung aufrufen möchte, sondern um den Herrschern und<br />
Machthabern seiner Zeit auf diese Art streng ins Gewissen zu reden. In jedem<br />
Fall ist das Thema der Tyrannei in Byzanz aufgrund des dortigen politischen<br />
Systems über die Jahrhunderte hinweg virulent. Nikephoros gibt auch die Hauptursache<br />
hierfür zu erkennen, nämlich die exzeptionelle Sakralität des byzantinischen<br />
Kaisertums, die die Absetzung eines zum Tyrannen mutierten Autokraten<br />
rechtfertigt. Da jeder Kaiser allein von Gottes Gnaden regiert, verwirkt er seine<br />
Vollmacht, sobald er dem orthodoxen Glauben zuwiderhandelt. Da also das<br />
Kaisertum nicht horizontal-dynastisch, sondern vertikal-theokratisch legitimiert<br />
ist, sind Umstürze und rasche Kaiserwechsel in Byzanz an der Tagesordnung.<br />
Ehrung und Verehrung von Tyrannenmördern<br />
Auf das alte Griechenland geht die Tradition zurück, Tyrannenmördern kraft Ge -<br />
setzes öffentliche Ehren zuteil werden zu lassen. So weit ging die Wertschätzung<br />
der Demokratie, daß man anfangs allein das Verdienst der Befreiung von einer<br />
Tyrannis der Ehre der Statuenerrichtung für wert befand. Angeblich haben die<br />
Athener sogar die flüchtigen Brutus und Cassius begeistert aufgenommen und<br />
ihnen Bronzestatuen errichtet. Noch in frühchris tlicher Zeit werden Bilder heidnischer<br />
Tyrannenmörder öffentlich aufgestellt. Und ein byzantinischer Aristoteles-Kommentar<br />
bezeichnet den Tyrannenmord als Heldentat, die durch die Aufstellung<br />
von Stelen und Bildern zu würdigen sei.<br />
Zu denken ist vor allem an die auch unter Christen nicht abreißende Erinnerung<br />
an die „Tyrannenmörder“ schlechthin: Harmodios und Aristogeiton. Sie sind die<br />
Protagonisten des berühmtesten Attentats der griechischen Geschichte. Obwohl<br />
ihr Anschlag im wesentlichen scheiterte, wurden die beiden als Befreier Athens<br />
und Stifter der Demokratie von Staats wegen geehrt. Eine Bronzegruppe besagter<br />
Tyrannenmörder (510 v. Chr.) ist „das erste Beispiel eines politischen Denkmals<br />
in Europa“ (H. Lamer/P. Kroh). Die ursprüngliche Gruppe ist zwar nicht erhalten,<br />
da sie vom Perserkönig Xerxes verschleppt wurde, wohl aber existieren im<br />
Nationalmuseum von Neapel und im Konservatorenpalast von Rom Kopien<br />
eines von Kritios und Nesiotes geschaffenen Ersatzdenkmals. Es wurde auf der<br />
Athener Agorá aufgestellt und erscheint öfters auf Münzen und Vasen dargestellt:<br />
zwei schwertbewehrte Männer im energischen Ausfallschritt, nackt und<br />
von athletischem Wuchs, der jüngere Harmodios bartlos, der ältere Aristogeiton<br />
bärtig. Der attackierte Tyrann selber, Hippias, ist nicht dargestellt.<br />
131
Anfänglich üben die Christen an solchen Denkmälern Kritik; sie erkennen darin<br />
die Sittenverwirrung der Heiden, die die Christen als Gesetzesübertreter verfolgen,<br />
ihren Tyrannenmördern aber Ehrenmäler aufstellen. Einige Jahrhunderte<br />
später hat sich die Situation vollständig gewandelt. Nun kommt bei den Christen<br />
ganz Entsprechendes auf, und zwar gerade deshalb, weil ihre Tyrannenmö rder<br />
Heilige waren, denen schon aufgrund ihrer Heiligkeit ehrendes Gedenken gebührte.<br />
Bereits die Merkuriuslegende selbst spricht im Kontext des Tyrannenmords<br />
von Ikonen, Fresken und Säulenbildern des Heiligen. Sie zeigt Merkurius<br />
als Reiter mit Lanze, ohne daß jedoch Julian dargestellt wäre. Die tatsächlich<br />
erhaltenen Buchillustrationen und Andachtsbilder gehen jedoch in der Regel<br />
weiter, indem sie den dramatischen Augenblick des Tyrannenmords selbst abbilden.<br />
Man darf annehmen, daß solche Bilder bereits im 6. Jahrhundert seit dem<br />
Aufkommen der entsprechenden Legenden im Osten verbreitet sind.<br />
Die wohl älteste und zugleich herausragende Abbildung findet sich in der griechischen<br />
Handschrift 510 der Pariser Nationalbibliothek (um 881). Im oberen<br />
Register zeigt sie Julian zu Pferd auf seinem Feldzug nach Persien. Im mittleren<br />
Register betet Bischof Basilius von Cäsarea vor einer Kirche um den Tod Julians.<br />
Im unteren Register ist dann der Tod Julians dargestellt. Wir lesen dort:<br />
Julian, getötet durch den heiligen Merkurius. Der kurzbärtige, in eine Tunika gekleidete<br />
Merkurius galoppiert mit wehendem Schultermantel von rechts nach<br />
links. Er hat mit seiner Lanze Julian von dem herrenlos weiterreitenden Pferd<br />
gestoßen. Julian stürzt rücklings, die Beine und den linken Arm reckt er nach<br />
oben, sich auf dem rechten Ellebogen abstützend. Mit seinem linken Fuß scheint<br />
er im Steigbügel hängen geblieben zu sein. Die Lanze trifft den Tyrannen an<br />
seiner empfindlichsten Stelle, wo ihn sein Brustpanzer nicht schützt: an der Kehle.<br />
Ab dem 10. Jahrhundert häufen sich im Osten entsprechende Darstellungen.<br />
Merkurius begegnet in der religiösen Klein- wie auch Monumentalkunst der<br />
Griechen, Kopten und Nubier. Die Georgier machen hingegen ihren Nationalheiligen,<br />
den hl. Georg, zum Tyrannentöter. Anderenorts ist es ein Theodor.<br />
Solche wild wuchernden Übertragungen und Vermischungen sind der Preis für<br />
die große Popularität dieses Legendenstoffs. Jedesmal aber trifft der Heilige,<br />
stolz und wohlgerüstet auf einem prachtvollen Pferd paradierend oder galoppierend,<br />
eine zuweilen zwergenhaft kleine, hilflos zu Boden gegangene Gestalt<br />
und verwundet sie mit seiner Lanze tödlich im Gesicht oder im Bauch.<br />
132<br />
Zeitgeschichtliche Nachgedanken<br />
Was bringt das alles für eine moderne Stellungnahme zum Tyrannenmord?<br />
Nimmt man die für den Westen bis heute wirksame Schere scholastischer Systematisierung<br />
aus dem Kopf, so besteht der Erkenntnisgewinn zunächst darin, daß<br />
sich die frühe Kirche sehr wohl Gedanken über den Tyrannenmord gemacht hat,<br />
aber auf eine Weise, die bislang weitgehend übersehen wurde, nämlich in der<br />
hagiographischen Literatur und Kunst, die in den Ostkirchen noch heute mittels<br />
der Liturgie von eminenter volkspädagogischer Bedeutung sind. Die moraltheo-
logische Dimension der frühen Hagiographie und Homiletik ist allerdings nicht<br />
einmal ansatzweise erforscht, so daß der fatale Eindruck entstehen könnte, als<br />
existiere verbindliche Moral eher in lateinischen Handbüchern als in orthodoxer<br />
Glaubenspraxis. Aber die privat wie liturgisch verehrten Ikonen heiliger Tyrannenmörder<br />
bedeuten keineswegs Rückzug der Gläubigen in anbetende Passivität.<br />
Solche Ikonen sind jedenfalls mehr als bloße Bilder: Sie sind, wie es die Merkuriuslegende<br />
zuweilen ausdrücklich sagt, Träger von Gotteskraft, wirkmächtiges<br />
Medium göttlicher Präsenz und somit selber hochaktiv im tyrannenmordenden<br />
Geschehen.<br />
Muß man sich nun betroffen darüber zeigen, daß die antike Belobigung des Tyrannenmords<br />
im christlichen Kleid der Heiligenlegende reüssiert? So sagt Max<br />
Lossen in seiner Festrede über den „Tyrannenmord in der christlichen Zeit“, gehalten<br />
in der königlich-bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München<br />
am 28. März 1894: „Die Meinung, daß es einem Christen jemals erlaubt sein<br />
könne, eigenmächtig einen Fürsten umzubringen, der sich widerrechtlich der<br />
Herrschaft bemächtigt hat, oder auch einen solchen, der eine rechtmäßig erlangte<br />
Herrschaft maßlos mißbraucht, – mit anderen Worten: die Meinung, der Tyrannenmord<br />
sei vereinbar mit der christlichen Sittenlehre –, wird jedem, der heute<br />
unbefangen die Schriften des Neuen Testamentes liest, geradezu als absurd erscheinen“.<br />
8 Der Redner zeigt des weiteren auf, wie trotzdem im Hohen Mittelalter<br />
Zeiten anbrechen, in denen sich die Mehrheit der Theologen und Politiker<br />
für die Erlaubtheit des Tyrannenmords ausspricht, wie er dann aber letztendlich<br />
„als eine geistige und sittliche Verirrung erkannt und verurteilt“ wird. 9<br />
Spätestens hier wird man Einspruch anmelden. Befreit man sich aus der allzu<br />
deutlichen Umklammerung eines Obrigkeitsdenkens, welches für das 19. Jahrhundert<br />
so bestimmend war, 10 daß es sich wie Mehltau auf die Überlegungen der<br />
deutschen Widerstandsbewegung im „Dritten Reich“ gelegt hat, 11 wird man angesichts<br />
des Attentats auf Hitler in der „Wolfsschanze“ am 20. Juli 1944 zu einer<br />
treffenderen Beurteilung des Tyrannenmords gelangen. Sicher, man wird über<br />
die Wege einer biblischen Rechtfertigung streiten. Man wird auch Respekt jenen<br />
entgegenbringen, die sich vor klaren Äußerungen scheuen; denn wir wissen etwa<br />
um aufrechte Katholiken, die für ihre bloß privat geäußerte Meinung zum Tyrannenmord,<br />
von Roland Freisler ans Licht gezerrt, mit dem Leben bezahlt haben. 12<br />
Auf keinen Fall aber wird man den Attentätern des 20. Juli unterstellen können,<br />
sie hätten womöglich, um mit Lossen zu sprechen, in geistiger und sittlicher<br />
Verwirrung gehandelt; genau das Gegenteil ist der Fall. Von hier aus wird man<br />
dann auch mit anderen Augen auf die frühe, frühbyzantinische und frühmittelalterliche<br />
Kirche schauen. Jedenfalls ginge es völlig am historischen Sachverhalt<br />
vorbei zu meinen, das blutige und oft genug tragische Geschäft des Tyrannenmords,<br />
wie es die Antike kannte, sei kraft christlicher Moralveredelung sogleich<br />
aus der Welt geräumt worden, um erst im ‚finsteren‘ katholischen Mittelalter<br />
wieder hervorgeholt zu werden. Das Mittelalter hat vielmehr wie in so vielen<br />
Bereichen frühchristlich-frühbyzantinische Denkanstöße wiederentdeckt, aufgegriffen<br />
und für seine Zeit neuformuliert.<br />
133
Angestoßen durch den „Fall Petit“ hat das Konzil von Konstanz lehramtlich zum<br />
Tyrannenmord Stellung bezogen. Sein Dekret Quilibet tyrannus aus dem Jahre<br />
1415 verurteilt die Lehre einer uneingeschränkten Legitimität des Tyrannenmords,<br />
gleich also, unter welchen Umständen er sich gegen einen Usurpator oder<br />
Schreckensherrscher richtet: Als glaubens- und sittenwidrig habe mithin die Meinung<br />
zu gelten, es sei jedermanns Pflicht, jedweden Tyrannen auf jedwede Weise<br />
zu töten. 13 Eine Generalerlaubnis für Tyrannenmord wäre in der Tat verheerend<br />
und moralisch unakzeptabel. Ein Attentat trägt keineswegs in sich selber<br />
jede moralische Legitimation, mit anderen Worten: Der Attentäter setzt sich<br />
nicht automatisch schon ins Recht, nur weil er einen Machthaber, den man als<br />
Tyrannen betrachtet, auf beliebige Weise zu Tode bringt. 14 Vielmehr sind selbst<br />
unter den Umständen einer Tyrannis alle legalen Mittel und Wege zu klären und<br />
in Anspruch zu nehmen, bevor ein solcher Schritt als Akt öffentlicher Notwehr<br />
angezeigt sein kann. Konstanz vertritt mithin die allenfalls bedingte, nur in engsten<br />
Grenzen gegebene Erlaubtheit des Tyrannenmords, ohne freilich eine solche<br />
Option positiv zu formulieren.<br />
Trotz ihrer begrifflichen Einschachtelung hat sich Konstanz angesichts des unausdenkbaren<br />
Tiefpunkts deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert bewährt. Dem<br />
widerspricht nicht die Analyse, die J. Fest zum 20. Juli gibt. Demnach sei der<br />
Entschluß zum Attentat angesichts seiner politischen Nutzlosigkeit letztlich eine<br />
Entscheidung „um jeden Preis“ gewesen, in der es nicht mehr um irgendwelche<br />
Abwägungen oder praktischen Zwecke ging: „Der Sinn des 20. Juli lag einzig in<br />
der Tat selber, sie trug ihre Rechtfertigung in sich“, 15 oder in den Worten Hennings<br />
von Tresckow: „Coûte, que coûte.“ 16 Also doch absoluter Tyrannenmord?<br />
Keineswegs! Zum einen waren alle denkbaren unblutigen Möglichkeiten gegen<br />
Hitler bereits ausgereizt. Zum anderen wird sich der Blick weniger auf die Bedingungen<br />
und Umstände des Attentats richten müssen. Denn soviel man auch<br />
über die Lauterkeit und den im höchsten Maße reflektierten und moralisch gerechtfertigten<br />
„langen Weg zum 20. Juli“ sagen kann, so liegt wahrscheinlich in<br />
den skrupulös bedachten Umständen nicht einmal die letzte Rechtfertigung des<br />
Attentats. Vielmehr muß ein Widerspruch zwischen Konstanz und dem 20. Juli<br />
im Tiefsten scheitern am ersten Wort des Konstanzer Dekrets, nämlich an jenem<br />
Quilibet: Hitler ist gerade nicht jeder Tyrann, sondern der eine, unerhörte „Vollstrecker<br />
des Bösen“ (H.-B. v. Haeftens) 17 , den zu töten die Edlen unternahmen.<br />
Die Attentäter des 20. Juli hätten sich, wäre ihnen die frühkirchliche Literatur<br />
und Kunst bekannt gewesen, eher bestärkt denn entmutigt fühlen dürfen. Es gibt<br />
sogar einen Fall bemerkenswerter Aktualität des hl. Merkurius. Der wohl bedeutendste<br />
zeitgenössische Vertreter religiöser Kunst in Griechenland, Phótes<br />
Kóntoglou (1896-1965), 18 fertigte nämlich im Jahre 1944 ein Fresko des Tyrannenmörders<br />
19 . Es befindet sich in der Kirche Zoodóchos Pegé bei Athen, also bei<br />
jenem Ort, in dem das erste Tyrannenbild der europäischen Geschichte, die Figurengruppe<br />
des Harmodios und Aristogeiton, aufgestellt worden war. Die Ausmalung<br />
der Kirche des „Himmelsquells“ stand, wie man annehmen darf, unter dem<br />
lebhaften Eindruck des von Partisanengefechten begleiteten Rückzugs deutscher<br />
Besatzungstruppen aus Griechenland, der sich bis zum 2. November 1944 hin-<br />
134
zog. Damit erhält das Fresko mit Blick auf den Tyrannen Hitler einen zeitgeschichtlichen<br />
Bezug und bestätigt die in der Ostkirche lebendige Überzeugung<br />
von der Kraft der Bilder. Der heilige Soldat Merkurius wird nämlich in verhaltener<br />
Weise als Tyrannenmörder vorgestellt mit einem Pfeil in der Hand, der<br />
gleichsam vom Himmel herab gegen jemanden auf der Erde gerichtet zu sein<br />
scheint. Darin folgt der Künstler dem syrischen Julianroman, welcher weiß, daß<br />
Merkurius einen von drei Pfeilen nahm, um den Tyrannen zu töten. 20 Der Tyrann<br />
selbst ist, wie schon bei der antiken Figurengruppe, nicht in Szene gesetzt. Der<br />
orthodoxe Gläubige mußte die politische Brisanz des Freskos sofort erkennen,<br />
ein deutscher Besatzer hingegen, der sich in die Kirche verlaufen mochte, konnte<br />
davon nichts ahnen.<br />
Anmerkungen<br />
1) P. Steinbach/J. Tuchel (Hrsg.), Lexikon des Widerstandes 1933-1945 (München² 1998)<br />
51f.; L. Fritze, in: F.A.Z., 14.1.2000, S. 58; R. Herzinger, in: Der Tagesspiegel, 16. 1.<br />
2000, S. 27. Journalistisch und nicht immer kritisch genug H.G. Haasis, „Den Hitler jag’<br />
ich in die Luft“. Der Attentäter Georg Elser (Berlin 1999), zu einigen kirchlichen Reaktionen<br />
ebd. 60/3.<br />
2) Man unterscheidet zwischen dem usurpatorischen tyrannus quoad titulum bzw. ex<br />
defectu tituli (ohne Amtsbefugnis) und dem gewissenlosen tyrannus quoad executionem<br />
bzw. ex parte exercitii (ungesetzliche Regierungsweise).<br />
3) Zu den historischen Fällen von Tyrannenmord unter Absehung von theoretischer Reflexion<br />
siehe F.L. Ford, Political murder. From tyrannicide to terrorism (Cambridge, Mass./<br />
London, GB 1985).<br />
4) Vgl. den Klappentext der Fischer-Taschenbuchausgabe (1998 8 ): „Was hier makabre<br />
Groteske ist, wurde 40 Jahre später beim Untergang der Tyrannen des Nazistaates millionenfach<br />
vergrößerte Wirklichkeit. Heinrich Mann hatte eine Vorahnung von der äußersten<br />
Enthemmung tollwütig gemachter Kleinbürger“ (A. Kantorowicz).<br />
5) T. Orlandi (Hrsg.), I miracula s. Mercurii. Testo Latino inedito da un manoscritto della<br />
Vallicelliana: Istituto Lombardo Accademia di Scienze e Lettere, Rendiconti Classe di<br />
Lettere e Scienze Morali e Storiche 101 (Milano 1967); T. Orlandi (Hrsg.), Studi Copti.<br />
Un encomio di Marco Evangelista. Le fonti copte della Storia dei Patriarchi di Alessandria.<br />
La leggenda di s. Mercurio = Testi e Documenti per lo Studio dell’Antichità 22 =<br />
Studi Copti 4 (Milano 1968); T. Orlandi/di Giuseppe Camaioni (Hrsg.), Passione e miracoli<br />
di s. Mercurio = Testi e Documenti per lo Studio dell’Antichitá, Serie Copta 54 (Milano<br />
1976).<br />
6) G. A. Deutsch, Die Jesuiten und ihre schändliche Moral, ihre „geheimen Instruktionen“,<br />
ihre Unterdrückung durch den Papst selbst, ihre scheußlichen Grundsätze: „Tyrannenmord“,<br />
„der Zweck heiligt die Mittel“ u.s.f. wahrheitsgetreu beleuchtet (Würzburg/<br />
Wien 1891) 12/5; B. Duhr, Fesuiten-Fabeln. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte (Freiburg 4<br />
1904) 694/721. Den breiten außerjesuitischen Strom der Tyrannenmordlehre in der Geschichte<br />
siehe auch Dokument XVI. Die Lehre vom Tyrannenmord: Dokumente zur Geschichte,<br />
Beurtheilung und Vertheidigung der Gesellschaft Jesu. XIV-XVI. Dokument<br />
(Regensburg 1842).<br />
7)E. M. Szarota (Hrsg.), Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet 2,1. Tugend- und<br />
Sündensystem (München 1980) 828f (Ingolstadt 1608); 841 (Wien 1635); 867 (Dillingen<br />
1699); 873 (München 1708); K. Philip, Julianus Apostata in der deutschen Literatur =<br />
Stoff- und Motivgeschichte der Deutschen Literatur 3 (Berlin/Leipzig 1929) 41. Zuweilen<br />
135
wird auch Artemios als Julianmörder verhandelt. Zur Mercuriuslegende im vorjesuitischen<br />
Drama siehe H.-G. Nesselrath, Zur Wiederentdeckung von Julian Apostata in der<br />
Renaissance. Lorenzo de’ Medici und Ammianus Marcellinus: Antike und Abendland 38<br />
(1992) 133/44, hier 137.<br />
8) M. Lossen, Die Lehre vom Tyrannenmord in der christlichen Zeit = Schriften (Festreden)<br />
der bayerischen Akademie der Wissenschaften 1894 (München 1894) 5.<br />
9) Ebd.<br />
10) Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer (Röm 12-16) = Ev.-Kath. Kommentar zum<br />
Neuen Testament 6,3 (Neukirchen-Vluyn 1982) 60/3.<br />
11) Vgl. J. Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli (Berlin 1997) 8. 325. 334.<br />
12) Ehrendes Angedenken gebührt Ludwig Frhr. von Leonrod und Kaplan Hermann Joseph<br />
Wehrle; H. Moll (Hrsg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20.<br />
Jahrhunderts 1/2 (Paderborn u. a.² 2000). Siehe auch Kardinal Josef Frings, Für die Menschen<br />
bestellt. Erinnerungen (Köln 1973) 38.<br />
13) Denzinger Nr. 1235; W. Brandmüller, Das Konzil von Konstanz 1414-1418, 1 (Paderborn<br />
u. a. 1991) 371/87. Vgl. Lossen 19f. Hundert Jahre später bestätigt Papst Paul V. die<br />
Sentenz von Konstanz in seiner Konstitution Cura dominici gregis (Bullarum, diplomatum<br />
et privilegiorum sanctorum Romanorum pontificum Tauriensis editio² 12 (Augustae<br />
Taurinorum 1867) 296f).<br />
14) Die moralischen Einwände, die allerdings L. Fritze (Leserbrief F.A.Z. vom 14.1.200,<br />
S. 58) gegen G. Elsers Attentat vom 8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller<br />
erhebt und die auf heftigen Widerstand in der Presse gestoßen sind, müßte er konsequenterweise<br />
auch auf das Attentat vom 20. Juli 1944 in der „Wolfsschanze“ anwenden: Dort<br />
fanden acht Menschen (weitgehend Nazis) den Tod; also auch hier wurde der Tod mutmaßlich<br />
unschuldiger Menschen in Kauf genommen.<br />
15) Fest, Staatsstreich 343.<br />
16) Fest aaO. 240 zitiert die berühmte Äußerung Hennings von Tresckow im Sommer<br />
1944: „Das Attentat auf Hitler muß erfolgen, coûte que coûte ... Denn es kommt nicht<br />
mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung<br />
vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden<br />
Wurf gewagt hat.“<br />
17) Fest, Staatsstreich 328.<br />
18) Vgl. B. Moustakes, Art. Kontoglou Photes: Threskeutike kai Ethike Enkyklopaideia 7<br />
(1965) 790/8; M. Prokurat u.a., Historical dictionary of the Orthodox Church = Religions,<br />
Philosophies and Movements 9 (Lanham, Md./London 1996) 189.<br />
19) Abbildung nach Ph. Kontoglou, Ekphrasis tes orthodoxou eikonographias 2. Pinakes<br />
(Athen 1960) Abb. 194.<br />
20) H. Gollancz, Julian the Apostate (Oxford / London 1928) 154. 197; Th. Nöldeke,<br />
Ueber den syrischen Roman von Kaiser Julian: Zeitschrift der Dt. Morgenländ. Gesell. 28<br />
(1874) 263/92, hier 273. 286f. Vgl. P. Peeters, Un miracle des SS. Serge et Théodore et la<br />
vie de S. Basile dans Fauste de Byzance: An Boll 39 (1921) 79f.<br />
PD Dr. Stefan Heid ist a.o. Professor am Päpstlichen Institut für Christliche<br />
Archäologie in Rom und Privatdozent für Alte Kirchengeschichte, Patrologie<br />
und Christliche Archäologie an der kath.-theol. Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität<br />
in Bonn.<br />
136
Henry Krause<br />
Repräsentation bei Carl Schmitt<br />
Kein politischer Denker des 20. Jahrhunderts hat zugleich soviel Interesse und<br />
Ablehnung erfahren wie Carl Schmitt. Seit seinem Tod 1985 entfaltet sich um<br />
sein Werk ein umfassender Deutungsbetrieb. Eines seiner publizitätsträchtigen<br />
Unterfangen bestand darin, die Herkunft zentraler staatstheoretischer und staatsrechtlicher<br />
Begriffe aus der Theologie nachzuweisen. Dabei ging es ihm nicht<br />
um die theologische Fundierung oder „Sakralisierung“ 1 bestimmter Staatsformen,<br />
sondern um das Aufzeigen einer „Struktur-Identität“ der Begriffe theologischer<br />
und juristischer Argumentationen und Erkenntnisse. Er übernahm Begriffe<br />
und Ordnungsvorstellungen aus dem Christentum; woraus er – die Aufklärung<br />
und ihre Folgen ignorierend – seine politischen Theorien entwickelte. Schmitts<br />
Denken ist ebenso eklektisch wie originell. Deshalb ist es unmöglich, ihn einer<br />
Schule oder Denktradition zuzuordnen. Schon früh bestritten namhafte katholische<br />
Intellektuelle und Theologen Carl Schmitts Verwurzlung im katholischen<br />
Denken; vor allem sein juridisches Kirchenverständnis ist stets kritisiert worden. 2<br />
Neuere Interpretationen bezeichnen den Katholizismus als Schlüssel seines Werkes.<br />
In der Tat lassen sich zentrale Anliegen des zeitgenössischen katholischen<br />
Denkens, wie die Behauptung des Religiösen, der Metaphysik und hierarchischer<br />
Ordnungen gegenüber dem Phänomen der Säkularisierung 3 , auch bei Schmitt<br />
feststellen.<br />
Die Schriften des Juristen greifen häufig über rechtliche Fragen weit hinaus und<br />
sind im Zusammenhang mit der in den zwanziger Jahren stattfindenden Auseinandersetzung<br />
der deutschen Staatsrechtslehre mit dem Rechtspositivismus und<br />
seiner philosophischen Grundlage, dem Neukantianismus zu sehen. Staatsrechtler<br />
wie Erich Kaufmann, Hermann Heller, Gerhard Leibholz, Rudolf Smend und<br />
Carl Schmitt versuchten auf unterschiedliche Weise, der positivistischen Trennung<br />
des Rechts von der Soziologie, der Politik, der Metaphysik und der Ethik<br />
entgegenzutreten. In seiner Verfassungslehre verspottete Schmitt Hans Kelsens<br />
Positivismus: „Etwas gilt, wenn es gilt und weil es gilt.“ Die ideen- bzw. geistesgeschichtliche<br />
Methode bestimmte auch Schmitts Herangehen an den Begriff<br />
der Repräsentation. Durch Repräsentation soll nicht prozeßhaft und funktional<br />
irgendein Wille transformiert und aggregiert werden, sondern es soll dargestellt<br />
und im Sinne Smends auch integriert werden. Unschwer ist zu erkennen, daß die<br />
Wurzeln dieses Repräsentationsverständnisses in die „formvollendete autokratische<br />
Struktur der katholischen Kirche“ 4 reichen. Diesen Wurzeln soll mit dieser<br />
Untersuchung nachgegangen sowie Schmitts Begriff der Repräsentation und<br />
dessen Bedeutung innerhalb seines „Gesamtkonzeptes“ einer politischen Ordnung<br />
untersucht werden. Da Schmitt seine Ziele häufig im Unklaren ließ und sich<br />
stattdessen auf Andeutungen beschränkte, ist eine Untersuchung ebenso reizvoll<br />
wie schwierig.<br />
137
138<br />
Eine scholastische Erwägung<br />
Rüdiger Altmann bemerkte in einer Diskussion über den „Römischen Katholizismus<br />
und politische Form“, daß es die Kirche, die Carl Schmitt dort beschrieb,<br />
zu seiner Zeit schon gar nicht mehr gegeben habe und er das auch gewußt hätte.<br />
Bernhard Willms fügte hinzu, daß es in der Schrift keineswegs um eine Zustandsbeschreibung<br />
ginge, sondern daß Schmitt den Katholizismus in seiner<br />
historischen Prägung und Dimension auf den Begriff bringen wollte. 5<br />
In seinem frühen ekklesiologischen Aufsatz über „Die Sichtbarkeit der Kirche“<br />
unternahm er „Eine scholastische Erwägung“, wie es im Untertitel heißt. Darin<br />
kennzeichnete er die wahre Sichtbarkeit der Kirche als unsichtbar. Das Unsichtbare<br />
ist die Idee bzw. Gott. Sichtbar werde die Kirche deshalb, weil sie in Raum<br />
und Zeit die Aufgabe der Vermittlung zu erfüllen habe. Vermittlung sei das Wesen<br />
der Kirche, so Schmitt, wobei der Vermittler Christus selber sei, der sich<br />
seines Mittels, der Kirche, bediene.<br />
Durch das Agieren in der historischen Realität entstehe eine „im landläufigen<br />
Sinne ‚offizielle‘ Kirche“ 6 , die nicht unbedingt mit der sichtbaren Kirche übereinstimmen<br />
muß. Das heißt, daß zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit immer<br />
eine Kluft besteht, die – je nach historischer Situation – größer oder kleiner sein<br />
kann. Ursache ist die menschliche Unvollkommenheit, die Sünde, welche die<br />
konkret-faktische Realität in einen Gegensatz zur Idee, in einen Konflikt mit dem<br />
Göttlichen bringen kann. Auf diesem, unter den entsprechenden Umständen<br />
recht großen Gegensatz beruhe auch die religiöse Möglichkeit des Protestantismus,<br />
der jedoch den entscheidenden Fehler mache, nicht zwischen der göttlichsichtbaren<br />
und der menschlich-konkreten Kirche zu unterscheiden. Die Scheidung<br />
müsse zwischen dem Wesen einer Sache und ihren Akzidentien ausgeführt<br />
werden.<br />
Die Kritik des Protestantismus richte sich im Grunde gegen das Konkret-Akzidentielle,<br />
wurde aber fälschlich der göttlich-sichtbaren Kirche zugerechnet.<br />
Über die Wirklichkeit der Kirche in der historischen Realität hinaus nahm der<br />
Protestantismus auch Anstoß an dem Ideal. Deshalb ist für Schmitt die Spaltung<br />
der Kirche auch nicht gerechtfertigt. Gerechtfertigt ist dagegen „die Macht des<br />
Einzelnen“ und seine Kritik an der menschlich-konkreten Kirche. Sobald der<br />
vermittelte Kontakt mit Gott da ist, entwickele sich eine revolutionäre Kraft, die<br />
„sogar der unfehlbaren Instanz gegenüber Geltung behält“. Hier erwächst dann<br />
die Kraft und die Legitimität der Reform, der Rückgang zum unversehrten Ursprung,<br />
der die konkret-faktische der göttlich-sichtbaren Kirche immer von neuem<br />
näher bringen kann.<br />
Die substanzhafte Ordnung<br />
In der Schrift „Römischer Katholizismus und politische Form“ versuchte Carl<br />
Schmitt, die politische Idee des Katholizismus und deren „Geheimnis“ herauszustellen.<br />
Dort taucht der Schlüsselbegriff der Form schon im Titel auf. Nach Thomas<br />
von Aquin wird Wesen wahrhaft und eigentlich nur an Substanzen angetrof-
fen. Es gibt einfache und zusammengesetzte Substanzen. Erstere bestehen aus<br />
reiner Form und letztere aus Form und Stoff. 7 Das Wesen einer Sache begreift<br />
Stoff (materia) und Form (forma) in sich ein. „Durch die Form nämlich, welche<br />
die Verwirklichung des Stoffes ist, wird der Stoff zu einem wirklich Seienden<br />
und zu diesem bestimmten Etwas.“ 8 Der Stoff für sich allein kann also zu keinem<br />
bestimmten Seienden gestaltet sein, erst durch die Form entsteht ein Wirkliches.<br />
Das Wirkliche ist das Sein (esse) und eine Aktualisierung des Wesens (essentia).<br />
Der Stoff birgt in sich die Möglichkeit und die Form ist die Verwirklichung. Der<br />
Stoff kann demnach nicht ohne Form sein, aber es ist möglich, daß eine Form<br />
ohne Stoff ist. 9<br />
Die protestantische Möglichkeit der Verwechslung von wesentlich und akzidentiell<br />
führt dazu, daß die materia prima des Protestantismus einen fundamentalen<br />
Fehler in sich trägt, der die Frage nach ihrer verwirklichenden Form eigentlich<br />
überflüssig macht. Im Protestantismus wird die Form durch eine „unsichtbare<br />
Innerlichkeit“ ersetzt, die folgerichtig dann auch keine Substanz ausbilden kann.<br />
Formlosigkeit bedeutet nämlich, folgt man Thomas von Aquin, Substanzlosigkeit.<br />
In der Spätschrift „Politische Theologie II“ findet sich ein Hinweis, daß<br />
Schmitt die Begriffe Substanz, Form und Stoff nicht im selben Sinn und Zusammenhang<br />
versteht, wie der Aquinate. Schmitt schreibt dort: „Die Substanzen<br />
müssen erst eine Form gefunden, sie müssen sich irgendwie formiert haben, ehe<br />
sie überhaupt als streitfähige Subjekte (...) einander entgegentreten können.“ 10<br />
Für Schmitt muß demnach nicht die Materie formiert werden, um zur Substanz<br />
zu werden, sondern die Substanz muß formiert werden, damit sie zur Instanz,<br />
etwa einer Institution wird.<br />
Die politische Idee des Katholizismus habe die „Kraft zu der dreifach großen<br />
Form: zur ästhetischen Form des Künstlerischen, zur juridischen Rechtsform und<br />
endlich zu dem ruhmvollen Glanz einer weltgeschichtlichen Machtform“. 11 Diese<br />
Kraft des Katholizismus zur Form wird zur formierenden Kraft und es entsteht<br />
eine „unfaßbare politische Macht“; damit wird der Katholizismus politisch: „Von<br />
der politischen Idee des Katholizismus aus betrachtet, liegt das Wesen der römisch-katholischen<br />
complexio oppositiorum in einer spezifisch formalen Überlegenheit<br />
über die Materie des menschlichen Lebens, wie sie bisher kein Imperium<br />
gekannt hat. Hier ist eine substantielle Gestaltung der historischen und sozialen<br />
Wirklichkeit gelungen, die trotz ihres formalen Charakters in der konkreten<br />
Existenz bleibt, lebensvoll und doch im höchsten Maße rational ist.“ 12<br />
Hier ist nun der Stoff (materia) benannt: die im Naturzustand formlose Materie<br />
des menschlichen Lebens; in Raum und Zeit verdunkelt von der Sünde, bedroht<br />
von dem „gefährlichen“ und „riskanten“ Menschen 13 und damit bestimmt von<br />
der Möglichkeit des Feindes. Diese Möglichkeit ist das Politische. Der chaotische<br />
Naturzustand schreit geradezu nach der Form, aus der eine substanzhafte<br />
Ordnung 14 erwachsen kann. Eine Formierung der Materie bzw. der Substanz<br />
wird durch die „spezifisch formale Überlegenheit“ des Katholizismus ermö glicht,<br />
die vor allem aus der Fähigkeit zur juristischen Form erwächst. Die juristische<br />
Form der katholischen Kirche ist gepaart mit dem spezifischen römischen<br />
Rationalismus, der das Amt unabhängig vom Charisma macht und „alle fanati-<br />
139
sche Wildheit eines zügellosen Prophetentums (...) durch eine solche Formierung<br />
fern gehalten“ hat. 15<br />
Schmitt schreibt der Kirche, wie auch anderen Institutionen, eine eigene rechtliche<br />
Substanz zu. 16 Diese besteht aber nicht aus Regeln und Normen, sondern es<br />
geht eine konkrete Ordnung oder Entscheidung vorher. Nicht Regeln oder Normen<br />
schaffen Institutionen und Ordnungen, sondern die Regeln erwachsen aus<br />
der bereits vorhandenen Ordnung. Selbst „die unfehlbare Entscheidung des Papstes<br />
begründet nicht die Ordnung und Institution der Kirche, sondern setzt sie<br />
voraus“. 17 Die konkrete Ordnung der Kirche entspringt einer Entscheidung Go ttes<br />
und ist in ihrem Wesen mittels Regeln und Normen nicht änderbar. In seinem<br />
Aufsatz „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens“ unterscheidet<br />
Schmitt zwischen dem Regeln- und Gesetzesdenken, dem Entscheidungsdenken<br />
und dem konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken. Das germanische<br />
Rechtsempfinden sowie das aristotelisch-thomistische Naturrecht des Mittelalters<br />
seien „durch und durch konkretes Ordnungsdenken“ gewesen. 18 Das normativistische<br />
Denken werde dagegen von Völkern vertreten, „die ohne Boden, ohne<br />
Staat, ohne Kirche, nur im ‚Gesetz‘ existieren“. Schmitt beschwört die Gefahr,<br />
daß Ordnungen, Gemeinschaften und Institutionen durch den Funktionalismus<br />
einer Regelhaftigkeit oder geltende Normen aufgelöst werden könnten. Normen<br />
sind jedoch nicht an sich schlecht. Sie sollten aber aus einer konkreten Ordnung<br />
oder einer Entscheidung erwachsen. Daran hält Schmitt fest, obwohl er weiß, daß<br />
„der Weg der alten Metaphysik, die die Wahrheit durch die Ordnung des Seins<br />
garantiert sah, (...) nicht mehr gangbar ist“. 19<br />
140<br />
Kirche und Staat<br />
Die katholische Kirche ist das Urbild eines Ideals, sie tritt selbst als der ideale<br />
Staat, die civitas dei auf. 20 Schmitt wollte der Kirche die Gestaltung der sozialen<br />
und historischen Materie dennoch nicht allein übertragen. Das wäre nur denkbar,<br />
wenn der Staat dem ökonomischen Denken verhaftet bliebe und keine Kraft zur<br />
Repräsentation fände, was die Kirche zur „einzigen Trägerin politischen Denkens<br />
und politischer Form“ 21 machen würde. Doch nicht die Kirche sondern der<br />
Staat setze das Recht durch und gewährleiste damit die sittliche Ordnung. Mit<br />
einem solchen Staat wolle die Kirche „in der besonderen Gemeinschaft leben, in<br />
der zwei Repräsentationen sich als Partner gegenüberstehen“. 22 Dabei spielt es<br />
für Schmitt keine Rolle, ob der Partner eine Monarchie oder eine Demokratie ist.<br />
Voraussetzung sei vielmehr eine politische Einheit, an „deren Präsenz oder Repräsentation<br />
(sich) orientiert werden muß“ 23 . Die Begründung einer konkreten und<br />
substanzhaften Ordnung, die legitime Entscheidungen trifft, diese Entscheidungen<br />
selber interpretiert und die Kontrolle des Vollzuges in der Hand behält 24 ,<br />
erscheint als das Hauptanliegen des Staatsrechtlers. Die entscheidenden Elemente<br />
liefert dabei stets der Katholizismus: „Der katholischen Argumentation liegt<br />
eine besondere, an der normativen Leitung des sozialen menschlichen Lebens<br />
interessierte, mit spezifisch juristischer Logik demonstrierende Denkweise zugrunde.“<br />
25
Am Schluß seines Werkes „Legalität und Legitimität“ spricht sich Schmitt für<br />
eine Fortentwicklung des zweiten Teils der Weimarer Reichsverfassung und<br />
„ihren Versuch einer substanzhaften Ordnung“ aus. In der wenige Tage vor dem<br />
erdrutschartigen Sieg der NSDAP bei den Reichstagswahlen am 31.7.1932 abgeschlossenen<br />
Schrift sagt er voraus, daß es im „andern Fall (...) mit der Fiktion<br />
eines gegen Wert und Wahrheit gerichteten Mehrheitsfunktionalismus bald zu<br />
Ende“ 26 gehen würde. Mit Wert und Wahrheit meinte er die Grundrechte, die<br />
dem Staat vorausgehen und übergeordnet sind, so daß sie durch keine Mehrheitsentscheidung<br />
beschnitten oder abgeschafft werden können, wie das in der<br />
Weimarer Reichsverfassung möglich war. Daß dies im Grundgesetz der Bundesrepublik<br />
Deutschland ausgeschlossen ist, geht auch auf Carl Schmitt und seine<br />
Schüler zurück.<br />
Im „Wert des Staates“, einem seiner frühesten Werke, räumte Schmitt dem Recht<br />
das Primat über den Staat ein. „Der Staat (ist) nicht Schöpfer des Rechts, sondern<br />
das Recht Schöpfer des Staates (...); das Recht geht dem Staate vorher.“ 27 Er<br />
vermittle zwischen Recht und Wirklichkeit durch seine Autorität, die er aus der<br />
Form, eben dem Recht erhält. Vermittlung sei das Wesen des Staates wie auch<br />
der Kirche. Daß er seine Autorität von der Macht erhält, sei ein typisches liberales<br />
Mißverständnis, das den „Staat nicht als Erscheinung des Rechtsgedankens,<br />
sondern als Machtkomplex“ auffasse. 28 Die Autorität des Staates liege nicht in<br />
der Macht, sondern im Recht, das er zur Ausführung bringe. Deshalb war Gustav<br />
Gundlachs Kritik an Schmitt, er sähe den Staat nur als Machtstaat, während in<br />
Wahrheit im Wesen des Staates Macht und Recht untrennbar zusammengehörten,<br />
an dieser Stelle überflüssig. 29<br />
Repräsentation als Sichtbarmachung<br />
Der antike und frühmittelalterliche Gebrauch von repraesentatio und repraesentare<br />
hat wenig mit der neuzeitlichen Bedeutung der Repräsentation zu tun. Das<br />
Wort repraesentare wird etwa bei Tertullian im Sinne von sich einfinden bei<br />
einer Versammlung gebraucht. 30 Diese Ve rsammlungen hatten aber weder eine<br />
politische Bedeutung noch waren sie im heutigen Verständnis repräsentativ.<br />
Auch die Bedeutung rechtlicher Stellvertretung für repraesentatio war der Antike<br />
fremd und ist auch für das Frühmittelalter nicht nachweisbar. 31 Erst durch die<br />
mittelalterlichen theologisch-philosophischen Auseinandersetzungen um die<br />
Realpräsenz Christi im Sakrament der Eucharistie bekam der Begriff der Repräsentation<br />
eine neue Bedeutung: Christi Gegenwart in der Eucharistie ist keine<br />
bloße Einbildung (imago in visione) oder Erinnerung sondern Wirklichkeit (veritas<br />
in repraesentatione), eine echte Verkörperung. „Dem liegt die philosophische<br />
Vorstellung zugrunde, daß jedes Ding dieser Welt ein inneres unsichtbares Wesen,<br />
eine Substanz, in sich trägt, durch die es ist, was es ist. Gestalt, Aussehen<br />
usw. dagegen sind Akzidentien, das heißt, sie kommen zum innersten Wesen nur<br />
unwesentlich hinzu.“ 32<br />
Die Lehre von der Realpräsenz kann als Grundlage sämtlicher symbolischer<br />
Repräsentationsvorstellungen benannt werden. Immer geht es um das präsent<br />
141
machen des eigentlich Unsichtbaren. Eine Annäherung an die Bedeutung der<br />
Repräsentation als Willensbeziehung gab es erst im 15. Jahrhundert durch Nikolaus<br />
von Cusanus (1401-1464). Er entwickelte das „Modell der wechselseitigen<br />
Repräsentation, wonach die Amtsträger für das zu leitende Volk Gottes Christus<br />
repräsentieren und gleichzeitig als Gewählte in der Synode die Glaubensüberzeugung<br />
ihres Kirchenvolkes vertreten“. 33 Hier ist der Ursprung des Verständnisses<br />
der Repräsentation als Willensbeziehung, das in der französischen Aufklärung<br />
(vor allem durch Sieyès) zur vollen Entfaltung kam. Es gibt keine originäre,<br />
eindeutige und bleibende Bedeutung der Repräsentation in der Geschichte. Der<br />
Begriff ist amorph und steht den verschiedensten Bedeutungsgehalten und Definitionen<br />
offen.<br />
In seiner Verfassungslehre definierte Carl Schmitt Repräsentation als Sichtbarmachung<br />
und Vergegenwärtigung eines unsichtbaren Seins durch ein öffentlich<br />
anwesendes Sein. „Das Unsichtbare (wird) als abwesend vorausgesetzt und doch<br />
gleichzeitig anwesend gemacht.“ Nur eine gesteigerte Art von Sein, welches<br />
einer Existenz fähig ist, kann repräsentiert werden. Repräsentiert wird nicht im<br />
Privaten, sondern im Öffentlichen und hat deshalb auch nichts mit Interessenvertretung<br />
zu tun. Nicht eine „irgendwie zusammenlebende Menschengruppe“ 34<br />
kann repräsentiert werden, sondern nur ein als politische Einheit zusammenlebendes<br />
Volk. Die originärste Ausprägung dieses Repräsentationsverständnisses<br />
ist für Schmitt die katholische Kirche, deren Sichtbarkeit auf etwas Unsichtbaren<br />
beruhe. Das unsichtbare Sein ist Gott, „dessen Wesen sein Sein selbst ist“. 35<br />
Dieses Sein, zugleich Ursprung alles Seienden, tritt mit den Menschen in Ve rbindung.<br />
Der Gedanke gewönne zunächst im Wort seine Sichtbarkeit, um<br />
schließlich in Christus Fleisch zu werden. 36 Mit Gedanke ist nicht irgendein<br />
beliebiger Gedanke gemeint, sondern der Logos, nämlich Gott selbst. Der Logos<br />
steht am Anfang und ist, wie Joseph Ratzinger in seinen Vorlesungen ausführte,<br />
„die ursprunggebende und umgreifende Macht allen Seins“ 37 Das Sein ist Produkt<br />
des Gedankens und ist selbst in seiner innersten Struktur Gedanke. „Die<br />
gedankliche Struktur, die das Sein hat und die wir nachdenken können, (ist)<br />
Ausdruck eines schöpferischen Vordenkens“. Der Logos ist aber nicht nur erkennbar<br />
und nachdenkbar, wie von den antiken Philosophen, sondern er teilt sich<br />
mit, er offenbart sich im Wort und wird schließlich selbst Mensch.<br />
Da eine ständige Identität, also Unmittelbarkeit zwischen Gott und Mensch im<br />
Diesseits nicht möglich ist, entsteht eine vermittelnde Instanz, deren Aufgabe es<br />
ist, das unsichtbare Sein fortlaufend sichtbar zu machen, eben zu repräsentieren.<br />
Das ist für Schmitt die katholische Kirche, deren Vermittlung niemand ignorieren<br />
dürfe. Sie repräsentiere den „regierenden, herrschenden, siegenden Christus“ und<br />
verbinde „den konkreten Vorgang der Menschwerdung Christi mit der konkreten<br />
Gegenwart“. 38 Der Vermittler, der schließlich selbst wieder in das Unsichtbare<br />
entrückt werde, mü sse nun repräsentiert werden. 39 Es versteht sich von selbst,<br />
daß eine derartige Repräsentation – so wie die Vermittlung zwischen Gott und<br />
Mensch von oben nach unten erfolgt – „konsequent von oben“ 40 geschieht.<br />
Sichtbarmachung bedeutet auch: Übergang von Relationen in einen festeren<br />
Aggregatzustand. Der festere Aggregatzustand sind für Schmitt die Rechtsbezie-<br />
142
hungen. Das Religiöse finde seine Form im Kirchlichen wie die Liebe in der<br />
Ehe. 41 Durch eine Formierung solcher Relationen gewinnen sie an Dauer; sie<br />
werden zur Substanz und sind selber in der Lage, die soziale und historische<br />
Wirklichkeit zu gestalten. Diese besonders dem Katholizismus eigene Formalität<br />
beruhe auf der strengen Durchführung des Prinzips der Repräsentation.<br />
Verwirklichung der Idee<br />
Michele Nicoletti hat festgestellt, daß der Begriff der „Säkularisierung“ bei<br />
Schmitt nicht einen Prozeß bezeichnet, in dem der „Bezug temporaler Realitäten<br />
auf sakrale Werte verloren geht, sondern vielmehr die dauernde Dynamik der<br />
Spannung einer Idee, sich zu verwirklichen, sich sichtbar zu machen, Fleisch zu<br />
werden“. 42 Die Fleisch- bzw. Menschwerdung des Gedankens ist das Prinzip der<br />
Sichtbarwerdung einer Idee. Dabei muß sich die Idee, um eine Wirkung zu entfalten,<br />
den Gegebenheiten der empirischen Welt anpassen. Erscheine eine Idee,<br />
dann kann sie Angst hervorrufen, da sie zunächst die Sekurität des status quo<br />
bedrohe und den Zeitgenossen als kulturelles oder soziales Nichts erscheint,<br />
schreibt Carl Schmitt im „Begriff des Politischen“. Alle Revolutionen, Reformationen<br />
und deren neue Eliten kämen aus Askese und Armut und häufig stellten<br />
sie eine Rückkehr zu den Prinzipien der „unversehrten, nicht korrupten Natur“<br />
dar. Wenn sie dann den „Augenblick glanzvoller Repräsentation“ erreichten, sei<br />
„jener Zusammenhang mit dem geheimen, unscheinbaren Anfang gefährdet“ 43 .<br />
Ein Beispiel liefert das Renaissance-Papsttum: einerseits ein Höhepunkt an<br />
glanzvoller Repräsentation, andererseits Verweltlichung und Politisierung des<br />
Amtes, was eine enorme Einbuße an moralischer Integrität bedeutete und die<br />
Reformatoren auf den Plan rief.<br />
Im Vorgang der Repräsentation verwirklicht und aktualisiert sich die Idee, durch<br />
die Form entsteht ein Wirkliches. Den Zusammenhang zwischen Idee, Form und<br />
Verwirklichung zeigt Schmitt am Recht: „Die Rechtsform wird beherrscht von<br />
der Rechtsidee und der Notwendigkeit, einen Rechtsgedanken auf einen konkreten<br />
Tatbestand anzuwenden, das heißt von der Rechtsverwirklichung im weitesten<br />
Sinne. Weil die Rechtsidee sich nicht selbst verwirklichen kann, bedarf es<br />
zu jeder Umsetzung in die Wirklichkeit einer besonderen Gestaltung und Formung.“<br />
44<br />
Das ökonomisch-technische Denken dagegen richte sich gegen die Idee und<br />
damit jede Form von Repräsentation. Indem es sich gegen die Idee richte, wende<br />
es sich auch gegen das Politische, den zum Politischen gehöre die Idee. Kein<br />
politisches System könne mit bloßer Technik der Machtbehauptung auch nur<br />
eine Generation überdauern, führt Schmitt in „Römischer Katholizismus und<br />
politische Form“ aus: „Solange nämlich ein Rest von Idee besteht, herrscht auch<br />
die Vorstellung, daß vor der gegebenen Wirklichkeit des Materiellen etwas präexistent<br />
ist, transzendent, und das bedeutet immer Autorität von oben.“ 45<br />
Hier vollführt der Staatsrechtler eine scharfe Scheidung zwischen der „realen<br />
Sache“ des ökonomischen Prozesses und der Sphäre des Geistigen, der Idee, die<br />
immer auch im Transzendenten wurzelt. Das ökonomische Denken befindet sich<br />
143
für ihn nicht nur im Gegensatz zur Idee und zum Politischen, sondern auch zum<br />
Christentum. Niemals werde es ein Bündnis von Büro und Altar geben. Die<br />
Fähigkeit der Repräsentation, welche die eine Seite hat und auf die die andere<br />
verzichtet, sei der entscheidende Unterschied zwischen der politischen Idee des<br />
Katholizismus und dem ökonomischen Denken, das sich die „Elektrifizierung<br />
der Erde“ zum Ziel gesetzt habe und dem politische und juristische Form gleichermaßen<br />
fremd seien. Dem ökonomischen Denken sei Anonymität und Privatheit<br />
zu eigen, Repräsentation dagegen geschehe in der Sphäre der Öffentlichkeit<br />
und sei „vom Gedanken persönlicher Autorität beherrscht“. „Repräsentieren<br />
im eminenten Sinne kann nur eine Person und zwar – zum Unterschiede von der<br />
einfachen ,Stellvertretung’ – eine autoritäre Person oder eine Idee, die sich, sobald<br />
sie repräsentiert wird, ebenfalls personifiziert.“ 46<br />
Gegenstand einer Repräsentation sind demnach für Schmitt entweder eine autoritäre<br />
Person oder eine Idee, und beides kann wiederum nur durch eine Person<br />
repräsentiert werden, die dadurch wiederum zur Autorität wird. Eine autoritäre<br />
Person ist nicht mit einem Tyrannen gleichzusetzen, da Autorität erst dadurch<br />
entsteht, daß sie freiwillig anerkannt, geglaubt und akzeptiert wird. Das treffendere<br />
Attribut wäre hier autoritativ. Eine Autorität ohne Idee kann es nicht geben.<br />
Die Idee kann – auch wenn sie ihren Urgrund stets im Transzendenten hat –<br />
indem sie sich säkularisiert, auch im politisch-weltlichen Bereich ihre Verwirklichung<br />
finden. Wenn die Abgeordneten nicht ihre Wähler, sondern die Gesamtheit<br />
des Volkes vertreten, dann findet eine Personifizierung des Volkes statt,<br />
oder man bezeichnet das Ganze des Volkes als eine Idee. Beides könne repräsentiert<br />
werden, indem das Parlament nicht eine Ansammlung unterschiedlicher<br />
Interessen sei, sondern eine Einheit darstelle. Das „ist repräsentativ und nicht<br />
ökonomisch gedacht“, so Carl Schmitt. 47 Seine Parlamentarismuskritik setzt da<br />
an, wo das Parlament in Interessengruppen und Parteiungen zerfällt und damit<br />
seine Autorität verspielt. Die Idee der politischen Einheit kann für Schmitt auch<br />
ein Monarch oder ein Präsident sichtbar machen. Repräsentieren könnte ebenfalls<br />
die Institution eines internationalen Gerichtshofes, „der unabhängig, das<br />
heißt nicht an politische Instruktionen, sondern nur an Rechtsgrundsätze gebunden<br />
wäre“ und damit „der Idee der Gerechtigkeit unmittelbar näher“ stünde. 48<br />
Eben dadurch, daß er unabhängig von den Staaten agieren könnte, bekäme er<br />
Autorität, die auf der unmittelbaren Repräsentation der Gerechtigkeit beruhen<br />
würde.<br />
144<br />
Die Entscheidung<br />
Der Vorgang der Repräsentation lasse nicht nur eine Autorität entstehen, er bringe<br />
gleichzeitig das Bedürfnis nach einer konkreten Entscheidung hervor. 49 Die<br />
konkreteste Entscheidung fällt eine unfehlbare Instanz. Die Kirche biete auch<br />
hier „ein Beispiel in typischer Reinheit“. Ihre „unendliche Vieldeutigkeit verbindet<br />
sich wiederum mit dem präzisesten Dogmatismus und einem Willen zur<br />
Dezision, wie er in der Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit kulminiert“ 50 .<br />
Die Entscheidung ist ein weiterer Schlüsselbegriff bei Carl Schmitt. Eine Ent-
scheidung schafft Recht, auch wenn sie nicht der Regel oder einer Norm entspricht.<br />
Notwendig wird eine Entscheidung vor allem im Ausnahmezustand,<br />
denn Chaos und völlige Unordnung kann nicht durch eine Norm, sondern nur<br />
durch eine Entscheidung in Gesetz und Ordnung verwandelt werden. Dabei „ist<br />
nicht der Befehl als Befehl, sondern die Autorität oder Souveränität einer letzten<br />
Entscheidung, die mit dem Befehl gegeben wird, die Quelle allen ‚Rechts‘, das<br />
heißt, aller folgenden Normen und Ordnungen“ 51 . Entscheidungen sind vor allem<br />
in Umbruchsituationen wie Revolutionen notwendig, aus ihnen kann die Ordnung<br />
der neuen politischen Einheit erwachsen. Wer entscheidet, muß über genügend<br />
Autorität und Souveränität verfügen, denn laut Schmitt ist souverän, wer<br />
über den Ausnahmezustand verfüge. 52<br />
Theologisch gesehen ist der oberste Souverän und die oberste Autorität Gott.<br />
Befiehlt Gott etwas, weil es gut ist, oder ist etwas gut, weil Gott es befiehlt? fragt<br />
Schmitt. 53 Da alle Gebote, Ordnungen und Werte einer Religion auf eine Entscheidung<br />
Gottes rückführbar sind, seien auch alle Normen einer „Rechtsordnung“<br />
von einer souveränen Entscheidung als letzten Rechtsgrund ableitbar.<br />
Auch eine Verfassung sei eine Entscheidung, die zu jeder konkreten politischen<br />
Existenz gehöre, denn vor jeder Normierung liege eine grundlegende politische<br />
Entscheidung des Trägers der verfassunggebenden Gewalt. 54 Die Frage nach der<br />
Legitimität einer Entscheidung wird dabei von Schmitt ausgeklammert: „Legitimität<br />
für sich allein begründet weder Autorität noch Potestas noch Repräsentation.<br />
In der Zeit ihrer intensivsten politischen Existenz nannte sich die Monarchie<br />
absolut; das bedeutet legibus solutus, also gerade den Verzicht auf Legitimität.“<br />
55<br />
Wer also unter welchen Umständen die „richtigen“ Entscheidungen fällen soll,<br />
läßt Schmitt offen, was in der politischen Praxis zu verheerenden Konsequenzen<br />
führen kann, wie auch 1933 seine Konversion zum Nationalsozialismus zeigt.<br />
Ebensowenig wie während eines Ausnahmezustandes Autorität und Macht in<br />
eins fallen müssen, wäre in einem solchen Fall gewährleistet, daß die Autorität<br />
statt der Macht die Entscheidungen fällt. Und wenn irgendein Mensch eine Entscheidung<br />
fällt und die Macht hat, sie durchzusetzen, dann ist es eben noch lange<br />
nicht gut, nur weil er es befiehlt. Schmitt ignoriert das Problem allerdings nicht<br />
vollständig: „Denn vor der Auflösung der antiken und christlichen Weltordnungsvorstellungen<br />
durch die neue Naturwissenschaftlichkeit fließen stets Ordnungsvorstellungen<br />
als Voraussetzungen der Entscheidung in den Gedankengang<br />
ein. Dadurch wird die reine Nichts-als -Entscheidung bereits wieder vom Ordnungsdenken<br />
her eingeschränkt und einbezogen; sie wird Ausfluß einer vorausgesetzten<br />
Ordnung.“ 56<br />
Daß die mittelalterliche Ordnung mit ihren Prämissen nicht mehr existiert, ist für<br />
ihn kein Grund, auf den Ordnungsgedanken völlig zu verzichten. Immer geht es<br />
ihm um die Begründung einer konkreten Ordnung, deren Grundlage das Christentum<br />
sein möge. Insofern meint er auch nicht irgendeine, sondern die „anspruchsvolle<br />
moralische Entscheidung“ 57 , denn „aus der Kraft eines integren<br />
Wissens entsteht die Ordnung der menschlichen Dinge. Ab integro nascitur ordo.”<br />
58<br />
145
146<br />
Der Ernst des Lebens<br />
Leo Strauss hat gezeigt, daß die Bejahung des Moralischen und des Politischen<br />
bei Schmitt in eins fällt. Die Verneinung dieser Kategorien würde auch den<br />
„Ernst des Lebens“ verneinen; es wäre eine „Welt der Unterhaltung, eine Welt<br />
des Amüsements, eine Welt ohne Ernst“ 59 . Der Ernst des Lebens und sein Sinn<br />
für das einzelne Individuum besteht für Schmitt in der Erfüllung einer Aufgabe,<br />
in der es aufgeht und eine „gerechtfertigte Würde“ erhält. 60 Nur in einer solchen<br />
Sphäre seien Entscheidung und Repräsentation möglich. Die Würde erhalte der<br />
Einzelne durch seine Aufgabe oder sein Amt, welches repräsentativer Natur sein<br />
kann. Auch der Papst „ist nichts für seine eigene Person, ist nur Instrument,<br />
Statthalter Christi auf Erden, servus servorum Dei“ 61 . Repräsentiert werden<br />
Ideen, die zu Antriebskräften der Politik werden können. Ihre Aggregierung polarisiert<br />
und kann zu Assoziation und Dissoziation führen. Sie verlangen Entscheidungen.<br />
Wer diesen ausweicht, als Volk oder als Einzelner, ist keines existentiellen<br />
Seins fähig. Ideen wurzeln stets im Transzendenten. Urbild einer<br />
Sichtbarmachung einer Idee ist die Institution der katholischen Kirche. Ihre Fähigkeit<br />
zur Repräsentation geht zurück auf ihren Stifter, seine fortwährende Vermittlung<br />
in der Geschichte und ihrer Fähigkeit zur Form und zur Formierung, mit<br />
der sie frei flottierende Religiösität zu einem weltgeschichtlichen Faktor umformt.<br />
Das zweite höchstformierte Stellengefüge des „occidentalen Rationalismus“<br />
ist der ebenfalls zur Repräsentation fähige, von Schmitt als christlich<br />
vorausgesetzte Staat. Schmitts Repräsentationsbegriff ist der wichtigste Baustein<br />
eines christlichen Staates. Gemeinsam geben Staat und Kirche der menschlichen<br />
Materie, dem Individuum, einer „gänzlich zufälligen Einheit, einem zusammengewehten<br />
Haufen von Atomen, dessen Gestalt, Individualität und Einzigkeit<br />
keine andere sind, wie die des Staubes, der vom Wirbelwind zu einer Säule gefügt<br />
wird“ 62 , eine Form und damit Sinn.<br />
Anmerkungen<br />
1) Lenk, Kurt: Parlamentarismuskritik im Zeichen politischer Theologie. Carl Schmitts<br />
„Sakralisierung“ der Demokratie zum totalen Staat. In: APuZ 51/96, S. 22.<br />
2) Lönne, Karl-Egon: Carl Schmitt und der Katholizismus der Weimarer Republik, S. 28f.<br />
In: Wacker, Bernd (Hrg.): Die eigentlich katholische Verschärfung ... Konfession, Theologie<br />
und Politik im Werk Carl Schmitts. München 1994.<br />
3) a.a.O., S. 12.<br />
4) Rüthers, Bernd: Carl Schmitt als politischer Denker. In: Die Neue Ordnung, Heft 6,<br />
Dezember 2000, S. 435.<br />
5) Quaritsch, Helmut (Hrg.): Complexio oppositorum. Über Carl Schmitt. Berlin 1988, S.<br />
171f.<br />
6) Schmitt, Carl: Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung. In: Summa<br />
1917. Heft 2, S. 71-80, S. 76.<br />
7) Thomas von Aquin: Über das Sein und das Wesen. Köln und Olten 1953 2 . S.18 „...<br />
inde est quod essentia vere et proprie est in substantiis“.
8) a.a.O.; S. 21 „Per formam enim, quae est actus materiae, materia efficitur ens actu et<br />
hoc aliquid.“<br />
9) a.a.O., S. 45 „Et ideo impossibile est esse materium sine aliqua forma. Tamen non est<br />
impossibile esse aliquam formam sine materia.“<br />
10) Schmitt, Carl: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen<br />
Theologie. Berlin 1990 3 , S. 106.<br />
11) Römischer Katholizismus und politische Form. Stuttgart 1984, S. 36.<br />
12) a.a.O., S. 14.<br />
13) Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Berlin 1991 3 , S. 59.<br />
14) Schmitt, Carl: Legalität und Legitimität. Berlin 1988 4 , S. 98.<br />
15) Röm. Kath., S. 24.<br />
16) Schmitt, Carl: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. In: Seminar:<br />
Die juristische Methode im Staatsrecht. Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung.<br />
Hrg.: Koch, Hans-Joachim. Frankfurt/M. 1977, S. 379.<br />
17) a.a.O., S. 380.<br />
18) a.a.O., S. 368.<br />
19) Nicoletti, Michele: Die Ursprünge von Carl Schmitts „Politischer Theologie“. In:<br />
Complexio oppositorum, S. 111.<br />
20) Schmitt, Carl: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. Hellerau 1917,<br />
S. 45.<br />
21) Röm. Kath., S. 42.<br />
22) a.a.O., S. 42.<br />
23) Politische Theologie II, S. 58.<br />
24) a.a.O., S.4 0.<br />
25) Röm. Kath., S. 21.<br />
26) Legalität und Legitimität, S. 98.<br />
27) Der Wert des Staates, S. 48.<br />
28) a.a.O., S. 99.<br />
29) Gundlach, Gustav: Grundsätzliches über Partei und Parteien. In: Stimmen der Zeit<br />
124, 1932, S. 145-153, zit. nach Lönne, S. 31f.<br />
30) Hofmann, Hasso: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der<br />
Antike bis ins 19.Jahrhundert. Berlin 1974, S. 48.<br />
31) a.a.O., S. 118.<br />
32) Beinert, Wolfgang Hrg.: Lexikon der Katholischen Dogmatik. Leipzig 1989, S.433.<br />
33) a.a.O., Begriff: Repräsentation, S.306. Dieses Element der Willensbeziehung existiert<br />
heute im Begriff des Glaubenssinns (sensus fidei), welcher der Gesamtheit des Volkes<br />
Gottes verliehen sei und gegenüber dem sich auch das Lehramt der Kirche nicht in Widerspruch<br />
begeben darf, den es aber interpretieren muß.<br />
34) Verfassungslehre, S. 210.<br />
35) Thomas von Aquin, S. 53.<br />
36) Die Sichtbarkeit der Kirche, S. 79.<br />
37) Ratzinger, Joseph: Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische<br />
Glaubensbekenntnis. München 1990 2 , S. 115.<br />
38) Sichtbarkeit der Kirche, S. 76.<br />
39) Max Weber nennt diesen Vorgang Veralltäglichung des Charismas. Die Autorität des<br />
Herrn geht auf einen Nachfolger über. Staatssoziologie. Berlin 1956, S. 107.<br />
40) Röm. Kath., S. 43.<br />
41) Sichtbarkeit der Kirche, S. 79.<br />
42) Nicoletti, S. 120.<br />
43) Schmitt, Carl: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen. In: Der Begriff<br />
des Politischen. S. 93.<br />
147
44) Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin<br />
1990 5 , S. 39.<br />
45) Röm. Kath., S. 45.<br />
46) a.a.O., S. 36.<br />
47) a.a.O., S. 44.<br />
48) a.a.O., S. 51.<br />
49) Wert des Staates, S. 81.<br />
50) Röm. Kath., S. 14.<br />
51) Über die drei Arten..., S. 379.<br />
52) Politische Theologie, S. 11.<br />
53) Über die drei Arten..., S. 379.<br />
54) Verfassungslehre, S. 23.<br />
55) a.a.O., S. 212.<br />
56) Über die drei Arten..., S. 379.<br />
57) Politische Theologie, S. 83.<br />
58) Schmitt, Carl: Das Zeitalter der Neutralisierungen, S. 95.<br />
59) Strauss, Leo: Anmerkungen zu Carl Schmitt. Der Begriff des Politischen. In: Meier,<br />
Heinrich: Carl Schmitt, Leo Strauss und „Der Begriff des Politischen“. Zu einem Dialog<br />
unter Abwesenden. Stuttgart 1988, S. 119.<br />
60) Wert des Staates, S. 108.<br />
61) a.a.O., S. 95.<br />
62) a.a.O., S. 102.<br />
Henry Krause ist Referent der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung<br />
in Dresden.<br />
148
Bericht und Gespräch<br />
Bernd Kettern<br />
Organisierte Caritas am Scheideweg?<br />
Gegenwärtig versucht eine Fülle von Veröffentlichungen die verschiedenen Spannungsfelder<br />
zu ergründen, in denen die organisierte Caritas heute ihren Weg finden<br />
muß. Daß diese eher tastenden Versuche notwendig sind angesichts der aktuellen<br />
Herausforderungen dürfte kaum in Frage stehen; daß diese Bemühungen zu einer<br />
Annäherung der bislang eher unverbunden nebeneinander existierenden christlichen<br />
Sozialethik und der verbandlich organisierten Caritas führen, darf bereits<br />
heute als sehr sinnvoll und bedeutsam gewertet werden. So gehört der Münsteraner<br />
Sozialethiker Karl Gabriel zu jenen Vertretern der christlichen Sozialethik, denen<br />
es ein Anliegen ist, die Kluft zwischen Sozialethik und verbandlicher Caritas allmählich<br />
zu schließen. Zwei Studien hat er als Herausgeber bzw. Mitherausgeber<br />
betreut, die sich dem Thema in jüngster Zeit widmen. Das Reizvolle an diesen<br />
Bänden ist es, auf durchaus ähnlich gelagerte Schlußfolgerungen bei zum Teil sehr<br />
unterschiedlicher wissenschaftlicher Position der verschiedenen Autoren zu stoßen:<br />
Werner Krämer/Karl Gabriel/Norbert Zöller (Hg.), Neoliberalismus als Leitbild<br />
für kirchliche Innovationsprozesse? Arbeitgeberin Kirche unter Marktdruck,<br />
Studien zur christlichen Gesellschaftsethik Bd. 3, LIT, Münster 2000,<br />
232 S.<br />
Karl Gabriel (Hg.), Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände.<br />
Perspektiven im Spannungsfeld von Wertbindung, Ökonomie und Politik,<br />
Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft Bd. 25, Duncker<br />
& Humblot, Berlin 2001, 201 S.<br />
Innerhalb des Deutschen Caritasverbandes findet die These immer mehr Anhänger,<br />
daß die Konturen sozialpolitischen Handelns immer schwerer zu greifen sind.<br />
Vielleicht hängt dies nicht zuletzt an dem Umstand, daß eine tatsächliche Neubesinnung<br />
auf die Zielsetzung der Sozialpolitik nach wie vor aussteht. Einzig die<br />
Kritik an der desolaten Verfaßtheit des Sozialstaates scheint ein Kontinuum in den<br />
verschiedenen Positionen darzustellen. Analysiert man scheinbar pragmatische<br />
Spardiskussionen näher, so die zentrale These des ersten Sammelbandes, erweisen<br />
sie sich zunehmend stärker orientiert an den Grundsätzen neoliberaler Gesellschafts-<br />
und Wohlfahrtsreformen. Diese lauten: Der Sozialstaat ist unbezahlbar. Er<br />
verteilt zu großzügig Sozialleistungen. Er verschlingt zu viel für Sozialversicherungen,<br />
kassiert zu viel an Steuern. Er schädigt damit die unternehmerische Wert-<br />
149
schöpfung sowie die private zahlungsfähige Nachfrage. Die Therapie: Einzig durch<br />
die Verfolgung individueller bzw. einzelwirtschaftlicher Interessen sowie über<br />
deren Vermittlung durch anonyme Märkte ergebe sich ein gesellschaftliches Wohlstandsoptimum.<br />
Kirchliche sozial-caritative Arbeit habe sich deshalb den Notwendigkeiten<br />
der Ökonomisierung des Sozialen anzupassen. Konsequenterweise seien<br />
die Marktgesetzlichkeiten in kirchlichen Einrichtungen zu beachten, eine Flexibilisierung<br />
und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse das Gebot der Stunde.<br />
Der Rezensent verhehlt nicht, daß die Beachtung elementarer volks- und betriebswirtschaftlicher<br />
Erkenntnisse zum alltäglichen Rüstzeug der beruflichen Praxis gehört.<br />
Sie sind zur sachgerechten Problemanalyse und Lösungsfindung unverzichtbar.<br />
Die Gefahr besteht jedoch, daß Markt und Konkurrenz zum dominierenden<br />
Leitbild kirchlicher Reform- und Innovationsprozesse werden sollen, die der komplexen<br />
Wirklichkeit personennaher Dienste nicht gerecht werden. Darauf deutlich<br />
hinzuweisen gehört zu den Verdiensten von Gabriel und seinen Mitstreitern.<br />
Rudolf Hickel skizziert im ersten Sammelband die Grundposition des Neoliberalismus<br />
als das gegenwärtig übermächtig wirkende Paradigma in Wirtschaft, Politik<br />
und Gesellschaft. Deutlich unterscheidet er zwischen dem scheinbaren Vorbild<br />
Adam Smith und heutigen Ansätzen. Vollzog bei Smith 1776 das Marktmodell<br />
seine harmonisierende Gestaltungskraft in einem Klima der Sympathie und barg<br />
ausgesprochen emanzipatorische weil antifeudalistische Absichten in sich, so fehle<br />
solches heute völlig. Neoliberale Ansätze isolieren den „homo oeconomicus“ und<br />
lösen ihn aus seinen gesellschaftlichen Bezügen. Dabei handelt es „sich um die<br />
Fiktion eines letztlich hybriden und arroganten Individuums, das keines Schutzes<br />
durch politisch gesellschaftliche Vorgaben bedarf, weil es Probleme wie Arbeitslosigkeit,<br />
aber auch Einkommensschwäche aus eigener Kraft zu vermeiden bzw. zu<br />
überwinden weiß.“ (13 f.) Fehlentwicklungen werden ausschließlich durch das<br />
Instrument Markt gelöst. Gesellschaft und Politik werden aus ihrer Zuständigkeit<br />
für Korrekturen weitgehend entlassen. Der Neoliberalismus vertritt demzufolge<br />
konsequent ein Programm der Deregulierung, unterliegt jedoch nach Hickel dem<br />
Fehler einer vollständigen Überschätzung des Individuums bei der Lösung der bei<br />
diesem abgelagerten gesellschaftlichen Probleme.<br />
Hickel verkennt nicht die Reformbedürftigkeit des Sozialstaates, aber er benennt<br />
die gegenwärtigen „Bauarbeiten“ als radikalen Abbau und nicht als einen Umbau.<br />
Warum ist dieses neoliberale Paradigma für viele heute so attraktiv? Warum verlieren<br />
Werte wie gesellschaftliche Solidarität derart an Wertschätzung? Einerseits<br />
nutze der Neoliberalismus die berechtigte Sehnsucht des emanzipatorischen Liberalismus<br />
aus, die die individuelle Entscheidungssouveränität durch den Abbau von<br />
Abhängigkeit zur erlangen bzw. auszuweiten sucht. Andererseits täusche er über<br />
eher wachsende Abhängigkeiten hinweg. Diese vorhandenen Abhängigkeiten<br />
würden zum Spielball der Interessen. In verschiedenen Schritten versucht Hickel,<br />
das Versagen neoliberaler Modelle und Vorstellungen nachzuweisen, so etwa im<br />
Hinblick auf die Erklärung und Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit durch<br />
die Gegenstrategie einer Wiederbelebung von gesamtwirtschaftlichem Denken und<br />
Handeln – hier erweist sich Hickel als Vertreter des Keynesianismus. Es gelte, die<br />
durch Märkte erzeugten zyklischen Krisen im Rahmen einer politischen Regulie-<br />
150
ung antizyklisch zu korrigieren. Dabei würde prinzipiell nicht die Bedeutung und<br />
Funktion von Märkten verkannt, sondern erzeugte Fehlentwicklungen durch politische<br />
Gegenmaßnahmen therapiert und vermieden. Statt einer eisernen Finanzpolitik<br />
der Ausgabenkürzungen empfiehlt Hickel eine Agenda einer Beschäftigungspolitik<br />
für Arbeit und Umwelt. Ziel sei es, nachhaltige Entwicklung zu konzipieren,<br />
die dem Abbau von Arbeitslosigkeit, der Schaffung von sozialer Gerechtigkeit<br />
sowie einer höheren Beachtung der ökologischen Zusammenhänge im Wirtschaften<br />
diene. Die Herstellung sozialer und ökologischer Zukunftsfähigkeit sei das<br />
Leitbild, das es gegen eine Entfesselung der Marktkräfte zu entfalten gelte, wie es<br />
der Neoliberalismus favorisiere. Ob man Hickel in die Einzelheiten seines Reformpaketes<br />
folgen möchte, wäre eigens zu untersuchen. Der Intention des Bandes hätte<br />
es entsprochen, wenn der Autor zumindest angedeutet hätte, wo und wie Kirche in<br />
die Gefahr neoliberaler Deutungsmuster verfällt.<br />
Hier wird Friedhelm Hengsbach SJ deutlicher. Die Ökonomisierung des kirchlichen<br />
Dienstes, wie sie sich fast als zwangsläufige Folge der Abhängigkeit von<br />
neoliberalen Gedankengängen ergebe, führe letztlich dazu, daß sich Kirche in einer<br />
Staats- und Marktfalle wiederfinde. Hengsbach spricht von einer „mutwilligen und<br />
fahrlässigen Demontage des Sozialstaates“ (35). Die caritativen, pädagogischen<br />
und medizinischen Einrichtungen der Kirche geraten „auch als Agenturen des Sozialstaates“<br />
unter erheblichen Druck (36). Angesichts solcher Entwicklungen wird<br />
es für alle traditionellen Wohlfahrtsverbände, aber insbesondere für die kirchlichen,<br />
zu einer unaufgebbaren Notwendigkeit, ein klares und unterscheidbares Profil<br />
zu gewinnen. Kritisch muß sich Kirche deshalb auch mit den betriebswirtschaftlichen<br />
Steuerungsmodellen auseinandersetzen, die in der neuesten Entwicklung<br />
quasi als Allheilmittel vorgestellt werden. Im Zuge des neugefaßten § 93 BSHG<br />
wird sich die Finanzierung und Organisation von Diensten und Einrichtungen erheblich<br />
verändern. „Der Verwaltungsakt einer Gewährung von Zuwendungen ist<br />
abgelöst worden durch vertragliche Vereinbarungen, die den Austausch von Leistungen<br />
und Gegenleistungen präzise definieren. An die Stelle einer kostenbezogenen<br />
Zuwendungsfinanzierung sind differenzierte Vertragswerke getreten, die den<br />
Inhalt, den Umfang, die Qualität der Leistung sowie deren Vergütung einschließlich<br />
der Kontrolle ihrer Wirtschaftlichkeit und Qualität festlegen.“(40)<br />
Ein neues Management ist dienstleistungsorientiert, kundenfreundlich und qualitätsbewußt.<br />
Diese Entwicklung wird im Zuge der Schaffung einer wünschenswerten<br />
Transparenz sozialer Arbeit durchaus von vielen Vertretern des Caritasverbandes<br />
begrüßt. Sie warnen jedoch davor, daß die Vorstellung neuer Steuerungstechniken<br />
oft mit einer vagen und diffusen Begriffsverwendung einhergehe. Welche<br />
Bedeutung, welche Konturen erhält zum Beispiel in diesem Zusammenhang der<br />
Begriff der Qualität oder des Qualitätsmanagements? Wie wird die Qualität sozialer<br />
Arbeit hinreichend erfaßt? Die Inflation des Qualitätsbegriffes zeigt für viele<br />
Kritiker sehr deutlich auf, daß hinter den neuen Steuerungsmodellen konkrete<br />
Inhalte noch zu wenig faßbar sind. Oder wie verhält es sich mit der Einbeziehung<br />
der Mitarbeiterschaft in diese Veränderungsprozesse? Hengsbach verwendet in<br />
dieser Hinsicht viel Mühe darauf, die einheitliche Dienstgemeinschaft innerhalb<br />
des kirchlichen Dienstes zu erhalten, sein Beitrag liest sich in weiten Passagen als<br />
151
ein klares Plädoyer für den „Dritten Weg“. Er kritisiert in diesem Zusammenhang<br />
insbesondere Vorstellungen der sogenannten „großen Träger“, die einen Ausstieg<br />
aus den geltenden Arbeitsvertragsrichtlinien des Deutschen Caritasverbandes beabsichtigen,<br />
ohne jedoch konkret zu benennen, was ihnen als neue Inhalte von arbeitsvertraglichen<br />
Regelungen genau vorschwebt. Hengsbachs Ausführungen können<br />
als ein Plädoyer gegen die Schaffung eines Unternehmensverbandes gelesen<br />
werden, der an die Stelle des bisherigen freigemeinnützigen Caritasverbandes tritt.<br />
„Indem die großen überregionalen Träger sich am Markterfolg orientieren, sich im<br />
Wettbewerb mit anderen frei gemeinnützigen und den privat gewerblichen Anbietern<br />
behaupten, ihre Produktivität erhöhen, ihre Leistungen rationieren und die<br />
Arbeitsabläufe rationalisieren, vertiefen sie zum einen die Spaltung unter den Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeitern genau an der Nahtstelle zwischen dem privaten und<br />
öffentlichen Sektor, zwischen hoch qualifizierten und niedrig qualifizierten Mitarbeitern,<br />
die ausgelagert werden, und zwischen hauptamtlichen und ehrenamtlichen<br />
Mitarbeiterinnen. Zum anderen verdampft vor der ‚Diktatur des Rotstifts‘ sowie<br />
der Dominanz der Finanz- und Verwaltungsdirektoren die religiöse Dimension, die<br />
angeblich die Einheitlichkeit des kirchlichen Dienstes gewährleistet. Der Abstand<br />
zwischen dem kirchlichen Anspruch und der betriebswirtschaftlichen Kalkulation<br />
wird zunehmend größer, während man das religiös-soziale Engagement der Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter als Ressource höherer Effizienz und Rentabilität unerbittlich<br />
auszuschöpfen sucht.“(47)<br />
Hengsbach ist in dieser Einschätzung zuzustimmen, denn es liegt in der Automatik<br />
und Konsequenz einer Marktorientierung, daß dann bei der Neuorganisation kirchlicher<br />
Dienste nicht-marktfähige Bereiche zunehmend an Bedeutung verlieren<br />
müssen und in den Hintergrund treten. Die „großen Träger“ dürften mittlerweile<br />
das gefährliche Spaltungspotential ihrer „Caritas I“- und „Caritas II“-Modelle erkannt<br />
haben (vgl. die entsprechende innerverbandliche Diskussion in: neue caritas<br />
101/2000 bzw. 102/2001). Hengsbachs Vorschläge zur Überwindung dieser<br />
Staats- und Marktfalle gipfeln in einer Neubewertung des religiös-sozialen Engagements<br />
im Rahmen der christlichen Caritas, in einer Ethik der Beteiligung des<br />
Interessensausgleichs sowie in einer Ethik der Wertschöpfung personennaher<br />
Dienste. Insbesondere der letzte Begriff scheint dem Rezensenten geeignet, die<br />
Diskussion über die Neuorientierung der organisierten christlichen Caritas voranzubringen.<br />
Gilt es doch, auf diese Weise nicht nur sprachlich und begrifflich eine<br />
Abgrenzung zu finden, die die Anderswertigkeit des sozialen Beratungs- und Hilfegeschehens<br />
prägnant benennt. Selbstverständlich muß der Deutsche Caritasverband<br />
auch unternehmerische Aspekte beachten, da er sich in der professionellen<br />
Führung der Dienste und Einrichtungen marktwirtschaftlichen Grundgegebenheiten<br />
nicht entziehen kann. Dennoch bedeutet dies nicht, daß er zugunsten einer<br />
zunehmenden Marktorientierung seine Identität als eine der christlichen Nächstenliebe<br />
verpflichtete Institution preisgeben darf (vgl. auch den Beitrag von Wolfgang<br />
Klein, Marktorientierte Sozialarbeit?).<br />
Karl Gabriel verweist in seinem Beitrag „Optionen verbandlicher Caritas im Streit<br />
um die Zukunft sozialer Dienste“ darauf, daß die Caritas und ihre Einrichtungen im<br />
System sozialer Dienste eine wichtige Zwischenstellung einnehmen. Weder der<br />
152
Sphäre des öffentlich-staatlichen Handelns zugehörig noch den Prinzipien eines<br />
gewinnorientierten Marktanbieters unterworfen, habe sie weitere Zwischenstellungen<br />
zu beachten. Sie überschreitet den Bereich des Helfens von Mensch zu<br />
Mensch in Familie und informellen Gruppenbezügen, hat jedoch andererseits ihre<br />
Wurzeln und ihre Grundlagen in der Nächstenliebe und in der christlich motivierten<br />
unmittelbaren Hilfe von Einzelnen und Gruppen bzw. Pfarrgemeinden. Als<br />
breit gefächerter Dienstleister reicht sie durchaus jedoch wiederum in die Sphären<br />
von Staat und Markt hinein. Ihr spezifisches Profil gewinnt sie dadurch, daß sie die<br />
Prinzipien des solidarischen Helfens in das System sozialer Dienstleistung einbringt.<br />
Die verbandliche Caritas ist gekennzeichnet durch horizontale und vertikale<br />
Vermittlungsleistungen. Als Akteur des dritten Sektors ist sie zu einer wichtigen<br />
intermediären Institution geworden mit einer komplexen internen Struktur sowie<br />
schwierigen externen Vermittlungsleistungen. Alle diese Vermittlungsleistungen<br />
sind in sich durchaus konfliktreich. Dies betrifft auch die gewachsene Spannungslinie<br />
zwischen Kirche und Gesellschaft. Gegenwärtig bemüht sich Caritas, die<br />
Grenzen und Folgeprobleme des Marktes zu benennen: Dort, wo es um Dienste<br />
und Aufgaben geht, die sich einer glatten, verrechenbaren Lösung entziehen, wo<br />
sich die Einrichtungen die kaufkräftigen und risikoarmen Kunden herauspicken,<br />
wo der Markt gerade zum Ausschluß jener Gruppe führt, die soziale Dienstleistung<br />
besonders dringend benötigt, sie aber nicht adäquat entlohnen kann, wo der Markt<br />
die Fiktion hervorbringt und stützt, die Risiken moderner Lebensexistenz ließen<br />
sich von Einzelnen und ohne solidarisches Füreinander-Einstehen bewältigen. Hier<br />
zeigt sich für Gabriel die sozialethische Leitorientierung kirchlich-sozialer Dienste:<br />
die Option für die universelle Anerkennung der Würde des Menschen, die Option<br />
für Freiheit und Befreiung, die Option für eine größere Gerechtigkeit sowie<br />
die Option für die Armen und Verletzlichen. Weiterhin entwickelt Gabriel Optionen<br />
verbandlicher Caritas im Kontext von Anwaltschaft und Dienstleistungen: die<br />
Option für die Erhaltung und Förderung der Sozialkultur in der deutschen Gesellschaft,<br />
die Option für den Vorrang von Person und Interaktion, die Option für eine<br />
anwaltliche Politik und für die Einheit von Anwaltschaft und Dienstleistung, die<br />
Option für eine vorrangige Stärkung der Handlungspotenziale der Betroffenen,<br />
ihrer Zusammenschlüsse untereinander und mit den informellen Helfern, die Option<br />
für die Vermittlung zwischen lebensweltlicher informeller Hilfe und dem formellen<br />
Hilfesystem, die Option für die subsidiäre Förderung und Entwicklung<br />
gemeindlicher Caritas, die Option für eine Kultur des Unverfügbaren. Insgesamt<br />
gelingt dem Autor eine beeindruckende Darstellung der Spannungsfelder sozialcaritativen<br />
Handelns und Herausforderungen, wie sie sich dem Caritasverband<br />
stellen.<br />
Der Band wird abgerundet durch Beiträge von Rainer Müller und Bernhard Braun<br />
zu den Widersprüchen zwischen gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnissen und<br />
politischer Spardiskussion. Mit Nachdruck wird eine Neuorientierung der gesundheitspolitischen<br />
Zielsetzungen eingefordert. Neuorientierung lautet auch der Bezugspunkt<br />
des Beitrages des Direktors des Diözesan-Caritasverbandes Limburg,<br />
Hejo Manderscheid. Ihm geht es um die fällige Modernisierung kirchlicher Caritas<br />
mittels einer Beschreibung der Schwachstellen kirchlicher Sozialarbeit. Diese<br />
153
treten auf, wenn notwendige Veränderungsprozesse nur zögerlich angegangen<br />
werden. Im Kern beschreibt er die Problemlage als ein Kreisen um Symptomlösungen,<br />
weil die Kraft fehle, entsprechende zukunftsweisende konzeptionelle Neubesinnungen<br />
anzustellen. Die Folge solch symptomatischer Lösungsansätze ist ihre<br />
lediglich kurzfristige Tragfähigkeit sowie ihre Unterworfenheit unter das Diktat<br />
von Sachzwängen. In diesem Zusammenhang werden Defizite der Diskussion über<br />
die Rolle der Sozialarbeit aus den 70er Jahren aufgegriffen, die eben nicht zu einer<br />
konsequenten Weiterentwicklung geführt hat: die Betonung individueller Zuschreibung<br />
von Armut anstatt strukturelle Ursachen von Armut in den Blick zu nehmen;<br />
die Konfrontation von Expertentum einerseits, Selbsthilfe, Ehrenamt und bürgerschaftlichem<br />
Engagement andererseits; das Verharren in Konkurrenzbeziehungen<br />
der Verbände, anstatt auf Kooperation zu setzen; vor allem aber das Ausblenden<br />
des Wahlrechts und der Perspektive der Hilfeberechtigten; schließlich die Konfrontation<br />
zwischen Fachlichkeit in der sozialen Arbeit und Kirchlichkeit einer caritativen<br />
Einrichtung auf der anderen Seite. All dies sind Modernisierungshemmnisse<br />
kirchlicher Caritas. Manderscheid plädiert für eine Entmystifizierung des Neuorientierungsprozesses.<br />
Mit Nachdruck wehrt er sich gegen Märtyrerhaltungen, wie<br />
sie bisweilen bei kirchlich Verantwortlichen über die widrigen Zeitumstände anzutreffen<br />
sind. Der Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung ist aktiv mitzugestalten<br />
und zwar, wie Manderscheid mit Bezug auf Ulrich Beck formuliert, in einer entzauberten<br />
Atmosphäre. Es gilt, die tatsächlich vorhandenen Probleme anzusprechen.<br />
Wirtschaftlichkeit, neue Steuerung, Budgetierung, Wettbewerb markieren<br />
nur die Spitze eines Problemeisberges, in dessen Bauch sich erhebliche, nicht angesprochene<br />
Problempotenziale finden. So zum Beispiel die existenziellen Identitätsängste<br />
im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Wandels: „Diese Angst und<br />
Bedrohungsgefühle unterdrücken wir und klagen umso mehr über die Ökonomisierung.“<br />
(177) Interessant sind die von Manderscheid gebotenen praktischen Hinweise<br />
auf konkrete neue Perspektiven. Anstelle des Rufes nach weiteren Pflegeheimen<br />
sei der mühsamere Weg der Gewinnung von Ve rtrauenspersonen und des<br />
Aufbaus von Beziehungsnetzwerken zu beschreiten, die Unterstützung von Wohnungslosen<br />
durch Kirchengemeinden zu aktivieren, die Neustrukturierung sozialpädagogischer<br />
Familienhilfe als Integration in soziale Netzwerke zu organisieren,<br />
die Vereinspartnerschaft mit gewaltbereiten Jugendlichen aus sozialen Brennpunkten<br />
zu initiieren, die Stiftung von Solidarität statt Organisation von Fürsorge zu<br />
leisten. All dies mündet für ihn in ein Umbauprogramm für den Sozialstaat, das<br />
tatsächlich den Modernisierungserfordernissen angemessen ist.<br />
Gegenüber den bisherigen Ausführungen fällt auf, daß der Beitrag von Georg<br />
Rüter, aus der Sicht der kirchlichen „Unternehmensleitungen“ solche Anpassungsprozesse<br />
zu analysieren, weniger systematisch angelegt ist, die Lektüre enttäuscht,<br />
da man sich Konkreteres gewünscht hätte. Es scheint so, als hinke die Praxis hinter<br />
der Theorie her bzw. als passe sich die Praxis eher fraglos den neoliberalen Erfordernissen<br />
an, anstatt die Kraftanstrengung zur Neuorientierung aufzubringen. In<br />
einem Buch, das um den Begriff des Marktes immer wieder kreist, darf die Perspektive<br />
des Kunden nicht fehlen. In dieser Hinsicht kann der Aufsatz des Mediziners<br />
und Journalisten Till Bastian sehr empfohlen werden, der über das Verhältnis<br />
154
von Neoliberalismus und Gesundheitswesen sowie die sich daraus ergebenden<br />
Veränderungen aus Sicht des Kunden reflektiert. Er beschreibt das Dilemma des<br />
Kunden, insbesondere innerhalb des Medizinsystems der letzten Jahrzehnte. Der<br />
Kunde wird im Grunde angesichts des immer unübersichtlicheren Dschungels<br />
sowie der unübersehbaren Zahl derjenigen, die sich als Führer und Pfadfinder<br />
anbieten, immer unsicherer, was er denn tatsächlich als seine eigenen Bedürfnisse<br />
erkennen soll/muß. Für Bastian wird die Fiktion des Kunden zum ironischen Bild<br />
des armen Narren, der der eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht im Grunde nicht<br />
mehr Herr werden kann. Er sieht sich einem zunehmenden Handlungs- und Entscheidungsdruck<br />
ausgesetzt, der die Möglichkeiten des Individuums überfordert.<br />
Der zweite Sammelband ist von der Thematik umfassender angelegt. Er enthält<br />
Studien zur Genese der „Sozialkirche“ in Katholizismus (Michael N. Ebertz) und<br />
Protestantismus (Jochen-Christoph Kaiser), plädiert für partizipative Organisationsformen<br />
innerhalb der sozialreligiösen Strukturen (Friedrich Fürstenberg), Gabriel<br />
selbst bereichert die Diskussion um die anwaltschaftliche Funktion des Caritasverbandes<br />
durch eine Untersuchung kirchlicher Wohlfahrtsverbände als Bewegungsorganisationen.<br />
Konrad Hilpert formuliert Aspekte des neuen Rollenverständnisses<br />
der Caritas – in unserem Zusammenhang ist sein Hinweis von besonderer<br />
Bedeutung, daß die Optimierung der Kosten im Sozialleistungssektor mittels<br />
Einführung marktwirtschaftlicher Komponenten unumgänglich sei und auch nicht<br />
als unangemessen für gemeinwohlorientierte Institutionen tabuisiert werden dürfe.<br />
„Aber darüber darf unter keinen Umständen das Wohl der Hilfsbedürftigen ins<br />
Hintertreffen geraten; Minimalisierung der Kosten und erst recht Profitorientierung<br />
dürfen nicht die obersten Ziele sein, wenn dabei die Humanität der Hilfe in Gestalt<br />
der Erhaltung eines Höchstmaßes an Autonomie, von menschlicher Zuwendung,<br />
Raum für Anteilnahme und seelischen Beistand ‚geopfert‘ werden müssen. Solche<br />
Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, gibt es aber auch in dem, was<br />
Mitarbeitern abverlangt oder an Arbeitsbedingungen zugemutet werden kann.<br />
Nach beiden Richtungen hin verlangt das Personalitätsprinzip der katholischen<br />
Soziallehre der Ökonomisierung Schranken zu setzen bzw. drängt darauf, beim Bemühen<br />
um Minimalisierung der Kosten durch institutionelle Vo rkehrungen auch<br />
die Lebensqualität der Hilfesuchenden und der Helfenden zu berücksichtigen.<br />
Auch ein funktionierender Markt, wenn er denn im Bereich sozialer Dienstleistungen<br />
überhaupt je konsequent stattfinden würde bzw. dürfte, legt sich solche Zügel<br />
nicht von selbst an.“ (87)<br />
Anhand des Krankenhauses in kirchlicher Trägerschaft hinterfragt Volkhard Krech<br />
die religiöse Programmatik solcher Einrichtungen und zeigt auf, daß der Weg zu<br />
einer neuen Identitätsgewinnung bzw. -vergewisserung erst anfanghaft beschritten<br />
worden ist – trotz der vielfältigen Leitbildprozesse. Es steht aus Sicht der betroffenen<br />
Einrichtungen zudem zu befürchten, daß die umfassende Neuregelung der<br />
Krankenhausfinanzierung in den kommenden Jahren dieses Thema erneut wieder<br />
in den Hintergrund treten läßt. Krech konnte diesen Prozeß bei der Verfassung<br />
seines Beitrages, der wie die anderen auf 1998 gehaltene Vorträge in der Sektion<br />
für Soziologie der Görres-Gesellschaft zurückgeht, noch nicht erkennen. Nach<br />
Auffassung des Rezensenten muß es im Zuge dieser überaus komplexen Verhand-<br />
155
lungen gelingen, neben dem dominierenden Kostenaspekt und der Fixierung standardisierter<br />
Verfahren auch spezifische Trägerinteressen im Sinne der Eigenprofilierung<br />
anzusprechen. Dieter Grunow stellt deshalb die Frage nach der sinnvollen<br />
Selbstbeschränkung des kirchlich-sozialen Engagements. Joachim Wiemeyer ergänzt<br />
dies durch eine kritische Analyse des ökonomischen Verhaltens kirchlicher<br />
Wohlfahrtsverbände. Auch wenn für viele Einrichtungen die beschriebenen Managementdefizite<br />
in den letzten Jahren kräftig abgebaut wurden, sind die Beispiele<br />
ökonomischen Fehlverhaltens, wie sie in den Medien immer wieder präsentiert<br />
werden, nach wie vor erschreckend. Wiemeyer vertritt dennoch die Auffassung,<br />
daß kirchliche Wohlfahrtsverbände aus ökonomischer Sicht nach wie vor ein sinnvolles<br />
institutionelles Arrangement darstellen, mit dessen Hilfe die Erstellung<br />
bestimmter Leistungen besser erfolgen kann (vgl. 137-141). Die von ihm formulierten<br />
16 Thesen zur Präzisierung ökonomischer Perspektiven (gegliedert in die<br />
Bestimmung der exakten Marktsituation, der Aufgabenzuweisung der Verbände,<br />
der Unternehmensphilosophie sozialer Einrichtungen) seien allen Verantwortlichen<br />
in den Verbänden empfohlen. Sie vermeiden sowohl die vollständige Angleichung<br />
an die Privatwirtschaft als auch den tabuisierenden Rückzug auf vermeintliche<br />
„christliche Wertvorstellungen“. Mit 2 Thess 5,21 heißt es: „Prüfet alles, und das<br />
Gute behaltet“. Eine Ergänzung hätte sich der Rezensent gewünscht, da in der<br />
gängigen Aufzählung (Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Kindergärten,<br />
Sozialstationen) auch bei Wiemeyer die vielfältigen Beratungsdienste der verbandlichen<br />
Caritas/Diakonie nicht explizit mitaufgeführt werden – für diese Dienste<br />
stellt sich das Thema „Ökonomisierung“ mit ganz spezifischen Problemen in eigener<br />
Weise.<br />
In den Ausführungen von Manfred Hermanns sei besonders auf die Abschnitte<br />
verwiesen, in denen er organisationsanalytisch auf die Leitbilddiskussion des Caritasverbandes<br />
mit ihren Auswirkungen auf eine Mitarbeiterschaft zwischen Wirtschaftlichkeit<br />
und Wertevergewisserung eingeht. Im übrigen unterstreicht auch<br />
dieser Autor ebenso wie Wiemeyer die Notwendigkeit einer Rückbindung der verbandlichen<br />
Caritas an die pfarrliche Carritas, ein in der Praxis oftmals sehr schwieriges<br />
Unterfangen, da auch pfarrgemeindliche Strukturen derzeit in einem sehr<br />
problematischen Umwandlungsprozess begriffen sind. Zum Gelingen dieses Vo rhabens<br />
gibt es jedoch keine Alternative, verlöre ansonsten die verbandliche Caritas<br />
ihre kirchliche wie gesellschaftliche Legitimität. Abschließend widmet sich Josef<br />
Schmid den Herausforderungen, wie sie die europäische Integration an die zukünftige<br />
Rolle der kirchlichen Wohlfahrtspflege stellt. Ein bloßes Beharren auf hergebrachten<br />
Rechtspositionen wird keine Lösung darstellen, eher wird vermu tlich ein<br />
allmählicher Abbau von Sonderregelungen und neokorporatistischen Regulierungsmechanismen<br />
eintreten. Dennoch dürften, vorausgesetzt der Prozeß einer<br />
transparenteren Profilierung gelingt, beachtliche Gestaltungs- und Einwirkungsmöglichkeiten<br />
den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden auch für die Zukunft mö glich<br />
sein.<br />
Dr. Bernd Kettern ist Direktor des Caritasverbandes für die Region Trier e.V.<br />
und Mitglied der Redaktion „Die Neue Ordnung“.<br />
156
Christoph Böhr<br />
Ökonomische Ethik - Ethik der Ökonomie<br />
Ethik hat derweil Konjunktur. Spätestens die neu entbrannte Diskussion über<br />
Gentechnik und Lebensschutz hat nicht nur die Unverzichtbarkeit ethischer Orientierung<br />
einer breiten Öffentlichkeit wieder bewußtgemacht, sondern auch -<br />
wenig überraschend - manche absonderliche Antwort laut werden lassen: Allüberall<br />
genießen Ethikkommissionen auf einmal hohes Ansehen, und wo sie<br />
nicht aus ihrem bisherigen Schattendasein herausgetreten sind, sprießen sie, neu<br />
berufen, wie Pilze nach einem warmen Sommerregen aus dem Boden. Der Bundeskanzler<br />
persönlich, bisher kaum hervorgetreten als kenntnisreicher Förderer<br />
einer ethischen Standortbestimmung, verleiht dem Unterfangen eine staatstragende<br />
Bedeutung, indem er einen Ethikrat beruft - einen nationalen Ethikrat<br />
selbstredend - in der Hoffnung, es mit dem kanonischen Recht zu halten und die<br />
Sache ein für allemal zu Ende bringen zu können, ganz nach dem Grundsatz:<br />
cancellarius locutus, causa finita.<br />
Nun liegt es in der Natur der Sache, daß der ethische Diskurs nie ein für allemal<br />
abgeschlossen werden kann, jedenfalls so lange nicht, wie die menschliche Ve rnunft<br />
sich der Spannung zwischen Sein und Sollen bewußt bleibt. Da ist es wohltuend,<br />
weit abgelegen von aller modischen Aufgeregtheit und jenseits politisierter<br />
Kommissionen auf einen Diskussionsbeitrag zu stoßen, der Grundfragen der<br />
Ethik nicht nur sachkundig aufgreift, sondern zudem auch auf eine gewinnbringende<br />
Weise beleuchtet und zu einer weiterführenden Einsicht findet. Andreas<br />
Suchanek, ein junger Wissenschaftler aus der Schule Karl Homanns und selbst<br />
Dozent für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Katholischen Universität<br />
Eichstätt, hat jetzt eine „Ökonomische Ethik“ vorgelegt, die alle Beachtung verdient.<br />
Die Untersuchung<br />
Andreas Suchanek, Ökonomische Ethik. J.C.B. Mohr (Uni-Taschenbuch<br />
2195), Tübingen 2001.<br />
zeigt - ganz in Übereinstimmung mit dem Bemühen seines akademischen Lehrers<br />
Homann -, wie wenig zutreffend die Vorstellung ist, ethische Maximen<br />
könnten so ohne weiteres auf die unterschiedlichsten Sachprobleme bezogen<br />
werden. Eine ethische Richtungsweisung mißlingt, wenn sie auf dem Wege einer<br />
nachträglichen Überprüfung zur Geltung gebracht werden soll. Auf diesem irreführenden<br />
Wege sind in jüngster Vergangenheit allerlei Bindestrichethiken entstanden:<br />
eine Wirtschafts-Ethik, eine Bio-Ethik, eine Unternehmens- und Umwelt-Ethik,<br />
eine Medizin-Ethik und wie dergleichen Wortungetüme heißen mögen.<br />
Sie alle kranken daran, daß ethische Überzeugungen nachträglich in einen<br />
Handlungszusammenhang eingepflanzt und im Ergebnis den jeweils an einer<br />
Interaktion Beteiligten aufgezwungen werden, sich oft genug gegen deren eigene<br />
Nutzenerwartungen richten. Damit ist der Konflikt unausweichlich: Die Prinzi-<br />
157
pien der Ethik widerstreiten - einmal mehr, einmal weniger - den aus Sachzusammenhängen<br />
abgeleiteten Handlungserwartungen. Der Mensch, dem eine Entscheidung<br />
abverlangt wird, gerät zwischen die Mühlsteine zweier widerstreitender<br />
Normen; eine friedliche Auflösung des Widerstreites kann es nicht geben.<br />
Suchanek beschreitet einen anderen Weg. Er unternimmt den Versuch, unsere<br />
moralischen Überzeugungen mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, „und<br />
das bedeutet insbesondere: Moral nicht gegen das Eigeninteresse in Stellung zu<br />
bringen, sondern das Eigeninteresse in den Dienst der Moral zu nehmen“ (S.<br />
VIII).<br />
An dieser Stelle soll der Verführung widerstanden werden, die lange Tradition<br />
eines der deutschen Philosophie liebsten Kindes auch nur anzudeuten: Kaum ein<br />
Satz ist im moralischen Empfinden der Deutschen so tief verwurzelt wie die<br />
Überzeugung von der prinzipiellen Entgegensetzung moralischer, also altruistischer<br />
Prinzipien einerseits, und egoistischer, also unmoralischer Prinzipien andererseits.<br />
Nur am Rande sei bemerkt: Vielleicht fällt es uns bis heute so schwer zu<br />
begreifen, was Soziale Marktwirtschaft bedeutet, da diese Wirtschaftsordnung<br />
im Kern nichts anderes will, als Eigeninteresse und Gemeinnutz miteinander zu<br />
versöhnen.<br />
Zurück zu Suchanek: Keinesfalls bestreitet der Autor, daß Eigeninteresse und<br />
Moral oft miteinander im Streit liegen. Eben hier, ausgehend von dieser Tatsache,<br />
setzt seine Reflexion ein: „Das Programm der ökonomischen Ethik lautet“:<br />
„Wann immer Konflikte zwischen Eigeninteresse und Moral auftreten, ist systematisch<br />
nach Wegen zu suchen, beides (wieder) miteinander verträglich - besser<br />
noch: füreinander fruchtbar zu machen.“ (S. 1)<br />
Wie kann das gelingen? Die Antwort ist einfacher, als zunächst erwartet: Menschen<br />
müssen im eigenen Interesse in die Zusammenarbeit zum gegenseitigen<br />
Vorteil investieren. Suchanek nennt das die Goldene Regel der ökonomischen<br />
Ethik. Jeder Mensch ist ständig auf andere angewiesen, um seine eigenen Zwekke<br />
verwirklichen zu können. Es ist also sein ureigenes Interesse, die Grundlagen<br />
der Zusammenarbeit mit anderen zu pflegen. Mit anderen Worten: Wettbewerb<br />
und Zusammenarbeit sind keine gegensätzlichen Verhaltensmuster, sondern zwei<br />
Seiten einer Medaille. Von dieser - ganz und gar nicht neuen - Einsicht geleitet,<br />
hat sich eine leistungsfähige Struktur unterschiedlicher Institutionen - wie<br />
Rechtsstaat und Marktwirtschaft - entwickelt, deren Ziel es ist, zur gesellschaftlichen<br />
Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil beizutragen.<br />
Das klingt simpel, ist es aber doch nicht. Und wie der Alltag zeigt, prägen oft<br />
Mißverständnisse mehr als Einsichten die öffentliche Diskussion. Mit einer Reihe<br />
solcher Mißverständnisse sucht der Verfasser aufzuräumen - beispielsweise<br />
mit der Vorstellung, moderne Gesellschaften seien stabil, wenn eine ausreichende<br />
Mehrheit in ihren Wertvorstellungen umfassend übereinstimmt. Moderne<br />
Gesellschaften vollbringen ihre Integrationsleistung nämlich mitnichten über die<br />
gemeinschaftliche Übereinstimmung in Wertüberzeugungen, sondern sie sind<br />
regelintegriert. Die wichtigsten dieser Regeln, die von jedem einzelnen uneinge-<br />
158
schränkte Anerkennung verlangen, sind im Recht als verbindliche Vorschrift<br />
festgeschrieben.<br />
So richtig und wichtig diese Vorstellung ist, so beachtet Suchanek doch zu wenig,<br />
daß auch diese Regeln, die in einer pluralistischen Gesellschaft Zusammenhalt<br />
herstellen und aufrechterhalten, nicht unabhängig von der Übereinstimmung<br />
in Wertüberzeugungen gesehen werden können. Dieser Einwand stellt jedoch<br />
keinesfalls das Programm einer ökonomischen Ethik in Frage, da diese sich eben<br />
gerade nicht im Streit über ausreichend mehrheitsfähige Wertvorstellungen aufreiben<br />
will, sondern an den Anfang ihrer Überlegungen den Satz stellt: Die Menschen<br />
müssen sich selbst und gemeinsam die Spielregeln ihres Zusammenlebens<br />
geben. (S. 19)<br />
Individualethische Überlegungen mögen (und werden) dem vorangehen. Sie<br />
verdichten sich zu institutionenethischen Überlegungen, also Aussagen über die<br />
Spielregeln als Handlungsbedingungen, die gleichermaßen für mich selbst und<br />
für alle anderen gelten.<br />
Die Ökonomik ist zu diesem Zeitpunkt schon längst im Spiel - als Wissenschaft<br />
einer allgemeinen Theorie sozialer Handlungszusammenhänge. Weil menschliches<br />
Handeln - wie die Ökonomik es beschreibt - immer ein interaktives Handeln<br />
ist, bedarf es der Institutionen, die das Handeln der Akteure miteinander<br />
koordinieren und auf diese Weise erst die Voraussetzung für gelingendes Handeln<br />
im Zusammenspiel mit anderen Menschen schaffen. Ökonomik in diesem<br />
Sinne ist die Wissenschaft von den Chancen und Problemen der Zusammenarbeit<br />
zum wechselseitigen Vorteil auf der Basis individueller Vorteils - und Nachteils -<br />
Kalkulationen.<br />
Ökonomik und Ethik gehen damit eine Verbindung ein. Gemeinsam geht es<br />
ihnen um die Regeln menschlichen Austausches - Regeln, die das Eigeninteresse<br />
eines jeden soweit wie mö glich in Einklang bringen mit dem Eigeninteresse des<br />
anderen. (S. 36) Diese erwünschte Vereinbarkeit wird erreicht, wenn Moral und<br />
Eigeninteresse durch geeignete Investitionen in die eigene und zugleich allgemeine<br />
Besserstellung anderer Menschen miteinander verbunden werden. Auf<br />
diese Weise wird das Eigeninteresse als Handlungsmotiv und Handlungsanreiz<br />
zwar nicht ausgeschaltet, aber im Ergebnis überformt: Denn das aufgeklärte<br />
Eigeninteresse zielt immer auch auf die Interessen der anderen. So wie es um die<br />
eigene Besserstellung geht, steht immer auch die Besserstellung der anderen -<br />
und das heißt: aller - in der Gesellschaft im Mittelpunkt.<br />
Dieser Gedanke ist mehr als nur eine Erinnerung an Adam Smith. Die Besserstellung<br />
der anderen ist keine zufällig sich ergebende Nebenabsicht. Es geht auch<br />
nicht um die mit den eigenen Interessen zugleich mitverfolgte Absicht der Besserstellung<br />
einiger weniger anderer. Es geht um die Besserstellung aller in der<br />
Gesellschaft. Deshalb trägt die ökonomische Ethik ihren Namen zu Recht: Der<br />
ethische Impuls kommt darin zum Tragen, daß die Idee der Besserstellung universalis<br />
iert wird. Anders, in den Worten des Autors formuliert: Regulative Idee<br />
der ökonomischen Ethik ist die Besserstellung aller. (S. 39)<br />
159
Soweit die - zugegebenerweise abstrakte - Beschreibung des Programms der<br />
ökonomischen Ethik. Suchanek beläßt es jedoch nicht bei dieser Skizze. Auf<br />
rund hundert Seiten erläutert er, wie ein solches Programm in eine institutionelle<br />
Reform einfließen kann. Denn nicht durch noch so gutgemeinte Appelle, sondern<br />
nur durch institutionelle Handlungsbedingungen kann sichergestellt werden, daß<br />
Menschen ihren eigenen Vorteil auf eine Weise verfolgen, die zugleich zur Besserstellung<br />
aller anderen Menschen führt. Und deshalb lautet die Goldene Regel<br />
der ökonomischen Ethik: Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen<br />
Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vo rteil.<br />
Suchaneks Ethik hat ein Programm formuliert, das nicht nur aller Beachtung<br />
wert ist, sondern das auch die weitere Beschäftigung lohnt - und dies in doppelter<br />
Hinsicht: Manches in Suchaneks Programmskizze wird noch weiter zu bedenken<br />
sein, nicht zuletzt im Blick auf Argumente der philosophischen Ethik<br />
und deren Umgang mit dem Eigeninteresse des Menschen als handlungsleitendes<br />
Motiv. Vor allem aber wird man Suchaneks Buch als Grundlage für weiterführende,<br />
sozialphilosophische und gesellschaftspolitische Überlegungen nehmen,<br />
um zu Konkretisierungen zu finden, die dem Autor wohl selbst schon vor Augen<br />
stehen.<br />
Suchaneks ökonomische Ethik ist ein Buch, mit dem der Autor weitgehend Neuland<br />
betritt und einen bisher nur in seinen Umrissen auf der Landkarte verzeichneten<br />
Kontinent erkundet und erschließt. Von welchem Buch kann man das<br />
schon sagen? Deshalb sei der Hinweis gestattet: Wer sich mit Gesellschaftspolitik,<br />
mit politischen Handlungsblockaden und gesellschaftlichen Reformanreizen<br />
beschäftigt, ist gut beraten, Suchaneks Buch zur Hand zu nehmen.<br />
Dr. Christoph Böhr ist Landesvorsitzender der CDU Rheinland-Pfalz und Vorsitzender<br />
der CDU-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz.<br />
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